Aufstieg der digitalen Stammesgesellschaft - Oliver Fiechter - E-Book

Aufstieg der digitalen Stammesgesellschaft E-Book

Oliver Fiechter

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Beschreibung

Von den Körperzeichen über den Buchdruck zu Smartphone und künstlicher Intelligenz: Wenn sich die Medien verändern, ändern sich die Gesellschaft und die Art und Weise, wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen. Frühere Stammesgesellschaften tauschten die Güter untereinander. Später häufte die auf Effizienz getrimmte Industriegesellschaft materiellen Überfluss an. Sie hat einer breiten Masse Sicherheit beschert – aber durch starke Vermögenskonzentration auch eine gefährliche Ungleichheit geschaffen. Die Vernetzung der Welt durch das Internet beschleunigt diese Entwicklung. Die heutige Netzwerkgesellschaft muss sich der Aufgabe stellen, den Überfluss gerechter zu verteilen. Die beiden Autoren verbinden die aktuelle digitale Transformation mit ethnologischen und wirtschaftlichen Aspekten. Ihre originelle These lautet: Die Digitalisierung bietet uns die Chance, dank unseren technischen Möglichkeiten eine Tauschgesellschaft auf sehr viel höherem Niveau wieder einzuführen.

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OLIVER FIECHTERPHILIPP LÖPFEl

AUFSTIEGDERDIGITALENSTAMMES-GESELLSCHAFT

DIE NEUE GROSSETRANSFORMATION

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2016 (ISBN 978-3-03810-190-1)

Lektorat: Rainer Vollath, München

Titelgestaltung: TGG Hafen Senn Stieger, St.Gallen unter Verwendung einer Illustration von Andrew Lamb

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03810-219-9

Dieses Buch widmen wirunseren Kindern Lykke-Sophia und Andrea.Ihnen und allen Kindern dieser Weltmöge die Zukunft gehören.

Geleitwort

Ein Leben ohne Technik ist kaum mehr vorstellbar. Sie ist unmittelbar geworden, rund um die Uhr verfügbar und hat die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und die Welt wahrnehmen, fundamental verändert.

Zu Beginn dieses Jahres weilte ich am Jahrestreffen des World Economic Forum in Davos, wo Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft die Aufmerksamkeit der Welt auf die anhaltende technologische Transformation richteten – auf die sogenannte vierte industrielle Revolution. Die Technologie ist im Begriff, jede Dimension der menschlichen Existenz zu verändern, sei es durch intelligente Roboter, selbstfahrende Autos oder genetische Eingriffe. Technologie kann auch eine sehr persönliche Erfahrung sein. Das Internet hat in meinem Leben eine bedeutende Rolle gespielt. Es erlaubte mir, meine berufliche Laufbahn mit den Anforderungen einer Mutter und Ehefrau zu vereinen, erst recht als Frau des britischen Premierministers. Es ermöglichte mir, mit Kollegen und Familie jederzeit und von jedem Ort aus in Verbindung zu stehen.

Für unzählige Menschen auf der ganzen Welt ist Technologie jedoch weit mehr als nur eine Zweckmässigkeit. Sie ist eine wichtige Lebensader – ein Mittel, um sich Möglichkeiten zu erschliessen, die tief greifende Änderungen im Leben bewirken können. Als ich 2008 meine gemeinnützige Stiftung für Frauen gründete, war mir klar, dass Technologie von entscheidender Bedeutung für unsere Mission sein würde: der Förderung von Unternehmerinnen in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Die mobile Technologie wurde rasch zu einem Grundpfeiler unserer Arbeit. Eines unserer innovativsten Projekte drehte sich beispielsweise um die Entwicklung einer massgeschneiderten mobilen Applikation zur betrieblichen Unterstützung einer von Frauen geführten, landwirtschaftlichen Genossenschaft im ländlichen Indien. Vor dieser Applikation mussten die Frauen zu einem Verarbeitungszentrum reisen, um die Bestellungen für ihre Produkte aufzugeben. Dies erforderte teilweise eine bis zu siebenstündige Anreise. Es gab auch keine Garantie dafür, dass sie jene Produkte mitbrachten, die ihre Kunden auch wollten, denn das Verarbeitungszentrum konnte keine Prognose für die Nachfrage machen. Und sie konnten auch nur zwei Säcke mit Waren nach Hause mitnehmen – das Maximum, was sie ihre Schultern zu tragen vermochten.

Die von uns entwickelte Applikation ermöglicht es den Verkäuferinnen, ihre Bestellungen aufzugeben, Inventar zu führen und Verkaufsberichte zu erstellen; dies rasch und einfach, alles auf Knopfdruck. Das Ergebnis war ein deutlicher Anstieg der monatlichen Verkäufe, teilweise bis zum Dreifachen.

Meine Stiftung betreibt weiter ein globales Mentoring-Programm, das die Möglichkeiten des Internets nutzt, um Beziehungen herzustellen, die sonst nicht zustande kämen: Unternehmerinnen und Mentoren zusammenbringen, die oft tausende Kilometer trennen. So haben wir einen heimarbeitenden Schneider in Malaysia mit einem Universitätsprofessor im Libanon zusammengeführt, einen Fremdenführer in Südafrika mit einem Unternehmer aus Bulgarien und einen Gastronomen in Palästina mit dem Direktor eines Unternehmens im Vereinigten Königreich. Dank der Technologie bleibt kein Experte ausser Reichweite.

