Aufklärung zwischen Christentum und Freigeisterei - Till Kinzel - E-Book

Aufklärung zwischen Christentum und Freigeisterei E-Book

Till Kinzel

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Beschreibung

Voltaire und Braunschweig - das ist eine wenig untersuchte Beziehung. Doch der französische Aufklärer war mit dem braunschweigischen Erbprinzen nicht nur persönlich bekannt. Dieser ist auch der anonyme Adressat einer zu wenig beachteten Schrift Voltaires: "Briefe an seine Hoheit den Prinzen von **** über Rabelais und andere Autoren, denen man vorgeworfen hat, schlecht über das Christentum gesprochen zu haben". Ausgehend von diesem für Voltaires verdeckte Schreibweise typischen Text analysiert die vorliegende Studie die komplexe Konstellation von Aufklärung, Christentum und Religionskritik mit ständigem Bezug auf Braunschweig sowie die großen Streitfragen um Philosophie und Theologie im 18. Jahrhundert.

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Seitenzahl: 86

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

I. Voltaire als Beherrscher der sittlichen Welt des 18. Jahrhunderts – die „Lettres sur Rabelais“ als Schlüsseldokument

II. Die „Lettres sur Rabelais“ als fiktive Briefe Voltaires und der Erbpinz Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg als fiktiver Adressat

III. Voltaires „Lettres sur Rabelais“ als catalogue raisonnée der religions- bzw. christentumskritischen Literatur der Frühen Neuzeit

IV. Der Ausgangspunkt: Rabelais

V. Französische Enfants terribles der Philosophie: La Mettrie und Meslier bei Voltaire

VI. Die Auseinandersetzung mit Voltaire in Braunschweig aus theologischer Sicht: Abt Jerusalems „Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion“

VII. Voltaires „Lettres sur Rabelais“ im Kontext seiner literarischen Schriften von „L'Ingenu“ zu „La Princesse de Babylon“

VIII. Voltaire und das Bild der Juden in den „Lettres sur Rabelais“, mit einem Hinweis auf den Briefwechsel zwischen Carl Wilhelm Ferdinand und Moses Mendelssohn über Judentum und Christentum

IX. Die Auseinandersetzung mit Voltaire in Braunschweig aus literaturkritischer Sicht: Johann Joachim Eschenburg

X. Coda: Voltaires Spuren nach dem Ende seines Jahrhunderts – von Schopenhauer zu Nietzsche

XI. Anmerkungen

I. Voltaire als Beherrscher der sittlichen Welt des 18. Jahrhunderts – die „Lettres sur Rabelais“ als Schlüsseldokument

Wenn man an das 18. Jahrhundert, wenn man an die Aufklärung denkt, dann hat man zumindest in der Vergangenheit oft auch an das „Zeitalter Voltaires“ gedacht.1 Nun ist es aus den verschiedensten Gründen immer etwas mißlich, wenn man eine Epoche nach einer Person benennt, sei es nun Voltaire, Goethe, Napoleon, Bismarck, Wilhelm II. oder Stalin, weil damit immer allerlei Verschattungen einhergehen. Andererseits ist aber damit doch auch didaktisch gesehen ein Gewinn an Anschaulichkeit verbunden, weil eben eine Person, die wie Voltaire oder Goethe schwer auf den Begriff zu bringen ist, als Verkörperung ihrer Zeit gedacht, auch deren Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit, ja Widersprüchlichkeit Ausdruck verleihen kann. Im Falle Goethes wird dies zumindest einem deutschen Publikum ohne weiteres einleuchten. Doch bei Voltaire sieht es heute schon etwas anders aus. Denn erstens steht Voltaire aktuell weder im Fokus der Philosophiehistoriker noch der Romanisten, und zweitens hat auch das allgemein literarisch interessierte Publikum derzeit kein intensiveres Interesse an Voltaire, das über seinen Roman Candide und gewisse Toleranzschriften hinausgehen würde, die gelegentlich wieder aufgelegt werden. Deren tiefere Wirkung ist schon fraglich angesichts der Herausforderung, die mit dem Eindringen des Islam nach Europa heute verbunden ist. Denn es wäre mancherorts heute tollkühn, wollte man Voltaires Drama Mahomet auf die Bühne bringen – regelmäßiger Polizeischutz wäre wohl dringend anzuraten, was indes auch zeigt, daß die von der Aufklärung in mühevollem Gang erstrittene Geistesfreiheit immer wieder auf dem Prüfstand steht und zu keiner Zeit als definitiv gesichert angesehen werden kann. Ohne nun hier weiter auf solche Aspekte der aktuellen Lage einzugehen, möchte ich den Blick zurückwenden auf einen Text von Voltaire, der sich exemplarisch lesen läßt als eine Stellungnahme zu dem grundlegenden Problem, das mit der Religion nicht nur aus der Sicht der Aufklärer, sondern auch der Philosophen verbunden ist.

