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Xander Karcek hat sich immer nur zwei Dinge vom Leben gewünscht: Christian Edwards und Basketball – den Mann, den er liebt und den Sport, der in seiner Kindheit, die er lieber vergessen würde, seine einzige Zuflucht war. Seine beiden großen Leidenschaften haben ihm gut getan. Gegen jede Wahrscheinlichkeit haben Chris und er es zusammen von der Highschool, ins College und bis in ein Profi-Basketball-Team geschafft. Aber das Leben unter dem Mikroskop der Berühmtheit ist nicht leicht, besonders für zwei Männer, die vorgeben, Kumpels zu sein, damit niemand erfährt, dass sie so gut wie verheiratet sind. Ihre Beziehung überlebt die Opfer, die sie bringen und die Lügen, die sie erzählen, um zusammenzubleiben. Aber als ihr Geheimnis entdeckt wird, drohen die Konsequenzen sie zu zerstören, wie nichts sonst es vermochte. Chris und Basketball, das sind die zwei Dinge, die Xander zusammenhalten. Aber jetzt zwingt die Welt Xander dazu, eine Entscheidung zu treffen. Gibt es eine Zukunft mit dem Mann, den er liebt?
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Begeisterte Leser über Amy Lane:
Keeping Promise Rock
“Diese wunderbare Liebesgeschichte hat mich völlig gefangen genommen …”
-- Night Owl Reviews
Making Promises
„…wunderbare Charaktere mit alltäglichen Schwächen, ein überzeugender Plot, Action, Angst und Liebe – kombiniert mit einem gefühlvollen Schreibstil, der den Leser jede Freude, jedes gebrochene Herz und jeden Schmerz der Charaktere spüren lässt.“
-- Fallen Angel Reviews
Talker
„… eine großartig geschriebene Geschichte über zwei Männer mit vielen, unverarbeiteten Problemen, aber auch einer außergewöhnlichen Liebe.”
-- Literary Nymphs
„Wenn ihr nach einer wunderschönen und unwiderstehlichen Liebesgeschichte mit unvergesslichen Helden sucht, dann lege ich euch dieses Buch sehr ans Herz.”
-- Dark Diva Reviews
Truth in the Dark
„… eine wunderbar kreative Geschichte mit einer neuen und originellen Interpretation des Themas von Die Schöne und das Biest.“
-- The Romance Studio
Guarding the Vampire’s Ghost
„Wenn es etwas daran auszusetzen gibt, dann, dass diese Novelle zu kurz ist. Sie ist gut geschrieben, gefühlvoll, romantisch, herzerwärmend und bricht einem gleichzeitig das Herz.“
-- Whipped Cream Erotic Romance Reviews
Published byDreamspinner Press382 NE 191st Street #88329Miami, FL 33179-3899, USAhttp://www.dreamspinnerpress.com/
Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Figuren, Plätze und Vorfälle entstammen entweder der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Firmen, Ereignissen oder Schauplätzen sind vollkommen zufällig.
Aufs Spiel gesetzt
Copyright © 2011 by Amy Lane
Übersetzt von Julia Schneider
Umschlagillustration: DWS Photography [email protected]: Mara McKennen
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch ist ausschließlich für den Käufer lizenziert. Eine Vervielfältigung oder Weitergabe in jeder Form ist illegal und stellt eine Verletzung des Internationalen Copyright-Rechtes dar. Somit werden diese Tatbestände strafrechtlich verfolgt und bei Verurteilung mit Geld- und oder Haftstrafen geahndet. Dieses eBook kann nicht legal verliehen oder an andere weitergegeben werden. Kein Teil dieses Werkes darf ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages weder Dritten zugänglich gemacht noch reproduziert werden. Bezüglich einer entsprechenden Genehmigung und aller anderen Fragen wenden Sie sich an den Verlag Dreamspinner Press, 382 NE 191st Street #88329, Miami, FL 33179-3899, USAoder unter http://www.dreamspinnerpress.com.
Gedruckt in den Vereinigten Staaten von Amerika.Erstausgabe.
April 2011
Deutsche eBook Ausgabe: 978-1-61372-895-6
Für Mate – Ich werde immer sein treuester Fan sein
Arco Arena, Stadion der “Kings”, Sacramento, Kalifornien
XANDER KARCEK donnerte über den glänzenden Holzboden des Spielfelds, die Oberschenkelmuskeln angespannt, der riesige Bizeps immer in Bewegung, während der Schweiß von seinen schwarzen Haaren tropfte, die ihm in die Stirn hingen. Der Ball sang auf den Dielen vor ihm und sprang in die Fläche seiner weit gespreizten Hand zurück, während er wild dribbelte, dem Gegner um Längen voraus und in perfekter Position, um zu punkten.
Er tat es nicht.
Stattdessen gab er den Ball mit dem nächsten Dribbeln nach hinten. Christian Edwards fing ihn mit einer Hand und dribbelte weiter über die Mitte des Spielfeldes. Er musste nicht hinter sich sehen, um zu wissen, dass Chris ihm direkt auf den Fersen war – er musste nie hinter sich sehen. Chris war immer da. Chris wusste nicht, wie man versagte. Und so war Xander, mit erstaunlich breiten Schultern für einen Kerl mit etwas über zwei Metern und Schuhgröße 54, bereit, als die Gegenspieler sich mit ausgestreckten Armen und breiten Beinen hinter ihm aufbauten, um den Wurf zu blocken.
Und Chris, der Center, der wie üblich mit dem Rücken zum gegnerischen Korb angriff, sprang in die Luft, drehte seinen Körper und beförderte den Ball mit einem Dunking auf Höhe seiner Brust ins Netz. Die fünfzehntausend erregten Stimmen hallten um sie wider, bis das Geräusch sich so verdichtet hatte, dass man es mit der verschwitzten Hand hätte schneiden können und brachen schließlich in ein Geschrei wilder, unbändiger Freude aus, um Chris zu feiern.
Genauso sollte es sein. Die ganze Welt sollte Chris feiern.
Xander und Chris liefen aneinander vorbei, während Chris noch versuchte, nach dem Dunking seinen Laufrhythmus wiederzufinden und stellten sich Rücken an Rücken auf, um das andere Team abzufangen. Dann schwangen ihre Arme vom Ellbogen an nach unten und trafen sich in einem geschmeidigen Handschlag, während sie sich triumphierend anknurrten.
Gott, sie liebten dieses verdammte Spiel. Xander wollte nur dafür leben, Chris würde dafür sterben und zusammen würden sie niemals aufhören, solche spektakulären, magischen Tricks auf dem Spielfeld vorzuführen.
Es war ihr Leben, das, was sie ausmachte, verdammt, und keine Seele auf diesem Planeten konnte ihnen das nehmen.
Oh, bitte Gott, lass nicht zu, dass jemand es uns nimmt. Bitte.
Chris´ Hand klapste Xander leicht auf die Hüfte und Xanders Augen zuckten nach unten. Ein Moment der Schwäche in dieser scharf umrissenen, hell erleuchteten Welt, mit ihnen beiden im glühend heißen Zentrum unter der Lupe.
Xander hatte vor langer Zeit gelernt, dass es der Welt so leicht fiel, ihm Dinge zu nehmen.
Fünfzehn Jahre zuvor
ESWARkalt und das Licht wurde schwächer, aber Xander würde lieber in der Hölle schmoren, als nach Hause zu gehen. Seine Mutter wäre sicher zu Hause, zusammen mit ihrem aktuellen, Crack rauchenden Freund. Sie hätten den Tag damit verbracht, Rauch einzuatmen, zu streiten, Rauch auszuatmen und Sex zu haben und die Wohnung würde danach stinken. Es gäbe kein Essen und wenn einer von ihnen hörte, dass Xander da war, würde er versuchen, ihn grün und blau zu prügeln.
Xander war groß – einsfünfundachtzig, trotz seiner vierzehn Jahre – aber manchmal hätte er schwören können, dass die Knochen an seinem Handgelenk dicker waren als sein Bizeps und es half auch nicht gerade, dass nie etwas zu essen im Haus war. Und ihm war auch nicht danach, Crack zu rauchen, um den Hunger loszuwerden, wie es seine Mutter ihm immer wieder vorschlug.