Überall auf der Welt bauen Technologien Schranken zu Bildung und Wirtschaftstätigkeit ab. Lernen findet nicht mehr im traditionellen Klassenzimmer statt, Finanzgeschäfte nicht mehr in physischen Bankfilialen. Gerade die Finanzbranche wird durch den technologischen Wandel in bisher unbekanntem Masse durchgeschüttelt. Neue Dienstleistungen und Produkte entstehen und werden für Menschen zugänglich, die bislang vom Finanzwesen ausgeschlossen waren.

Zwischen 2011 und 2014 erhielten über 700Millionen Menschen Zugang zum formalen Finanzsystem, weitgehend via mobile Technologien. In Afrika hat deren Nutzung exponentiell zugenommen, etwa in Kenia, wo fast 70Prozent der Erwachsenen ihre Mobiltelefone für Geldtransaktionen einsetzen.

Die technologische Innovation im Finanzbereich bringt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für Länder und Volkswirtschaften neue Aussichten. So konnte die mexikanische Regierung mehr als 1Milliarde Dollar pro Jahr einsparen, indem sie auf die digitale Zahlung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen umstellte.

Der Klimawandel ist ein weiterer Bereich, auf den sich die vierte industrielle Revolution mit Bestimmtheit markant auswirken wird. Der technologische Fortschritt trägt in sich das Potenzial, um Innovationen in der Landwirtschaft und Biotechnologie zu fördern, die Entwicklung von kohlenstoffarmen Energiestrategien zu beschleunigen und damit eine sicherere, sauberere Welt für alle zu schaffen.

Die Technologie verheisst viel für die Entstehung jener Art von Gesellschaft, die in diesem kühnen Buch vorgestellt wird– eine Gesellschaft, die sich auf die Grundsätze von Gleichheit, Gegenseitigkeit und Fortschritt stützt. Natürlich sind wir noch nicht soweit. Die Reise an dieses Ziel ist angetreten, doch es müssen noch viele Herausforderungen bewältigt werden.

Zu viele der durch den technologischen Fortschritt in Aussicht gestellten «digitalen Dividenden» wurden nicht realisiert, weil grosse Teile der Weltbevölkerung offline und damit nicht miteinander verbunden sind. Schlechte Verbindungen und ein teures Internet verhindern weiterhin, dass viele Menschen Technologien besitzen oder nutzen können, mit denen sie eine aktivere Rolle in ihrer Gesellschaft und Wirtschaft einnehmen könnten. Die folgende Feststellung der Organisation «Alliance for Affordable Internet» fängt diese harte Realität gut ein: «Für Norweger kostet der ständige Zugang zu schnellem und unbegrenztem Breitband-Internet kaum mehr als der Latte Macchiato, den sie auf dem täglichen Weg ins Büro kaufen; für Nigerianer hingegen können bereits 500 MB Prepaid-Datennutzung teurer sein als die Ausbildung ihrer Kinder.»

Das Geschlecht spielt auch hier eine wichtige Rolle. Die Forschung zeigt, dass Frauen die Mehrheit der weltweiten Bevölkerung stellen, die offline ist. In Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen haben sie gegenüber Männern eine 14Prozent tiefere Wahrscheinlichkeit, ein Mobiltelefon zu besitzen.

Um diese Lücken zu schliessen und sicherzustellen, dass alle gleichberechtigt an diesem neuen digitalen Zeitalter teilhaben können, bedarf es eines enormen politischen Willens, grösserer finanzieller Investitionen in die technologische Infrastruktur und einer Erneuerung der Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor. Es ist keine Übertreibung, dies als die globale Herausforderung unserer Zeit zu bezeichnen. Für die Vorstellung einer Zukunft, in der die digitale Technologie die Grundlage für eine gerechtere soziale und wirtschaftliche Realität legen kann, ist dieses Buch eine eindringliche Erinnerung, weshalb wir alle diese Herausforderung annehmen müssen.

Inhalt

Titelei

Geleitwort

Einleitung

  1  Ändern sich die Medien, ändert sich die Gesellschaft

  2  Menschliche Erfahrungen sind stärker als rationale Theorien

  3  Entfremdet wie ein seelenloser Roboter

  4  Der Tanz auf dem Vulkan

  5  Glaubenskriege um ökonomische Gesetze verhindern die Transformation

  6  Die alte Tauschgesellschaft mit neuen Mitteln wieder aufleben lassen

  7  Die Zeichen stehen auf Veränderung – die Richtung ist offen

  8  Die digitale Revolution hat die Kraft, die soziale Ungleichheit zu besiegen

  9  Der Krieg ist nicht die Antwort

10  Die Blase des billigen Geldes platzt

Zusammenfassung: Noch ist offen, ob Sharing für gemeinschaftliches Handeln steht

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Die Autoren

Weitere E-Books

Einleitung

«Verstehen kann man das Leben rückwärts,leben muss man es aber vorwärts.»Sören Kierkegaard

Auf dem Weg ins digitale Paradies?

