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Kurz vor Heiligabend bricht ein gewaltiger Schneesturm über die sonst so milde Insel Bornholm herein. Ole, der Lokalreporter einer Tageszeitung, soll darüber berichten, obwohl er sich eher zur Analyse von Weltereignissen berufen fühlt. Per Zufall verschlägt es ihn in einen Schützenpanzer, mit dem der junge Soldat Eric dringlich unterwegs ist: Eine Frau erwartet in einem vom Schnee abgeschnittenen Ort ein Kind, und Eric hat angeblich den Auftrag, die Hebamme zu ihr zu bringen. Doch kaum ist Tamara zugestiegen, braut sich nicht nur draußen, sondern vor allem zwischen den drei höchst unterschiedlichen Menschen mehr als nur eine Sturmfront zusammen. Als der Panzer im Schneegestöber stecken bleibt, führt für den Reporter nur noch ein Weg zu der großen Story, die er dringend braucht: ins Innere seiner Mitfahrer.In Aurora erzählt Sascha Reh nicht nur eine ganz andere Art Weihnachtsgeschichte, sein Roman ist auch eine intime Momentaufnahme des Status quo zwischen Männern und Frauen in der heutigen Gesellschaft - beklemmend, temporeich und voller Dialogwitz.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
I
II
III
Dank
Autorenporträt
Über das Buch
Impressum
Für Kathrin:Die Zukunft entsteht wie eine Zeichnungauf einem Stück Papier – Strich für Strich.
Aurora
I
Wochenlang war Schnee gefallen. Er bedeckte die Granitfelsen der Insel, die Maisfelder und Wiesen, die Dörfer und Schweinefarmen. Unter den Milliarden und Billionen von Schneekristallen, keines dem anderen gleich, lagen alle Fahrräder, Autos und sogar die Trecker mitsamt ihren Anhängern wie begraben. Hier und dort ragten noch Straßenschilder unter der monochromen Ebene hervor, aber sie waren nutzlos ohne Straßen, und so blieb auch den Ampeln nur noch, das Nichts zu regeln.
Im Jachthafen, der im Gegensatz zum Fährhafen schon ganz zugefroren war, buhlten die Schiffe in ihrer Wintergarderobe um die Reste frostiger Aufmerksamkeit. An den freistehenden Bauernhäusern türmten sich die Verwehungen so hoch, dass die Bewohner ihre Haustüren nicht mehr öffnen konnten, und wenn sie sie doch öffneten, fiel ihnen eine Wand aus Schnee entgegen, also ließen sie sie lieber geschlossen. Manchmal wurde ihnen kalt, weil die Kamine verstopften und die Öfen nicht mehr zogen; dann saßen die Bornholmer, eingewickelt in dicke Decken, in ihrer Stube, tranken Tee und sahen zu, wie die Eisblumen sich auf den Scheiben ausbreiteten. In den Dörfern ächzte der Weihnachtsschmuck unter dem Gewicht auf den Kugeln und den Halteseilen, und die Prismen und Dendriten reflektierten das Licht in alle Richtungen, sodass etwa Svaneke aussah wie eine verlassene Sternenkolonie. Kein Briefkasten wurde mehr befüllt, keine Mülltonne geleert und keine Bank mehr überfallen, was hier ohnehin selten vorkam. Der Schnee dämpfte jeden Laut und jedes Wort, selbst die Bewegungen verlangsamten sich bis nahe an den Stillstand, kurzum: Das tätige Leben war weitgehend zum Erliegen gekommen, und es herrschte tiefe Stille über der Insel.
Ein Reporter aus der Hauptstadt Kopenhagen saß in der Einsatzzentrale des Notfallmanagements in Rønne und wartete darauf, dass etwas geschehe.
Wie er bereits geahnt hatte, war der Kälteeinbruch, über den er berichten sollte, für sich genommen nicht weiter bemerkenswert, denn seine Konsequenz war ja lediglich der Stillstand, und wie soll man über etwas berichten, das nicht geschieht. Das hatte er noch unmittelbar vor seiner Abreise auch seinem Chefredakteur zu erklären versucht. Sein Chefredakteur aber hatte ihn, ohne viele Worte zu machen, daran erinnert, dass sich die neuen Investoren, und damit das Dagbladet, und damit auch er, ansprechende Geschichten aus dem Human-Interest-Ressort von Ole wünschten, ob nun etwas geschah oder nicht. Alle Beteiligten wussten, dass die Headhunter anderer Zeitungen nicht um Ole anstanden.