Na gut, es war spät und kalt, aber hier, auf dem Basketball-Feld im Stadtpark, gab es nur ihn, eine Straßenlaterne und seinen dampfenden Atem. Es spielte keine Rolle, dass er keinen Pullover hatte, oder dass er seit gestern morgen nichts mehr gegessen hatte. Alles, was zählte war, dass der Ball – sein einziger Besitz, gestohlen aus dem Walmart in einem Moment der Verzweiflung – sich in seiner Handfläche gut anfühlte, dass er ihn rhythmisch über den rissigen Asphalt hämmern und dann das übliche Poltern und Zischen hören konnte, wenn er durch die Ketten des Korbes rauschte.
Aber es war schwierig, bei der Sache zu bleiben, wenn man so hungrig war und als eine Stimme versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, musste Xander blinzeln und sich darauf konzentrieren, woher sie kam.
“Ach, komm schon! Wirfst du ihn mir nicht zu?“
Xander war so überrascht, dass er es tat.
Der Junge war kleiner als er, um mindestens fünfzehn Zentimeter, war aber trotzdem im gleichen Alter. Sein Haar war dunkelblond und leicht gewellt, er trug modische Jeans und ein blaues Sweatshirt mit einem Aufdruck auf der Vorderseite. Seine Augen waren so braun, dass sie von dieser Seite des Spielfeldes aus schwarz aussahen. Er hatte ein spitzes Kinn, das von einer Furche geteilt wurde und einen Schmollmund. Sein Lächeln strahlte so viel fröhliche Gutmütigkeit aus, dass Xander meinte, er wäre es dem Jungen schuldig, ihm den Ball zu geben. Wer konnte schon dieser aufgekratzten Stimmung, oder dieser unglaublichen Fröhlichkeit widerstehen, gerade dann, wenn der Himmel sich zu Zwielicht verdunkelte?
Der Junge fing den Ball mit Leichtigkeit und dribbelte mit natürlicher Anmut auf den Korb zu. Er warf und verfehlte, warf und punktete und sah dann mit einem Grinsen auf seinem breiten, lächelnden Mund auf.
„Na, wollen wir nicht spielen?“
Warum nicht.
Xanders Hunger war vergessen und er begann, den Korb zu verteidigen.
Der Junge war gut. Nicht so gut wie Xander, vielleicht weil er nicht dazu gezwungen war, einen Basketballkorb in einem verlassenen Park als Zuflucht vor unzähligen Dingen zu benutzen, aber er war schnell und beweglich und er schwatzte in einer Tour, wovon Xander nichts mitbekam, während sie spielten.
„Was, du dachtest wohl ich seh´ das nicht? Das war ein Täuschungsmanöver, das hab ich schon kapiert .... nein! Du bist direkt an mir vorbeigerauscht! Macht nichts, ich krieg dich … nein, nein, nein, nein, nein, er wirft, es zischt, er punktet!“
Xander war ihm um fünf Punkte von zwanzig voraus und hatte so viel Spaß wie lange nicht mehr, als plötzlich der Geruch nach Essen und eine Stimme über das Spielfeld schwebten.
„Chris? Chris, Liebling, es tut mir so leid, dass ich zu spät komme.“
Chris verlangsamte sein Tempo, während er auf den Korb zulief und drehte sich nach der Stimme um. Xander nutzte die Gelegenheit, den Ball zu stehlen und zu punkten. Chris wandte sich mit einem belämmerten Grinsen zu ihm um und sagte: „Hey Mann, das ist nicht fair!“. Xander wurde rot.
„Sorry“, sagte er leise.
Der Geruch von Essen stieg ihm wieder in die Nase und es wurde ein wenig schwarz um ihn. Er verpasste die Chance, den Ball beim Dribbeln abzufangen und versuchte seine Knie ruhig zu halten, während er sich umdrehte, um dem Jungen auf Wiedersehen zu sagen, der wenigstens für eine Stunde sein Freund, seine Familie und seine Unterhaltung gewesen war.
Aber der Junge ging nicht.
„Hey, Mom! Kann der Junge mit nach Hause kommen und mit uns essen? Er ist ein unglaublicher Spieler, Mom, du musst ihn werfen sehen!“
Xander wurde rot bis an die Wurzeln seiner glatten, schwarzen Haare und sah seinen Mitspieler verwundert an. Er klang wie … wie … wie ein kleiner Junge, der erwartete, dass man ihm antwortete, wenn er etwas sagte. In Xanders Umfeld redete man nicht so mit den Eltern, weil das nie passierte. Niemals.
„Ich weiß nicht, Christian – es ist spät. Vielleicht wartet zu Hause jemand auf ihn?“
Die Frau hatte die Frage so formuliert, als erwarte sie von Xander eine Antwort und Xander druckste einen Moment herum. Er war nie gut mit Worten gewesen, vor allem deswegen, weil nie von ihm erwartet worden war, dass er sie tatsächlich benutzte.
„Das interessiert keinen”, sagte er und fühlte sich sofort dumm. Es musste eine bessere Art geben, zu sagen, was er meinte, aber er konnte nicht mehr klar denken. Und dann, mitten in die geschockte Stille hinein, knurrte sein Magen. Laut.
Die Frau sah ihn mit einem schiefen Lächeln an, als würde sie verstehen, wie es war, jung zu sein und zu wachsen und dann löste etwas in seinem eigenen Gesichtsausdruck in ihrem eine Veränderung aus.
„Er kann gerne mitkommen, Chris. Aber erst brauchen wir einen Namen, okay?“
„Xander,” murmelte er, so gierig auf das, was den Geruch verursachte, dass er wahrscheinlich alle möglichen schrecklichen, illegalen, abstoßenden Dinge gemacht hätte, nur um einen Bissen abzukriegen.
Der Schweiß und das Adrenalin und die Freude am Spiel waren vergangen und alles, was übrig war, war zinn-graue Übelkeit und tanzende Punkte vor seinen Augen, die davon kamen, dass man jung war, wuchs und buchstäblich verhungerte.
„Xander”, sagte die Frau sanft. „Ich bin Christians Mutter, Andi. Komm mit uns und wir geben dir was zu essen, okay?“
Xander nickte. Geködert vom Geruch des Hühnchens und Chris´ triumphierendem Lächeln klemmte er sich den Basketball unter den Arm und folgte den beiden nach Hause.
Der Vorort, in dem Xander lebte, war eine interessante Mischung aus älteren Häusern und Mietkasernen, wo man einziehen konnte, ohne Kaution zu bezahlen. Xander lebte in einem Mietshaus ungefähr einen Block von der High School entfernt, was der Hauptgrund dafür war, dass er zur Schule ging – sie war nah und er bekam ein kostenloses Mittagessen, weil er zu Beginn des Schuljahres den Papierkram ausgefüllt und die Unterschrift seiner Mutter gefälscht hatte.
Chris lebte in einem der älteren Häuser, mit zwei Stockwerken, einem großen Garten und, den Geräuschen nach, mit einem Hund hinter dem Haus. Als Xander Chris und Andi ins Haus folgte (Xander war gerade dabei, sich anzugewöhnen, sich unter Türen zu ducken), sah er, dass das Innere des Hauses noch schöner war als das Äußere.
Es war unordentlich – Bücher stapelten sich auf dem Couchtisch und dem Esstisch und in großen Regalen im Wohnzimmer – die Sofas waren abgenutzt und an den Armlehnen ein wenig verschlissen.
Ein Mädchen, das genau wie Christian aussah, lag auf dem Bauch, die Füße in die Luft gestreckt und in ein Geschichtsbuch vertieft, während ein erwachsener Mann in der Küche, die sich auf der anderen Seite zum Wohnzimmer hin öffnete, den Abwasch machte.
„Mensch, Andi, Ich dachte wir holen was zum Essen, weil es schneller geht als Kochen!“, rief der Mann.
Chris´ Mutter ging auf ihn zu – er war ungefähr so groß wie Xander, mit braunen Haaren, Brille und einem kleinen, „hübschen“ Gesicht – und küsste ihn auf die Backe, wofür sie sich nur ein klein wenig strecken musste. Sie hatte blonde, lockige Haare, etwas breitere Hüften, einen fülligen Brustkorb und trug Jeans und ein Kapuzen-Shirt. Sie lachte ihrem Ehemann (Xander nahm an, dass er das war) zu und stellte das Essen auf den überfüllten Küchentisch, damit sie ihn umarmen konnte.
