Die Prüfung - Robert Korn - E-Book

Die Prüfung E-Book

Robert Korn

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Beschreibung

In der Erzählung "Die Prüfung" wird dargestellt, wie die Verleumdung einer Fünfzehnjährigen zur Prüfung für einen jungen Mann wird. Bei dem Versuch, sie zu überstehen, hilft ihm seine Freundin mit drei verschiedenen "Techniken des Selbst" (Michel Foucault): mit einer "Sieben Weisen-", einer "Shakespeare-" und einer "Chaplin-Therapie". Gegen Ende der Geschichte erkennt der junge Mann schließlich, dass er in seinem Verhalten gegenüber seiner Verleumderin einen Fehler gemacht hat.

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Seitenzahl: 114

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Robert Korn

Die Prüfung

Erzählung

Die Prüfung Robert Korn

published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de

Copyright: © 2021 Robert Korn Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de

I.

Es klingelte. P. erhob sich von seinem Stuhl und öffnete kurz darauf die Tür.

Zu seinem Erstaunen stand die Nachbarin aus dem obersten Stock vor ihm, mit der er zuletzt auf dem schon länger zurückliegenden Hausfest gesprochen hatte.

„Entschuldigung!“, sagte sie mit angespannter Miene. „Kann ich Sie einen Moment in Ihrer Wohnung sprechen?“

Sobald die Nachbarin, eine Frau mittleren Alters, an P. vorbeigegangen war, schloss er die Wohnungstür und folgte der Frau durch seinen kleinen Flur. Erst jetzt sah er, dass sie einen weißen, modisch geschnittenen Hosenanzug trug.

Im Zimmer angelangt, deutete P. auf das rechts vor der Wand stehende Sofa, vor dem ein kleiner, weißer Couchtisch stand. Nach wenigen, raschen Schritten setzte sich die Frau aufs Sofa, streifte von ihrer Schulter die goldfarbene Kette ihrer rechteckigen Umhängetasche und legte diese dicht neben sich.

„Ich komme gerade vom Elternsprechtag“, sagte sie, nachdem sich P. auf einem Korbsessel niedergelassen hatte, den er aus einer Ecke seines Zimmers geholt hatte. „Zu meinem Erschrecken“, fuhr die Frau fort, „habe ich bei meinem Besuch erfahren, dass die Mathe-Leistungen meiner Tochter wieder so schlecht sind, dass sie zum zweiten Mal sitzenzubleiben droht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie als Mathematikstudent ihr bis zum Ende des Schuljahres Nachhilfe geben könnten. Sie sollen hierfür“, ergänzte die Frau noch, „auch gut bezahlt werden.“ Bei ihren beiden letzten Sätzen hatte sie P. beinah flehentlich angeblickt.

P. konnte der Frau nicht sogleich antworten. „Mein Examen“, sagte er sich, „ist noch nicht ganz abgeschlossen.“ Während er weiter überlegte, ob er der Bitte der Nachbarin entsprechen könne, verengten sich ihre dunklen Augen immer mehr. In dem Augenblick, wo ihm schien, dass sie fast schon einen bösartigen Ausdruck annahmen, sagte er: „Sie haben Glück! Da ich, wie mir gerade klargeworden ist, mit der Vorbereitung auf meine mündliche Philosophie -Abschlussprüfung schon recht weit gekommen bin, kann ich Ihrer Tochter auch zweimal wöchentlich Nachhilfe geben.“

P. sah, dass sich die Augen der Frau schlagartig wieder weiteten. „Danke!“, sagte sie geradezu freudestrahlend. Hatte sie vorher mit stark angewinkelten Beinen dagesessen, so schlug sie jetzt eines über das andere.

„Auch ich“, sprach sie, „bin schuld daran, dass meine Tochter in der Schule so schlecht ist. Seit ich vor zwei Jahren zur Projektleiterin ernannt worden bin, habe ich nur noch wenig Zeit, mich um meine Tochter zu kümmern. Hinzu kommt, dass sich mein werter Ex-Mann fast gar nicht an der Erziehung unserer Tochter beteiligt. Ich hoffe“, sagte sie und stockte.

In ihrer Umhängetasche klingelte mit einem Mal ihr Smartphone. Kaum hatte die Frau auf das Display geschaut, sagte sie zu P.: „Einen Moment, bitte!“ und nahm dann den Anruf an. „Ich rufe Sie möglichst bald zurück!“, beendete sie nach wenigen Worten ihr Gespräch. „Ich muss leider gleich ein dringendes geschäftliches Telefonat führen!“ wandte sich die Frau wieder an P.

Sowie sie mit ihm zwei wöchentliche Termine für die Nachhilfe vereinbart und ihm einen tatsächlich guten Stundenlohn genannte hatte, griff sie nach ihrer Tasche und stand ruckartig vom Sofa auf. „Nochmals danke!“, sagte sie, ohne P. dabei anzusehen.

Mit schnellen Stöckelschuhschritten verließ sie die Wohnung.

II.