Seit seine wöchentliche Kolumne »Frühstück im Bett« abgesetzt worden war, schickte man ihn in der Gegend herum, zur Jahresversammlung des dänischen Imkerverbandes etwa, oder zur Landesmeisterschaft der Bodybuilder im Forum København. Dass er sich die Themen für seine Beiträge selber aussuchte, war im neuen Geschäftskonzept nicht mehr vorgesehen. Natürlich wusste Ole durchaus, wie man mit eher praktisch orientierten Leuten zu reden hatte. Aber die weltferne Schnarchigkeit grauköpfiger Bienenzüchter, und mehr noch die schweißige Atmo einer Bodybuilding-Meisterschaft mit ihrem Gepose, der Zuchtbullenästhetik und Lesben auf Anabolika, deprimierten ihn. Überall hatte es nach Bronzefarbe gerochen, die Frauen sahen aus wie gescheiterte Menschenversuche, und ihm wollte keine Idee kommen, wie er für die Besucher dieser traurigen Fleischbeschau menschliches Interesse aufbringen sollte. Als aus dieser Verlegenheit heraus die Wendungen »Lesben auf Anabolika« und »gescheiterte Menschenversuche« in Sinneinheit seinen Artikel bereicherten, gingen auf den Twitteraccount des Dagbladet zwei Tage lang Verwünschungen und Rücktrittsforderungen an seine Adresse nieder. Jahrelang hatten kalkulierte Tabubrüche wie diese seine Kolumne mehr oder weniger gratis beworben, jetzt kündeten die Tweets statt von der Morgenröte von einer Nacht ohne Morgen.
Im Øresundtunnel hatte er seinen historischen Volvo auf fast 180 beschleunigt, als wartete an seinem Ende der Sommer. Aber es war Dezember, gegen drei begann es zu dämmern. Auf der künstlichen Insel Peberholm, wo der Tunnel endete und die Brücke anfing, gönnte er der geschundenen Maschine eine Pause. Die Insel war aus dem Aushub aufgeschüttet worden, der beim Bau des Tunnels und der Brücke angefallen war. Pflanzen oder Tiere hatte man nicht angesiedelt, und so konnte sich Ole kurz seinem Eindruck überlassen, das letzte lebende Wesen zu sein, nicht nur hier, sondern überhaupt. Die Luft war kalt und klar, und wie er so dastand und rauchte, kam Ole ohne Bitterkeit, aber mit sachtem Schrecken der Gedanke, seine Herabsetzung beim Dagbladet wie auch seine bevorstehende Freistellung, falls er seinem Blatt nicht doch noch etwas Überzeugendes lieferte, seien logische Folgen der Tatsache, dass er eine sehr wichtige, sogar weltbewegende Entwicklung verpasst hatte, und nun war es zu spät.
Über die erleuchtete Brücke, die in einem langgezogenem Bogen über den finsteren Øresund führte, fuhr er nach Malmö und weiter nach Ystad, wo er die letzte Schnellfähre nach Bornholm erwischte. Weil die Weihnachtsfeiertage bevorstanden, waren sämtliche Stellplätze der Leonora Christina ausgebucht, und so musste er sein Auto auf einem bewachten Parkplatz in Ystad zurücklassen. Es hätte ihm aber ohnehin nichts genutzt, denn der Bornholmer Winterdienst hatte vor den Schneemassen kapituliert. Die Autos, die im Flutlicht die Fähre verließen, wurden zwar zunächst in Richtung der Hafenausfahrt dirigiert; noch auf dem Hafengelände, das man zu diesem Zweck weitgehend geräumt hatte, wies man ihnen aber einen Parkplatz zu. Eine Landesfahne flatterte weithin sichtbar im Wind, die Leine klöppelte heftig gegen den Mast wie eine Kirchglocke beim Beginn der Messe; ein Sturm war vorausgesagt. Unter dem dräuenden Wetter rafften die Fahrgäste ihre Habseligkeiten zusammen, Koffer, Rucksäcke, Geschenkpakete in Plastik- und Papiertüten, und wurden sich, zunächst ratlos, dann mit plötzlicher Entrüstung, darüber klar, dass sie ihre Reise, wenn überhaupt, von hier aus nur noch fußläufig würden fortsetzen können. Einige wenige weigerten sich, dieses Urteil anzunehmen, und ignorierten die Platzanweisung der Hafenordner, nur um dann die Straßen von Rønne tatsächlich unbefahrbar vorzufinden, nämlich vereist, verschneit und von stecken gebliebenen Fahrzeugen, deren Schicksal sie endlich in Demut teilten, hoffnungslos verstopft.
