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Yara hat kaum Zeit, den Angriff von Kieron und den Verlust ihres geliebten Polarfuchses zu verarbeiten. Warum spürt sie die Verbindung zu Kieron stärker denn je, wo er und seine schattenhaften Skalks doch verschwunden sein sollten? Gleichzeitig nehmen ihre beunruhigenden Visionen zu, und ihre Kräfte geraten immer weiter außer Kontrolle. Yara beginnt sich einzureden, dass sie eine Gefahr für alle um sie herum darstellt, und zieht sich immer mehr von ihren Freundinnen zurück – und auch von Davin. Doch als Davin plötzlich verschwunden ist, steht für Yara alles auf dem Spiel. Um ihn zu retten, darf sie sich nicht selbst in der Dunkelheit verlieren.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Mama und Papa. Durch euch hatte ich den Mut, die Richtung zu ändern und meinen eigenen Weg zu gehen. Danke, dass ihr immer an meiner Seite seid. Ich hab euch lieb.
»Hier, Yara, ich habe noch ein Geschenk für dich. Damit du mich nicht so schnell vergisst.« Naemi überreichte mir lächelnd eine kleine silberne Schachtel mit einer ebenfalls silbernen Schleife drum herum.
Es war Tradition, dass Naemis und meine Familie sich am ersten Weihnachtsfeiertag trafen, wir gemütlich beisammensaßen und miteinander quatschten. Eigentlich liebte ich diese Tradition. Aber nach allem, was ich in den vergangenen Wochen erlebt hatte, kam es mir heute so vor, als würde ich alles wie unter einer Nebelglocke wahrnehmen.
»Naemi, du musst mir doch nichts schenken!« Ich nahm das Schächtelchen entgegen, löste das Schleifenband und öffnete die Schatulle. Darin befand sich eine Silberkette mit einem filigranen Anhänger in Form einer Schneeflocke, in deren Mitte ein eisblauer Stein eingelassen war. Ich hob die Kette hoch und hielt sie ins Licht. »Sie ist wunderschön, Naemi«, murmelte ich gerührt. »Danke.«
Ein wenig verlegen holte Naemi hinter ihrem Rücken ihre andere Hand hervor, in der ebenfalls eine Kette glitzerte. »Ich hab die gleiche Kette«, sagte sie. »Es ist ein Freundschaftsanhänger. So sind wir trotzdem zusammen, auch wenn du nach den Ferien zurück an die Akademie gehst.«
Mein Hals schnürte sich zu, dennoch gab ich mir Mühe, mir meine echten Gefühle nicht anmerken zu lassen.
»Wollen wir sie uns gegenseitig anlegen?«, fragte Naemi.
»Sicher«, entgegnete ich mit einem Lächeln, das mir in diesem Augenblick falsch vorkam. Aufgesetzt.
Ich wollte mich ja freuen, wirklich! Aber der dunkle Schatten, der im Hintergrund lauerte, ließ sich einfach nicht vertreiben. Dabei hatte sich doch eigentlich nichts verändert. Naemi und meine Familie waren immer noch die Gleichen.
Aber ich war es nicht mehr. Ich hatte mich verändert.
Der Stein fühlte sich angenehm kühl auf meiner erhitzten Haut an.
»Das ist ja eine schöne Idee, Naemi«, bemerkte meine Mutter im Hintergrund.
Ich wusste, dass sie recht hatte, und doch berührte mich all das nicht richtig. Nicht so, wie es hätte sein sollen.
»Wirklich sehr schön«, pflichtete mein Vater meiner Mutter bei, bevor er ein Gespräch mit Naemis Eltern begann. »Ach ja, wir haben uns auch noch nicht so richtig daran gewöhnt, dass unsere Tochter nun diese exklusive Schule besucht. Wir vermissen unsere Yara sehr …«
Wie ferngesteuert lief ich in den Flur, um den Anhänger an mir zu betrachten. Naemi trat neben mich, legte ihren Arm schwungvoll um meine Hüfte und zog mich ganz nah zu sich heran, sodass wir uns beide im Spiegel betrachten konnten.
»Schau mal, wie schön die Ketten zusammen aussehen. Und der blaue Stein in der Mitte passt total gut zu deinen blauen Augen, Yara!«
Wieder lächelte ich, aber es fühlte sich an, als würde eine unsichtbare Kraft an meinen Mundwinkeln ziehen und sie gewaltsam nach oben zwingen. Plötzlich kam mir die Kette um meinen Hals schwer wie Blei vor.
Denn sie machte mir schmerzlich bewusst, dass meine Welten getrennt waren. Und ich befand mich dazwischen, balancierte auf einem Hochseil über dem Abgrund.
Und dabei war mir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar, wie tief der Abgrund wirklich war. Wie weit ich stürzen würde.
Als Naemi kurz wegschaute, bemerkte ich, wie meine Augen im Spiegel rot aufleuchteten, als wären sie eine Warnung an mich für all das, was noch kommen würde …
Denn das hier war erst der Anfang meiner Geschichte.
»Nein, Suki, neiiiiin!«, brüllte ich, als die Silhouette des Polarfuchses immer stärker zu flackern begann und sich schließlich vollständig vor meinem inneren Auge auflöste.
Schweißgebadet erwachte ich aus meinem Traum und schoss in die Höhe, das Herz trommelte mir wild in der Brust, und mein nasses Schlafshirt klebte an meinem Körper.
Nur langsam verschwanden die nebelhaften Schatten, die mein Traum hinterlassen hatte. Hoffentlich hatte ich meine Eltern durch meinen Schrei nicht aufgeweckt. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Aber dass meine Arme dabei rot aufleuchteten, ließ meinen Puls nur noch weiter in die Höhe schnellen. Es war ein verdammter Teufelskreis, wie ich inzwischen wusste. Denn mein Emotionschaos sorgte lediglich dafür, dass das Leuchten und meine Kräfte verstärkt wurden.
Mir wurde schwindelig. Ich schloss meine Augen, versuchte, in mich hineinzuhorchen und bewusst auf meine Atmung zu achten. Als ich meine Lider wieder öffnete, stellte ich erleichtert fest, dass das Pulsieren langsam abklang, und auch mein Puls ging wieder in einen einigermaßen akzeptablen Rhythmus über.
Aber kaum, dass ich mich etwas beruhigt hatte und realisierte, dass ich nur schlecht geträumt hatte, kamen mit der Rückkehr ins Hier und Jetzt auch die Erinnerungen zurück. Ein heftiges Stechen in meiner Magengrube ließ mich meinen Oberkörper zusammenkrümmen und nach Luft ringen.
Seit dem Angriff von Kieron und seinen Skalks auf die Aurora Academy vor knapp dreieinhalb Wochen ging das nun schon so. Direktorin Mrs Bailey hatte uns nach den Vorkommnissen verfrüht in die Weihnachtsferien geschickt. Vor den Eltern war das so gerechtfertigt worden, dass es in der Schule einen Wasserrohrbruch gegeben hatte.
Jede Nacht wurde ich von demselben Albtraum geplagt, nur um dann festzustellen, dass es gar kein Traum war.
Denn Suki war tot. Und ich war schuld daran.
Ich zog meine Knie ganz dicht an meinen Oberkörper und schlang die Arme um meine Beine, während heiße Tränen mein Gesicht herabliefen. Der Schmerz in mir war übermächtig, und ich wusste nicht, wie ich dagegen ankommen sollte. Alles tat weh, jeder Atemzug, jede Bewegung. Am liebsten wollte ich mich den ganzen Tag im Bett verstecken und niemals wieder unter meiner Decke hervorkommen, in der Hoffnung, dass der dicke Stoff meine eigenen viel zu lauten Gedanken vor der Welt verbarg.