Wir schreiben das Jahr 2045. Die technologische Entwicklung wächst seit Jahrzehnten exponentiell, und die Rechenleistung von Mikrochips verdoppelt sich noch immer alle zwei Jahre. Die vor 80Jahren prophezeite Entwicklung des Computerwissenschaftlers Gordon Moore hat sich bewahrheitet. Längst übersteigt ein handelsüblicher Computer die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns um das Milliardenfache. Unsere Maschinen reflektieren sich selbst und lösen Probleme eigenständig. Das wurde bereits vor über 30Jahren von dem Wissenschaftler Ray Kurzweil in einem seiner Bücher vorausgesagt.

Heute sind 12Milliarden Menschen via World Wide Web miteinander verbunden. Als Erweiterung unseres Gehirns setzen wir Computerleistungen wie Flossen beim Schwimmen ein. Viele von uns haben ein Implantat im Kopf, das unsere Gedanken liest und sie ins Web einspeist. Wer etwa wissen will, wie man ein bestimmtes Fischgericht kocht, kann sich in der Zeit eines Wimpernschlags rein gedanklich via Internet mit jemandem verbinden, der ihm das Rezept dazu verrät. Ganz selbstverständlich tauschen wir Details aus allen Bereichen unseres Lebens aus. Unsere bevorzugten Reiseziele, unsere Lieblingsmusik, unsere Krankheiten, Charaktermerkmale und Gefühle– wir alle wissen alles voneinander und bilden so eine Gefühls-, Fähigkeits- und Wissensgemeinschaft.

Alltägliche Dinge erledigen wir bequem über eine zentrale Kommunikationsplattform: über E-Mails. Wir bestellen Lebensmittel, schliessen einen Krankenkassenvertrag und eine Hypothek ab, verkaufen das alte Auto, buchen Reisen, suchen und finden einen Lebenspartner, bereiten Hochzeiten vor und organisieren Scheidungen sowie Begräbnisse. Die zentralisierte und vernetzte Kommunikation hat längst das Paradigma einer zentralisierten Politik und einer monopolisierten Wirtschaft zerschlagen. Nationalstaatliche Grenzen gibt es nicht mehr. Der Wettbewerb zwischen Nationalökonomien hat sich erledigt, und die einstige Logik der Märkte existiert nicht mehr.

Wir haben ein neues altes Wirtschaftssystem erschaffen: die Tauschwirtschaft. Die Älteren unter uns wissen, wie fundamental sich dadurch unsere sozialen, politischen und vor allem wirtschaftlichen Strukturen verändert haben. Der Tausch ist nicht Mittel zum Zweck, sondern der Zweck selbst. Die Kapitalakkumulation spielt in unserer Tauschwirtschaft nur noch eine untergeordnete Rolle. Produkte, Leistungen und Wissen werden nicht primär gegen Geld, sondern gegen Gefühle wie Anerkennung und Liebe, gegen Fähigkeiten und Wissen getauscht. Damit der Tausch zwischen einzelnen Individuen optimal abläuft, übernehmen die Computer eine genaue Passung und bringen so Angebot und Nachfrage in Einklang. Diese Wertschöpfung durch Synchronisation funktioniert aufgrund vollkommener Transparenz reibungslos. Je mehr wir preisgeben, desto grösser wird der Profit für jeden Einzelnen von uns. In jeder Beziehung. Unseren Lebensunterhalt ausserhalb des Tauschens bestreiten wir mit einer Art Grundeinkommen, das für unsere zur Verfügung gestellten persönlichen Daten von einer Peer-to-Peer-Bank täglich berechnet und ausbezahlt wird.

Ebenfalls eine Peer-to-Peer-Bank managt anfallende Arbeiten und steuert Produktionsprozesse. Sie verwaltet eingehende Informationen und leitet sie an Roboter weiter, denn einzig Roboter verrichten bei uns noch produktive bzw. alltägliche, repetitive Arbeit. Wir haben sehr viel Freizeit. Zu tun gibt es nicht mehr viel– ausser dem Suchen und Finden von Tauschpartnern und dem Entwickeln von Ideen. Vielleicht entwerfen wir einen Schuh, der genau unseren Bedürfnissen entspricht. Via Synchronisation finden wir andere, daran ebenfalls Interessierte, um gemeinsam einen Produzenten zu suchen, der den massgeschneiderten Schuh herstellt. Die Organisation der Produktionskette nehmen wir selbst in die Hand.

Grosskonzerne und Markennamen kennen wir nur noch aus der Geschichte. Genau wie die Kapitalmaximierung mittels freier Märkte und die Konzentration von Macht auf wenige. Heute agieren Verwaltungen und Unternehmen ausschliesslich in globalen, dezentralen Netzwerken. Dadurch haben die einzelnen Beteiligten an Bedeutung gewonnen– Hierarchien hingegen haben sie abgeschafft. Wir halten zwar nach wie vor am Prinzip der freien Märkte fest, haben dieses jedoch umgedeutet. Es unterliegt nicht mehr der Kapitalmaximierung, sondern dient dem Tausch von Bedürfnissen gegen entsprechende Fähigkeiten. Die Digitalisierung hat die heutige Tauschwirtschaft erst möglich gemacht. Ihretwegen haben wir die letzte Ausfahrt aus einer Sackgasse ohne Wiederkehr gerade noch erwischt.