Ole gehörte zu den Glücklichen, die in Rønne ein Hotelzimmer gebucht hatten, das er obendrein zu Fuß erreichen konnte. Andere, deren Ziele am östlichen Ende der Insel lagen, in Nexø etwa oder Dueodde, standen nun, wie Flüchtlinge aus fernen Krisengebieten, vor der Frage, wohin. Es war lange dunkel.
Er ging zu Fuß die paar Meter vom Fährhafen zum ehemaligen Bahnhof. Die Hotellobby war voll von Gestrandeten, die entweder noch mit ihrem Los haderten oder es bereits zu akzeptieren begannen. Das Gedränge an dem kleinen Empfangscounter, der gleichzeitig als Ausschank diente und hie und dort schon ersten Trost spendete, war beträchtlich, und Ole genoss still und heimlich das seltene Gefühl, hier nicht um Anschluss kämpfen zu müssen, weil er ihn durch eigene vorausschauende Initiative bereits hatte. Er angelte sich also per Zuruf aus der zweiten Reihe seinen Zimmerschlüssel und wartete unter seiner Dachschräge bei einem Bier aus der Minibar, dass die erste Versorgungswelle abgeebbt sein würde: Die Lobby diente gleichzeitig als Restaurant, und Ole speiste nicht gern in Gesellschaft.
Als das Zetern und Trampeln auf den Fluren endlich nachgelassen hatte und die Menschen sich unter gemurmelten Flüchen in ihre Zimmer zurückzogen, ging er hinunter und bestellte sich auf Redaktionskosten ein Abendessen aus Lamm mit püriertem Wurzelgemüse, dazu eine Reihe von Bieren auf eigene Rechnung. Der Wirt des Hotels war Deutscher und ein passionierter Koch. Er erzählte Ole, dass das Bier, das im Übrigen ausgezeichnet war, hier auf der Insel gebraut wurde und dass der Brauer ebenfalls ein Deutscher war, Matthes, aus Schleswig-Holstein. Ole hatte den Eindruck, dass der Wirt ihn unbedingt von der Tüchtigkeit seiner Landsleute überzeugen wollte, vielleicht weil seine eigene Erscheinung eher zwielichtig war. Ole mochte ihn.
»Wenn man hier über das Wetter berichten soll«, fragte er ihn nach einer Weile mit schon leicht dachschräger Stimme, »wo geht man da am besten hin?«
Der Wirt war angesichts der Vollbelegung seines Hauses glänzend aufgelegt und erwähnte nach einigen launigen Vorschlägen, zu denen die örtliche Wetterstation, die örtliche Therme und das örtliche Bordell gehörten, das Fahrzeugdepot der Notfallbereitschaft, das sich knapp vor den Toren von Rønne befand. Ole dankte, und die beiden redeten noch eine Weile über Fußball, bis der Wirt seine Schlüssel nahm und sich verabschiedete. Als auch Ole schließlich zu seinem Zimmer hinaufstieg, wischte der Gehilfe bereits zum dritten Mal den Tresen.
Am nächsten Vormittag marschierte er nach dem Frühstück zur Station der Notfallbereitschaft. Die Sonne stand schon so hoch am Himmel, wie sie konnte. Der Wind hatte nochmals an Heftigkeit zugenommen, und die Temperatur lag weit unter dem Gefrierpunkt. Von den Dachkanten der Häuser zeigten Stalaktiten nach unten; sie ließen Ole an Damoklesmetaphern denken, aber niemand war unterwegs, den die Eisdolche hätten bedrohen können, außer ihm. Aus Gründen, für die er sich still verfluchte, trug er nur eine Übergangsjacke aus Leder sowie Halbschuhe, in die oben der Schnee hineinfiel, weswegen er seine Schritte sehr behutsam aufsetzte. Es nützte aber nichts, mit ausnahmslos jedem Schritt sank er tief ein, und als er die Station erreicht hatte, waren seine Socken und Hosenbeine durchnässt.
