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Wie Kinder diese Welt erfahren, können wir als Erwachsene nicht genau wissen. Aber in Räumen zerstörter Kindheit – im Ghetto, im Lager oder im Krieg – wird eine vitale Widerstandskraft von Kindern sichtbar, die punktuell aus der Nacht der Gewalt herausführt. Der polnische Arzt Janusz Korczak gründet Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Waisenhaus in Warschau eine Republik der Kinder, die ganz von deren Selbstregierung bestimmt ist. Den ihm anvertrauten Kindern weicht er nicht von der Seite, auch nicht, als sie ins Lager Treblinka deportiert werden. Im Sommer 1945 regt Marie Paneth in einem englischen Empfangslager jüdische Kinder an, ihre Erfahrungen zu malen. Die Bilder zeigen eindrücklich ihr Erleben der Shoah. Auch die anarchische Güte überlebender Kinder aus dem Ghetto Theresienstadt, die Anna Freud in ihre Obhut genommen hat, zeugt von einer unbedingten Geschwisterlichkeit ohne direkte Verwandtschaft. Und diese Erfahrung der Lager wird die psychiatrischen Anstalten für immer verändern: Mit Fernand Deligny und Maud Mannoni schafft die antipsychiatrische Bewegung neue Institutionen und Lebensformen demokratischer Teilhabe für Kinder. In vier Fallgeschichten lässt Iris Därmann Kinder in ihrer verletzten Subjektivität und im Modus radikaler Geschwisterlichkeit in Erscheinung treten, die unsere infantilisierende Vorstellung von Kindheit erschüttern. Ihre Kinderperspektiven bilden einen kritischen Stachel für eine kommende Demokratie.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Andreas, meinen Bruder
(*17. März 1963 – †31. August 2020)
Aus der Nacht heraus. Mit einer einleitenden Bemerkung
Die kommende Demokratie ist eine Demokratie der Kinder. Janusz Korczaks Kinderrepublik
Kunsttherapie und Kinderanalyse nach Theresienstadt. Marie Paneth, Anna Freud und die Kinder von Windermere
Kinder versammeln. Fernand Delignys kartografischer Humanismus
Gesprengte Institutionen. Maud Mannoni und die Kinder von Bonneuil
Kinder als Miterfinder einer Menschheit der Sensibilität
Anmerkungen
Textnachweise
Dank
Ein Bruder, das ist derjenige, mit dem man aufwächst und zusammenlebt. Es kann so sein: Das im Zusammenleben entstandene Band ist unzerreißbar und bleibt auch dann noch bestehen, wenn es die gemeinsame Kindheit nicht in der Form des Zusammenlebens überdauert. Ist ein Leben ohne ihn möglich? Vielleicht. Ein Bruder, das ist aber der unersetzliche Andere, ganz gleich, ob es sich um einen leiblichen oder um einen adoptierten Bruder handelt. Eine solche geschwisterliche Beziehung, die das Gesicht einer unbedingten Freundschaft und Zugehörigkeit tragen kann, lässt sich weder vorschreiben noch universalisieren.
GESCHWISTERLICHKEIT
Doch sie kann auf Fremde übertragen und ausgeweitet werden. Besonders in Situationen extremer Gewalt und Verlorenheit, in denen Familien- und Verwandtschaftsgefüge gezielt zerstört worden sind, konnte Geschwisterlichkeit1 als eine neue Form lebenslanger und unverbrüchlicher Beziehungen entstehen. Solche Beziehungen beruhten auf gemeinsamen Erfahrungen von gewaltsamer Entführung und Deportation und von desparaten Formen des Widerstands wie Hungerstreik, Selbstverletzung, Suizid und Schiffsrevolte. John Matthews, ein offensiver Befürworter des transatlantischen Sklavenhandels, berichtete 1788, dass es »viele Verwandte« unter den Gefangenen der britischen Sklavenschiffe gegeben