Ein leises Vibrieren ließ mich zusammenzucken, und es dauerte einen Moment, bis ich das Geräusch zuordnen konnte. Es kam vom Nachttisch, auf dem neben Naemis Kette mein Handy lag und in diesem Augenblick hell aufleuchtete. Kraftlos griff ich danach.
Davin hatte mir geschrieben.
Hey, wie geht’s dir? Mache mir Sorgen um dich. Bitte gib wenigstens ein kurzes Zeichen, dass alles okay ist.
Ich schluckte. Es war nur eine von vielen Nachrichten, die Davin mir in den Weihnachtsferien geschickt hatte.
Zoey, Violet und sogar Marina hatten mir ebenfalls geschrieben. Die meisten Nachrichten hatte ich unbeantwortet gelassen, weil ich nicht die Kraft für eine Reaktion gefunden hatte und ich auch gar nicht wusste, was ich schreiben sollte.
Einen Moment lang starrte ich wie hypnotisiert auf Davins Nachricht. Ein Teil von mir wollte ihm schreiben. Ich vermisste ihn. Aber ich wusste auch, dass er gefährlich für mich war. Für mich und mein Herz. Und damit stellte ich eine Bedrohung dar, denn als Nordlicht musste ich meine Emotionen unter Kontrolle behalten. Von der strengen Regel der Akademie, dass wir während unserer Ausbildung keine romantischen Beziehungen führen durften, mal ganz abgesehen …
Ich hatte schon einmal Menschen in Gefahr gebracht, die mir etwas bedeuteten. Das würde mir nicht noch einmal passieren. Darum war es besser, wenn ich mich von Davin fernhielt.
Also legte ich das Handy zurück auf meinen Nachttisch und starrte an die Decke. Mein Leben fühlte sich an, als hätte es jemand in eine Waschmaschine geworfen und den Schleudergang auf höchster Stufe eingestellt. So viel war passiert. Kierons Angriff, der schmerzhafte Verlust von Suki, meine eigene Veränderung …
Ich wischte mir über mein tränennasses Gesicht, schwang meine Füße fahrig über die Bettkante und lief auf den bodentiefen Spiegel an meinem Kleiderschrank zu. Ich suchte nach irgendeinem Anzeichen, dass ich mir das weiße Leuchten in meinen Augen nach dem Kampf gegen Kieron und seine Skalks nicht nur eingebildet hatte. Ich wusste, was ich gesehen hatte. Doch in diesem Augenblick fand ich lediglich den gewohnten rötlichen Schimmer vor.
Ich griff in meinen Kleiderschrank und zog mir eine lange Strickjacke über, die mir bis zu den Waden reichte. Dann lief ich zu meinem Zimmerfenster herüber, das nur angelehnt war, damit meine Schneeeule Rosalie jederzeit hereinfliegen konnte.
Über Nacht war Neuschnee gefallen, der die finnische Landschaft unter einer dicken weißen Decke begrub. Ich stierte ins Nichts und blickte an jene Stelle, an der Suki mich vor einigen Wochen aufgesucht hatte. Bei der Erinnerung durchlief mich ein wohlig-warmes Gefühl. Gleichzeitig wurde mir eiskalt, und ich schlang meine Strickjacke noch etwas fester um mich.
Es kam mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass mich der Polarfuchs an die geheimnisvolle Aurora Academy geholt hatte. Jene Akademie, an der Nordlichter ausgebildet wurden. Und ich war eins von ihnen.
Ein trauriges Lächeln teilte meine Lippen bei dem Gedanken daran, wie hartnäckig Suki gewesen war. Und wie er mir anfangs mit seiner spöttischen, frechen Schnauze den letzten Nerv geraubt hatte.
In diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, dass er mir seine liebevollen Bosheiten an den Kopf warf, tadelnd mit seinem buschigen Schwanz um sich schlug und mich mit diesem leicht hochnäsigen Blick bedachte, den er so perfekt beherrscht hatte.
Ich wusste nicht, wie lange ich in die weiße Landschaft starrte, während die Kälte in mein Zimmer und tief in meine Knochen drang. Ich erwachte erst aus meiner Starre, als ich einen Schatten am Himmel ausmachte, der stetig näher kam.
O Gott, zu viel Schwung, zuuu viiieeel Schwuuuung!,vernahm ich Rosalies Stimme in meinem Kopf, kurz bevor sie zum Fenster hereinbretterte, dabei halb gegen die Scheibe krachte und schließlich mit einem Purzelbaum in meinem Zimmer bruchlandete. Au, jammerte sie, bevor sie sich etwas ungelenk aufrappelte und mit einer fast schon menschlichen Geste schüttelte. Sie plusterte sich auf. Suki hätte mir jetzt bestimmt gesagt, dass ich bei meiner Landung ausgesehen habe wie ein tölpeliger Albatros. Oder wie ein Schneehuhn, plapperte sie drauflos, dann verstummte sie und ließ traurig das weiß gefiederte Köpfchen hängen.
Ich setzte mich neben sie ans Fußende des Bettes. Ich wusste, dass Rosalie Suki ebenso sehr vermisste, wie ich es tat, auch wenn die zwei sich eigentlich ununterbrochen gezankt hatten.
Sie blickte aus ihren kullerrunden gelben Augen zu mir auf. Es fühlt sich komisch an, ab morgen wieder an der Akademie zu sein …
Mein Magen krampfte sich erneut zusammen. Heute war der letzte Tag der Weihnachtsferien, morgen würde wieder der Schulalltag beginnen.
Und ich war so was von nicht bereit dafür.
In den letzten Tagen hatte ich die Welt um mich herum wenigstens ein Stück weit ausblenden können. Ich hatte mich in einer Art Kokon befunden und versucht, die Außenwelt von mir abzuschirmen. Doch ich würde mich nicht auf ewig verstecken können …
Rosalie rieb ihr Köpfchen an meinem Bein. Yara, was passiert ist, war nicht deine Schuld.
Ich knetete meine Finger, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Doch, das war es«, erwiderte ich tonlos und starrte ins Leere. »Ich habe Kieron und die Skalks angelockt. Meinetwegen haben sie die Akademie angegriffen. Und Suki ist nur …« Ich schluckte, da ich das Wort »gestorben« einfach nicht über meine Lippen brachte. »Er wollte mich retten, weil ich nicht aufgepasst habe, als mich einer der Skalks angegriffen hat.«
Ich würde mir das niemals verzeihen, es fraß mich innerlich auf.
Rosalie schüttelte traurig den Kopf. Es war ein schrecklicher Unfall. Suki hätte nicht gewollt, dass du dich selbst aufgibst. Und er –
»Rosalie, lass es einfach gut sein«, fuhr ich meiner Schneeeule über den Schnabel, woraufhin diese zusammenzuckte. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich sie verletzt hatte, obwohl sie mir bloß helfen und für mich da sein wollte. Ich dagegen war im Moment wirklich unausstehlich und noch dazu unfair.
Als ich mich schlafen legte, meinte ich, Rosalie schluchzen zu hören, und mein Herz wurde noch ein Stück schwerer, auch wenn ich das nicht für möglich gehalten hätte.