„Du glaubst nicht, wie lang die Schlange bei Kentucky Fried Chicken war, ehrlich. Ganz grauenvoll. Chris war im Park während ich dort war und wir haben einen Streuner mitgebracht.“
Xander merkte, wie man ihn fröhlich einer Ganzkörper-Musterung unterzog.
“Mein Gott, dich satt zu kriegen ist bestimmt ein Vollzeit-Job.“
Xander lächelte schwach und fragte sich, ob das Licht wirklich so schummrig war oder ob es daran lag, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
„Ja“, flüsterte er. „Das fände ich gut.“
Das brachte ihm ein Lachen ein und sein nächstes Lächeln hatte etwas mehr Kraft. Dann sagte Chris: „Komm, Xander, lass uns den Tisch frei machen, dann können wir essen.“
„Ach, lass das jetzt“, sagte Chris´ Stiefvater, Freund der Mutter oder was immer er war. „Wir essen im Wohnzimmer. Es ist spät. Wir sollten das Abendessen hinter uns bringen und mit den Hausaufgaben anfangen.“
“Klasse.” Chris schnitt eine Grimasse voller Sarkasmus. „Das verdirbt einem echt die Freude am Abendessen, Dad.“
„Ich mache nur meinen Job“, sagte Chris´ Vater.
Xander versuchte, nicht geschockt auszusehen. Er hatte immer gedacht, echte Väter gäbe es nur im Märchen.
Es dauerte nicht lange, bis Xander ruhig da saß, einen Teller Hühnchen mit Beilagen auf dem Schoß und dem Geplauder der Familie zuhörte. Als das Abendessen vorbei war, hatte er erfahren, dass Penny, Chris´ Schwester, in allen Fächern die fortgeschrittenen Kurse belegte, dass Chris Probleme mit Algebra hatte und Andi eine Anwältin der Lehrer-Vereinigung, war, die nicht über ihre Arbeit sprechen durfte, aber sehr oft mit den Augen rollte, wenn bestimmte Themen aus der Schule aufkamen. Jed war Chris´ Vater und er unterrichtete an der Junior High School in einem anderen Bezirk Mathematik.
Er hätte noch stundenlang hier sitzen und ihnen zuhören können.
Er selbst sagte natürlich nichts, aber er sah dankbar auf, als Andi zwei weitere Hühnchenschenkel auf seinen Teller legte, nachdem er mit den beiden fertig war, mit denen er angefangen hatte. Als von den Hühnchenschenkeln keine mehr übrig waren, sah er, dass Jed ihm die letzten Kartoffeln mit Sauce gegeben hatte und aß sie dankbar auf.
Und schließlich fand er heraus, dass wie immer alle guten Dinge ihren Preis hatten, denn er rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als Jed ihn fragte, wie er sich in der Schule machte.
Er fühlte, wie ihm unter seinem weiten T-Shirt-Kragen der Schweiß ausbrach.
“Ich schlafe viel”, murmelte er. Na ja, die Schule war sauber, sie war sicher, es gab keine lauten Geräusche, niemand hatte Sex oder zog sich Drogen rein – wie sollte er da nicht schlafen?
„Du kannst doch nicht im Unterricht schlafen!“, sagte Chris mit so viel unterdrückter Inbrunst, dass Xander rot wurde und sich einen schnellen Tod unter dem abgenutzten, bequemen Sofa wünschte. „Wenn du im Unterricht schläfst, wie willst du dann jemals ins Team kommen?“
„Das Team?“, fragte Xander verblüfft.
„Klar! Das Basketball-Team! In einem Monat fängt die Saison an. Du kannst trotzdem jetzt noch ein Probetraining machen, aber du musst gute Noten haben!“
Xander sah ihn hilflos an. „Du denkst, ich könnte es ins Team schaffen?“ Oh Gott. Er liebte Basketball – sehr. Er schlich sich in Sport-Bars oder Restaurants mit Fernseher, nur um sich die Spiele anzusehen. An Spieltagen ging er 3 Meilen und drückte sich im Schatten der Arco Arena herum, nur um Vlade Divac und Peja Stojakovic zum Hintereingang reingehen zu sehen. Aber im Unterricht wach bleiben? Herrgott ...
Doch dann sah er in Chris´ erwartungsvolles, verheißungsvolles, aufgeregtes Gesicht.
Nein, nicht Gott. Christian. Er würde es für Christian tun.
„Ich rede mit meinen Lehrern“, sagte er mit trockenem Mund, obwohl er sich nicht sicher war, ob er sich überhaupt an ihre Namen erinnerte. „Ich mache es gleich morgen. Vielleicht kann ich das wieder hinbiegen.“
Vielleicht kann ich Berge versetzen, die Farbe des Himmels ändern oder die Erdachse verschieben, nur um Basketball zu spielen, nur damit du mich so ansiehst, als könnte ich alles. Nur um dich nicht zu enttäuschen.
Nach dem Abendessen half er beim Abräumen.. Sogar er konnte sehen, dass diese netten Leute bald ins Bett gehen wollten. Also erzählte er seine erste Lüge, nämlich die, dass er heimgehen würde, um zu schlafen. Aber bevor er sich seinen Basketball sicher unter den Arm klemmte und ging, sagte er noch zu Chris, dass sie sich morgen an der Kreuzung treffen würden, damit sie gemeinsam zur Schule gehen konnten.
Er ging sogar wirklich nach Hause. Seine Mutter und Wer-auch-immer lagen ausgestreckt auf der Couch, high und bewusstlos. So hatte er Zeit, sie zu betrachten und darüber nachzudenken, dass er gerade eben eine funktionierende, kleine Familie erlebt hatte. Er fühlte Ärger in sich aufsteigen.
Verdammt, alles was er je gewollt hatte, war Essen und ein bisschen Aufmerksamkeit, aber selbst vor den Drogen, war das für ihn nie eine Möglichkeit gewesen, nicht wahr?
Er blieb nicht lange, nicht diesmal. Stattdessen duschte er schnell und wechselte seine Kleider, dann nahm er sich eine Decke und schlüpfte ins Treppenhaus hinter dem Waschkeller. Der Trockner lief normalerweise die ganze Nacht und so konnte er sich warm halten.
ERST viel später wurde ihm klar, dass seine Lehrer ihn schon die ganze Zeit unterstützt hatten. Sie hatten ihn schlafen lassen, weil er es brauchte und als er sie um Hilfe bat, gewährten sie sie ihm. Sein Englischlehrer versorgte ihn umsonst mit Notizbüchern und hatte einen Eimer voll mit Kugelschreibern zur Selbstbedienung. Sein Mathelehrer ließ ihn in der Mittags-Pause Tische sauber machen, damit er sich Extra-Punkte verdienen konnte. Sein Französischlehrer sagte ihm, dass nach den Treffen des Asien Clubs normalerweise Essen übrig blieb und sorgte dafür, dass ihm die Reste in Folie eingepackt wurden, nachdem er sein kostenloses Mittagessen in der Mensa bekommen hatte. Sein Basketball-Trainer gab ihm Nachhilfe in Geschichte, weil das das Fach war, dass er unterrichtete, wenn er gerade kein Team trainierte.
Chris schenkte ihm einen “alten” Rucksack – genau den alten Rucksack, an den Xander sich immer erinnern würde, weil Chris ihn damals aufgehabt hatte, während sie zusammen zur Schule gegangen waren, an diesem ersten Tag, nachdem er Hühnchen und Kartoffeln mit Sauce zu Abend gegessen hatte.
Dass sie zusammen zur Schule gingen, wurde danach zur Tradition. Es gab ihnen Zeit, über ihre Kurse zu reden, über das Basketball-Probetraining (sie waren beide von Anfang an sofort im Team), über so ziemlich alles, worüber sie reden wollten und die Tradition wurde gewahrt, bis sie im Jahr darauf Zehntklässler wurden.