Der Fluch des Trilemmas

Doch zurück in die Gegenwart. Die Wirtschaft hat sich tief in unserer gesellschaftlichen Struktur verankert. Sie durchdringt nahezu alle Aspekte unserer sozialen Interaktionen und prägt unsere Denk- und Gefühlswelt. Die Art und Weise, wie wir Güter produzieren und bereitstellen, um unsere Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen zu befriedigen, übt einen grossen Einfluss auf uns als Individuum und als zukünftige Generationen aus.

Auch der Blick in die Vergangenheit zeigt: Schon immer hat unser wirtschaftliches Verhalten die soziale Ordnung unseres Zusammenlebens beeinflusst. Und seit Jahrtausenden versuchen Menschen, die für sie zweckmässige Wirtschaftsform zu finden. In der Stammesgesellschaft war der Tauschakt der Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhielt, oder anders ausgedrückt: Auch Leistungen ohne Preis hatten ihren sozialen Wert. Dafür mussten diese Gesellschaften auf Fortschritt und Innovation verzichten. Sie kannten keine individuelle Selbstverwirklichung und hatten– kulturell gesehen– keine Geschichte.

Später entstanden daraus hierarchische Gesellschaften, die in der indischen Kastengesellschaft ihre extremste Ausformung erlebten. Der Homo hierarchicus seinerseits verzichtete auf die Gleichheit der Menschen. Stattdessen musste er sich in eine starre Ordnung nicht verhandelbarer und metaphysisch verordneter Pflichten und Ansprüche einfügen. Dank der bürgerlichen, demokratischen Ideologie und der Dynamik der sozialen Marktwirtschaft hat die aufgeklärte Gesellschaft diese hierarchische Ordnung abgelöst. Doch auch unsere liberale Gesellschaft muss ihren Preis dafür bezahlen und auf einen zentralen humanen Grundwert verzichten: auf die Gegenseitigkeit. Sie wurde durch ein darwinistisches Auslese- und ökonomisches Leistungsprinzip ersetzt. «Survival of the fittest» lautet bis heute das oberste Credo unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.

Die einstige Utopie eines Wirtschaftsmodells, das sich ohne staatliche Eingriffe selbst steuert, scheint im Jahr 2016 am Ende seiner Entwicklungsmöglichkeit angekommen. Der Kapitalismus frisst allmählich seine Kinder. Höher, weiter, schneller– Unternehmen produzieren mehr und mehr. Aber immer vom Gleichen. Wie Marktschreier bieten wir austauschbare Waren an. Die Märkte sind zu Kampfplätzen verkommen, der Wirtschaftsalltag ist zum Wettkampf entartet. Begrenzten Mitteln stehen unbegrenzte Angebotsmöglichkeiten gegenüber. Beim Feilschen um den günstigsten Preis gibt es viele Verlierer und wenige Gewinner.

Die liberale Gesellschaft mit ihrer Überzeugung, dass beständiges Wirtschaftswachstum, also die unaufhörliche Steigerung des Bruttosozialprodukts, für allgemeinen Wohlstand und globale Lebensqualität sorgt, steht am Punkt ohne Wiederkehr. Zwar hat unser Glaube an die «unsichtbare Hand» über die letzten Jahrhunderte einer breiten Masse materielle Sicherheit beschert– aber durch eine starke Vermögenskonzentration auch eine besorgniserregende Ungleichheit geschaffen. In einer Welt von Überkapazität und Überproduktion nimmt ein auf Effizienz getrimmtes Wirtschaftssystem monströse Gestalt an. Das neoklassische Prinzip des Eigennutzes und der Profitmaximierung nach westlichem Vorbild hat uns Menschen verändert– und entfremdet. Die Globalisierung hat das bewährte Gleichgewicht zwischen Markt- und Gemeinwohl brüchig gemacht, das ökologische System ruiniert und die Finanzmärkte an den Rand des Kollapses getrieben. Diese bedrohliche Megakrise wird durch die Digitalisierung und die Vernetzung der Welt über das Internet und die sozialen Netzwerke zusätzlich verstärkt und beschleunigt. Fremdbestimmt wie der Rhesusaffe Sam, der im Dezember 1959 von der NASA in einer Rakete ins Weltall katapultiert wurde, beobachten wir mit einer Mischung aus Naivität, Faszination und Furcht den technischen Fortschritt, der um uns herum geschieht– und seine enorme Disruptionskraft. Der Kapitalismus und die digitale Transformation sind zu den schicksalsvollsten Mächten unseres modernen Lebens geworden.

Die drei Grundformen der menschlichen Gesellschaft– Stammesgesellschaft, hierarchische Gesellschaft und liberale Gesellschaft– müssen von jeher auf einen der drei humanen Grundwerte– Geschichte, Gleichheit und Gegenseitigkeit– verzichten. Dieses wirtschaftliche und gesellschaftliche Trilemma hat uns einmal mehr zu nicht überwindbaren Widersprüchen geführt. Damit das Schicksal der Menschheit, gefangen in diesen gegenläufigen Abhängigkeiten, nicht tragisch endet und wir unseren Untergang noch rechtzeitig verhindern können, ist ein neues Gemeinschaftsverständnis zwingend geworden.