Seit Sukis Tod hatte ich mich immer mehr zurückgezogen. Auch Mama, Papa und Naemi hatten bemerkt, dass ich mich verändert hatte. Ob Naemi mir aus diesem Grund die Kette geschenkt hatte? Weil sie ahnte, dass wir gerade dabei waren, uns voneinander zu entfernen, und dass es zwischen uns nicht mehr so unbeschwert war wie früher?
Ich wusste, dass sie und meine Eltern sich um mich sorgten, aber ich konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Durfte es auch nicht, zumindest jetzt noch nicht. Was mit Menschen passierte, die von uns erfuhren, wusste ich nur zu gut.
Ich dachte an Finn, den Jungen mit den eisblauen Augen, und an seinen Vater Professor Dr. Winterberg. Nur weil ich so leichtsinnig gewesen war, Gefühle für einen normalen Jungen zu entwickeln, hatte ich ihnen versehentlich das wahre Erscheinungsbild der Nordlichter offenbart. Letzten Endes waren sowohl Finn als auch seinem Vater sämtliche Erinnerungen an die Nordlichter genommen worden. Und damit auch an mich. Dass Finn mich zuvor an seinen Vater verraten hatte, tat mir bis heute weh. Und trotzdem fragte ich mich manchmal, wie es ihm ging. Ich hatte ihn sehr gerngehabt.
Doch ich sollte mich auf die besinnen, denen ich wirklich am Herzen lag. »Rosalie, es tut mir leid«, wisperte ich daher in die Stille hinein.
Ihr Schluchzen klang leise ab, doch diesmal bekam ich keine Antwort von ihr.
Ich legte mich auf die Seite und bettete den Kopf auf meine Hand. Das Gedankenchaos wollte einfach nicht aufhören. Alles in mir wehrte sich dagegen, morgen auch nur einen Fuß in die Aurora Academy zu setzen. Am liebsten hätte ich rein gar nichts mehr mit der Welt der Nordlichter zu tun gehabt. Gerade hätte ich alles dafür getan, ein ganz normales Mädchen zu sein.
Während ich in die Dunkelheit meines Zimmers starrte, merkte ich plötzlich, wie sich jemand in meinen Kopf drängte. Es war ein Gefühl, das ich schon in der Vergangenheit gespürt hatte. Doch in den letzten dreieinhalb Wochen hatte es mich nicht mehr heimgesucht. Es war kalt und glitschig.
Du wirst mich nicht los,Yara, wisperte die Stimme.
Mein Herz geriet ins Stocken. Ich kannte diese Stimme, sie hatte sich wie eine böse Erinnerung in mich eingebrannt.
Bildete ich sie mir gerade nur ein? Fantasierte ich? Oder … Oder war Kieron uns noch immer auf den Fersen?
Ich selbst war beim Einsatz meiner Fähigkeiten während unseres Kampfes gegen die Skalks in Ohnmacht gefallen und hatte nicht miterlebt, was danach genau passiert war. Ich wusste nur noch, dass die Skalks von etlichen meiner Lichtstrahlen gespalten worden waren, als ich auf einmal in Rot, Gelb, Blau und Violett zugleich geleuchtet hatte. Zoey, Violet und Marina hatten hinterher an meinem Krankenbett behauptet, dass ich die Skalks besiegt hätte und sie ein für alle Mal zerstört wären. Aber was hatten sie noch gleich über Kieron gesagt? Ach ja, genau: dass er sich ähnlich wie seine Skalks in Luft aufgelöst habe.
Ich war einfach davon ausgegangen, dass »besiegt« gleichzusetzen war mit … na ja, »tot«. Aber was war, wenn wir nur den ersten Kampf gewonnen hatten, nicht aber den ganzen Krieg gegen Kieron? Was, wenn er immer noch dort draußen herumgeisterte?
Mit gemischten Gefühlen stand ich am nächsten Tag mit Rosalie vor dem geheimnisvollen Gletscher, hinter dem sich die Aurora Academy verbarg. Der Abschied von meinen Eltern und Naemi war diesmal seltsam gewesen, irgendwie distanzierter.
Meine Mutter hatte mir mit Tränen in den Augen über den Arm gestrichen. »Schatz, du weißt, dass du immer mit uns reden kannst, ja? Wir haben dich lieb.«
Bei dem Gedanken an unser Gespräch wurden meine Augen feucht. Im Moment hatte ich das Gefühl, überhaupt nicht mehr zu wissen, wer ich war oder wo ich hingehörte. Es kam mir so vor, als hätte ich mich ein Stück weit selbst verloren.
Ich strich über den Silberanhänger, den Naemi mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Nachdenklich fuhr ich mit meinem Finger das kühle Silber und den blauen Stein in dessen Mitte nach.
So sind wir trotzdem zusammen, auch wenn du nach den Ferien zurück an die Akademie gehst, hallten ihre Worte in mir nach.
Brrrr, ich find’s immer noch ein bisschen unheimlich, dass die Akademie so einsam und mitten in der Pampa liegt,klagte Rosalie und katapultierte mich damit aus meinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt.
Ich ließ meinen Blick schweifen. Die Atmosphäre war ähnlich wie damals, als mich meine Mentorin Pia zum ersten Mal hierhergebracht hatte. Nebel kroch zwischen den Tannen hindurch und ließ die Szenerie fast schon mystisch wirken. Vor Rosalie und mir ragte ein mächtiger Gletscher empor, der zwar natürlichen Ursprungs war, seit Jahren aber nur noch durch die Kräfte der Nordlichter aufrechterhalten wurde.
Inzwischen wusste ich auch ohne die Hilfe von Pia, wie ich die magische Gondel, die Rosalie und mich nach oben auf den Gletscher bringen würde, sichtbar machen konnte. Dazu musste ich nur meine Gefühle nutzen, um meine Kräfte als Nordlicht zu aktivieren.
Ich schloss die Augen, um mich besser konzentrieren zu können, und horchte in mich hinein. Tief in mir spürte ich eine kleine warme Quelle. Normalerweise war das Gefühl stärker, doch an diesem Tag schien die Quelle aus irgendeinem Grund versiegt zu sein. Dennoch versuchte ich, mich darauf zu konzentrieren und diese leichte Wärme und das kaum wahrnehmbare Zerren in mir anzuzapfen.
Aber als ich meine Lider wieder öffnete, war keine Gondel weit und breit zu sehen. Mist.
Ich merkte, wie ich unruhig wurde. Kein Wunder, dass das hier nicht funktionierte, so aufgewühlt, wie meine Emotionen zurzeit waren. Ich war ja das reinste Nervenbündel!
Es war wichtig, dass man sich als Nordlicht auf die positiven Gefühle konzentrierte, um seine Gabe nutzen zu können, zumindest am Anfang der Ausbildung. Das war uns an der Akademie immer wieder eingebläut worden.
Also rief ich eine schöne Erinnerung mit Naemi auf. Es dauerte eine Weile, doch irgendwann merkte ich, wie sich das warme Gefühl in meinem Körper verstärkte, und als ich dieses Mal meine Augen wieder öffnete, glitzerte eine wunderschöne goldfarbene Gondel vor Rosalie und mir.
Die Türen schwangen wie von Geisterhand auf, und Rosalie hüpfte hinein. Eigentlich hätte sie auch fliegen können, doch vermutlich wollte sie mir beistehen, da sie um meine leichte Höhenangst wusste. Ich lächelte still in mich hinein.