Sie hatten den Sommer damit verbracht, Basketball zu trainieren, weil sie es liebten und damit, Xander einen Job zu verschaffen, weil er einen brauchte und er es müde war, nichts zu essen zu haben. Sein Plan war, spätabends im Walmart Kisten zu verladen, wofür er vortäuschen musste schon sechzehn zu sein, am frühen Morgen seine Hausaufgaben zu machen, während er an der Busstation auf Chris wartete, seine Tage in der Schule zu verbringen und seine Nachmittage im Basketball-Training, wo er sich am wohlsten fühlte.
Er sagte Chris, dass er den Job brauchte, aber nicht genau warum und bis zu einem Tag Ende September war Chris nicht klar, wie groß die Not wirklich war.
„Was soll die Sonnebrille?“ Chris war während der neunten Klasse zehn Zentimeter gewachsen und Xander ebenso. Sie konnten immer noch bequem nebeneinander hergehen und Xander hatte nie das Gefühl, dass er seinen Freund überragte, was schön war, denn er überragte so ziemlich alle anderen.
„´S is so hell“, murmelte Xander.
Christ hielt inne und sah ihn empört und genervt an.
„Es ist genauso hell, wie sonst auch. Und die sieht ... Mann, Xan, da ist immer noch der Zettel dran und die ist wirklich teuer ...“ Chris´ Augen verengten sich und er neigte den Kopf misstrauisch zur Seite. Er sah zugleich enttäuscht und wütend aus.
„Xander, hast du die geklaut?“
Hinter der Sonnenbrille, wurde eines von Xanders Augen groß. Das andere war zugeschwollen.
„Ich musste es tun“, krächzte er „Ich ... es tut mir leid, Chris. Ich ... ich brauche sie, verdammt noch mal, einfach, okay?“
Er versuchte, verärgert zu klingen, aber Chris sah so verletzt aus. Seine eigene Stimme brach schließlich und er drehte sein Gesicht weg, um vor alldem davon zu laufen, vor allem. Aber bevor er den ersten Schritt machen konnte, schoss Chris´ Hand hoch und riss die Brille herunter.
“Scheiße.”
“Weiß deine Mutter, dass du solche Ausdrücke in den Mund nimmst?”, schnauzte Xander, nahm sich die Brille und schob sie sich auf die Nase. Sein Auge war zugeschwollen, seine Nase war dick und jetzt, da Chris sein gesamtes Gesicht sehen konnte, erkannte er wahrscheinlich auch, dass das, was wie eine rissige Lippe aussah, in Wirklichkeit eine aufgeplatzte Lippe war.
„Xan ... Xander! Warte! Verdammt, warte!”
Chris begann, neben ihm herzulaufen und der kühle Herbstmorgen wurde vom Tappen seiner Füße auf dem von Bäumen überschatteten Bürgersteig gestört. Chris´ Hand fiel auf seine Schulter und riss ihn herum und Xander, der sich einem Gegner auf dem Spielfeld ohne mit der Wimper zu zucken stellen konnte, schreckte vor dieser Berührung auf seinem Arm zurück, wie ein Kind vor angedrohten Prügeln.
Xander duckte sich, wich an die Hecke zurück, die das Anwesen von der Straße trennte und versuchte so, seinem besten Freund zu entkommen wie eine scheue Spinne einem kreischenden Mädchen.
Aber Christian kreischte nicht. „Was ist passiert?“, fragte er ruhig.
Xander zuckte mit den Schultern. „Ich will nicht drüber reden“, brummte er.
„Tut mir echt leid für dich. Aber du sagst es mir und zwar sofort, sonst drehe ich mich um, gehe nach Hause und rufe meinen Vater an. Er muss Misshandlung melden, so ist das verdammte Gesetz und das gäbe eine irrsinnige Schlammschlacht. Sprich mit mir, Xander.“
Chris hatte helle Haut – wunderschöne, sternenklare Haut, die seine nachtschwarzen Augen zur Geltung brachte – aber jetzt war sie fleckig und rot. Sein Kinn zitterte und seine geröteten Augen glänzten feucht.
Xander hatte das Bedürfnis, dieses zitternde Kinn einfach festzuhalten, Chris volle Unterlippe mit seinem Daumen glattzustreichen und ihm zu sagen, dass er nicht weinen sollte.
Weine nicht, Christian, mir geht´s gut. Ich bin hier, bei dir.
„Moms Freund.“ Xander kannte nicht einmal den Namen des jetzigen. „Er wollte das Geld, das ich für meine Basketball-Uniform gespart habe. Ich habe nein gesagt.“
Chris´ Augen wurden riesengroß und er sah sich hektisch um.
„Wo ist er? Gott, hat er das Geld gekriegt? Xander, wir spielen dieses Jahr im Wettkampfteam. Du musst einfach dabei sein!“
Zehntklässler im Wettkampfteam. Im Wettkampfteam zu sein, war letztes Jahr schon ein monstermäßiger Erfolg gewesen, der jetzt immer noch unglaublich glorreich auf sie wirkte. Wettkampfteam. Schwierigere Spiele, schwierigere Gegner und für Xander die Chance zu laufen, zu laufen und noch mehr zu laufen und den Schmerz des Alltags mit noch mehr Heftigkeit als sonst in den Boden zu stampfen. Wettkampfteam. Das klang sogar sexy.
Und dann wurde Christian etwas klar. Xander konnte genau sehen, wann es ihm klar wurde. Fast hätte er Mitleid mit seinem Freund gehabt.
„Oh mein Gott!“ Er klang wie ein kleines Kind. „Xander, ich weiß nicht einmal, wo du wohnst!“
Xanders verletzte Lippe zuckte nach oben und die ganze geschwollen Seite seines Gesichtes ergab sich enthusiastisch einem pochenden Schmerz.
„Glaubst du nicht, dass es dafür einen Grund gibt?“, fragte er schlicht.
Chris schlug sich die Hand vor den Mund. „Du hast nie was gesagt“, brummte er verstört. „Es war so schlimm für dich, aber du bist einfach immer nur zu mir gekommen und hast nie etwas gesagt ...“
Xander zog reflexartig die Schultern weg, wie um sich zu schützen und schob sich die gestohlene Brille tiefer ins Gesicht.
„Du hast ein schönes Leben, Christian. Du hast eine nette Familie. Ich wollte nicht, dass sie mich für einen schlechten Einfluss halten, okay?“
„Nein!“ Christian war wirklich verzweifelt und Xander wusste nicht, was er tun sollte. Seine Hände zitterten sogar, bis er sie auf die Schultern seines Freundes legte und sich ängstlich umsah. Chris und er gingen immer früh los, aber es bestand trotzdem die Möglichkeit, dass jemand sie dabei erwischte, wie sie sich mitten auf der Straße wie zwei Schwuchteln benahmen und dann wäre es vorbei mit ... Basketball, eben.
Er konnte sich einfach nicht vorstellen, Basketball zu spielen, wenn ein solches Gerücht die Runde machen würde. Dahin wäre der Respekt seiner Lehrer und der ganze Mist, für den er im letzten Jahr so hart gearbeitet hatte. Nein. Nein. Er würde Chris jetzt beruhigen und dann konnten sie einfach weiter nebeneinander her zur Schule gehen.
„Komm schon, Mann“, flüsterte er wütend. „Beruhig dich einfach. Beruhig dich. Normalerweise bin ich schlauer, ja? Aber ich bin spät heimgekommen und er hat das Geld in meinem Rucksack gesehen, weil ich letzte Nacht mein Gehalt bekommen hab und, na ja, ich weiß nicht, was ich sagen soll, verdammte Scheiße! Ich war dumm! Ich habe mich erwischen lassen! Das passiert mir nicht noch mal!“
Aber irgendwie weinte Chris jetzt nur noch mehr. „Du warst nicht dumm“, murmelte er, seine Stimme belegt. Xander sah sich fieberhaft um.
„Was?“, fragte er irritiert. Verdammt. Chris und seine glückliche Familie. Wenn er jemals etwas vor anderen hätte geheim halten müssen, hätte er es besser gewusst und wäre nicht an einer Straßenecke, wo ihn jeder sehen konnte, in Tränen ausgebrochen.
„Ich hab gesagt, du warst nicht dumm!“ Chris schrie jetzt fast und wenn sein ganzes Gesicht nicht immer noch so weh tun würde, hätte Xander sich die Hand vor die Stirn geschlagen.
„Tja, und jetzt sind wir gerade beide dumm!“, zischte er.