habe, und er bemerkte nicht ohne Erstaunen, dass es sich dabei keineswegs um traditionelle Verwandtschaftsbeziehungen gehandelt habe, sondern vielmehr um gerade entstandene Verbindungen. Es waren Menschen, »welche eine solche Anhänglichkeit aneinander entdeckt hatten, dass sie unzertrennlich wurden und während der Reise das Essen miteinander teilten und auf derselben Planke schliefen«.2 Auf der Middle Passage hätten sich zahlreiche solcher »new connexions« gebildet.3 Mitunter hätten sie sich auf das gesamte Unterdeck erstreckt.4 Geschwisterliche Beziehungen wie diese wurden unter den Gefangenen durch Schwurrituale besiegelt.5 Thomas Winterbottom, der zu Beginn der 1790er-Jahre als Arzt in der Kolonie Sierra Leone im Einsatz war, stand die Bedeutung des Sklavenschiffes für die Bildung solcher neuer geschwisterlicher Beziehungen deutlich vor Augen:
Es ist der Erwähnung wert, dass diese unglückseligen Menschen, welche auf demselben Schiff nach Westindien gebracht wurden, hernach für immer eine starke, empfindsame Zuneigung füreinander bewahren: für sie ist der Begriff Schiffskamerad fast gleichbedeutend mit Bruder und Schwester, insofern es selten vorkommt, dass eheliche Verbindungen zwischen ihnen stattfinden.6
Auf Kuba bezeichneten sich Schiffsschwestern und Schiffsbrüder, für deren neuen verwandtschaftlichen Status die Beachtung des Inzesttabus maßgeblich war, »als carabelas, ein Wort, das von ›Karavelle‹, d. h. Sklavenschiff abgeleitet ist«.7 Im britischen Atlantik nannten sie sich shipmates, »sibbi in niederländischem Kreol oder malungo in brasilianischem Kreol, malongue im britischen Trinidad, máti in Surinam oderbâtiment in Saint-Dominigue«.8 Es waren fiktive Verwandtschaftsbeziehungen, die nicht selten auf die nachfolgende Generation übertragen wurden: Mütter und Väter hielten in die Sklaverei geborenen Kinder dazu an, ihre Schiffsschwestern und -brüder als Tante beziehungsweise Onkel anzusprechen.9 Diese Praktiken der Geschwisterlichkeit, entstanden in der qualvollen Enge der »Appartements« eines Sklavenschiffs, bestanden im Teilen der dürftigen Nahrung und des schmalen Schlafplatzes. Und sie handelten von geteiltem Leid, dem die Versklavten mit Gaben und Gesten der Zuwendung begegneten.
Auf einem Sklavenschiff, das 1804 in South Carolina anlegte, befanden sich drei Mädchen, die auf der Middle Passage zu Schwestern geworden waren. Auf dem örtlichen Sklavenmarkt sollten sie durch Verkauf an verschiedene Sklavenbesitzer voneinander getrennt werden. Angesichts der drohenden Trennung war eines der Mädchen »überwältigt von Entsetzen und Furcht«. Immer wieder sahen sich alle drei »sehnlich« an. Zuletzt »warfen sie sich einander in die Arme und brachen in die erbärmlichsten Ausrufe aus. Sie klammerten sich aneinander und schluchzten und schrien und benetzten einander mit ihren Tränen.«10 Bevor sie endgültig auseinandergerissen wurden, nahm eines der Mädchen »eine Perlenkette mit einem Amulett daran von ihrem Hals, küsste [es] und [legte es] seiner Freundin um den Hals«.11 Ist die Ausmalung dieser Szene rührseliger Kitsch aus der Perspektive eines abolitionistisch gesinnten Journalisten, der die organisationale Gewalt des slaving mithilfe einer Rhetorik der Empfindsamkeit für weiße Leserinnen und Leser spürbar machen wollte? Keines der drei namenlosen Mädchen konnte die Geschichte seiner gewaltsamen Versklavung, Schwesternschaft und Trennung selbst erzählen.