Kurz bevor ich ebenfalls in das magische Gefährt einstieg, ließ ich erneut meinen Blick schweifen, um sicherzustellen, dass mir niemand gefolgt war. Es hatte höchste Priorität, die Existenz der menschlichen Nordlichter vor der Außenwelt geheim zu halten.
Aber das Einzige, das ich wahrnahm, waren blau-orangefarbene Kleckse, die hin und wieder zwischen den Nebelschlieren auftauchten. Wahrscheinlich hatte unsere Direktorin Mrs Bailey wieder ihre Eisvögel losgeschickt, um die Gegend im Visier zu behalten. Die kleinen Wächter und Spione der Stadt waren äußerst flink und geschickt in ihrem Job.
Kaum dass Rosalie und ich aus der Gondel gestiegen waren, vernahm ich plötzlich wieder die Stimme in meinem Kopf, allerdings etwas gedämpfter. Yara … Komm zu mir. Ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Was ich von dir will, wirst du dann erfahren. Was du im Gegenzug von mir bekommst, verrate ich dir jetzt schon: die Sicherheit Aurorias und deiner Freunde. Oder hast du schon vergessen, was deinem kleinen Füchslein widerfahren ist? Betrachte diese Worte als freundliche Warnung, Yara … Komm zu m…
Dann brach die Verbindung ab.
Ich erschrak so sehr darüber, dass ich auf dem schmalen Plateau zu straucheln begann. Hinter mir kullerte ein Kieselstein den Hang hinab.
Yara, pass auf!, kreischte Rosalie erschrocken und schnappte mit ihrem Schnabel nach meiner Winterjacke. Ich ruderte hektisch mit den Armen und fand gerade so mein Gleichgewicht wieder. Das Herz donnerte mir laut in der Brust. Ich wagte einen Blick hinter mich und sah noch, wie der Kieselstein in die Tiefe fiel. Mein Puls begann zu rasen, und meine Höhenangst meldete sich zu Wort. Hastig trat ich von der Kante weg und presste mich an den Felsen vor mir.
Rosalie sah mich aus großen Augen an. Yara, was ist denn eben passiert?
»Ich … Ich weiß auch nicht, ich war in Gedanken und wohl etwas unvorsichtig«, antwortete ich.
Der Druck in meinem Kopf hatte nicht nachgelassen. Mittlerweile verstärkte sich mein Eindruck, dass ich mir die Stimme in meinem Kopf nicht nur einbildete. Ich möchte dir einen Handel vorschlagen … Was sollte das bedeuten?
Nachdem es mir nach ein paar Anlaufschwierigkeiten mithilfe meiner Fähigkeiten gelungen war, auf dem oberen Gondelplateau den Lichtertunnel zu öffnen, gelangten wir durch ein schillerndes Eislabyrinth in die Stadt.
Sobald wir Auroria betreten hatten, spürte ich, wie das glitschige, drückende Gefühl in meinem Kopf wieder etwas nachließ.
Seltsam … Was ging hier bloß vor sich? Möglichst unauffällig und ohne dass Rosalie es mitbekam, sah ich mich um, als würde mir irgendein unsichtbarer Verfolger im Nacken lauern. War Kieron wirklich immer noch hinter mir her? Aber was steckte dahinter? Es beunruhigte mich, dass er Auroria und meine Freunde offensichtlich als Druckmittel verwenden wollte, um mich zu ihm zu locken. Oder war das bloß eine Masche? Leere Worte, um mir seinen Willen aufzuzwingen?
Wir wurden an einer der Schlitten-Haltestellen von einem Huskygespann abgeholt, das uns in Richtung Akademie bringen sollte. Ich bevorzugte die Huskyschlitten gegenüber den Rentierschlitten, da die Rentiere deutlich rasanter unterwegs waren. Und in Auroria gab es keine Autos oder Busse.
Die weiße Schnee- und Eiswelt von Auroria übte nach wie vor eine ungemeine Faszination auf mich aus. Und so sah es hier immer aus, denn in der Stadt hinter dem Gletscher herrschte permanent Winter. Die Bäume wirkten, als hätte eine Fee sie mit Glitzerstaub bedeckt, und es kam mir so vor, als würde ein leises Klingen in der Luft liegen. Wenn man diese zauberhafte Umgebung in Augenschein nahm, mochte man kaum glauben, dass in Auroria nicht alles glitzerte und funkelte. Doch auch hier gab es Dunkelheit, Geheimnisse und Gefahr.
Je mehr wir uns der Aurora Academy näherten, desto mulmiger wurde mir. Nicht nur wegen der Stimme, die ich zuvor gehört hatte, sondern auch wegen meiner Mitschülerinnen. Und da war zunehmend dieser Gedanke in meinem Kopf: Ich bin eine Gefahr für alle.Was, wenn ich jetzt zusätzlich noch Gefahr von außen über sie brachte? Unruhig rutschte ich auf dem weichen Fell herum, mit dem der Schlitten ausgelegt war.
Rosalie schien meine innere Aufregung zu spüren, da sie näher zu mir hüpfte. Ich lass dich nicht allein.
In diesem Moment war ich unglaublich erleichtert, dass sie bei mir war. Ich wusste nicht, ob ich das hier gerade ohne sie durchgestanden hätte, und ich rechnete es Rosalie hoch an, dass sie an meiner Seite blieb, obwohl ich zurzeit nicht die fröhlichste Gesellschaft war. Dankbar legte ich meine Hand auf ihr Köpfchen und strich über ihr weiches Gefieder, was Rosalie mit einem zufriedenen Gurren und Augenblinzeln quittierte.
Der Schlitten kam etwas unterhalb der Aurora Academy zum Stehen. Die Huskys gaben ein freudiges, ungeduldiges Bellen von sich. Offenbar konnten sie es kaum erwarten, wieder durch den Schnee preschen und sich austoben zu dürfen.
»Danke, Mika«, bedankte ich mich bei dem Fahrer, rückte meine Beanie zurecht, die durch die Fahrt etwas verrutscht war, und stieg aus. Die letzten Meter zur Schule legte ich zu Fuß zurück. Rosalie flog neben mir her. Diesmal hatte ich keinen sperrigen Koffer dabei, sondern nur einen Rucksack, weshalb der schneebedeckte und leicht rutschige Anstieg einfacher zu bewältigen war.
Kurz bevor ich die letzten Meter erklomm, hielt ich inne. Panik überkam mich. Wie würden meine Mitschülerinnen auf mich reagieren? Wie würde es überhaupt sein, wieder an die Aurora Academy zurückzukehren, nach allem, was geschehen war?
So gern ich auch mutig sein wollte – ich fühlte mich gerade alles andere als selbstbewusst.
Auf dem Innenhof vor der Akademie herrschte ein reges Treiben. Zig Schülerinnen unterhielten sich angeregt miteinander, als hätten sie sich monatelang nicht gesehen.
Da sind wir wieder, seufzte Rosalie.
»Ja, da sind wir wieder«, murmelte ich kaum hörbar. Lautes Stimmengewirr und Lachen drang an meine Ohren, und doch nahm ich das alles wie durch einen Filter wahr, der die Gespräche dämpfte und die Farben um mich herum etwas blasser und lebloser wirken ließ.
Während meine Welt in den letzten Wochen stillgestanden hatte, schien hier an der Aurora Academy wieder Normalität eingekehrt zu sein.
Da vernahm ich ein freudiges Quietschen. »Yara!« Vor mir löste sich eine zierliche Gestalt aus der Menschenansammlung, und ein Mädchen mit nussbraunem Bob und vereinzelten pinken Haarsträhnen schob sich daraus hervor. Ich hatte kaum Zeit, angemessen zu reagieren, da flog Zoey schon in meine Arme.