Und Chris, der offenherzig, unbefangen und voll Vertrauen war, schnauzte zurück: „Na und, jemand muss doch für dich einstehen!“
Xander sah ein paar andere Schüler den Gehweg entlang gehen, zu weit weg, um sie zu erkennen, aber sie kamen langsam näher. Verdammt! Er wusste, sie konnten ihn nicht sehen, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich umzudrehen, Chris´ Hand zu ergreifen und ihn um die Hecke herum zu befördern. Dann zog er ihn in den kleinen Spalt zwischen Haus, Hecke und dem Gartentürchen zum Hintergarten irgendeines Nachbarn.
Ihre Mitschüler gingen wahrscheinlich gerade vorbei, aber Xander war das scheißegal. Hier, hinter einer Bushaltestelle in einer Ecke konnte man sie nicht sehen. Sie waren in Sicherheit.
Für einen Moment standen sie nur schnaufend da und starrten sich böse an, während Chris sich sein hübsches Gesicht mit dem Ärmel abwischte und versuchte, sich zusammenzureißen.
„Du hast das nicht verdient“, sagte er schließlich und schaute zu Boden. Vielleicht war es pervers, aber jetzt vermisste Xander den Augenblick, in dem sie sich böse angestarrt hatten.
„Es geht nicht darum, ob man es verdient“, sagte Xander resigniert. „Es geht darum, dass man es abkriegt. Meine Mutter ist eine Drogennutte, Christian. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Meine Wohnung ist ein Loch. Ich muss unter der Treppe beim Trockner schlafen, wenn ich etwas Ruhe will, verdammt. Meine besten Mahlzeiten sind die in der Schule und ...“ Seine Stimme versagte, weil er nicht in so einem angriffslustigen und wütenden Ton über Chris´ Familie sprechen wollte. „... und bei dir zu Hause“, fuhr er verlegen fort. „Was willst du hören? Ich muss trotzdem zur Schule, ich muss trotzdem spielen.“
Chris sah ihn an und Zorn glitzerte in seinen nachtschwarzen Augen. „Spielen? Spielen? Verdammt noch mal, Xander. Solltest du dir nicht um andere Sachen Gedanken machen? Einen Schlafplatz? Eine Pflegefamilie? Gott, dass du es zugelassen hast, dass ich dich das ganze letzte Jahr herumgescheucht habe, dich in das verdammte Team gedrängt und ständig wegen deiner Hausaufgaben gemeckert habe! Scheiß auf das Spiel!“
„Sag das nicht!“ Xander war entsetzt.
„Ich meine es aber so!“
„Sag das nicht!“
„Scheiß auf das gottverdammte Spiel!“
„Hör auf! Hör auf! Hör verdammt noch mal auf!” Xander merkte, dass er schrie, aber er konnte nichts dagegen tun. Xander schrie niemals. Er schrie niemals, er wurde niemals zornig und er ließ es niemals zu, dass irgendetwas ihn in Aufruhr versetzte.
Er machte einfach, was die Lehrer ihm sagten und was der Trainer ihm sagte. Er folgte Chris blind in die Mensa und auf das Spielfeld und er würde ihm sogar in die Hölle folgen, wenn er ihn darum bitten würde, weil Chris und Basketball die einzigen zwei Dinge waren, die Xander mit dem Laserobjektiv in seinem Gehirn anvisiert hatte und die er niemals gegen ein anderes Ziel eintauschen würde. Niemals. Und jetzt wollte Chris diese Bilder beschmutzen, sie wegwerfen, ihm die einzigen beiden Dinge nehmen, die ihm jemals irgendetwas bedeutet hatten, nur weil Xander nicht in der Lage gewesen war, leiser zu schleichen oder sich schneller zu ducken und das war einfach nicht fair.
„Shhhh!“, sagte Chris verzweifelt. Er sah zu dem kleinen Fenster über ihren Köpfen auf. Mit viel Glück waren Mr. und Mrs. Nachbargarten schon zur Arbeit gegangen, aber wissen konnte man es nicht.
„Du kannst mir das nicht wegnehmen!“ Xander stotterte fast. „Verdammt, Chris ... du ... das Spiel … das ist alles, was ich habe!“ Er meinte eigentlich „Du und das Spiel“ aber er war sich nicht sicher, ob Chris das auch so verstanden hatte.
„Aber ... dein Gesicht, Xander! Verdammt, dein Gesicht, Mann. Hast du es dir mal angeschaut?“
Xander zuckte mit den Schultern und versuchte die Tränen zu ignorieren, die sich hinter der Brille ansammelten. „War sowieso nicht besonders hübsch“, murmelte er.
„Halt den Mund!“, schnauzte Chris ihn an und sein Gesicht wurde noch fleckiger.
Verwundert sah Xander, dass Christian Edwards, inmitten von alledem, was sie hier im Garten eines Fremden machten, errötete.
Eine unangenehme, verlegene Stille breitete sich zwischen ihnen aus wie die Röte auf ihren Gesichtern und Xander sah weg. Er war überrascht, als Chris zwei Finger nach ihm ausstreckte, sein Kinn zurückzog und Xander zwang, ihn anzusehen.
„Nimm die Brille ab“, befahl Chris.
Xander seufzte und tat es, weil er Chris tatsächlich in die Hölle folgen würde. Chris´ Daumen bewegte sich, streifte sanft Xanders verunstaltete Wange und Xander, der kurz davor war, „Hände weg!“ oder etwas ähnlich machomäßiges zu rufen, hob seinen Arm um Chris´ Hand wegzustoßen.
Aber er tat es nicht. Stattdessen hielt er Chris Hand fest, genau dort, wo sie war, während seine eigene anfing zu zittern. Und dann … dann … trafen sich ihre Blicke und sie erstarrten, mit Chris´ Hand an seinem verletzten Gesicht und seiner eigenen Hand, die sie dort hielt.
„Ich bin nicht hübsch“, flüsterte Xander, unfähig loszulassen.
Er wusste, dass er es nicht war. Er hatte hohe, slawische Wangenknochen, einen zu langen Kiefer und eine breite Stirn. Mit fünfzehn musste er sich schon jeden morgen rasieren, sonst hatte er nachmittags lange Stoppeln und auf seiner Brust gab es schon eine haarige Stelle genau zwischen seinen Brustwarzen und noch eine, die vom Bauchnabel abwärts bis unter den Bund seiner Jeans reichte.
Er dachte oft, dass er gut als einer dieser Höhlenmenschen aus den Comics durchgehen könnte; alles was er tun müsste wäre, sich nach vorn zu beugen und eine Keule zu schleppen. Aber so sah Chris ihn nicht. Nicht mal ein bisschen.
„Du bist mein Freund“, flüsterte Chris zurück und hob die andere Hand, so dass er Xanders Unterlippe mit seinem Daumen streicheln konnte. „Das macht dich schön.“
Sie standen da, ineinander versunken, bis sie die Stimmen vom Bürgersteig her hörten. Die Jugendlichen, die Xander veranlasst hatten, sich hier zu verstecken, hatten die Stelle erreicht und gingen zwanglos und laut schwatzend vorbei.
Xander und Christian erstarrten, aus Angst, entdeckt zu werden. Sie sahen sich an und fragten sich, was sie hier taten und was es eigentlich war, das entdeckt werden könnte. Es war Chris, der sich als erster bewegte; vielleicht wusste er, dass Xander sich nicht sträuben würde, wenn sie den Anderen so nahe waren. Vielleicht war es die Art wie Xander in seine Augen sah: mit einer Mischung aus Verwunderung, Hoffnung und Schrecken. Xander hatte ihn nie gefragt, nicht einmal in all den Jahren die folgten, warum er es getan hatte. Er hatte einfach zu viel Angst vor der Antwort. Dass es eine Laune, oder ein Spiel gewesen war, oder ihn einfach nur der Teufel geritten hatte. Es wäre einfach zu grausam gewesen, wenn der magischste Moment in Xanders Leben einfach nur passiert wäre, weil Chris der Teufel geritten hatte.