Es gibt, so Saidiya Hartman, keine einzige Biografie einer weiblichen Gefangenen, die die Middle Passage überlebt hat.12 Erst recht keine Erzählung eines versklavten Mädchens, das für einen Moment so etwas wie Trost in der Abschiedsgabe eines schützenden Amuletts und in der Umarmung seiner beiden Schwestern gefunden hätte. Und doch wirft diese mit den Augen eines weißen Beobachters umrissene Szene ein Schlaglicht darauf, dass sich hinter der Zahl von 12,5 Millionen in die »Neue Welt« deportierter und versklavter Menschen nicht nur erwachsene Frauen und Männer, sondern zu einem hohen Anteil auch Kinder verbergen. Es waren Kinder, die zu Opfern der transatlantischen Versklavung gemacht wurden. Es waren Kinder, die mit ihren eigenen geschwisterlichen Beziehungen und Gaben zu Miterfinderinnen und Miterfindern einer »sensiblen Menschheit«13 wurden, mitten auf dem Atlantik, zwischen nataler Entfremdung und sozialem Tod.14
REVOLUTIONÄRE BRÜDERLICHKEIT
In der ersten globalen Aufstiegsphase des kolonialen Kapitalismus waren alle europäischen Nationen im transatlantischen Sklavenhandel engagiert, nicht zuletzt Frankreich. Am ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille stieg die Triade von Liberté, Égalité und Fraternité zur Pathosformel der Französischen Revolution auf. Antoine-François Momoro soll den drei Fahnenwörtern zum Durchbruch verholfen haben, indem er dem Club des Cordeliers anlässlich der Vorbereitungen zu den Revolutionsfeierlichkeiten empfahl, sie auf die Fahnen zu schreiben.15 So verbanden sie sich mit den politischen Farben der Republik, die auch mit Vorschriften für eine nationale Kleidung verbunden waren: dem Weiß der Freiheit, dem Blau der Gleichheit und dem Rot der Brüderlichkeit. Seit dem »5. Juli 1792 waren alle Männer verpflichtet, die blauweißrote Kokarde zu tragen, ab dem 3. April 1793 alle Bürger«,16 unabhängig von ihrem Geschlecht. Zwar beschworen bereits die frühen Revolutionslieder die Brüderlichkeit: »vivre en frères – au milieu des frères – à la santé des nos frères – adieux aux frères – chers confrères – frères par ci, frères par là«.17 Doch war der Dreiklang der republikanischen Losung weder in der »Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger« vom 26. August 1789 noch in der Verfassung von 1791 oder auch in der Charta von 1830 zu finden. 1793 tauchte er lediglich in einem Verfassungszusatz auf. Erst 1848 wurde er in die Verfassung aufgenommen.181793, am Vorabend der Terreur, richtete sich die Brüderlichkeit als terroristische Drohung »Fraternité ou la Mort«19 vor allem an die Gegner und Verräter der Revolution.
Ist die Androhung »oder Tod« konstitutiv für ein auf Blut, Abstammung, Zeugung und Ausgrenzung zurückgehendes Verständnis familiärer Brüderlichkeit? Weit entfernt von einem politischen Humanismus ohne gewaltsame Ausschlüsse handelte es sich bei dieser, so Pierre Leroux, »geheiligten Losung unserer Väter«20 um ein griechisches und christliches Erbe, das die Revolutionäre mit einer ambivalenten Politik der Feindschaft und der Freundschaft aufluden. Von ihren Staatsdienern verlangte die Republik eine Opferbereitschaft bis in den Tod: Im August 1792 mussten sie den sogenannten Freiheits-Gleichheits-Schwur ablegen, der ebenfalls den Zusatz »oder Tod« enthielt. Kraft Diensteid und Verankerung im eigenen Gewissen sollten Staatsdiener ihre bedingungslose Bereitschaft erklären, für die Sache der Republik bei der Durchführung ihrer Gesetze einzustehen – notfalls um den Preis ihres Todes.21 Augenscheinlich kommt die revolutionäre Brüderlichkeit nicht ohne Blut aus,22 sei es das der väterlichen Abstammung, sei es das des Königsmordes, sei es das der Terreur oder das des Selbstopfers. Vor diesem Hintergrund könnte man die »Rechtsbegriffe von Freiheit und Gleichheit [geradezu] als Schutz vor der Brüderlichkeit begreifen lernen«.23