»Es ist so, so schön, dich zu sehen, Yara«, sagte sie dicht an meinem Ohr und drückte mich fest an sich. Für einen Moment erlaubte ich es mir, mich einfach fallen zu lassen, und genoss ihre Umarmung.
Als Zoey sich von mir löste, verengte sie ihre grünen Katzenaugen und sah mich anklagend an. »Du hast auf keine einzige Nachricht reagiert, ich hab mir echt Sorgen gemacht!«
»Sorry, Zoey … Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich.«
Ihr Blick wurde weicher, und sie strich mir über den Arm. »Das kann ich gut verstehen. Aber du hast Freundinnen, denen du wichtig bist. Und du solltest solche Zeiten nicht allein durchstehen müssen.« Dann drehte sie sich zu Rosalie. »Hey, Rosalie, High Five!«
Das High Five gelang zwar nicht ganz, aber zumindest stupste Rosalie mit ihrem Kopf gegen Zoeys Handfläche.
»Wusste ich doch, dass ich da vorne bekannte Gesichter gesehen habe!«, rief da jemand hinter uns.
Ich drehte mich um und entdeckte Violet und Marina, die auf uns zusteuerten. Violets Haare leuchteten in einem noch stärkeren Lila als bei unserer letzten Begegnung, und Marina machte mit ihrem silbrig glitzernden Mantel der Eiskönigin mal wieder alle Ehre.
»Krass, was ist mit deinen Haaren passiert, Violet?«, fragte ich und starrte auf ihre grelle Mähne. Es sah ungewohnt aus, aber die Farbe stand ihr fantastisch.
Violet grinste. »Hab mich an einem neuen Haarfärbemittel versucht. Ist zwar anders ausgefallen als erwartet, aber mir gefällt’s.«
»Du siehst aus wie Tinky-Winky von den Teletubbies«, kommentierte Marina in ihrer üblich direkten Art.
»Wir haben dich auch vermisst, Marina«, erwiderte Zoey lachend, und schon lagen wir alle einander in den Armen.
»Hast dich ganz schön rargemacht in den Ferien, Yara.« Marina schenkte mir einen vielsagenden Blick. Zwischen ihr und mir war es bisher nicht ganz einfach gewesen, und ich wusste immer noch nicht so genau, ob wir inzwischen Freundinnen waren. Marina zeigte nicht oft ihre weiche Seite, aber dass sie mir in den Ferien geschrieben hatte, war vermutlich ihre Art, mir zu signalisieren, dass ich ihr wichtig war.
»Tut mir leid. Mir ist einfach alles über den Kopf gewachsen«, entschuldigte ich mich ein weiteres Mal, woraufhin Violet nun ebenfalls mitfühlend über meinen Arm strich.
Meine drei Freundinnen hatte Sukis Schicksal ebenfalls sehr berührt, aber sie hatten keine so freundschaftliche Beziehung zu dem Polarfuchs gehegt wie ich.
»Endlich sind wir wieder vereint!« Zoey machte einen freudigen Hüpfer.
Wie unterschiedlich wir vier doch waren, sowohl charakterlich als auch von unseren Fähigkeiten und den Farben her, die uns als Nordlicht zugeteilt waren. Marina, die ein blaues Eis-Nordlicht war und ihre Umgebung zu Eis gefrieren lassen konnte. Violet, die ein lilafarbenes Mental-Nordlicht war und in den Geist anderer Personen eindringen konnte. Und Zoey, das quirlige gelbe Flimmer-Nordlicht. Sie konnte Einfluss auf das Licht nehmen.
Tja, und dann gab es da noch mich. Ein aufbrausendes und emotional schnell überfordertes Feuer-Nordlicht.
Ich betrachtete meine Freundinnen. Ich war so verdammt froh, dass ihnen beim Angriff der Skalks nichts passiert war – im Gegensatz zu manch anderen meiner Mitschülerinnen. Einige hatten danach auf der Krankenstation gelegen. Und während ich meine Freundinnen nun mit einem Gefühl der Wärme und Besorgnis zugleich ansah, fragte ich mich voller Schuldgefühle, ob sie ohne meinen Wechsel an die Aurora Academy vielleicht nie in diese heikle Lage gekommen wären.
Zoey zog ihren Rucksack nach vorne und holte eine Dose mit Weihnachtsmuster hervor. »Schaut mal, ich hab euch selbst gebackene Kekse mitgebracht!«
»O toll, Glitzerkekse!«, rief Violet und griff verzückt hinein, während plötzlich Leben in Marina kam.
»Mein Gott, Zoey, pack deine Tupperdose weg, wie peinlich ist das denn? Willst du unseren Ruf schädigen?«
»Fu fpät, fir ferden fon feobaftet«, nuschelte Violet mit vollem Mund, und wir folgten ihrem Blick.
Sie hatte recht. Die Stimmung auf dem Schulhof war umgeschlagen. Sämtliche Aufmerksamkeit schien auf uns gerichtet zu sein, wobei ich das starke Gefühl hatte, dass diese Aufmerksamkeit insbesondere meiner Person galt.
»Marina, ich glaub, ich kann dich beruhigen. Die sind nicht an Zoeys Tupperdose interessiert«, murmelte ich.
Doch da schwebten auch schon die ersten Wortfetzen zu uns herüber. »Das ist das Mädchen, das beim Angriff der Schattenwesen in sämtlichen Farben geleuchtet hat. Angeblich haben wir es ihr zu verdanken, dass die Viecher verschwunden sind«, hörte ich ein Mädchen tuscheln. »Sie ist aber angeblich auch schuld, dass die Dinger überhaupt erst gekommen sind. Und dass eines der Mädchen an der Schule seine Kräfte verloren hat. Wie hieß sie noch gleich? Avery?«, flüsterte ein anderes Mädchen. »Ich hab gehört, dass sie die Akademie verlassen musste, weil sie keine mehr von uns ist.«
Ich spürte die Aufmerksamkeit auf mir ruhen, und mir wurde eiskalt. Ich hatte es noch nie leiden können, im Mittelpunkt zu stehen, aber das hier war noch mal eine Spur schlimmer.
Das gefällt mir ganz und gar nicht. Rosalie flatterte auf meine Schulter.
Nein, mir gefiel das Ganze hier auch nicht. Kurz fühlte ich mich in meine Anfangszeit an der Aurora Academy zurückversetzt. Die Blicke meiner Mitschülerinnen reichten auch jetzt wieder von beeindruckt über neugierig bis hin zu skeptisch und abwertend. Offenbar zerrissen sich meine Mitmenschen seit dem Angriff der Skalks heftig das Maul über mich. Wobei – das hatten sie auch vorher schon getan. Jetzt war es einfach nur noch heftiger.
»Was machen wir denn nun?«, zischelte Zoey.
Die Einzige, die wieder einmal vollkommen cool und gelassen blieb, war Marina. Sie streckte ihren Rücken durch und setzte eine fast schon gelangweilte Miene auf. »Na, was wohl? Erst mal packst du deine Tupperdose weg. Und dann liefern wir den kleinen Lästermäulern und Tratschtanten einen Auftritt, den sie nicht so schnell vergessen werden. Yara, du kommst in unsere Mitte.«
Marina und Zoey hakten sich bei mir unter. Wie zwei Bodyguards rahmten sie mich ein, während sich Violet an Zoeys Arm gehängt hatte.