Langsam hob Chris sich auf die Zehenspitzen und zog Xanders Kopf für einen Kuss zu sich herunter. Zuerst war es nichts. Nur ein Hauch einer Berührung, Lippe an Lippe. Xander hatte nie ein Mädchen geküsst und Chris auch nicht, soweit er wusste. Deshalb war es fürs Erste genug, den Atem des anderen zu schmecken, während sie ihre Lippen aneinander rieben. Aber dann wurde Chris drängender und Xanders Lippen teilten sich. Chris´ Zunge glitt hinein, sanft, leckte an der Innenseite von Xanders Mund bis Xander keine Wahl mehr hatte und seinen Mund ganz öffnete, um Chris willkommen zu heißen.
Und obwohl Chris fünfzehn Zentimeter kleiner war als Xander, stöhnte er und drängte ihn zurück, bis sein Rücken gegen den hellgelben Putz des Hauses stieß. (Xander musste den Rest des Tages hellgelben Staub von seinem Sweatshirt wischen.)
Das Innere von Xanders Mund war empfindlich und wund und Chris war unerfahren. Ein ungeschickter Vorstoß einer begeisterten Zunge ließ Xander wimmern und Chris zurückschrecken. Er sah gleichzeitig erregt und ängstlich aus.
“Du … du willst nicht?”
Xanders Brust hob und senkte sich und seine Hände zitterten. Ohne es zu wollen, schloss er seine Finger noch fester um Chris´ Hand. „Ich will“, murmelte er geschockt. Sein Leben hatte immer nur aus weglaufen bestanden. Weglaufen, Unterschlupf finden, Essen finden. Sich die Zähne zu putzen war eine Herausforderung gewesen. Saubere Wäsche ein schwierig zu erfüllendes Bedürfnis. Duschen hatte Mut und genaue Planung erfordert.
Bei all dem hatte er nie Zeit gefunden, auf die anderen Bedürfnisse seines Körpers zu hören. Er war Chris gefolgt, weil er musste, weil Chris alles war, was Licht und Freundlichkeit bedeutete und Xander sich nach ihm sehnte. Aber er hatte nie daran gedacht, dass Chris´ Körper – sein männlicher Körper – etwas war, wonach er sich sehnen würde.
Chris´ Lächeln blendete ihn fast. „Du willst? Mich? Das ist …” Er wurde rot. „Ich meine, du weißt, was das bedeutet – du weißt, dass wir –“
Ja, Xander wusste es. Er kannte das normale Wort und auch die Schimpfwörter. Er kannte das Wort, das die Lehrer verwenden würden und das Wort, das die Schüler benutzen würden. Aber keines dieser Wörter war wichtig, nicht das politisch korrekte Wort und auch nicht der Spott, der sie treffen würde, wenn irgendwer es herausfand. Alles was zählte, war Chris.
„Chris“, sagte er, während er seine Gedanken, sein rasendes Herz und das schmerzhafte Verlangen in seinen Lenden zu kontrollieren versuchte. „Du verstehst das, oder? Eine Pflegefamilie würde bedeuten, dass ich weggehen muss.“
Chris hob seine zitternde Hand, die, die Xanders Kinn gehalten hatte, vor seinen eigenen Mund und schüttelte den Kopf. „Oh, Xander. Gott. Du kannst nicht bleiben … nicht wenn –“ Seine Augen wurden feucht und endlich löste Xander ihre ineinander verknoteten Hände, um mit dem Daumen seiner anderen Hand Chris´ Tränen wegzuwischen.
„Ich kann alles ertragen, wenn es bedeutet, dass ich dich nicht verlassen muss“, sagte er ehrlich. „Und wenn ich auch noch Basketball spielen kann, dann reicht das.“
Christian warf ihm einen meuterischen, verärgerten Blick zu, den Xander sofort erkannte. Chris hatte ihn seinen Eltern präsentiert, als sie ihm gesagt hatten, dass er aus dem Team aussteigen müsse, wenn er seine Mathe-Noten nicht in den Griff bekäme. Er hatte ihn ihrer sprachlosen Geschichtslehrerin präsentiert (soviel weniger cool, als sein Trainer es letztes Jahr gewesen war), als sie einen Kommentar über Xanders kaputte und abgetragene Jeans gemacht hatte. Er hatte den Blick Schülern beim Mittagessen präsentiert, die nicht besonders subtil angedeutet hatten, dass er lieber aufhören sollte, mit dem armen Jungen herumzuhängen, wo er doch so viel bessere Möglichkeiten hatte.
„Aber da kannst du auch nicht wohnen bleiben“, sagte er entschlossen und Xander sah ihn hilflos an. Chris´ Eltern würden ihn wahrscheinlich auf der Couch schlafen lassen, solange es nötig war, aber Xander wollte das nicht. Chris ... Chris respektierte ihn irgendwie. Xander wollte nicht irgendein nutzloses Insekt sein, dass Chris´ Familie aussaugte. Xander hatte nur eine verschwommene Vorstellung von solchen Dingen. Er hatte ja auch nur zwei Anhaltspunkte. Es gab den Dreck und die Leere seines eigenen Zuhauses und die Herzlichkeit und Bequemlichkeit von Christians. Die Erwachsenen in Chris´ Zuhause waren echte Partner. Sie kümmerten sich. Xander war gar nicht bewusst, dass er gerade mal fünfzehn war. Er wusste nur eins: Wenn er jemals mit ... mit Chris zusammen sein wollte, dann wollte er kein Schmarotzer sein oder eine Last oder eine gute Tat.
Er wollte ein Partner sein.
„Eine Wohnung“, sagte er strahlend. „Ich werde ... wir können einen Ausweis fälschen oder so was. Ich kann mir eine Wohnung suchen. Sie ... sie würde nicht wissen, wo ich bin. Es wäre ihr egal. Ich ... Ich muss nur –“
Chris sah ihn mit großen, strahlenden Augen an, als ob das Sinn ergäbe, als ob sie nur mit ein paar Wünschen wirklich die Welt verändern könnten.
„Ich muss nur spielen können“, sagte er hilflos und als Chris´ Blick sich ein wenig verdunkelte, liebevoll wurde, wusste Xander, dass er das Falsche gesagt hatte, aber er konnte die richtigen Worte einfach nicht finden.
„Ja, das schaffen wir“, sagte Chris und nickte.
Xander wurde plötzlich sehr bewusst, dass sie am Haus eines Fremden lehnten, ihre Körper aneinander gepresst, ihre Hände ineinander verschlungen, wie die eines Liebespaares.
„Können wir –“ Oh Gott, wie er es hasste zu fragen. „Wir müssen gehen, aber können wir –“ Er brauchte es. Chris´ Lippen waren geschwollen und er schmeckte so ... so wunderbar. So warm und sonnig. Xander wollte ihn noch einmal schmecken, nur um sicher zu gehen, dass es kein Fiebertraum gewesen war, keine Illusion, heraufbeschworen von Verzweiflung, während er sich unter die Treppe beim Trockner kauerte.
Chris´ Mund war wieder auf seinem. Er ließ Chris´ Hand los, schlang seine Arme um den schmaleren, schlankeren Körper und zog seinen Freund, seinen Retter, tief hinein in alles, was er geben konnte. Verlass mich nicht, Chris. Lass nicht zu, dass ich dich verlasse. Ich brauche das. Ich brauche dich. Ich würde alles tun, die Erde bewegen, bei meiner Mutter ausziehen, mir eine Wohnung suchen, alle meine Kurse bestehen, alles, nur bleib genau hier, für immer.
Gott ... oh Gott ... oh Gott … er schmeckte so süß.
Sie zogen sich schwer atmend zurück und plötzlich waren Chris Hände dabei, Xanders T-Shirt glatt zu streichen und seine Mundwinkel abzuwischen und Xander ertappte sich dabei, dass er dasselbe für Chris tat. Sie mussten sich präsentabel herrichten, dachte Xander schwindelig. Sie konnten schließlich nicht riskieren, dass die Schüler erfuhren, dass ihre beiden Basketball-Stars Spucke miteinander tauschten, oder? Oh Gott. Niemand durfte es wissen. Chris starrte ihn an und trat zurück. Er sah ein wenig verlegen aus und ein wenig spitzbübisch, einfach wunderbar und Xander wollte es der ganzen Welt verraten.
„Verlass mich nicht, okay?“, sagte er, bevor er sich zurückhalten konnte.