Das revolutionäre Verständnis von Brüderlichkeit deckt eine verwirrende Reichweite ab, die von extremistischen Feindschaftserklärungen über ein universales Gefühl der Menschenliebe bis hin zu einer Vereinigungs- und Bindungskraft reicht, die den abstrakten Contrat social und die Verrechtlichung sozialer Beziehungen übersteigt. Diese letzte Dimension der Brüderlichkeit fand in der Einrichtung nationaler Feste und in Interaktionsritualen wie dem vertraulichen Duzen (das im Falle der Missachtung verdächtig erschien),24 den brüderlichen Umarmungen und den Friedensküssen, in Einheitsschwüren und Anreden wie »Brüder und Freunde« ihren Ausdruck.25
Brüderlichkeit ist kein unveräußerliches und einklagbares Menschenrecht. Sie steht geradezu quer zu den Bürger- und Menschenrechten von Freiheit und Gleichheit. Bestenfalls hat sie den Charakter eines utopischen Wunsches, eines erzieherischen Ideals oder einer moralischen Verpflichtung, die unter Verzicht auf terroristische Gewalt an eine noch nicht etablierte Gemeinschaft der Brüder und vereinigten Menschheitsfamilie appelliert. Weder liegt sie als politische Realität vor, noch ist sie als soziale Substanz gegeben. Vielmehr muss sie in Sprechakten und Praktiken der Verbrüderung eigens gestiftet und hergestellt werden. In einem Akt der Verbrüderung sandte die Gesellschaft der Freunde der Schwarzen mit Beginn der revolutionären Erhebungen in Saint-Domingue im August 1791 Tausende Kopien der »Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger« in die Kolonien. Die wenigen alphabetisierten Schwarzen sollten sich auf das darin verbriefte Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung sowie auf das Recht auf Freiheit und Gleichheit berufen und die revolutionären Losungen mündlich weitertragen können.26 Allerdings: Die Revolution war kein französisches oder europäisches Privileg. Die wenigsten Revolutionärinnen und Revolutionäre in Saint-Domingue verstanden sich, wie François-Dominique Toussaint L'Ouverture, als Schwarze Jakobinerinnen und Jakobiner.27 In den ersten Monaten des Aufstands forderten sie in Verhandlungen mit Vertretern der französischen Regierung die Abschaffung der Peitschenfolter und das Recht auf selbstbestimmte Arbeit an drei Tagen in der Woche in eigenen Gärten.28 Viele der Revolutionärinnen und Revolutionäre, die das Ende der weißen Kolonialherrschaft in der französischen Karibik herbeigeführt und dazu beigetragen hatten, dass Jean-Jacques Dessalines an Silvester 1803 die Unabhängigkeit Haitis ausrufen konnte, waren, wie Milscent de Musset, Boukman, Jean-François Papillon, Georges Biassou oder Jeannot,29 zuvor Maroonfighter und Anführer von Maroon Societies im kolonial nur wenig kontrollierten Hinterland beziehungsweise in Afrika geborene bassales. Sie träumten davon, in der Karibik die zerstörten afrikanischen Gemeinschaften in neuen Formen wiedererstehen zu lassen.30 Die Mikropolitik der Flucht respektive der Marronage und die Makropolitik der Revolution waren eng miteinander verzahnt. Beide waren Widerstandsformen der Selbstbefreiung aus der Versklavung.
Anders als die Gesellschaft der Freunde der Schwarzen, anders auch als die Zeitung Révolutions de Paris, die die Schwarzen dazu aufrief, »sich ihre Freiheit selbst zu holen«,31 setzten die Abgeordneten der Nationalversammlung zunächst die »Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger« und damit das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung für die Versklavten in den französischen Kolonien außer Kraft. Sie räumten den Kolonialversammlungen vielmehr das Recht ein, »für die gens de couleur eigene Rassengesetze zu erlassen«.32
Auf der Schwelle zum Kolonialkrieg gegen England und im Kampf gegen die Schwarzen Revolutionäre, die in den Dienst der spanischen Krone getreten waren, gestand der Zivilkommissar Léger-Félicité Sonthonax in einer denkwürdigen Proklamation vom 29. August 1793 allen Sklaven in der Nordprovinz der Kolonie, die noch unter französischer Herrschaft stand, die Freiheit zu. Er erklärte sie zu französischen Staatsbürgern und »adoptierten Kindern« im Kampf gegen die Feinde der Französischen Revolution in der Karibik:33