»Brust raus, Kopf hoch, zeig’s allen!«, raunte Marina uns noch zu, bevor wir im Gleichschritt auf die Akademie zugingen.
Selbst Rosalie schien dieses Mantra bereits voll und ganz verinnerlicht zu haben, da sie sich auf meiner Schulter aufplusterte. Jawohl, Marina, gib’s diesen Schneehühnern!, feuerte sie meine Freundin an, wobei sich ihre Krallen noch ein Stück tiefer in meine Schulter bohrten. Brust hoch, Kopf raus …, wiederholte sie wie ein General. Ach nee, das war andersrum, oder?
Wir passierten den zugefrorenen Springbrunnen in der Mitte des Hofes.
»Na, schöne Ferien gehabt?«, fragte Marina in zuckersüßem Ton eine besonders unverhohlen starrende Dreierclique, woraufhin die Mädchen peinlich berührt zusammenzuckten und ihre Köpfe senkten.
Mannomann, ich fühl mich wie auf dem Catwalk. Fehlt nur noch der rote Teppich!, juchzte Rosalie, die mittlerweile Gefallen an unserem großen Auftritt zu bekommen schien. Mir selbst war der Schulhof dagegen noch nie so verdammt lang vorgekommen wie heute. Jeder einzelne Meter schien sich zu ziehen.
Wir hatten die Treppe zur Akademie fast erreicht, als …
Auweia, da ist Davin, sagte Rosalie plötzlich und wäre fast von meiner Schulter gepurzelt.
Ich wollte noch ein »Was, wo?« hinterherschieben, als er plötzlich auch schon vor uns auftauchte und uns mehr oder weniger den Weg abschnitt. Seine dunklen Augen hefteten sich auf mich.
Unweigerlich beschleunigte sich mein Herzschlag, und mein Mund wurde ganz trocken.
»Hey, Yara«, sagte er leise. »Können wir reden?«
Ich schluckte, und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass mir die Stimme versagte.
Zoey und Violet ließen ihre Blicke zwischen Davin und mir hin- und hergleiten, während Marina ihn grimmig anstarrte, vermutlich, weil er ihren großen Auftritt versaut hatte.
Zoey hakte ihren Arm bei mir aus und sah Marina vielsagend an. »Was hältst du davon, wenn wir uns schon mal Plätze in der Aula sichern? Gleich hält Mrs Bailey doch die Neujahrsansprache.«
Marina gab nur ein Murren von sich, aber Zoey ließ sich davon nicht beirren. »Wir halten dir einen Platz frei, Yara, okay?«
Zoey und Violet schenkten mir noch ein aufmunterndes Lächeln, bevor die drei die Treppe nach oben stiegen und ich auf einmal allein mit Davin war. Selbst Rosalie hatte sich ein Stückchen entfernt und saß nun auf dem eingeschneiten Pfeiler des Treppengeländers, von dem aus sie Davin und mich im Blick behielt. Geistesabwesend strich ich über Naemis Anhänger, als würde seine bloße Existenz mir eine Portion Selbstvertrauen einflößen. Das klappte allerdings nicht ganz so gut wie erhofft.
Ich schob meine Hände tief in meine Jackentaschen und musterte Davin. Er sah blass und mitgenommen aus.
»Wie geht’s dir?«, fragte er mich sanft und so leise, sodass die anderen uns nicht hören konnten.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ging schon mal besser«, gestand ich, bevor wieder Schweigen zwischen uns einkehrte.
Davin steckte seine Hände nun ebenfalls in die Taschen seiner abgewetzten Lederjacke, die so was wie sein Markenzeichen war.
Ich bemühte mich, dem inneren Drang zu widerstehen, mir meine Beanie tief ins Gesicht zu ziehen, damit die anderen mir meine Gefühle nicht direkt von der Nasenspitze ablesen konnten.
»Ich hab mir Sorgen gemacht. Du hast auf keine meiner Nachrichten geantwortet. Hat es damit zu tun, was ich dir … vor den Ferien gesagt habe?« Er schluckte.
Wieder beschleunigte sich mein Puls bei dem Blick, den er mir aus seinen fast schon kohleschwarzen Augen schenkte. Und das jagte mir mehr Angst ein als alles andere.
Das Herz brannte mir in der Brust, und ich dachte daran zurück, wie Davin mir kurz nach dem Angriff der Skalks gestanden hatte, dass er mich sehr gern hätte. Und wie ich ihn aus meinem Zimmer geschickt hatte.
Das hier … Es war einfach nicht richtig. Und das lag nicht nur daran, dass es uns seitens der Akademie verboten war, romantische Beziehungen einzugehen, da wir unsere Emotionen als Nordlichter im Griff haben mussten. Ich wollte vor allem nicht, dass Davin meinetwegen verletzt wurde oder zu Schaden kam. Gerade weil er mir insgeheim so viel bedeutete, musste ich meine Gefühle für ihn abstellen, um ihn in Sicherheit zu wissen.
Es war der einzig vernünftige Weg, auch wenn es schmerzte.
Daher beschloss ich, meine Empfindungen hinter einer dicken Mauer wegzusperren. Ein Glück, dass ich mir ein paar Tricks von Marina hatte abschauen können! Ich nahm mir ein Beispiel an ihr und setzte ein betont gleichgültiges Gesicht auf. »Sorry, aber ich hatte viel zu tun. Und zwischen uns ist alles cool. Ich meine, eigentlich gibt’s da doch auch nichts mehr, worüber wir reden müssten, oder? Wir sind Freunde.«
Ich versuchte, möglichst unbekümmert und gelassen zu wirken. Gleichzeitig kam es mir so vor, als würde meine Stimme ungewohnt kalt und ablehnend klingen. Fremd. Marina wäre mit Sicherheit stolz auf mich gewesen.
Ein Durcheinander an unterschiedlichen Gefühlen huschte wie ein Schattenspiel über Davins Gesicht. Unglaube, Fassungslosigkeit, Enttäuschung … Davins Adamsapfel hüpfte, als er schwer schluckte. »Freunde?« Er blinzelte. »Freunde küssen sich nicht.«
Verunsichert schaute ich mich um, aus Sorge, jemand könnte uns gehört haben. Das fehlte mir noch, dass uns irgendwer bei Mrs Bailey verpetzte. Aber die meisten Schülerinnen waren schon im Inneren der Akademie verschwunden.
Plötzlich kamen die Erinnerungen an Davins Kuss wieder hoch. Ein leises Flattern machte sich in meinem Bauch bemerkbar, und es gelang mir nicht, es völlig zu ignorieren. Da war etwas zwischen Davin und mir.
»Wir waren beide durcheinander von den Ereignissen … mehr nicht«, sagte ich stockend, kam mir dabei aber total verlogen vor.
Im nächsten Moment trat ein harter Ausdruck in Davins Augen, und seine Kiefermuskeln spannten sich an.
»Alles klar, hab kapiert, dass ich dich in Ruhe lassen soll. Keine Sorge, ich will gar nichts mehr von dir, Yara. Und dabei dachte ich immer, Marina wäre hier die Eiskönigin. Offenbar hab ich mich getäuscht.«
Seine Worte fühlten sich an, als hätte mir jemand einen Schlag ins Gesicht verpasst. Meine Augen brannten. »Gut, dann hätten wir das ja geklärt!«, fauchte ich, bevor ich auf dem Absatz kehrtmachte und die Treppe nach oben stieg.