Die letzte Hoffnung

Menschliche Innovation und Markteffizienz sind die Glaubensaxiome unserer westlich-kapitalistischen Gesellschaft. Der reinen Lehre neoliberaler Orthodoxien entsprechend sind sie für unseren zunehmenden Wohlstand verantwortlich. Diese Überzeugung bildete demnach die Basis für den Fortschrittsimperativ der letzten Jahrhunderte. Die These vom unentwegten Fortschritt ist schon öfter angezweifelt worden: zuerst von dem Pfarrer und Ökonomen Thomas Robert Malthus zu Beginn des 19.Jahrhunderts, zuletzt von dem Biologen Paul Ehrlich und dem Club of Rome in den 1960er-Jahren. Bisher sind sie alle mit ihrer Kritik gescheitert. Malthus’ Befürchtung, dass die zu Beginn der industriellen Revolution rasch wachsende Bevölkerung bald nicht mehr ernährt werden könne, wurde durch die Entdeckung des Kunstdüngers entschärft. Die Warnungen des Club of Rome vor versiegenden Rohstoffen ertranken buchstäblich in den Fluten des billigen Öls der 1980er-Jahre.

Heute sind diese Diskussionen zurück– und zwar mit Nachdruck. Ja, und die Fakten sprechen für sich. Bis Mitte des 21.Jahrhunderts werden wir den Planeten Erde und dessen Ressourcen mit rund 10Milliarden Menschen teilen. Möchten wir die Grundbedürfnisse aller decken, dann müssen wir die Nahrungsmittelproduktion bis dahin verdoppeln. Einen Lebensstandard, der nur annäherungsweise unserem westlichen entspricht, können wir jedoch bei Weitem nicht mehr bieten. Der Benachteiligungscharakter unseres Systems wird immer offensichtlicher. Die Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus wachsen. Ob Ökonomen, Historiker, Biologen, Physiker, Mediziner, Ingenieure oder Juristen: Alle prophezeien der Menschheit eine düstere Zukunft. Ein Blick auf die Titel aktueller Sachbücher bestätigt dies eindrücklich: Zehn Milliarden, Endspiel, Krieg der Weltwährungen, Billionen Schuldenbombe, Der grosse Bruch– die Reihe liesse sich beliebig fortsetzen.

Doch nun zeigt sich ein Hoffnungsschimmer am Horizont: das digitale Zeitalter. Die führenden Wirtschaftsblätter und Magazine berichten über intelligente Roboter, interaktive Software, neue Durchbrüche auf dem Feld der künstlichen Intelligenz, aber auch über Sharing Economy, Collaborative Consumption und Crowdfunding. Bücher wie The Second Machine Age von Erik Briynjolfsson und Andrew McAfee oder Tylor Cowens Average is Over waren 2014 die Bestseller unter den Sachbüchern und wurden nicht nur im Wirtschaftsteil, sondern auch im Feuilleton diskutiert. Sie stellen uns ein neues Maschinenzeitalter in Aussicht, das einen immensen Einfluss auf alles hat, und zwar nicht nur auf soziale Strukturen und wirtschaftliche Prozesse allein, sondern auch auf das Grundverständnis der Menschheit per se.

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Ändern sich die Medien, ändert sich die Gesellschaft

Big Data vermischen Realität und Virtualität.

Bereits in den 1960er-Jahren prägte Marshall McLuhan folgenden legendären Satz: «Das Medium ist die Botschaft.» Damit wollte der kanadische Wissenssoziologe zum Ausdruck bringen, dass nicht allein der Inhalt einer Botschaft ihre Wirkung bestimmt, sondern auch das Medium, über das sie verbreitet wird. Die Tagesschau im Fernsehen funktioniert anders als eine Tageszeitung und diese wiederum anders als eine Radiosendung. Die Teilnehmer einer Talkshow im Fernsehen beklagen sich häufig darüber, dass sie nach ihrem Auftritt auf ihre Krawatte oder Bluse angesprochen worden seien, jedoch nicht darauf, was sie gesagt hätten. Mit anderen Worten: Ihre visuelle Wirkung war mindestens genauso entscheidend, wenn nicht sogar entscheidender als der Inhalt ihrer Botschaft. Mit seinem Zitat hat McLuhan nicht nur die Wirkungsweise von Medien schlagartig erhellt, sondern er hat auch einen neuen Berufsstand geschaffen. Heerscharen von Medienberatern verdienen gutes Geld damit, dass sie ihren Kunden sagen, wie sie sich kleiden sollen, wenn sie im Fernsehen auftreten: «Karierte Sachen sind ganz schlecht.» Folgende Gesten sollten sie unterlassen: «Fahren Sie sich nicht durch das Haar und verdrehen Sie die Augen nicht, denn das ist katastrophal.» Sie sagen ihnen auch, welche Sätze beim Publikum gut ankommen. Das hat dazu geführt, dass beispielsweise Politiker heute nicht mehr in ganzen Sätzen sprechen, sondern in sogenannten «sound bites», in Kurzsätzen mit einem hohen Erinnerungswert, die sich auch bei nur flüchtigem Zuhören einprägen.