Die französische Republik will die Freiheit und Gleichheit für alle Menschen ohne Unterschied der Hautfarbe; die Könige hingegen fühlen sich nur in der Umgebung von Sklaven wohl. Sie sind es, die euch an den Küsten Afrikas an Weiße verkauft haben; es sind die Tyrannen Europas, die diesen infamen Handel am liebsten bis in alle Ewigkeit fortführen würden. Die Republik adoptiert euch als ihre Kinder; die Könige hingegen erstreben nichts anderes, als euch die Ketten anzulegen und euch auszulöschen.34
Étienne Polverel, der ebenfalls als Zivilkommissar nach Saint-Domingue gesandt worden war, um die Sklavenrevolution und die politischen Kräfte der Selbstbefreiung zu unterdrücken, versicherte in seiner »Proklamation an Afrikaner und Nachkommen von Afrikanern, die weder in der Landwirtschaft noch im Militärdienst beschäftigt sind«: »Afrikaner, ich sehne mich genauso wie ihr danach, alle frei zu sehen, alle als meines Gleichen, um euch als Brüder umarmen zu können.«35 Die in Saint-Domingue von Léger-Félicité Sonthonax proklamierte Abolition hatte weitreichende Folgen: Am 4. Februar 1794 schaffte die Nationalversammlung die Sklaverei im gesamten französischen Herrschaftsbereich erstmals ab und erklärte damit alle darin lebenden Schwarzen zu »Brüdern« und »Kindern der Republik«.36
Diese außerordentliche menschenrechtliche Maßnahme, kraft der die Brüderlichkeit auf die Schwarzen ausgedehnt wurde, möchte ich hier und in den folgenden Fallgeschichten unter drei Gesichtspunkten befragen: Auf welches Familien- bzw. Verwandtschaftsverständnis geht die revolutionäre Brüderlichkeit zurück und inwiefern weist sie darüber hinaus? Gibt es Gründe oder Motive, und das heißt, eine alte oder neue Dringlichkeit, der Brüderlichkeit auch heute einen Kredit einzuräumen? Und weiter: Kann oder muss die auf den ersten Blick irritierende Adressierung der Schwarzen als adoptierte »Kinder der Republik« nicht eigentlich wörtlich genommen werden? Könnte der in der Gegenwart offensichtlich erschöpfte Begriff der Brüderlichkeit – eingedenk der geschwisterlichen Gesten und Gaben der drei versklavten Schwarzen Mädchen – aus der je konkreten geschwisterlichen Perspektive von Kindern in extremen Situationen neu gedacht werden? Damit aber ist eine politische Erfahrungsgeschichte verknüpft, die die mit der bürgerlichen Entdeckung der Kindheit einhergehende Entmündigung der Kinder im ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein verdeckt hat.37
GENEALOGIEN DER BRÜDERLICHKEIT
Die Geschichte des Begriffs und der institutionellen Praxis der Brüderlichkeit verweist auf eine ambivalente Geschichte von Oikos und Polis, Verwandtschaft und Bürgerschaft. Als Verwandtschaftsbeziehung bleibt die revolutionäre Brüderlichkeit an jenes Haus- und Familienmodell gebunden, das sie als brüderlich vereinte Gemeinschaft der Freien und Gleichen zu überschreiten und politisch zu verallgemeinern sucht. Die mit ihr aufgerufene »universelle Liebe, die alle Mitglieder der menschlichen Familie vereint«,38 betont einerseits die Gleichheit aller Brüder (verstanden vor allem als Gleichheit vor dem Gesetz), andererseits führt sie zurück auf ein patriarchalisches, paternalistisches und despotisches Familienmodell, in dem die rechtliche und symbolische Bedeutung der Mutter, der Tochter und der Schwester für die Produktion, Verteilung und testamentarische Weitergabe der Güter und Reichtümer sowie für die kulturelle, symbolische und »natürliche« Reproduktion der Familie weitgehend marginalisiert worden ist. Selbst die Mitgift verläuft über den Vater (beziehungsweise im Falle seines Ablebens über den Bruder) und wird als eine väterliche Gabe verstanden. »Eine Tochter ohne Brüder hat eher den Status einer lebenden Erbsache als einer Erbin.«39 In diesem Familienkonzept, das auf der hauspolitischen Entmachtung der Frauen und auf der gewaltsamen Entrechtung versklavter Menschen beruht, sind nicht einmal die Brüder gleich. Dem Erstgeborenen wird vielfach die Rolle des einzigen beziehungsweise bevorzugten väterlichen Erben zugewiesen, der den leer gewordenen Platz des Vaters einzunehmen versucht.