Während ich Stufe für Stufe nahm, kämpfte ich verzweifelt gegen das Bedürfnis an, mich noch einmal nach Davin umzudrehen und zu überprüfen, ob er mir nachsah.
Ich zwang mich dazu, der Versuchung standzuhalten, aber auf der letzten Treppenstufe wagte ich dann doch noch einen Blick über meine Schulter.
Ich sah Davin hinterher, wie er zielstrebig durch den hohen Schnee in Richtung Sportplatz stapfte. Und obwohl doch ich diejenige war, die das letzte Wort behalten hatte, fühlte es sich so an, als wäre ich als Verliererin aus diesem Gespräch hervorgegangen.
Ich wusste nicht, was schlimmer war: dass ich Davin etwas vormachte oder dass ich mir selbst einzureden versuchte, er würde mir nichts bedeuten.
Denn die Wahrheit lautete, dass mir dieser Junge unter die Haut ging. Und dass es trotzdem niemals ein Wir geben würde.
Es fühlte sich einerseits vertraut an, neben Marina, Violet und Zoey in der Aula zu sitzen, während Mrs Bailey auf der Bühne ihre Neujahrsansprache hielt. Und doch kam mir das alles hier auf einmal nicht mehr richtig vor. Nicht ohne Suki.
Ich hätte Rosalie gern bei mir gehabt, aber leider durfte ich meine Eule nicht mit in die Aula nehmen. Ich konnte von Glück sprechen, dass Mrs Bailey überhaupt erlaubte, dass Rosalie mich an die Aurora Academy begleitete.
Mein Blick schweifte durch den Saal. Noch immer spürte ich, dass die Aufmerksamkeit meiner Mitschülerinnen auf mir ruhte, aber ich gab mein Bestes, um sie zu ignorieren. Trotzdem tat es weh zu wissen, dass sie über mich tuschelten. Aus irgendeinem Grund musste ich in diesem Moment an Avery denken, aber ich konnte ihren rothaarigen Schopf nicht unter meinen Mitschülerinnen ausmachen. Ob sie ihre Fähigkeiten tatsächlich für immer verloren hatte? Hatte sie deswegen wirklich die Akademie verlassen müssen? Die Fragen in meinem Kopf wollten nicht aufhören, und jede einzelne von ihnen sorgte dafür, dass ich mich noch eine Spur schlechter fühlte.
Nachdem Mrs Bailey uns begrüßt hatte, senkte sich kurz Stille über den Raum. Hinter ihr standen ein paar weitere Lehrerinnen aus dem Kollegium.
In dem Moment öffnete sich die Tür der Aula, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie Davin zur Tür hereinspaziert kam, die Hände in den Hosentaschen vergraben, der Blick verschlossen. Mein Herz pochte augenblicklich etwas schneller.
Meine Augen folgten ihm, wie er lautlos durch den Mittelgang huschte, nur um dann in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Mir entging nicht, wie Mrs Baileys Mundwinkel ein Stück nach unten rutschten, als würde ihr der Auftritt ihres Sohnes ganz und gar nicht gefallen. Sie krallte ihre Hände ums Podest. Kurz darauf bogen sich ihre Lippen jedoch zu einem Lächeln, das auf mich so unecht und aufgesetzt wirkte, als hätte es ihr jemand ins Gesicht getackert.
Mrs Bailey atmete einmal tief ein und aus. »Ich möchte ehrlich mit euch sein, das letzte Jahr hat für uns alle anders geendet als erwartet. Dennoch möchte ich mich noch einmal für euren unermüdlichen Einsatz bedanken. Euch haben wir es zu verdanken, dass wir unseren dunklen Feind besiegen konnten und die Aurora Academy noch immer ein Zuhause und ein Zufluchtsort für die Nordlichter sein kann.«
Meine Gedanken drifteten ab, und mein Blick glitt ins Leere, bis er schließlich die dunkelblauen Samtvorhänge streifte. Mein Atem stockte kurz, und ich sah noch einmal etwas genauer hin, um mir auch wirklich sicher zu sein. Da, wo sich vorher das Sternwappen mit dem Polarfuchs darin befunden hatte – da war nichts mehr.
Eine unsichtbare Faust schloss sich um mein Herz und drückte fest zu. Mrs Bailey würde doch wohl nicht extra die Vorhänge ausgetauscht haben, um jegliche Erinnerung an Suki – das Maskottchen dieser Schule – auszuradieren? Oder? So kaltherzig konnte sie doch nicht sein!
Wie in Zeitlupe sah ich wieder nach vorne, wo Mrs Bailey noch immer Lobeshymnen auf Auroria und die Academy schwang. Aber sie ging kein einziges Mal auf Suki ein. Suki, der schlaue Polarfuchs, der so viel mehr als nur das Maskottchen dieser Schule oder der Bote für Mrs Bailey gewesen war.
In meinen Ohren begann es zu rauschen. Unweigerlich ballte ich meine Hände zu Fäusten, weil ich einfach nicht fassen konnte, dass Mrs Bailey da vorne an ihrem Pult nur von unserem Erfolg sprach, nicht aber davon, was wir an jenem Tag verloren hatten und wie hoch der Preis gewesen war. Die Worte der Direktorin bekam ich nur noch wie durch einen Schleier mit.
Entsprechend erschrak ich, als sich auf einmal sämtliche Köpfe nach mir umdrehten und Marina mir zeitgleich ihren Arm in die Rippen rammte.
»Au, was soll das denn?«, zischte ich sie an und rieb mir mit schmerzverzerrtem Blick über meine Seite.
Mrs Bailey räusperte sich. »Ich wiederhole: An dieser Stelle würde ich gern eine Person auf die Bühne bitten, die während der Ereignisse eine tragende Rolle gespielt hat. Yara, würdest du einmal zu mir nach vorne kommen?«
»Die Direktorin hat dich jetzt bereits zum zweiten Mal auf die Bühne gebeten. Für deinen Einsatz beim Kampf gegen die Skalks«, wisperte mir Zoey zu.
Was?!
Mir brach augenblicklich der Schweiß aus, und mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Einen Wimpernschlag lang war ich wie erstarrt, und meine Beine wollten mir nicht gehorchen.
»Die Leute gucken schon«, murmelte Violet, woraufhin ich allmählich aus meiner Starre erwachte.
Wie ferngesteuert stand ich von meinem Platz auf und lief nach vorn, während sämtliche Augen auf mich gerichtet waren. Kurz trafen sich Davins und mein Blick, und schon wieder begann mein verräterisches Herz schneller zu schlagen. Auch meine Mentorin Pia mit ihrem goldgelockten Haar konnte ich in der ersten Reihe ausmachen. Sie hob kaum wahrnehmbar ihre Hand und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.
Auf der Bühne wurde ich vom hellen Scheinwerferlicht geblendet. Vielleicht war das aber gar nicht so schlecht. Dann konnte ich mir zumindest leichter einreden, dass ich gar kein Publikum hatte.
Die Direktorin sprach davon, wie mutig ich doch gewesen wäre, während ich wie bestellt und nicht abgeholt neben ihr stand. Und mit jeder weiteren Sekunde begann meine Wut zu schwelen. Sengende Hitze peitschte durch meinen Körper. Ich brauchte ganz dringend ein anderes Ventil, um meine Kräfte nicht mit geballter Energie auf meine Mitmenschen loszulassen.
»Hören Sie auf, bitte«, sagte ich schließlich, was Mrs Bailey tatsächlich dazu veranlasste, in ihrer Lobeshymne innezuhalten.