II. Die „Lettres sur Rabelais“ als fiktive Briefe Voltaires und der Erbpinz Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig- Lüneburg als fiktiver Adressat

Die Schrift, die ich hier in bezug auf verschiedene Kontexte diskutieren möchte, die Lettres a S. A. Mgr le Prince de*****. Sur Rabelais et sur d'autres auteurs accusés d'avoir mal parlé de la religion chrétienne,2 präsentiert keine echten, sondern nur fiktive Briefe – und sie präsentiert die Briefe auch nicht offen als solche an Carl Wilhelm Ferdinand, den Erbprinzen von Braunschweig-Lüneburg. Vielmehr wird in der typischen Manier des 18. Jahrhunderts der angebliche Adressat der Briefe durch Anonymisierung verschleiert, was zugleich auf der Seite der Leser dazu anregt, Mutmaßungen über den tatsächlichen bzw. gemeinten Adressaten ebenso anzustellen wie über den Autor, der in den ersten Ausgaben gleichfalls ungenannt blieb. Es handelt sich also bei der vorliegenden Schrift um einen klassischen Fall der doppelten Anonymität. Auch das war ein übliches Versteckspiel; trotz Voltaires eigener Dementis steht indes seine Autorschaft nicht in Zweifel.

Voltaire war sich der Wirkung dieser Anonymisierungsstrategie sehr bewußt, wie man z. B. einem Brief an den Aufklärungsphilosophen Helvétius vom 27. Oktober 1766 entnehmen kann, in dem Voltaire zum einen (wahrheitswidrig) abstreitet, der Autor einer Broschüre zu sein, die er Helvétius selbst zuschickt, zum anderen aber auch ein ausführliches Argument entfaltet, warum es einen Bärendienst an seinen Freunden darstelle, wenn man sich so eifrig bemühe, den Autor einer bestimmten Schrift unbedingt herausfinden und namhaft machen zu wollen. Indem er auf sein eigenes bibelkritisches Werk, das unter dem Namen Bolingbrokes erschienen ist, anspielt, aber auch auf ein Werk des Barons Holbach, das unter dem Namen Boulangers erschien (Das entschleierte Christentum, 1766), stellt er an seine Freunde die rhetorische Frage, was denn dem Autor eines Werkes überhaupt für eine Bedeutung zukomme? Indem man jemanden als Autor verdächtige, setze man diesen lediglich der Wut der Fanatiker aus, so daß derjenige, dem man zu helfen meinte, in Wirklichkeit Schaden erlitte.

Voltaire war zu eben jener Zeit besonders empört darüber, daß Rousseau in den Briefen vom Berge (Lettres écrites de la montagne; 1764) eben das getan hatte, nämlich die Autorschaft Voltaires an einer seiner am meisten christentumskritischen Schriften, des blasphemischen Sermon des cinquantes (1749), öffentlich gemacht zu haben.3 Dieser Umstand ist aus drei Gründen wichtig, denn erstens zeigt er anschaulich die existentielle Komponente an Voltaires Interesse für Anschuldigungen des Unglaubens, die für ihn mitnichten eine bloß historische Bedeutung hatte. Und zweitens erklärt die Empörung über Rousseaus Entschleierung der Autorschaft Voltaires möglicherweise auch, warum Rousseau trotz inhaltlich einschlägiger Schriften in den Lettres sur Rabelais überhaupt keine Rolle spielt. Drittens ist es bezeichnend, daß Voltaire, der sich nie zu dieser Schrift bekannte, sie selbst keinem anderen als Lamettrie unterschob (siehe unten).

Für Voltaire stellt diese Situation der anonymen Publikation unter Bedingungen der Verfolgung zugleich den normativen Appell zur innerphilosophischen Solidarität dar, denn man solle sich gegenseitig zur Hilfe kommen, um sich gegen die Verfolgung der Philosophie zu wehren: „Aidons-nous les uns les autres dans la cruelle persécution élevée contre la philosophie.“4 Indem die Verfolgung eines einzelnen Autors nicht nur diesen persönlich trifft, sondern als eine Verfolgung der Philosophie überhaupt dargestellt wird, appelliert Voltaire an eine ideelle Gemeinschaft, ohne deren Solidarität auch andere den Verfolgungen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert wären.

Daß indes die fiktive Zuschreibung jener Briefe über Rabelais an Carl Wilhelm Ferdinand nicht unsinnig ist, erhellt zum einen aus dem Umstand, daß sie in der Voltaire-Literatur bereits sehr früh vorgenommen wurde.5 Direkt nach dem Erscheinen des Büchleins heißt es in der Correspondance littéraire von Grimm am 14. Dezember 1767:

On parle de quelques autres ouvrages nouveaux, entre autres de quelques Lettres écrites au prince de Brunswick sur Rabelais, et sur tous les auteurs italiens, francais, allemands, accusés d'avoir écrit contre notre sainte religion.6 [Man spricht von einigen anderen neuen Werken, unter anderem von einigen Briefen, die an den Prinzen von Braunschweig über Rabelais und über alle italienischen, französischen, deutschen Autoren geschrieben wurden, denen man den Vorwurf gemacht hatte, gegen unsere heilige Religion geschrieben zu haben.]