Athen ist »von gemeinsamem Blute« und rekrutiert seine Bürger aus der »edlen und rechtmäßigen« Zeugung der Söhne jener freigeborenen und gleichen Athener, die sich als Vertreter der aristokratischen Häuser mit mythischen Abstammungslinien verstehen.40 Nur wer rechtmäßig geboren ist, kann einen Bürgertitel erben und kraft zeremoniellen Verfahrens unter dem Vaternamen in die Phratrie, die Gruppe der Brüder, eingeführt werden. Rechtmäßige Geburt und angeborenes Bürgerrecht sind deckungsgleich; analog dazu wird die Einbürgerung dem Verfahren nach als Adoption vollzogen. »Für einen Mann ist die Adoption die Möglichkeit, sich ›ein Kind zu machen‹ (poieisthai), ohne es zu zeugen (gennan). Die Vaterschaft wird so ohne Mitwirkung des männlichen Leibes durch einen Benennungsakt geschaffen.«41 Entscheidend ist, dass dieses Verfahren dasselbe ist wie dasjenige, mit dem der legitim geborene Sohn von der Phratrie anerkannt wird. »Die künstliche, ›gemachte‹ Abstammung ahmt die natürliche Zeugung so weit wie möglich nach.«42 Kraft Zeugung findet im Namen des Vaters eine politische Transformation der rechtmäßig geborenen und gemachten Söhne zu freien und gleichen Brüdern statt. Der Oikos, der bei Homer als adliges Geschlecht und einzige politische Handlungsinstanz in Erscheinung tritt,43 wird mit der Herausbildung und Konsolidierung der lokal verwurzelten Poleis jedoch zunehmend politisch entmachtet.44 Dass der Gründung der Poleis die Zerstörung all jener Verbände vorausgegangen war, die wie die Phratrie oder die Phyle auf den Verwandtschafts- und Geschlechterbindungen beruhten, ist, zumindest für Hannah Arendt, eine »geschichtliche Tatsache«.45 Dieser Konflikt wurde vor allem durch die Tragödiendichtung dramatisiert: Sophokles inszeniert in der Tragödie Antigone den unlösbaren Widerstreit zwischen den geschwisterlichen Bindungen und dem ungeschriebenen Gesetz der Götter auf der einen, der durch Kreon repräsentierten Staatsraison auf der anderen Seite. Im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit erscheinen die Geschlechter, Sippen, Häuser und Brüderschaften46 als Kontrapart und feindliche Größe der stadtstaatlichen Organisation.47 Die ersten philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Oikos, die der literarischen Gattung der oikonomía ihre systematische Gestalt verleihen sollten, sind nur vor dem Hintergrund dieses Konflikts verständlich. Bemerkenswert: Alle schlagen sich auf die Seite der Polis und betreiben wie Platon, Xenophon oder Aristoteles eine Politik gegen die Verwandtschaft.48
Zu Zeiten Ciceros und Senecas bezeichneten wiederum die in Rom erworbenen Ehrentitel und Ehrenämter sowie das Vermögen und väterliche Haus mitsamt den Freunden und Klienten den freien römischen Bürger. Dieser glanzvolle Name des Vaters konnte auf die Söhne, gerade auch im politischen Sinne, übertragen werden. Die Ehegattin stand, wenn überhaupt, erst am Ende solcher Aufzählungen, wie man sie aus Oikonomiaschriften kennt.49 Im römischen Rechtsverständnis bildeten Domus und Familia die zentralen Begriffe: Das Haus, verstanden als räumliche und verwandtschaftliche Einheit, wie auch die Familie – sie umfasste bewegliche und unbewegliche Sachen, das heißt, die »Sklavenherde«, die Freigelassenen, die Güter, Ländereien, das Erbvermögen – unterstanden der absoluten Verfügungsgewalt des Hausherren und Vaters.50 Was den Rechtsstatus der Abstammung der Söhne anging, so war dieser im Wesentlichen eine väterliche Entscheidung. Nicht die Tatsache der Geburt, sondern der formelle Akt der Anerkennung durch den Vater machte die Knaben zu legitimen Söhnen. Die Adoption war somit ein Verfahren, das sowohl leibliche als auch nicht-leibliche Söhne betraf. Die entsprechende zeremonielle Geste des Aufhebens des Knaben vom Boden war für Töchter nicht vorgesehen. War das Neugeborene ein Mädchen, so befahl der Vater lediglich, es an die Brust zu legen und es so am Leben zu lassen.51 Die patria potestas war das Recht und die Macht des Vaters über Leben und Tod.52 Auch wenn in Bezug auf Söhne und Töchter Recht und Ernährung als Gegensatz erscheint, so bedeutet die Nicht-Anerkennung eines Neugeborenen für Söhne und Töchter gleichermaßen den Tod durch »Auf-die-Straße-Werfen, Ersticken, Nahrungsmittelentzug«.53