Christian sah verwirrt aus. „Okay, Großer. Ich dachte zwar, der ganze Sinn der Übung wäre, dass du mich nicht verlässt, aber gut.“
Xander zuckte mit den Schultern, erschauerte und streifte Chris Lippen ein letztes Mal mit seinem Daumen. „Egal wie rum, es wäre schlecht.“
Chris nickte, packte seine Hand und ließ sie wieder los. „Ich hab dich, okay? Wir sind zusammen. Alles ist gut. Aber wir kommen zu spät. Und wir müssen doch heute diese Ex in Algebra bestehen.“
Xander nickte. Beide lauschten und gingen dann vorsichtig zum Ende des Spalts zwischen Hecke und Haus. Xander ging zuerst hinaus, sah sich um und sagte dann: „Komm raus, die Luft ist rein.“
Chris kam um die Ecke, sie warfen sich ihre Rucksäcke über und begannen zu laufen, um die Schule noch vor den Massen zu erreichen.
SIEschafften es gerade so, eine Wohnung zu bekommen. Chris musste die Kreditkarte seiner Mutter stehlen und wieder in ihre Handtasche zurücklegen, bevor sie es bemerkte. Xander musste jemanden finden, der ihm einen gefälschten Ausweis verschaffte, der ihn 18 statt 15 machte. Schließlich hatten sie eine kleine, unmöblierte Wohnung, ungefähr zwei Blocks von der Schule entfernt, in entgegengesetzter Richtung zum Haus seiner Mutter. Xander war sich sicher, dass es sie nicht interessieren würde, wenn er auszog. Also tauchte er eines nachts einfach nicht mehr zu Hause auf, nachdem er eine Decke, ein Kissen und eine Mülltüte voll mit Kleidung in die Wohnung gebracht hatte.
Und das waren jetzt die einzigen Einrichtungsgegenstände, die er besaß.
Chris gelang es, eine Couch zu finden, die jemand zum Mitnehmen nach draußen gestellt hatte und eines Tages nach der Schule hatten sie sie zusammen eineinhalb Meilen die Straße entlang geschleppt und dann die wackelige Treppe hinauf, damit Xander einen Platz zum Schlafen hatte. In Christians Tasche befand sich noch ein Wecker, denn Xander hatte nicht einmal ein Handy, oder eine Armbanduhr und seit er hier wohnte, hatte Chris ihn schon mehrmals damit aufgeweckt, dass er an seine Tür geklopft und laut gerufen hatte, dass er mal voran machen sollte. Xander arbeitete von neun Uhr abends bis vier in der Früh im örtlichen Walmart – er entlud die Lastwägen – und die zweieinhalb Stunden Schlaf, die er am frühen Morgen bekam, schienen ihm einfach nicht zu reichen. Die Sache war nur, die Miete kostete siebenhundertfünfzig Dollar im Monat und er musste fast Vollzeit arbeiten, um noch einen kleinen Puffer für Notfälle zu haben. Er hatte jeden Monat noch etwa zweihundert Dollar für Basketball und Essen übrig und Christian tat sein Bestes, um ihm noch mehr zu bringen, denn Xanders Handgelenke waren zu diesem Zeitpunkt tatsächlich dicker als sein Bizeps und er schien nur in einem Taumel aus fortwährendem Hunger zu existieren.
Vielleicht hätten sie so weiter machen können, bis die Schule zu Ende war oder vielleicht nicht, aber eines Tages ging Chris´ Temperament mit ihm durch. Er verlor die Fassung und schrie Xanders Geheimnis über das Ganze Basketball-Feld.
Der Trainer war an diesem Tag besonders streng gewesen und Xander, hungrig und müde und generell in schlechter Verfassung, konnte sich kaum aufrecht durch die selbstmörderischen Übungen retten, die die Spieler bis auf den Grund ihrer Seele hassten.
„Komm schon, Karcek, du fällst zurück! Du bist hinter den Zwölftklässlern, hinter den Elftklässlern, Menschenskind, du bist sogar hinter den verdammten Zehntklässlern! Denkst du, die Wettkampfmannschaft ist dir sicher? Ich weiß, dass dein Kopf in den gottverdammten Wolken steckt, Xander, aber du musst deine Augen hier unten haben! Beweg´ dich verdammt, beweg´ dich, beweg´ dich, schneller, schneller, schneller, schneller!“
Und Xander fand seinen Rhythmus gerade so. Sein Kopf war in der Zone, sein Tempo nahm zu und er bewegte sich schneller, kräftiger, bewegte sich, bewegte sich, bewegte sich ... bis sein Knöchel unter ihm nachgab und er förmlich über dem Boden explodierte. Mit Wucht, Schnelligkeit und Schmerz.
Er kam auf dem Rücken zu liegen, starrte an die gewölbte Decke der Sporthalle und fragte sich, warum man es bisher nicht geschafft hatte, die Luftballongirlanden von der letzten Sportveranstaltung von den Rohren zu entfernen.
Er war sich ziemlich sicher, dass der Großteil seines Körpers ein einziger blauer Fleck war und gar nicht sicher, ob er auf seinem Knöchel würde laufen können, aber im Moment, in diesem süßen, weichen, wunderbaren Moment, dachte er ernsthaft darüber nach, einfach nur hier zu liegen, die Welt Welt sein zu lassen und einzuschlafen.
Aber dann weckte Chris´ Stimme ihn auf. Chris schrie den Trainer an!
„Gottverdammt, lassen Sie ihn zufrieden! Er ist am verhungern und er ist erschöpft und er tut verdammt noch mal sein Bestes, okay!“
Xanders Schulter wurde geschüttelt und er sah verträumt zu Chris auf, dem hübschen Chris, der ihn einen Monat zuvor geküsst hatte und seitdem nicht mehr. Xander würde ihn wirklich gerne wieder küssen, aber dafür schien nie genug Zeit zu sein. Chris war ein guter Junge, er ging nach dem Training nach Hause und Xander hatte nur wenige Stunden, um seine Hausaufgaben zu machen, bevor er zur Arbeit ging. Sie hätten sich wann anders treffen können, nach der Schule, an Tagen ohne Training, in freien Momenten an den Wochenenden zwischen den Spielen, aber Chris bestand darauf, dass Xander seinen Schlaf brauchte.
War er plötzlich nicht mehr zum Küssen, jetzt wo er praktisch ein Erwachsener war?
„Xan, bist du okay, Mann? Das war eine gewaltige Rolle. Sag was, ja? Ich hab nicht gesehen, dass dein Kopf aufgeschlagen ist, aber du siehst echt weggetreten aus.“
Xander lächelte ein wenig. „Ich denke nur über ein Nickerchen nach, Bruder. Meinst du ich könnte gleich hier eins machen?“
„Nein!“, sagte der Trainer entschieden und hebelte eine fleischige Schulter unter Xanders Arm, um ihm hochzuhelfen. Chris nahm die andere Seite und trotz der Tatsache, dass der Trainer größer und wahrscheinlich kräftiger war, fühlte sich Xander sicherer, wenn er sein Gewicht auf Christians Schulter verlagerte. Der Trainer seufzte und trat zurück, während Christian ihm half, vom Feld zu humpeln. Xander merkte, wie er unsanft auf die Tribüne gesetzt wurde und fragte sich, ob die schwarzen Punkte vor seinen Augen etwas Ernstes bedeuteten, oder nur, dass ihm übel wurde. Übelkeit wäre wohl wahrscheinlicher, wenn er nicht so verdammt hungrig wäre, oder?
Xander blinzelte, als eine Stablampe direkt in seine Augen leuchtete und die breiten, dunklen Finger des Trainers seinen Schädel abtasteten. Der Trainer war ein ungefähr dreißigjähriger, farbiger Mann mit einer Frau, einem Kind und einer sich ausdehnenden Mitte. Außerdem nahm er kein Blatt vor den Mund und die meisten seiner Schüler hätten sich für ihn vor ein fahrendes Auto geworfen.
Er hörte Ausbrüche, wie den von Christian, nicht oft und Xander blinzelte heftig, um den Gesichtsausdruck des Trainers erkennen zu können.
