Aufstiege - Robert Korn - E-Book

Aufstiege E-Book

Robert Korn

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Beschreibung

Das Buch "Aufstiege" besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil erzählt der Autor eine Geschichte, zu der er durch den Beginn des Lehrgedichts "Über die Natur" von Parmenides angeregt wurde. Aus dem darin vorkommenden "Haus der Nacht" wird in der vorliegenden Geschichte ein Kino. Das "volle Sein" des Parmenides kontrastiert der Autor gegen Ende seines Textes mit Menschen, die der italienische Schriftsteller Alberto Savinio einmal "Fassmenschen" genannt hat. Im zweiten Teil des Buchs werden im Ausgang von einer "Fabel" von Günther Anders siebzehn verschiedene Aufstiege aus Platons Höhle erzählt. Der dritte Teil des Buchs besteht zum größten Teil aus einem längeren Gespräch, das der Ich-Erzähler mit einer jungen Frau über einige zentrale Gedanken von Kant führt. Im Mittelpunkt stehen dabei der kantische Begriff der logischen Identität des Selbstbewusstseins und Kants Begriff der Moral. Dieser wird vom Ich-Erzähler nicht nur erläutert, sondern auch von der "Political Correctness" abgegrenzt. Der letzte Teil des Buchs stellt ein imaginäres Interview mit Heinrich Heine dar, in dem es vor allem um die Schlusspassage seiner Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" geht. Die hierin von Heine unterschiedenen Kantianer, Fichteaner und Naturphilosophen bringt der Autor in einen Zusammenhang mit Phänomenen des Zeitgeists wie der "No-border!"-Bewegung, dem politisch dekretierten "Wir schaffen das!", militantem Natur- und Umweltschutz und der abstrakten Forderung nach "bunter Vielfalt". In allen vier Teilen des vorliegenden Buchs unternimmt der Autor den Versuch, im Sinne von Ernst Bloch "fabelnd" zu denken.

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Seitenzahl: 82

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aufstiege

Versuche über einige Aspekte der Philosophie und des Zeitgeists

Robert Korn

Imprint

Robert Korn Aufstiege © 2019 Robert Korn

Erschienen bei www.epubli.de, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de

Inhalt

I. Sonnenfahrt

II. Aufstiege

III. „Bürger zweier Welten“

IV. Kantianer, Fichteaner und Naturphilosophen

Ein imaginäres Interview mit Heinrich Heine

V. Literaturverzeichnis

Sonnenfahrt

Jeanne Hersch

„Wie kann man sich das Sein in seiner Fülle vorstellen? Parmenides fasst es auf als ungeschaffen, unwandelbar. Was könnte sich im Sein wandeln, das ein volles, einheitliches Sein ist? Wandel setzt Spielraum voraus, eine Leere, ein Anderes. Aber es gibt kein Anderes im Sein. Wenn wir einen Koffer packen, müssen wir ihn ganz füllen, dann bewegt sich kein Stück in dem Koffer.“

Als die Frau im Wagen von dem Autofahrer hinter ihr angehupt wird, streckt sie abrupt den Mittelfinger hoch.

Bei dieser Filmszene erinnerte ich mich plötzlich wieder an die drei jungen Frauen, die ich für mich „Sonnenmädchen“ genannt hatte. „Bestimmt hätte jede von ihnen“, dachte ich, „auf das Verhalten des Mannes ganz anders reagiert.

Einige Zeit später ertönte in dem Film ein Lied, das mir unerträglich sentimental vorkam. „Erst Vulgarität, jetzt Sentimentalität!“, sagte ich mir und beschloss, mir den Film nicht weiter anzuschauen. Rasch erhob ich mich von meinem Sessel und drehte der Leinwand den Rücken zu.

Aus einer runden, blendenden Lichtquelle im Hintergrund des Kinosaals ergoss sich ein kegelförmiger Lichtschein. Die Zuschauer vor mir lagen halb in ihren Sesseln, halb saßen sie darin. Trotz des Halbdunkels konnte ich gut erkennen, dass sie gebannt dem Filmgeschehen folgten. Mit Trippelschritten bewegte ich mich zum Seitengang hin, wobei ich mich gleichzeitig leise bei den von mir passierten Zuschauern für meine Störung entschuldigte.

Am Ende der Sitzreihe angelangt, ging ich vorsichtig den nur schwach erleuchteten Seitengang hinunter. Jeder Platz im Kinosaal schien besetzt zu sein. Dazu hatten sicherlich die vielen positiven, z.T. sogar überschwänglichen Kritiken des Films in den verschiedenen Medien entscheidend beigetragen.

Ich war froh, als ich schließlich die Tür des Kinosaals hinter mir schließen konnte.

Die Straße vor dem Kino lag im warmen Sonnenlicht eines langsam zu Ende gehenden Spätsommertags. Außer mir war auf dem gepflasterten Bürgersteig niemand unterwegs. An den hoch aufragenden Bäumen auf der anderen Straßenseite regte sich kein Blatt. Es kam mir vor, als wären sie gerade in Gedanken versunken.