»Wie bitte?«, fragte sie verdutzt.
Erneut ballte ich meine Hände zu Fäusten, versuchte dies jedoch unter den Blazerärmeln meiner Schuluniform zu verstecken. Ich hatte meine Gefühle in den letzten Wochen viel zu sehr in mich hineingefressen. Dadurch hatte sich meine Seele wie ein Luftballon immer stärker aufgebläht, sodass ich nun glaubte, kurz vorm Platzen zu sein. Und auch wenn gerade definitiv der denkbar schlechteste Zeitpunkt war – meine Emotionen mussten raus. Ich schaffte es nicht länger, sie zu unterdrücken.
»In Ihrer ganzen Rede haben Sie nicht ein einziges Mal davon gesprochen, dass Suki tot ist. Nicht ein einziges Mal haben Sie ihn erwähnt. Als hätte es ihn nie gegeben! Und was ist mit den Nordlichtern, die im Kampf verletzt wurden? Gehen wir jetzt einfach zur normalen Tagesordnung über, als wäre all das nie passiert?« Meine Stimme war lauter geworden, und meine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in meine Handinnenfläche.
Noch immer war es mir nicht möglich, in die Gesichter meiner Mitschülerinnen zu sehen, und ich musste meine Hand vor dem grellen Scheinwerferlicht abschirmen.
Mrs Bailey hatte es dafür komplett die Sprache verschlagen. Ein paar Mal öffnete sie noch den Mund wie ein Karpfen auf dem Trockenen, nur um ihn dann doch wieder zu schließen. Hektisch rote Flecken krochen ihren Hals hinauf.
»Ganz im Ernst: Ich wüsste nicht, warum ich es verdient haben sollte, auf dieser Bühne zu stehen. Diese ganze Veranstaltung ist einfach nur verlogen.«
Es quietschte unangenehm im Mikrofon. In diesem Moment nahm ich das Getuschel um mich herum kaum wahr, denn mein Herzschlag war um ein Vielfaches lauter. Das Blut rauschte durch meine Adern, und mein Herz donnerte so laut in meiner Brust, dass mir fast schlecht wurde. Auch ohne nachzusehen, wusste ich, dass meine Arme gerade rot leuchteten.
Aufgewühlt stürmte ich aus dem Raum, vorbei an den entsetzten Gesichtern von Pia, Davin, Marina, Violet und Zoey. Die Tür der Aula fiel mit einem dumpfen Aufprall hinter mir ins Schloss.
Ohnmächtig vor Wut rannte ich durch die ausgestorbenen Gänge der Aurora Academy. Meine Schritte hallten unangenehm laut auf dem Marmorboden.
Ich hatte keinen blassen Schimmer, was mich eben überkommen hatte. Normalerweise hasste ich große Auftritte und jegliche Art von Drama doch! Und vor allem hasste ich es, im Mittelpunkt zu stehen. Aber gerade – da war es einfach aus mir herausgebrochen. Leider hatte es nicht geholfen, die Hitze in meinem Inneren abklingen zu lassen, eher im Gegenteil. Sie stieg rasend schnell an. Und das machte mir Angst.
Ich taumelte beinahe in Richtung Ausgang und sog draußen gierig die kalte, klare Luft in meine Lunge, während ich die Treppe hinabstolperte. Meine Hände schleiften fahrig über das schneebedeckte Geländer. Dabei zog ich mir eine Schürfwunde an einem kleinen hervorstehenden Gegenstand zu, aber ich bemerkte das Brennen kaum, denn die Hitze und die Wut in mir überlagerten einfach alles.
Ich war nicht mehr in der Lage, klar zu denken.
Leise rieselten die Schneeflocken auf mich herab, und ich rannte, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Ich rannte immer weiter, bis ich das kleine Wäldchen nahe der Akademie erreichte.
Normalerweise hätte Suki mir jetzt gesagt, dass ich mich beruhigen und meine Gefühle unter Kontrolle bekommen musste. Aber er war nicht bei mir. Er war nicht hier, um mir zu helfen.
Gott, wie heuchlerisch das alles doch war! Wie konnte Mrs Bailey einfach wieder zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts gewesen? Und wieso hatte sie mich überhaupt auf die Bühne geholt? War ihr nicht klar gewesen, dass das den Unmut meiner Mitschülerinnen mir gegenüber nur noch weiter entfachen würde?
Am liebsten hätte ich auf irgendetwas eingeprügelt. Ich war so unglaublich wütend! Auf Mrs Bailey, weil sie einen auf heile Welt machte. Auf Davin, weil er Gefühle in mir auslöste, die gefährlich und falsch waren und die nicht sein durften. Ich war wütend auf Suki, dass er mich erst an die Akademie geholt und jetzt im Stich gelassen hatte. Ich war wütend, dass ich auf einmal zwei gänzlich unterschiedliche Leben führen musste. Aber am meisten war ich wütend auf mich selbst. Weil ich einsehen musste, dass das hier eine Nummer zu groß für mich war und ich mir etwas vorgemacht hatte. Wie hatte ich mir nur einbilden können, alles im Griff zu haben?
»Nordlichter, die Hüterinnen des Polarkreises«, schnaubte ich. »Dass ich nicht lache! In meinem Fall müsste es wohl eher Zerstörerin der Arktis heißen.«
Ich verpasste dem Schnee einen weiteren Tritt, als sich plötzlich wieder dieser unangenehme Druck auf meinen Kopf legte. »Aaaaaah!«
Ich presste die Hände auf meine Schläfen und sank erschöpft in den Schnee. Allerdings war das Druckgefühl nicht ganz so stark wie sonst.
Sieh … es ein, du und i…, wir s… uns ähn…licher, als du denk… Du … brau… mich, vernahm ich Kierons Stimme erneut in meinem Kopf.
Ich keuchte auf. Er klang diesmal leiser und abgehackter, und ich hatte Mühe, ihn überhaupt zu verstehen. Aber trotzdem glaubte ich zu wissen, was er hatte sagen wollen. Wir sind uns ähnlicher, als du denkst.
Noch immer hoffte ich, mir die Stimme nur einzubilden, aber das glitschige Gefühl machte mir mehr als deutlich, dass ich nicht halluzinierte.
»Was willst du von mir? Das hier ist nicht real!«, rief ich laut, woraufhin ein Specht erschrocken aus einer Baumkrone flüchtete.»Wir haben dich bei eurem Angriff besiegt! Wieso also kannst du noch zu mir sprechen? Du hast dich in Schall und Rauch aufgelöst!«
Ich bekam keine Antwort, beziehungsweise verstand sie nicht, da sie kaum mehr als ein Murmeln war. Allerdings glaubte ich zu hören, dass Kieron zwar dumpf, aber höhnisch auflachte. Wieder folgte ein Wispern, dem ich nur ein abgehacktes mir nicht entkomm… demse…en Holz geschni… Freun… retten … den Handel entnehmen konnte. Fast wie bei einem schlechten Handyempfang. Ich rappelte mich auf. Erneut züngelte rasende Wut durch meine Adern und ließ mich von innen heraus förmlich verbrennen. »Verschwinde!«, schrie ich. »Raus aus meinem Kopf! HAUAB!!!«
Umringt von schneebedeckten, leise ächzenden Tannen brüllte ich aus Leibeskräften meine ganze Wut und Verzweiflung aus mir heraus, wirbelte dabei um meine eigene Achse, bis die Bäume und das Weiß darin nur noch wie Farbtupfer an mir vorbeirasten.