„Den Kopf hast du dir nicht angehauen“, sagte der Trainer entschieden. Er tastete Xanders Knöchel ab und obwohl er ein wenig angeschwollen war, war er definitiv noch zu gebrauchen. „Der Knöchel wird dich für einen Tag außer Gefecht setzen, aber es ist nicht tödlich. Wärst du so freundlich, mir zu sagen, was du so lange auf dem Boden gemacht hast, Karcek?“
Xander versuchte, seinen Blick scharf zu stellen, aber es misslang. „Müde“, ächzte er. „´Tschuldigung, Trainer.“
„Mmmhh-hmmm. Also gut, ihr zwei. Mein Büro. Jetzt. Jakari?”
Ein ehemaliger Schüler, der jetzt einen guten Job hatte, aber das Spiel so sehr liebte, dass er Trainerassistent geworden war, nickte und blies in seine Pfeife, um mit den Übungen weiter zu machen.
Xander rappelte sich hoch, nur um Chris unter seinem Arm vorzufinden, der ihm beim Gehen half. Er war gerade müde und verzweifelt genug, um seinen Arm, unter diesem Vorwand, um Chris Schultern zu legen. Chris´ fester, muskulöser Körper fühlte sich an seinem so herrlich an und wenn sie sich berührten, war er nicht allein.
Zusammen kämpften sie sich durch die Seitentür der Turnhalle, durch den weißen Gang und in das Büro des Trainers. Als sie dort angekommen waren, setzte der Trainer sie auf seine angeschlagene, rote Couch und bot ihnen dann je eine Flasche Wasser und Energie-Riegel an – Xander sogar zwei.
Xander stand zu sehr neben sich, um Stolz zu zeigen. Er aß beide Energie-Riegel, stürzte dann das Wasser hinunter und als er fertig war, stellte er fest, dass die einzigen Geräusche im Büro sein Kauen und Chris´ leise Atemzüge waren.
Es war eine ziemlich unangenehme Situation. „Es tut mir leid, Trainer“, sagte Christian. „Ich habe wirklich Respekt vor Ihnen. Ich hätte Sie nicht so anbrüllen dürfen.“ Christian stand auf und hielt Xander die Hand hin. Xander nahm sie und zog sich hoch, als der Trainer sagte: „Edwards, Karcek, setzt euch hin, zur Hölle noch mal!“
Christians Augen sahen unglücklich in Xanders und Xander zuckte mit den Schultern. Er war sich nicht sicher, wie viel länger sie es noch hätten verstecken können.
„Warum bist du am verhungern, Karcek?“
Xander sah Christian an. Christian zuckte mit den Schultern und nahm die Schuld auf sich.
„Ich habe ihm nicht genug zu Essen gebracht“, sagte er und das machte Xander richtig wütend.
„Das ist nicht fair. Du hast mich die letzten zwei Monate durchgefüttert!“
„Ja, aber ich habe dir heute früh kein Brot gebracht. Es tut mir leid, Mann. Ich habe verschlafen und es dann vergessen. Ich meine, ich weiß, dass du ein kostenloses Mittagessen bekommst, aber das ist deine einzige Mahlzeit –“
„Warte, warte, warte –“
Xander ließ sich von seinem Streit mit Chris ablenken und sie verfielen in Schweigen.
„Christian, warum, zur Hölle, bringst du ihm Essen?“
Christian wurde rot. „Er hat nicht viel übrig, wenn er die Miete bezahlt hat, Trainer. Er isst ein paar mal in der Woche bei mir zu Abend, aber er kann nicht noch mehr arbeiten, weil er schon so nicht genug Schlaf bekommt.“
Der Trainer seufzte lang und tief. „Du bezahlst zu Hause Miete, Karcek? Was ist denn mit deinen Eltern los?“
Jetzt war es an Xander, rot zu werden und er merkte, dass er nicht antworten konnte. Eine unglaublich unangenehme Stille breitete sich im Büro des Trainers aus und Xander erwischte sich dabei, wie er die Werbeplakate mit Stars an der Wand zählte. Er war bis elf gekommen und fragte sich gerade, wer der niedliche Tennis-Spieler war, als der Trainer sich räusperte und sich dem offensichtlich schwachen Glied in ihrer Zweier-Kette zuwendete.
„Hast du diesem riesengroßen Nichts etwas hinzuzufügen, Edwards?
Xander drehte seinen Kopf gerade rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie Christian vor Hilflosigkeit errötete. „Das ist Xanders Geschichte, Trainer.“
„Ach ja? Du hast für ihn Essen aus dem Haus deiner Eltern geschmuggelt, es scheint, als wäre es vielleicht auch deine Geschichte, meinst du nicht?“
“Das ist alles, was Sie von mir wissen müssen, Trainer. Können wir jetzt gehen? Xander muss essen, bevor er zur Arbeit geht.“
Die Augen des Trainers verengten sich und Chris musste sich ziemlich anstrengen um sein ausdrucksvolles Engelsgesicht unbewegt zu halten.
„Wo arbeitest du, Xander?“
Es schien eine harmlose Frage zu sein, also tauschten Xander und Chris Blicke und Xander antwortete. „Walmart. Ich entlade die Lastwägen.“
Der Trainer massierte sich den Nasenrücken. “Bist du denn nicht Fünfzehn? Walmart nimmt doch erst Achtzehnjährige.“
Xander machte ein kleines, hilfloses Geräusch, Christian seufzte und der Trainer versuchte es noch einmal.
„Okay, Jungs. Edwards setzt sich hin, Xander isst einen weiteren Energie-Riegel –“
“Aber Trainer, die verkleben mir den Magen!”
“Xander isst die Reste von meinem Mittagessen, Sandwich und Joghurt und wir fangen noch mal von vorne an. Und wenn einer von euch jemals wieder für mich spielen will, dann solltet ihr besser den stinkenden Mist, den ihr mir erzählt habt, aus dem Zimmer räumen und ihn durch gut riechende Wahrheit ersetzen. Habt ihr mich verstanden?“
Sie nickten widerwillig und setzten sich hin. Xander bekam das Salami Sandwich mit Sauerteigbrot, während Christian das Erzählen übernahm.
Als er fertig war, löffelte Xander gerade den Erdbeerjoghurt und der Trainer sah aus, als bekäme er gleich ein Magengeschwür.
„Junge“, sagte er nach einer Weile.
Xander hörte auf den Joghurtbecher auszukratzen und sah auf. „Sir?“
„Warum hast du dir keine Hilfe geholt? Mann, wir haben doch Pflegefamilien und Sozialarbeiter und –“
Einen Moment lang glaubte Xander, ihm würde schlecht.
„Ja schon, aber ... aber –“ Oh Gott. „Aber ich habe nur zwei Dinge, wissen Sie. Ich habe Basketball und Chris und wenn Sie mich den Sozialarbeitern übergeben, dann nehmen die mir beides weg!“
Jetzt sah der Trainer aus, als müsste er sich übergeben.
„Ja, Junge. Ich verstehe dich. Okay, Planänderung. Du kannst nicht länger so leben. Es geht einfach nicht. Es wird dich umbringen und du brauchst ein Sicherheitsnetz, so wie es sich gehört. Lass mich ein paar Anrufe machen, okay? Wir finden wenigstens einen Platz zum Schlafen für dich, ja? Ich glaube, es gibt da ein Jugendheim ungefähr eine halbe Meile von hier – da können Pflegekinder hin, bis sie einundzwanzig werden. Lass uns mal versuchen, ob wir dich da unterbringen können. Es wird schwierig und wir müssen vorsichtig sein und du wirst wahrscheinlich trotzdem einen Job brauchen. Aber ich glaube, wir schaffen das.“
Der Trainer betrachtete Xander mit einer beunruhigenden Menge Verständnis im Gesicht. „Basketball und Christian, hm? Na gut, lass uns versuchen, dass du beides behalten kannst, wenigstens bis wir dir ein Stipendium verschafft haben und du hier weg kommst, okay?”
Zwei Wochen später hatte Xander herausgefunden, dass er, wenn er um sechs aufstand, den Bus nehmen und um sechs Uhr dreißig bei Christian sein konnte. Chris verließ das Haus normalerweise erst um sieben, also wickelte Xander sich in seine Decke und las in der Dezemberkälte einen Text für Englisch.
Er wurde unterbrochen, als Chris grummelnd mit einer Mülltüte in der Hand heraus kam. „Na, wenn ich letzte Nacht davon gewusst hätte, hätte ich ihn letzte Nacht schon ... oh verdammt! Xander!“