Mein Ziel war die nächstgelegene Straßenbahnhaltestelle, von der aus ich über eine Umsteigestation nach Hause fahren wollte.

Ich sah schon von weitem, dass auf der Bank in dem gläsernen Wartehäuschen die drei von mir als „Sonnenmädchen“ bezeichneten Frauen saßen, die ich heute Nachmittag in einem Café kennengelernt hatte. Die Unterhaltung mit ihnen hatte ich als sehr anregend empfunden.

Sobald ich das Wartehäuschen betrat, begrüßten sie mich so freundlich, dass ich jeder von ihnen unwillkürlich die Hand gab. Da sie im Café erwähnt hatten, sie würden am späten Nachmittag eine Kunstausstellung besuchen, fragte ich sie, wie ihnen diese gefallen habe. „Sehr gut!“, antworteten sie im Chor. Hierbei schüttelten sie leicht ihre langen hellblonden Haare.

Einen Moment lang blickte ich auf den Kunstkatalog, der auf dem Schoß der in der Mitte sitzenden Frau lag. Auf der Vorderseite des Katalogeinbands war ein Bild abgedruckt, das eine mit breitem Pinselstrich schwarz umrandete Fläche zeigte.

„Interessieren Sie sich für Malerei?“, fragte mich die Frau in der Mitte mit ihrer klaren Stimme. „Mehr als an Malerei“, antwortete ich, „bin ich an Musik interessiert.“ „Könnten Sie uns vielleicht trotzdem sagen“, wandte sich darauf die ganz rechts sitzende Frau an mich, „wie Sie das Katalogbild hier deuten?“

Ich bejahte ihre Frage und sah mir das Bild noch einmal einen Augenblick an. Dann richtete ich wieder meinen Blick auf die drei jungen Frauen, die mich von der Bank aus erwartungsvoll anschauten. In einigem Abstand von ihnen stehend, fiel mir erst jetzt auf, dass sie alle zu ihren luftigen, hellen Sommerkleidern die gleichen weißen Turnschuhe trugen.

„Auf mich“, sagte ich, „wirkt das Bild wie ein trauriger Notenkopf.“ „Dazu passt gut“, erklärte die ganz links sitzende Frau, „ wie wir drei das Bild auffassen. Wir halten es nämlich für die Darstellung einer gefangen genommenen Sonne.“ Nach einer kurzen Pause fragte ich die drei Frauen, wie man die Sonne befreien könne. „Auf vielerlei Art“, antwortete mir jetzt wieder die junge Frau in der Mitte. „Eine davon“, betonte sie, „ist die Kunst.“

Plötzlich ertönte ganz in der Nähe ein Quietschen. Ich

drehte mich um und sah, dass gerade eine Straßenbahn an unserer Haltestelle anhielt. Beim Blick auf die Nummer wusste ich, dass es nicht die Linie war, die in Richtung meiner Wohnung fuhr.

„Das ist unsere Straßenbahn!“, rief auf einmal eine der Frauen hinter mir. Als ich den Kopf wieder zu ihnen hindrehte, waren sie schon von der Bank aufgesprungen. „Schade! Adieu!“, riefen sie gemeinsam und liefen zu der offen stehenden Straßenbahntür. Kaum waren sie eingestiegen, winkten sie mir zum Abschied vom Mittelgang aus sehr freundlich zu. Die silbergrau angestrichene Straßenbahn war schon beinah ganz in die nächste Straße eingebogen, als plötzlich eine rückwärtige Stelle ihrer Karosserie in der Sonne aufblitzte.

Nunmehr allein in dem Wartehäuschen, setzte ich mich auf die leer gewordene Bank. „Schade!“, sagte ich mit einem Mal halblaut zu mir selbst. Die drei Frauen wussten nicht, dass ich heute Abend kurz ein nahegelegenes Kino besucht hatte. Gerne hätte ich noch mit ihnen über den dort gerade laufenden Film gesprochen.

Der elektrischen Anzeigetafel neben dem Wartehäuschen entnahm ich, dass meine Bahn bald eintreffen würde. Das Abteil, in das ich schließlich einstieg, war unbesetzt. Von meinem Fensterplatz aus sah ich nach einiger Zeit, wie zwei Kinder über eine neben der Straße gelagerte schwarze Röhre balancierten. Ihr Gesichtsausdruck zeigte mir, dass sie ganz von ihrer augenblicklichen Tätigkeit erfüllt waren.