Inzwischen ist der Medienvisionär McLuhan selbst von der Entwicklung überholt worden. Er lebte in einer analogen Medienwelt. Mit dem Internet begann der digitale Medienwandel durch Konvergenz. Konvergenz bedeutet, dass sich die Grenzen zwischen den einzelnen Medienkanälen auflösen. In der Vergangenheit bediente sich eine Gesellschaft unterschiedlicher Informationstechnologien und -modalitäten. Was gedruckt wurde, bediente sich der Schriftsprache. Telefon und Radio nutzten das gesprochene Wort und die Musik. Die Fotografie, der Film und das Fernsehen basierten auf der visuellen Information. Heute dient die Digitaltechnologie in gleicher Weise der Sprache, dem Ton und der grafischen sowie bildhaften Darstellung. Sie findet ihre Anwendung in der Übermittlung, Verarbeitung, Speicherung und Wiederaufbereitung von Information.

Heutige Onlineportale beinhalten alle Darstellungsformen journalistischer Meinungsäusserung, und zwar als Text, Bild, Video und Ton. Diese Konvergenz der Formen drückt nicht nur auf die Löhne der Profis, sie verändert auch ihre Arbeitsweise. Im modernen Newsroom klassischer Medienhäuser wurde die traditionelle Arbeitsteilung weitgehend aufgehoben. Bis vor Kurzem herrschte eine Trennung von Text, Bild und Produktion. Heute wird von den Journalisten verlangt, dass sie alles können: Texten, Fotografieren und zunehmend auch Filmen. «Das bringt uns immer stärker in Bedrängnis, und möglicherweise werden wir bald der Vergangenheit angehören», so lautet der allgemeine Tenor unter Medienschaffenden.

Auch wir Zuschauer sind von diesem grossen Fortschritt betroffen. Wir sind nicht mehr teilnahmslose Konsumenten, sondern Akteure– wir sind «mitten drin, statt nur dabei». Ob politische Fernsehdiskussion, Sportübertragung oder Dokusoap: Im «second screen» tauschen wir uns in Echtzeit mit anderen Akteuren aus und diskutieren. Nicht selten nehmen wir sogar auf den redaktionellen Verlauf einer Sendung Einfluss. Das Internet hat das Monopol der Medien für die Herstellung und Verteilung von Information zerstört. Es bietet nicht nur eine bislang nie dagewesene Interaktivität, sondern es verschafft dem Laien sogar seine eigenen publizistischen Plattformen. Auf Facebook, Youtube und unzähligen Blogs können sich Amateurjournalisten verwirklichen. Mit der neuesten Generation der Smartphones produzieren sie problemlos Inhalte und teilen diese dann mit einem Klick über den Sharebutton.

1.1Fischer und Fische im Netz– wir sind beides zugleich

Nicht nur Journalisten sind von den disruptiven Innovationen des Internets betroffen. Das Internet gehört heute zu unserem praktischen Alltag. Seit dem «Urknall» des Internetuniversums vor 20Jahren, als der britische Informatiker Tim Berners-Lee am Kernforschungszentrum CERN die Grundlagen für das Internet schuf, breitet es sich konstant aus. Wer glaubt, dies sei nur ein Luxusgut westlicher Wohlstandsländer, der irrt. Das Internet ist längst ein globales Phänomen geworden. Heute sind über 3Milliarden Menschen online, über 2Milliarden Menschen besitzen ein Smartphone. Das sind etwa 27Prozent der Weltbevölkerung. Bei der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen liegt der globale Anteil gar bei 76Prozent. Über ein Drittel der Weltbevölkerung ist Mitglied eines sozialen Netzwerks und verbringt mehrere Stunden täglich online. Während der knapp zehn Stunden, die Sie damit verbringen werden, dieses Buch zu lesen, werden im Internet

76200000000 E-Mails versendet,

2520000000 Suchanfragen bei Google durchgeführt,

1080000000 Likes auf Facebook generiert,

3240000Minuten Videofilme auf Youtube hochgeladen,

312000 Webseiten online geschaltet und

210000 Gigabyte Daten auf Facebook produziert.

Durch diese rasante technologische Entwicklung ist das Internet unser ständiger Begleiter. Die ersten Computer waren so gross, dass sie noch ganze Lagerhallen füllten und einzig von spezialisierten Personen mittels Lochkarten und Magnetbändern bedient werden konnten. Sie dienten in Forschungseinrichtungen vornehmlich der Bearbeitung von (naturwissenschaftlichen) Problemstellungen und waren nur kleinsten Expertenzirkeln zugänglich. Bis in die späten 1970er-Jahre existierte nach heutigem Verständnis für das Produkt Computer kein Markt. Erst die Überführung der für die Rechenoperationen notwendigen Transistoren in integrierte Schaltkreise führte dazu, dass sich die Grösse der Rechenanlagen drastisch verringerte, und zwar bei einem gleichzeitig deutlichen Anstieg der Rechenleistung. 1977 stellten die Gründer von Apple, Steve Wozniak, Steve Jobs und Ronald Wayne, Apple I und Apple II vor und brachten die ersten PCs in die Wohnzimmer und Büros. Heutzutage passt das Notebook in die Akten- und das Smartphone in die Hosentasche. Mit den Smartwatches tragen wir das Internet am Handgelenk und mit Google Glass vor dem Auge.