In der Rettungsstelle saßen drei Männer und eine Frau in neongelben Arbeitshosen; alle waren ein wenig, aber nicht viel jünger als Ole. Die Einrichtung bestand im Wesentlichen aus mehreren großen Tischen mit weißem, teils abgeplatztem Furnier, die man zusammengeschoben hatte. In der Ecke stand ein Kühlschrank mit einer Kaffeemaschine darauf, die beim Brühen spotzende Geräusche machte, an der Decke brannten zwei Neonröhren, von denen keine flackerte; das tat dafür ein stummgeschalteter Fernseher.
Einer der Männer hatte die Einzelteile eines großen Puzzles auf dem Tisch ausgeschüttet und war damit beschäftigt, sie alle auf die richtige Seite zu drehen. Die Verpackung zeigte ein Bild des schiefen Turms von Pisa. Zwei der Männer beobachteten bei Oles Eintreten abwechselnd Ole, das Umdrehen der Puzzleteile sowie sich gegenseitig. Der eine von ihnen trug eine schwarze Strickmütze mit integrierten Kopfhörern, der andere blätterte ohne hinzusehen in einer bildlastigen Zeitung. Die Frau sagte: »Tag, junger Mann, was können wir denn für dich tun?« Sie hatte schön geschwungene Falten um Mund und Augen und glanzlose, kaputte Haare. Das Oberteil ihrer Latzhose hing achtlos herunter, ohne dass die Hose dadurch heruntergerutscht wäre. Unter den hochgekrempelten Ärmeln kam ein verblasstes Krokodil zum Vorschein. Vielleicht war es auch ein Fabelwesen, die Insel war ja bekannt für ihre Trollmythologie; Ole kannte sich damit aber weder aus, noch interessierte er sich dafür.
Er lächelte sein verbindlichstes Lächeln. »Ich schreibe für das Dagbladet in Kopenhagen. Soll über das Wetter berichten. Ist dir da was aufgefallen?«
»Es hat geschneit«, sagte die Frau. Die Männer lachten.
»Jetzt kann ich in Frieden sterben«, sagte Ole.
»Willst du vorher noch einen Kaffee?«
Ole nahm am Tisch Platz und trank den Kaffee, den die Frau vor ihn hingestellt hatte. Er war frisch, aber zu stark und verstärkte damit das Pochen in seinem Schädel. Die Frau, die sich als Magda vorstellte, erzählte ihm, dass es gestern viele Einsätze gegeben habe: vereiste Fahrbahnen, eingeschneite Bauern, Autounfälle. An manchen der Autounfälle seien sogar die Räumfahrzeuge beteiligt gewesen, oder besser gesagt die Trecker, die man zu solchen umfunktioniert hatte, echte Räumfahrzeuge gebe es auf der Insel nämlich nur eins. Heute sei aber alles ruhig geblieben.
»Das fängt ja gut an«, sagte Ole.
»Eigentlich ist es so gut wie gelaufen«, sagte Magda.
Ole begann, sich eine Zigarette zu drehen.
»Hast du an was Bestimmtes gedacht? Was soll es denn für eine Geschichte werden?«
Ole suchte nach den richtigen Worten und hob schließlich die Schultern. »Hauptsache, ich kann meine Kreativität ausleben.«
Magda lachte auf, stutzte und lachte dann abermals, bloß lauter.
»Die musst du aber draußen rauchen«, sagte sie und zog schon ihre Jacke über.
Sie rauchten vor der Tür im Schnee. Magda hatte Zigarillos und machte keine Anstalten, ihn etwas über seine Arbeit oder sein sonstiges Leben zu fragen. Gegenüber befand sich der Neubau eines SuperBrugsen sowie ein altes Haus mit Sanitärwaren. Die Geschäfte hatten anscheinend noch geöffnet, auch wenn die Stadt sich selbst überlassen war. Ole glaubte fast hören zu können, wie Magdas und seine Atemwolken kristallisierten und zu Boden fielen.