Während ich an der letzten Haltestelle vor meiner Umsteigestation auf die Weiterfahrt der Straßenbahn wartete, erblickte ich durch das Fenster an einer Litfaßsäule ein großes Plakat, worauf für den Musikfilm geworben wurde, von dem ich mir heute Abend einen Teil angeschaut hatte. Auf dem Werbeplakat waren eine junge Frau und ein Mann zu sehen, die jeweils eine heftige Tanzbewegung mit diagonal ausgestreckten Armen vollführten. Unterhalb der Anhöhe, worauf sie tanzten, erstreckte sich das Lichtermeer einer Großstadt, während sich über ihnen ein nächtlicher Himmel wölbte. Die Sterne darin wirkten wie winzige Sprenkel.

„Noch heute werde ich mit ihr über den Film sprechen“, nahm ich mir plötzlich vor, als sich die Straßenbahn wieder in Bewegung setzte. Mit „ihr“ meinte ich eine Freundin von mir, die sich viel mehr als ich für Kinofilme interessierte.

Bereits während ich an der Umsteigestation aus der Straßenbahn ausstieg, fiel mir auf, dass in dem Wartehäuschen eine ältere Frau saß, die mit jemandem über Handy sprach. Um mich noch einmal zu vergewissern, ob ich die richtige Anschlusslinie herausgesucht hatte, ging ich zu dem Fahrplan, der sich im Inneren des Wartehäuschens befand. Die Frau hier war offensichtlich so sehr von ihrem Telefonat in Anspruch genommen, dass sie mich nicht zu bemerken schien. Als ich festgestellt hatte, dass mir bei der Auswahl der Anschlusslinie kein Fehler unterlaufen war, drehte ich mich wieder in Richtung Bahnsteig um, um dort auf meine nächste Bahn zu warten. In dem Augenblick, wo ich aus dem Wartehäuschen heraustrat, hörte ich mit einem Mal, wie es aus der Frau am Ende ihres Telefongesprächs verzweifelt herausbrach: „Es tut mit leid, so furchtbar leid!“

Zur Bahnsteigkante weitergehend, dachte ich einen Moment daran, die Frau auf ihr Telefonat anzusprechen. Rasch entschied ich mich jedoch dagegen, da ich mir sagte, die Frau wolle sicherlich jetzt nicht gestört werden. „Vor allem möchtest du selbst nur deine Ruhe haben!“, hörte ich plötzlich eine Stimme in mir sagen. Zu meiner Überraschung klang sie wie die eines der drei „Sonnenmädchen“.

Sofort wandte ich mich um und ging zurück zu der Frau. Inzwischen hielt sie ihren Kopf gesenkt und saß leicht vornübergebeugt auf der Bank. Etwas seitlich und in kurzer Entfernung von ihr blieb ich stehen und sagte: „Entschuldigung, ich habe gerade gehört, dass Sie offenbar eine schlechte Nachricht erhalten haben. Kann ich etwas für Sie tun?“ Mit einem Ruck richtete die Frau ihren Oberkörper auf und musterte mich einen Augenblick lang misstrauisch. Dann jedoch nahm ihr faltenreiches Gesicht einen dankbaren Ausdruck an.

Mit leicht zitternder Stimme erzählte sie mir, sie habe gerade erfahren, dass ihr Schwiegersohn ihre Tochter über einen längeren Zeitraum hinweg hintergangen habe. „Dieser Schuft!“, rief sie mit einem Mal laut und erhob sich dabei so heftig von der Bank, dass ihre dort abgestellte schwarze Handtasche zu Boden fiel. Sowie ich diese aufgehoben und auf der Bank abgestellt hatte, setzte sich die Frau wieder hin. „Verzeihung!“, sagte sie in einem Ton, der mir zeigte, dass sie sich mittlerweile wieder etwas beruhigt hatte.

Nach einer kurzen Pause begann sie erneut zu sprechen: „Warum nur“, sagte sie, „hat er das meiner Tochter angetan? Wie aufopfernd hatte er sich doch einmal um sie nach ihrem schweren Skiunfall gekümmert!“ Ich bewunderte die Frau dafür, dass sie trotz ihrer augenblicklichen Empörung ihren Schwiegersohn nicht auf sein Fehlverhalten reduzierte. „Sie kann“, sagte ich mir, „selbst jetzt noch vernünftig, d.h. gerecht denken.“

„Ich bin überzeugt“, sprach ich zu der Frau, „dass Sie Ihrer Tochter im Moment sicherlich so gut helfen können wie kein anderer.“ Die Frau bedankte sich bei mir für meine Anteilnahme und griff mit ihrer linken Hand nach der Handtasche. Sich von der Bank erhebend, sagte sie freundlich „Auf Wiedersehen!“ und teilte mir darauf mit, dass sich soeben ihre Straßenbahn nähere.

Während die Frau zur Straßenbahn ging, sah ich, dass sie immer noch das Handy mir ihrer rechten Hand fest umklammerte. Kaum hatte sie auf einem Fenstersitz in der Straßenbahn Platz genommen, beugte sie sich leicht nach vorne, machte einige Armbewegungen und hielt dann wieder das Handy an ihr Ohr.