Auch Menschen mit Chipimplantaten sind längst keine düstere Science-Fiction-Vision mehr. Freaks tragen die Schnittstelle zum Internet bereits auf einem funktionierenden Radio-Frequency-Identification-Chip (RFID) unter der Haut. Ihr Körper kann so direkt mit dem Internet kommunizieren. 2006 hat die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA implantierbare Chips für medizinische Anwendungen erlaubt. Federführend ist hier die Firma PositiveID, die sich auf die Entwicklung subkutaner Chips spezialisiert hat. Der mit einer 16-stelligen Codenummer identifizierbare Chip ist nur so gross wie ein Reiskorn und sendet über seinen Träger laufend Informationen an eine Datenbank. Diese Funkchips sind längst massenmarkttauglich. Sie kosten nicht viel und sind einfach zu implantieren– ein Besuch in einem Tattoo- und Piercingstudio genügt.

Doch auch ausserhalb der Haut lassen sich Daten sammeln. So misst beispielsweise das I-Phone6 mithilfe der Health-App unsere Herzfrequenz und findet heraus, wie viele Schritte wir täglich zu Fuss gehen, wie viele Kalorien wir verbrennen und wie hoch unser Blutzucker- oder Cholesterinwert ist. Es kennt unsere Blutgruppe und weiss, worauf wir allergisch reagieren. Wearables, am Körper getragene Minicomputer, zeichnen die Daten minutiös auf und leiten sie an eine zentrale Datenbank weiter. Schon jetzt gibt es Kleidungsstücke, in die elektronische Hilfsmittel zur Kommunikation und Musikwiedergabe eingearbeitet sind. Für Google Maps erfasst der Suchmaschinenkonzern die Handydaten aller Autofahrer quasi in Echtzeit, um im Falle eines Staus den Verkehr umzuleiten und den Fahrer mit einer Präzision von zwei Minuten an seinen Zielort zu geleiten. Gegenwärtig experimentiert Google auch mit einem Dienst, der für E-Mail-Nutzer automatische Antwortvorschläge auf deren Nachrichten generieren soll. Ein Algorithmus analysiert dafür in Milliarden von E-Mails, die über die Server von Googlemail laufen, die syntaktischen Muster im Antwortverhalten der Nutzer und reichert diese Daten mit deren persönlichen Vorlieben an. So entstehen aus unterschiedlichen Bausteinen, Templates und Wortdatenbanken Antworten, die nicht manuell, sondern maschinell erzeugt worden sind, aber trotzdem authentisch wirken. Noch ist das technische und wirtschaftliche Potenzial von solchen kreativen Algorithmen bei Weitem nicht ausgeschöpft. Bernd Flessner von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg schreibt in einem Meinungsbeitrag der Neuen Zürcher Zeitung: «In einer nicht mehr fernen Zukunft werden die global agierenden Medienkonzerne nicht nur von Algorithmen geschriebene Onlinezeitungen anbieten, sondern auch Ratgeber, Krimis oder Fantasyromane. Zeitungen und E-Books sind dannzumal selbstverständlich individualisiert verfügbar. Die E-Book-Reader der Zukunft erfassen und ändern den Text kontinuierlich. Bald wissen die lernfähigen Geräte, welche inhaltlichen oder ästhetischen Präferenzen der Leser hat, und erhöhen entsprechend die Zahl der Mordopfer oder der erotischen Abenteuer.» Für alle diese datenbasierten Serviceleistungen schicken die Unternehmen ihre Daten in Millisekunden um den Erdball, um sie in Datencentern abzugleichen. Die gewaltige Menge an Informationen muss verarbeitet, zugeordnet und gespeichert werden. Das verschlingt haarsträubende Mengen von Ressourcen. Die Technologieunternehmen sind deshalb auf eine optimale Energieinfrastruktur angewiesen, um ihre Serverfarmen mit Energie zu versorgen. Allein Google schaltet pro Tag 1000 neue Server. Weil das Unternehmen nicht glaubt, dass der Staat die dafür benötigte Stromversorgung nachhaltig sicherstellen kann, stellt es eigene Kraftwerke auf. In Oberösterreich baut Google eine neue Serveranlage– auf einem 75Hektar grossen Gelände. Auf der Suche nach billigem Atomstrom und umweltfreundlicher Wasserkraft zieht es auch Apple, Facebook und Cisco aus San Francisco hinaus und in die europäische Provinz hinein. Jüngst errichteten sie ein Datencenter in der schwedischen Kleinstadt Luleå.

Diese Rechenzentren sind die Megahäfen des digitalen Zeitalters, welche die globalen Datenströme steuern. Der Daten- und Seeverkehr haben frappante Gemeinsamkeiten: Reedereien bauen immer grössere Schiffe, und sie legen Unternehmen und Häfen zusammen, um Skaleneffekte zu erzielen und um die ganze Wertschöpfungskette zu kontrollieren. Die gleiche Strategie verfolgen Facebook & Co. Daten werden nicht nur gehandelt, sondern mittels Firmenübernahmen gekauft und in die eigenen Datencenter integriert. So lässt sich «jede kleinste Regung unserer digitalisierten Existenz sichtbar machen» und der Werbeindustrie auf dem Silbertablett zur Verwertung servieren.