Ein Mann kämpfte sich durch den ungeräumten Schnee auf der Fahrbahn. Er zog einen Schlitten hinter sich her, der übervoll mit Paketen beladen war, von denen alle paar Meter welche hinunterfielen. Magda warf ihren Zigarillo weg, ging hinein und kam einen Moment später mit einer großen Mülltüte und etwas Wollband wieder heraus. Die beiden packten die Geschenke in die Tüte und wickelten diese am Schlitten fest. Dann bekamen sie den Wollfaden nicht durchgerissen. Ole ging hin und sengte ihn mit der Flamme seines Feuerzeugs durch.
Als der Mann weg war, öffnete Ole den Mund, um Magda eine Frage zu stellen, etwas wie: »Arbeitest du schon lange im Notdienst?« Aber Magda kam ihm zuvor, indem sie ihn direkt ansah und fragte: »Geschieden?«
Anstatt verwundert zu sein oder brüskiert, antwortete er wie selbstverständlich: »Zehn Jahre.«
Der Fernseher war noch immer stummgeschaltet. Ole zog die Schuhe aus und hängte seine nassen Socken über die Heizung; jetzt, wo er gewissermaßen bekannt und in die Gemeinschaft derer aufgenommen war, die von diesem Weihnachtsabend nichts mehr erwarteten, fühlte er sich wie zu Hause. Gerade fing eine Sendung über schöne Landschaften an. Der Vorspann zeigte Impressionen aus Sizilien, von der portugiesischen Algarve, der dalmatinischen Adria, Andalusien. Sie waren mal in Málaga gewesen, Familienurlaub, er erinnerte sich aber nicht mehr gut daran. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich hin.
Nach einer Weile drifteten seine Gedanken weg, und er sah zu, wie auf dem Fernsehschirm Bilder seiner beruflichen Karriere abfolgten. Sie zeigten ihn als Korrespondent im Nahen Osten, wo er von den brennenden Fronten der Gegenwart berichtete, Chronist im endlosen Epos von Hass und Gewalt, Seismograf der Epoche. In den heiligen Redaktionsräumen der New York Times an der 8th Avenue war er ein und aus …
»Ich glaube, ich hab da was für dich«, sagte Magda zu ihm, indem sie sich zwischen ihn und seine Television schob.
Nur das Puzzle lag noch da, der dazugehörige Mann unterhielt sich bei der Kaffeemaschine. Die anderen beiden Männer waren weg. Draußen war es um ein paar Lux dunkler geworden. Ein Fensterladen am gegenüberliegenden Sanitätshaus knallte wieder und wieder gegen die Wand, bis er plötzlich aus den Angeln brach und geräuschlos in die wattige Straße hinabfiel. Der Puzzler sprach aufgeregt mit einem großen, noch ziemlich jungen Mann im Tarnfleck, der ebenfalls lautstark redete, gleichzeitig. Es sah aus, als stritten sie über etwas. Auf dem Bildschirm lief jetzt ein Märchenfilm in Schwarz-Weiß.
Ole stand auf und reckte sich, wobei ihm sein Hemd aus der Hose rutschte. Er bemerkte, dass er hungrig war.
»Gibt es hier irgendwo einen Imbiss?«, fragte er Magda.
»Eric! Komm doch mal!«, rief sie, statt zu antworten. Und an Ole gewandt: »Es gibt einen Notfall in Østermarie. Schwangere im Endstadium.«
Der Uniformierte unterbrach seine Unterhaltung und kam die paar Schritte zu Ole und Magda herüber. Ole fiel auf – es war schwer zu übersehen –, dass er knallrote Handschuhe trug, während der Rest der Uniform in den üblichen Erdfarben gehalten war. Er hatte eine vorgewölbte Stirn und eng stehende Augen. Seine Zähne waren völlig unregelmäßig angeordnet, fast so, als habe sich nie jemand für sie interessiert.
»Eric hier ist beim Forsvaret. Die haben einen Truppenübungsplatz unten im Süden. Er hilft uns manchmal. Mann für besondere Aufgaben und so.« Sie lächelte ihm anerkennend zu, aber es war die Art Anerkennung, die eigentlich das Gegenteil bedeutet. Dessen ungeachtet war Eric sichtlich bemüht, nicht allzu geschmeichelt auszusehen.