Grimms Nachrichtendienst hier wörtlich den Inhalt eines Briefes von Voltaire selbst an den hochrangigen Beamten in der Steuerbehörde, Étienne-Noël Damilaville (1723-1768), der als Mittelsmann für derartige Informationen fungierte.7 Dieser Brief ist deswegen so signifikant, weil Voltaire in ihm selbst von „quelques lettres au prince de Brunswick“ [meine Hervorhebung] schreibt und damit selbst eine Zuschreibung vornimmt, die in der Druckfassung im Unklaren gelassen wird.

Denn im Text selbst wird nur indirekt eine nähere Bestimmung des Adressaten angedeutet, insofern dieser direkt mit Deutschland verbunden wird. Im Brief über die Deutschen spricht Voltaire eingangs ausdrücklich von „votre Allemagne“, „Ihrem Deutschland“, in dem es gleichfalls viele große Herren und Philosophen gegeben habe, die man der Religionslosigkeit bezichtigt habe.8

Im Einklang mit seiner sonstigen konspirativen Praxis ergänzt Voltaire, er werde versuchen, ein Exemplar davon zu erhalten und es ihm zuzuschicken versuchen. Außerdem übermittelt Voltaire ein angebliches On-dit an Damilaville: „On dit que ces lettres sont curieuses“, nachdem er bereits in einem Brief vom 4. Oktober 1767 auf seinen eigenen Text angespielt haben dürfte, als er ihm von einem bewunderungswürdigen Manuskript gegen den Fanatismus schrieb: „J'ai entre les maines un manuscrit admirable contre le fanatisme, fait par un provincial“, von dem er wünschte, es möge bald gedruckt werden.9

Die Identifikation des fiktiven Adressaten mit Carl Wilhelm Ferdinand wird zuletzt auch dadurch in plausibler Weise unterstrichen, daß Voltaire den Erbprinzen tatsächlich persönlich kannte und daher auch um seine grundlegend aufklärerische Haltung wußte.10 Schon Carl Friedrich Pockels berichtet in seiner frühen Biographie des Herzogs von den Verbindungen Carl Wilhelm Ferdinands zur Welt der französischen Aufklärung.11 Voltaire besuchte, wie Selma Stern vermerkt, 1743 Braunschweig für sechs Tage, wo er sich bei der Schwester Friedrichs des Großen, Philippine-Charlotte von Braunschweig, aufhielt.12 Man sollte diese Verbindungen ernst nehmen und sich nicht durch das despektierliche Urteil des marxistischen Literaturhistorikers Franz Mehring einnehmen lassen, der teils heftig gegen Carl Wilhelm Ferdinand polemisierte.13 Der Erbprinz selbst unternahm später (und zwar ein Jahr vor der Veröffentlichung von Voltaires Lettres sur Rabelais) auch eine größere Reise, die ihn über London und Paris bis nach Italien führte. Im Frühjahr 1766 war er zwei Monate in Paris, wo er mit den Protagonisten der französischen Aufklärungskultur wie d'Alembert, Helvetius und Marmontel in Kontakt kam.14 Es ist bezeichnend, daß kein Geringerer als Jean Le Rond d'Alembert, der gemeinsam mit Denis Diderot das aufklärerische Großprojekt der Encyclopédie lanciert hatte, am 26. Mai 1766 aus Paris an den Onkel des Prinzen, Friedrich II. von Preußen, schrieb. D'Alembert erwähnt ausdrücklich die Ehre, die es für ihn bedeutet hatte, in Anwesenheit des Prinzen in der Akademie einen Vortrag zu halten.15 Damals hat auch Diderot die Bekanntschaft des Prinzen gemacht;16 ebenso Claude-Adrien Helvétius.17 Nach seinem Paris-Aufenthalt reiste der Prinz auf seiner Kavalierstour über mehrere Stationen weiter gen Süden und besuchte Genf vor allem deshalb, weil er Voltaire in Ferney einen Besuch abstatten wollte.18

Carl Wilhelm Ferdinand, der nach Selma Stern „durchdrungen war von Voltaires, von Montesquieus Gedanken“,19 hat also noch im Sommer 1766 persönlich Kontakt mit Voltaire gehabt, was es besonders plausibel macht, wenn die im Jahr darauf geschriebenen Lettres sur Rabelais an eben diesen Prinzen aus Norddeutschland gerichtet wurden. Die Vertrautheit Carl Wilhelm Ferdinands mit den französischen Denkern wird auch noch später als bekannte Tatsache behandelt. So schreibt Katharina Freifrau von Bechtolsheim, die damals eine junge Frau war, die während seines Braunschweiger Exils im Haushalt des Barons Grimm lebte, in den Erinnerungen einer Urgroßmutter