Daten sind das Gold von heute. Und dafür werden Unsummen von Geld bezahlt. Die Daten von 450Millionen WhatsApp-Usern waren Facebook 2014 19Milliarden US-Dollar wert. Im Vergleich: Die UNO schätzt in einer aktuellen Studie den Geldbetrag, den man brauchen würde, um den Welthunger zu stillen, auf rund 7Milliarden US-Dollar– also nur auf ein wenig mehr als ein Drittel des WhatsApp-Kaufpreises. Wirtschaftlich betrachtet ist der Erwerb hochriskant, denn jeder Nutzer zahlt für WhatsApp nur 1 US-Dollar Lizenzgebühr pro Jahr. Facebook bezahlte damit für jeden Nutzer mehr als den Faktor 30, was schon rein arithmetisch unsinnig hoch ist. Selbst wenn WhatsApp so stark weiterwächst wie bisher– mit rund 1Million neuen Usern täglich–, kann das bisherige Geschäftsmodell die Summe kaum jemals wieder einspielen.

Weshalb also bezahlen Facebook & Co. Milliarden, um sich den Zugriff auf das zu sichern, was die Netzwerke zu bieten haben? Die Antwort ist spektakulär unspektakulär: Verdrängungskampf. Mit der Akquisition bremste Facebook Yahoo und Google aus, mit denen das soziale Netzwerk erbittert um die Vorherrschaft im digitalen Werbemarkt kämpft.

1.2Neue Welt ohne Grenzen

Das Internet macht vor keiner Branche und keiner Industrie halt. Wie eine Monsterwelle schwappt es ins Zentrum unserer Existenz und durchdringt alle unsere privaten und beruflichen Lebensbereiche. Ob wir mit Freunden chatten oder wichtige Informationen für unseren Job recherchieren, ist oft nicht mehr zu unterscheiden. Die neuen Technologien übermitteln Informationen– und emotionale Zustände. Dadurch verändert sich unser Verhalten– und unser Bewusstsein. Es hat sich einst als Nebeneffekt der Sprache herausgebildet und verändert sich seither stetig. Klar, dass sich unser Bewusstsein auch jetzt der IT-Welt anpasst– und zwar rasend schnell. Noch vor ein paar Jahren haben Arbeitnehmer zu verhindern versucht, dass ihre Angestellten ihre Arbeitszeit mit Surfen und Chatten verbringen. Heute lässt sich dies kaum mehr kontrollieren. Die Grenzen sind durchlässig geworden. Nicht nur Trendforscher und Marketingfachleute müssen auf Twitter und Facebook den Puls der Zeit erkennen, sondern auch Mediziner, Juristen und Banker. Arbeitgeber, die sich über chattende Angestellte ärgern, haben auch Grund zur Genugtuung, denn die Konvergenz hebt auch den Gegensatz von Arbeits- und Freizeit auf. Wer nachmittags im Büro online chattet, beantwortet im Gegenzug vor dem Einschlafen Kundenmails. Und wer morgens die Onlineportale nach vergnüglichem Nonsens abgrast, erledigt dafür in den Ferien die anfallende Kundenkorrespondenz am Hotelpool.

Mit der Digitalisierung verschwimmt die Grenze zwischen realer und virtueller Welt. Wir verbringen immer mehr Zeit im Internet, und dieses bildet die Wirklichkeit immer perfekter ab. Bereits heute ist es mit speziellen 3-D-Brillen möglich, die Realität virtuell zu reproduzieren. Bald soll das auch mit Emotionen möglich sein, und zwar dank der jüngsten Erkenntnisse in der Neurologie. Wir können dann möglicherweise miterleben, wie sich ein Olympiasieger fühlt oder was dem US-Präsidenten durch den Kopf geht, wenn er im Oval Office eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen fällt. «One day, scientists might construct an ‹Internet of the mind›, or a brain-net, where thoughts and emotions are sent electronically around the world. Even dreams will be videotaped and then ‹brain-mailed› across the internet»,1 stellt der Physikprofessor Michio Kaku fest.

Auch Eric Schmidt, Ex-CEO von Google, malt sich aus, wie die Welt aussehen wird, wenn dank der Digitalisierung alles konvergent geworden ist und alle Grenzen gefallen sind. Zusammen mit dem Zukunftsforscher Jared Cohen hat er das Buch Die Vernetzung der Welt verfasst. Darin schildern sie den Lebensstil der digitalen Zukunft wie folgt: «Ihre Wohnung ist ein elektronisches Orchester, und Sie sind der Dirigent. Mit einfachen Handbewegungen und gesprochenen Befehlen können Sie die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit, die Musik und die Beleuchtung regeln. Auf einem durchsichtigen Bildschirm überfliegen Sie die Nachrichten des Tages, während Ihnen Ihr automatischer Kleiderschrank einen frisch gebügelten Anzug bereitstellt, weil Ihr Kalender für heute einen wichtigen Termin verzeichnet. Auf dem Weg in der Küche zum Frühstück schwebt der durchsichtige Bildschirm, gelenkt von Bewegungsmeldern in den Wänden, als Hologramm direkt vor Ihnen her. Sie nehmen sich eine Tasse Kaffee und ein frisch aufgebackenes Hörnchen aus Ihrem voll automatisierten Ofen und überfliegen Ihre E-Mails auf dem Bildschirm. Ihr zentraler Computer schlägt eine Reihe von Hausarbeiten vor, die Ihr Dienstroboter heute erledigen soll, und Sie stimmen allen Vorschlägen zu.»2