Kurz vor drei Uhr klappte P. das Buch zu, worin er gerade ein Kapitel über Bias gelesen hatte, einen der sogenannten Sieben Weisen. Um deren Lehren sollte es im ersten Teil seiner mündlichen Philosophieprüfung gehen. Auf den zweiten Teil, dessen Thema viel schwieriger war als das des ersten, hatte er sich schon vorbereitet.

P. ergriff das Buch vor ihm und stellte es wieder in sein links neben der Tür stehendes Bücherregal zurück. Dann ging er über den Flur in seine kleine Küche, von wo aus er einen der beiden dort stehenden Küchenstühle bis zu seiner Schreibtischplatte trug, die auf zwei voneinander entfernten Schubladenelementen ruhte. Nachdem er den Küchenstuhl neben seinem gepolsterten Bürostuhl abgesetzt hatte, entnahm er einer Schublade einen Block mit karierten Blättern und legte ihn auf die Schreibtischplatte.

„Ich werde ihr den Bürostuhl anbieten“, dachte P. und setzte sich auf das Sofa, um dort auf die Ankunft seiner Nachhilfeschülerin zu warten. Als sie nach zehn Minuten immer noch nicht erschienen war, wurde er unruhig. Er erhob sich und trat rechts neben der Schreibtischplatte ans Fenster. Von da aus blickte er eine Weile auf die schwach befahrene Straße hinab, die vor dem Haus verlief, worin er wohnte.

Er wollte sich schon vom Fenster abwenden, als er plötzlich sah, dass eine blaue Vespa mit zwei Jugendlichen vor dem Haus hielt. Die weibliche Beifahrerin stieg von der Vespa herunter, nahm ihren silbern glänzenden Helm ab und fuhr sich dann zwei- oder dreimal mit gespreizten Fingern durch ihre langen, dunkelblonden Haare. P. erkannte, dass es sich bei dem Mädchen um seine Nachhilfeschülerin handelte. Nachdem sie ihren Helm in der hinter dem Vespasitz montierten Helmbox verstaut hatte, ging sie zu dem Fahrer und küsste ihn so lange und ungestüm, als müsste sie sich von ihm für immer trennen.

Schließlich hörte es P. an seiner Tür klingeln. Wie er erwartet hatte, stand vor ihr seine Nachhilfeschülerin. Er begrüßte sie mit einem kurzen „Hallo!“ und bat sie einzutreten. Im Zimmer angelangt, schaute er auf seine Armbanduhr und teilte dem Mädchen mit, dass laut Absprache mit ihrer Mutter die Nachhilfestunde schon vor fünfzehn Minuten hätte beginnen sollen. „Tut mir leid!“, sagte das Mädchen mit betont treuherzigem Augenaufschlag, „der Bus, mit dem ich gekommen bin, stand im Stau.“

„Seit wann fahren Busse auf zwei Rädern“, wollte P. sagen, unterließ es jedoch, um die erste Nachhilfestunde nicht in einer Missstimmung zu beginnen. Stattdessen wies er auf den Bürostuhl und bat das Mädchen, dort Platz zu nehmen. Bevor sie es tat, nahm sie ihren rotfarbenen Rucksack ab und stellte ihn neben ihrem Sitzplatz auf dem Boden ab. Als sie einen Augenblick später nebeneinander vor der Schreibtischplatte saßen, drehte sich P. leicht zu dem Mädchen hin und fragte sie nach dem derzeitigen Thema ihres Mathematikunterrichts.

Eine Zeitlang blickte sie angestrengt durch das Fenster vor ihnen. Dann sagte sie lediglich: „Altersaufgaben.“ „Kannst du mir ein Beispiel dafür geben?“, fragte P. und erhielt von dem Mädchen eine Antwort, mit der er nur wenig anfangen konnte. Er bat sie deshalb, ihm ihr Mathematikbuch und Mathematikheft zu geben. Nach einem Blick in ihren vorher hochgehobenen Rucksack hob sie bedauernd die Schultern. „Leider“, sagte sie, „habe ich vergessen, das Buch und das Heft aus dem Schulspind mitzunehmen.“

Kaum hatte das Mädchen den Rucksack wieder auf den Boden gestellt, kam P. eine Idee. Er zog sein Tablet, das rechts von ihm auf der Schreibtischplatte lag, zu sich heran und gab kurz darauf in das Suchfeld die Begriffe „Altersaufgaben“ und „8. Klasse“ ein. Nach dem Anklicken des ersten auf dem Bildschirm erschienenen Links öffnete sich dort eine Seite, worauf zuoberst der folgende Text stand:

„Regina ist 5 Jahre älter als ihre Schwester Hannah. In 20 Jahren ist sie doppelt so alt, wie Hannah heute ist. Wie alt sind die beiden heute?“

Sobald P. die Aufgabe überflogen hatte, las er sie seiner Nachhilfeschülerin vor. Auf seine Frage hin, ob es sich bei den in ihrem Unterricht gerade behandelten Altersaufgaben um Aufgaben wie die soeben von ihm vorgelesene handele, nickte sie bejahend.