»Eric, das ist ein Journalist aus Kopenhagen. Ole. Er wartet hier schon den ganzen Vormittag, dass ein Komet einschlägt oder so was. Das Schicksal hat euch hier zusammengeführt. Kannst du ihn mitnehmen?«
Eric sah empört von Magda zu Ole und wieder zurück. Nicht nur empört: erschrocken. »Auf keinen Fall. Auf gaaar keinen Fall«, sagte er und wollte sich schon wieder umdrehen. Magda hielt ihn an der Schulter fest.
»Eric, jetzt sei ein guter Junge, das war keine Frage. Der Mann ist extra den weiten Weg …«
»Das ist nicht mein Problem. Ist echt nicht mein Problem! Ich muss los jetzt.«
»Wo genau musst du denn hin?«
»Weiß nicht. Bei Østermarie. Ich hab hier die Geodaten.«
»Also nimmst du ihn jetzt mit?«
»Das geht nicht!« Es klang beinahe quengelig.
»Ich wollte sowieso gerade«, begann Ole und hob den Daumen unbestimmt über die Schulter wie der Sidekick in einer amerikanischen Sitcom.
Magda stellte sich Eric frontal gegenüber und schien ein paar Zentimeter größer zu werden. »Ich will, dass du diesen Mann mitnimmst, er ist sehr nett und macht gerade schweren Privatscheiß durch. Zeig mal ein bisschen Mitgefühl, Platz hast du ja wohl genug.«
»Worum geht’s denn über …«, versuchte Ole probehalber.
»Keine Zeit«, sagte der Fähnrich, oder Feldwebel, oder was immer er war, betont autoritär; es klang so hilflos, dass Ole den Eindruck hatte, die Tür zur Mitfahrt stünde ihm nun ein gutes Stück offen. Allerdings hatte er keine Lust, sich bei diesem Wichtigtuer anzubiedern, auch wenn genau die Art Hochmut ihn da hingeführt hatte, wo er jetzt war.
»Wir müssten längst unterwegs sein«, sagte Eric nun, als sei die Verzögerung Oles Schuld. »Entweder Sie kommen mit, oder Sie lassen es bleiben.« Dabei griff er schon nach seinem Helm – einem Helm mit Kopfhörern und Headset, wie bei einem Hubschrauberpiloten – und zog den Reißverschluss seines Parkas zu. Die umgekehrte Reihenfolge wäre zweckmäßiger gewesen, denn so musste er den Helm zwischen die Knie klemmen, es war das Gebaren eines Tölpels. Ole zuckte die Schultern und sah Magda an. Nicht unbedingt, weil er bei ihr Rat suchte, er wollte bloß nicht aussehen, als sei er dankbar für das Wohlwollen eines Tölpels. »Wenn man mich so nett darum bittet …«, sagte er.
Magda zuckte ebenfalls die Schultern und lächelte. »Oder du schreibst einen spannenden Bericht über meinen Weihnachtsbaum.«
Ole nahm seine Socken von der Heizung, schüttelte sie aus, zog Jacke und Schuhe über und verabschiedete sich von ihr.
Sie gingen durch die rückwärtige Tür hinaus auf den Parkplatz, auf dem, halb geborgen in dafür eigens bereitstehenden Garagen, die orangefarbenen Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes standen. Keines von ihnen, nach den voll belegten Garagen zu urteilen, war ausgerückt. Dafür stand ein Schützenpanzer auf dem Parkplatz im Schnee, komplett mit Ketten und Kanone.
»Wir fahren mit dem Ding?«
»Wie?«, fragte Eric und hielt das Ohr in den Wind, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Ole aber war stehen geblieben und hatte beim Drehen seiner Zigarette innegehalten, teils um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, teils auch, weil es im Gehen und noch dazu bei dem heftigen Wind nichts werden konnte mit der Zigarette.