Die Emanzipation der Söhne indes verhieß keine ökonomische Unabhängigkeit, jedoch einen eigenen Wohnsitz, der durch das väterliche Vermögen unterhalten wurde.54 Grabinschriften geben Aufschluss über konkrete Formen des Zusammenlebens, die auf eine gewisse Pluralität der römischen Familienmodelle hinweisen und die Zentralgestalt des Vaters in den Hintergrund rücken. Das gilt für Gräber in Rom oder Ostia, die Brüder und Schwestern sowie deren Freigelassene beherbergen. Sie weisen auf ein Zusammenleben in Form eines gemeinsamen Unternehmens oder Handwerks hin. Das gilt ferner für die Häuser von Brüdern und deren Seitenverwandte. Solche Phratrien mit dem gleichen Gentilnamen sind in Pompeji auf Gräbern schon vor Ausbruch des Vesuvs zu finden. Brüderliche und gar geschwisterliche Formen des Zusammenlebens wie diese finden in den kanonischen Texten mit ihren normativen väterlichen Hauspolitiken im Verhältnis zur athenischen Polis beziehungsweise zu Rom als »Stadt der Väter« jedoch keinen Widerhall.55
Das christliche Familienmodell mit der Gattenfamilie im Zentrum und der Betonung von »Monogamie, Unauflöslichkeit und beidseitiger Einwilligung« ist keine Erfindung des Christentums, sondern, von der Unauflöslichkeit abgesehen, römischer Herkunft.56 Wie die zunehmende Bedeutung von Paardarstellungen auf Grabreliefs unterstreicht, vollzieht sich die Aufwertung der Ehe im 2. und 3. Jahrhundert.57 Zwar war die Ehe nicht per se christlich, sie konnte jedoch christlich gelebt werden. »Wenn sie aber nicht enthaltsam leben können, sollen sie heiraten. Denn heiraten ist besser als in Glut geraten«, sagt Paulus (1. Kor 7,7-9). Virginität und Enthaltsamkeit boten, neben den einschlägigen Praktiken frühchristlicher Asketinnen und Asketen,58 vor allem die christlichen Orden und Klöster, die, nach Geschlechtern getrennt, zugleich Formen des Zusammenlebens als Ordensbrüder und Klosterschwestern ermöglichten.
Zur nicht-ökonomischen Verfasstheit des apostolischen Lebens gehört die Ehe- und Kinderlosigkeit (1 Kor 9,5 und 7,7). Für Paulus bildet die Unwirtlichkeit der Verkündigungstätigkeit im Namen des »Baus der Gemeinde« und des göttlichen Oikos (2 Kor 5,1) keine Ausnahmeerscheinung einer charismatischen Existenzweise. Er versteht sie vielmehr als vorbildlich für alle (1 Kor 11,1 und 4,16)59 und damit als »nachahmenswert«, insofern er selbst »Christus nachahmt«.60 Christus hatte den Hass auf die eigene Familie zur Bedingung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Jünger erklärt: »So jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.« (Lk 14,26)61 Paulus transformiert diese ungeheure Forderung Christi nach sozialer Dissidenz sowie die Zumutung des Bruches mit den verwandtschaftlichen Bindungen des Hauses im Namen einer messianischen Berufung im Modus des »als ob nicht«. Die messianische Berufung evoziert eine Oikosabgewandtheit inmitten des Oikos. Die berühmte Passage aus dem 1. Korintherbrief (7,20-23) wartet mit einer entsprechenden Forderung auf: »Jeder bleibe in der Berufung, in die er berufen wurde. Als Sklave wurdest du berufen? Kümmere dich nicht darum! Aber auch, wenn du frei werden kannst, brauche um so mehr! Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist, wer als Freier berufen wurde, Sklave des Messias.« Der forcierte messianische Gebrauch der Klesis (»gebrauche umso mehr«) höhlt alle rechtlichen Zustände und verwandtschaftlichen Bindungen von Innen aus und versetzt sie in den Modus einer »negativen Virtualität«.62 Dieser Modus besteht darin, den Oikos so zu gebrauchen, als ob er angesichts des (Wieder-)Kommens des Herrn nicht(s), nichtig sei: »Dies aber sage ich Brüder, die Zeit ist zusammengedrängt. Was bleibt ist, daß diejenigen, die Frauen haben, sie haben, als ob sie sie nicht haben, und diejenigen, die Weinende sind, als ob sie nicht weinten, und die Freuende sind, als ob sie sich nicht freuten, und die Kaufende sind, als ob sie nicht kauften, und die die Welt Nutzende, als ob sie sie nicht nutzten. Ich will jetzt, daß ihr ohne Sorgen seid.« (1 Kor 29-32) Das paulinische Verständnis des Gebrauchs des Oikos und der Berufung als eine von Gott gestellte Aufgabe in der messianischen Modalität des »als-ob-nicht« neutralisiert das hauswirtschaftliche Handeln, ohne es faktisch zu annullieren, und es entbindet von allen familiären und brüderlichen Bindungen, ohne sie rechtlich abzuschaffen. An deren Stelle aber soll die Nächstenliebe treten, die der Vereinigung der Christen als Brüder in Jesus gilt.63