Erleichtert schob P. nun das Tablet ein wenig zu ihr hin, entnahm dem Stiftegefäß auf der Schreibtischplatte einen Druckbleistift und überreichte ihn dem Mädchen mit der Bitte, den ersten Satz der Textaufgabe auf dem Rechenblock vor ihr in eine Gleichung umzuformen.

Kaum hatte das Mädchen den Satz durchgelesen, fing sie an, sich mit den lila lackierten Fingernägeln ihrer linken Hand den Oberschenkel an einer Stelle zu kratzen, die aufgrund eines großen, extra verursachten Risses in ihrer hellblauen Jeans nicht bedeckt war.

Da das Mädchen nach einer Weile immer noch nichts notiert oder gesagt hatte, nahm P. einen weiteren Bleistift aus dem Stiftegefäß, zog den Rechenblock etwas zu sich heran und schrieb hierauf die beiden folgenden Zeilen:

Doch bei dem Versuch, den zweiten Satz der Aufgabe in eine Gleichung umzuwandeln, schlug ihre Stimmung wieder um. Erneut kratzte sie sich ihren Oberschenkel und warf P. bald einen hilfesuchenden Blick zu. Die Erklärungen, die er gab, halfen dem Mädchen schließlich, auch den zweiten Satz als eine mathematische Gleichung darzustellen. Durch einen Tipp von P. war das Mädchen ebenfalls noch in der Lage, beide Gleichungen zu einer zusammenzufassen.

„Dein Alter“, sagte er und sah dabei das Mädchen wieder an. Sie machte eine heftig nickende Kopfbewegung und erklärte dann mit leiser Stimme: „Erst jetzt habe ich die Auflösung nach x verstanden.“

Erfreut über ihre letzte Äußerung ließ P. das Mädchen nun selbständig einige einfache Gleichungen mit einer Unbekannten lösen. Später erhöhte er noch den Schwierigkeitsgrad der Gleichungen, indem er in diese z.B. Klammerausdrücke einfügte.

Gerade als P. eine weitere Gleichung auf den Blockschreiben schreiben wollte, schaute das Mädchen auf das schwarz-weiße Zifferblatt ihrer Uhr und sagte, die Nachhilfestunde sei gleich zu Ende. Ebenfalls kurz auf seine Uhr blickend, sah P., dass sie fünf vor 16 Uhr zeigte. „Du bist eine Viertelstunde zu spät gekommen“ erwiderte er. „Da ich mit deiner Mutter“, fuhr er fort, „eine einstündige Nachhilfestunde vereinbart habe, fühle ich mich verpflichtet, dir bis 16.15 Uhr Nachhilfe zu geben.“ „Für die Verspätung konnte ich nichts!“, sagte das Mädchen fast beleidigt. “Mein Freund holt mich in fünf Minuten ab.“

„Dann“, gab P. nach, „bitte ich dich, deiner Mutter mitzuteilen, dass sie mir für die heutige Stunde ein Viertel des vereinbarten Stundenlohns weniger bezahlen soll.“ „Mache ich!“, rief das Mädchen und begann, sich zu erheben. „Einen Moment noch!“, sagte P., „ich werde für die nächste Stunde noch ein paar Übungsaufgaben auf den Block schreiben.“

Das Mädchen, das sich inzwischen wieder hingesetzt hatte, schaute P. plötzlich mit einem grimmigen Gesichtsausdruck an. „Ich weiß von deiner Mutter“, sagte P. begütigend, „ dass du wegen Mathematik sitzenzubleiben drohst. Es liegt daher in deinem eigenen Interesse, noch weitere Aufgaben zu lösen. „In Ordnung“, sagte das Mädchen und rollte dabei gleichzeitig auf ihrem fahrbaren Bürostuhl ein wenig zur Seite.

Während P. die Aufgaben auf den Block schrieb, sah er aus dem Augenwinkel, dass das Mädchen aus der Innentasche ihrer schwarzen Kunstlederjacke einen kleinen runden Spiegel und einen Lipgloss-Stift hervorholte. Damit fuhr sie vor dem Spiegel schnell über ihre Lippen, rieb diese kurz aneinander und steckte ihre beiden Utensilien wieder weg.

Bald darauf riss P. das Blatt mit den Aufgaben, die er sich eben ausgedacht hatte, vom Block und gab sie seiner Nachhilfeschülerin. Sie steckte das Blatt schnell in den Rucksack, hängte ihn über die Schulter, sagte „Tschüss dann!“ und lief zur Wohnungstür. Bevor das Mädchen seine Wohnung verließ, konnte P. sie gerade noch bitten, das nächste Mal daran zu denken, ihr Buch und ihr Heft mitzubringen.

III

Zur zweiten Nachhilfestunde erschien die Tochter der Projektleiterin pünktlich. Noch im Stehen entnahm sie ihrem Rucksack ihr Mathematikbuch und Mathematikheft und gab beides P. Nachdem er und das Mädchen auf ihren Stühlen Platz genommen hatten, überflog P. das Inhaltsverzeichnis des Mathematikbuchs. „Ich will mir“, sagte er, „nur kurz ansehen, welche Altersaufgaben sich in eurem Mathematikbuch befinden.“