»Was soll das mit dem Panzer?«
Auch Eric blieb jetzt stehen. »Wohl Zivilist, wie?«
Ole unterdrückte ein Lachen. »Veteran, Jungchen«, sagte er dann trocken. »Hab mir in Basra die Beine wegschießen lassen. Also ein bisschen Respekt, wenn ich bitten darf.«
Eric stutzte. Es stimmte, der Mann ging seltsam; war es möglich, dass er tatsächlich … Augenblicklich war ihm sein vorwitziger Kommentar peinlich. Selbst wenn der Mann Zivilist gewesen wäre: Was machte das schon! Aber nun war er noch nicht einmal Zivilist, im Gegenteil, er hatte Eric vermutlich Jahre an Einsatzerfahrung und dazu noch eine schwere Kriegsverletzung voraus – und er, Eric, mit gerade zwei Jahren Militärerfahrung, von denen er noch dazu fast die Hälfte in der Instandsetzung verbracht hatte, spielte sich auf, als würde er den Panzer für seine Privatzwecke nutzen, ja als würde er mit ihm durch die Gegend zockeln, wann immer er Besorgungen zu erledigen hatte oder zum Training musste … Das war es doch wohl, was er dem Mann da so angeberhaft hatte vermitteln wollen: dass ihm die Armee in seinen Jahren treuen Dienstes nicht einmal nur zur zweiten, sondern zur eigentlichen Heimat geworden war und er sich seinen Kampfpanzer ausborgen konnte, wann immer er wollte. Hatte er das sagen wollen? Ja, hatte er. Plötzlich fühlte er sich bloßgestellt und fern jeder Überzeugung, wie er sie noch eine halbe Stunde zuvor gespürt hatte, als er sich von seinem Kommandanten Felix verabschiedet hatte.
»Das tut mir leid, Herr …«
»Ole.«
»Welcher Dienstrang?«
»Ganz weit über deinem, aber ich sprech da nicht so gerne drüber. Wegen dem Kriegstrauma. Verstehst du doch sicher.«
Eric nickte zögernd, ging um den Panzer herum und öffnete die hintere Luke zum Mannschaftsraum. Er achtete auf Oles Gang. Der Schreiberling bewegte sich langsam und so, als würde er auf Eiern laufen; es war aber schwer zu erkennen, da der Wind so stark geworden war, dass er an den Hosenbeinen zerrte, dazu der hohe Schnee. Allerdings, wenn ihm wirklich beide Unterschenkel amputiert worden waren, dann mussten das wirklich hoch entwickelte Prothesen sein, die er da hatte, ganz zu schweigen von der Reha. Aufwendig musste die gewesen sein, aufwendig und zeitintensiv und sehr, sehr teuer. Die Verletzung war ihm tatsächlich nur minimal, wenn überhaupt anzumerken.
»Da hinten ist es warm«, sagte Eric. »Sie kennen das ja.«
»Wo geht’s denn überhaupt hin?«
»Das sind eigentlich vertrauliche Einsatzdaten«, sagte Eric.
»Vertrauliche … aber wenn wir ankommen, seh ich doch sowieso, wo wir sind.«
Eric beobachtete, wie Ole in den Mannschaftsraum kletterte und sich auf einen der Sitze fallen ließ. Der Saum seines Hosenbeins rutschte herauf, und obwohl der Himmel sich ziemlich zugezogen hatte, konnte Eric ganz deutlich die Behaarung auf der weißen Haut erkennen. Das Schienbein war zu sehen, Fleisch, die ganze … Echtheit.
»Das ist keine Prothese«, sagte er zu Oles Beinen.
»Nein«, sagte Ole. »Das sind Beine.«
»Aber Sie haben gesagt, die wären Ihnen weggeschossen worden.«
Ole sah ihn einen Augenblick lang an. »Willst du mich verarschen?«
»Nein. Nein, Sie haben mich verarscht. Sie tragen überhaupt keine Prothese.«
»Kann es sein, dass deine Vorgesetzten dich aus einem bestimmten Grund zum Fahrdienst abkommandiert haben?«
Eric hielt dem Blick des Mannes stand. Seine Brille war getönt, auf den roten Wangen hatte er graugelbe Bartstoppeln. Er sah aus wie jemand, der in öffentlichen Schwimmbädern den kleinen Mädchen auf die Falte im Schritt stierte.
»Ich muss Sie nicht mitnehmen. Dass das mal ganz klar ist. Die Vorschriften …«
»Wo du gerade davon anfängst: Muss man nicht normal zu zweit sein, um mit dem Ding zu fahren?«