Das antike und christliche Verständnis von Brüderlichkeit, das auf dem Ausschluss von Frauen und Sklaven einerseits, von Nicht-Christen andererseits gründete, ohne den Bezug zur Verfügungsgewalt des Vaters beziehungsweise Gottvaters aufzukündigen, wurde der Französischen Revolution zum Erbe. Das galt auch für die brüderlichen Vereinigungen der Freimaurer. So waren »die Hälfte aller Deputierten der Generalstände und zwei Drittel des Tiers Etat Freimauer«.64 Ebenso wenig wie die christliche Religion zielten die Freimaurer auf eine soziopolitisch, rechtlich und ökonomisch egalitäre Gesellschaftsordnung. Deren Brüderlichkeitsverständnis hatte eher symbolischen Charakter. Unter den spirituellen Freimaurern, die aus den Steinmetzbruderschaften hervorgegangen waren, kam der Sippe frater große Bedeutung zu; Logennamen wie Parfaite Union, Parfaité Amitié, Concorde oder Fraternité unterstreichen den Geist brüderlicher Vereinigung und Eintracht. Der Großmeister Duc d'Antin richtete am 24. Juni 1740 folgende Botschaft an seine Brüder:65 »Die ganze Welt ist für mich eine große Republik, in der jede Nation eine Familie und jeder Einzelne ein Kind ist.«66 In Aussagen wie diesen näherte sich die freimaurische Brüderlichkeit, die ansonsten von der Exklusivität des geteilten Geheimnisses bestimmt war, der monastischen Brüderlichkeit und der Gotteskindschaft aller Menschen an.
Die Revolution ist selbst eine dramatische Familiengeschichte mit schrecklichen Folgen für den königlichen Vater, der sich nicht als Vater, sondern als Tyrann verhalten hatte. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. war ein Königs- und Vatermord zugleich.67 Sind die Revolutionäre, die den König enthauptet haben, vaterlose Kinder? Und ist die egalitäre brüderliche Gemeinschaft nur um den Preis der Ermordung des Vaters zu haben?
Die revolutionäre Familiengesetzgebung jedenfalls beschränkte die Befugnisse des Vaters durch eine Neuregelung der Volljährigkeit der Söhne und des Status illegitimer Kinder, denen nunmehr gewisse Rechte zugestanden werden.68 Das säkularisierte, vertragsrechtliche Verständnis, das der Institution der Ehe in der Verfassung von 1791, Artikel 7 zugesprochen wurde, spiegelt sich konsequenterweise im Scheidungsrecht, das zum ersten Mal in Frankreich eingeführt wurde: »Wenn die Ehe ein zivilrechtlicher Vertrag auf der Basis gegenseitigen Einvernehmens war, dann konnte sie auch wieder gelöst werden.«69 Doch selbst radikale Jakobiner waren bereit, die Frauenrechte zu beschneiden, um die Frau auf ihre Mutterrolle zu reduzieren. So ging der Nationalkonvent am 29. Oktober 1793 gegen die politischen Ansprüche der Frauenclubs vor, die sich, wie Fabre d‘Églatine monierte, »nicht aus Familienmüttern, Töchtern, Schwestern, die sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern, zusammensetzen, sondern aus Abenteurerinnen, emanzipierten Mädchen und bewaffneten Grenadierinnen«.70 Mit der Begründung, dass die »vermännlichten« Frauen gegen die »natürliche Ordnung« verstießen, verbot der Konvent tags darauf alle Frauenclubs und populären Frauengesellschaften.71 Als sich zwei Wochen später eine Abordnung von Frauen in der Nationalversammlung einfand, um gegen das Verbot zu protestieren, wurden sie von Pierre Gaspard Chaumette zurechtgewiesen: »Seit wann ist es üblich, dass Frauen ihre heilige Pflicht im Haushalt und die Wiege ihrer Kinder verlassen, um an öffentlichen Orten aufzutreten?«72 Dann machte er ihnen unmissverständlich klar, dass der Konvent sie nicht anhören und auch in Zukunft keine Frauenabordnungen empfangen werde.73
Die Einschränkung der väterlichen Autorität und die Beschneidung der politischen Rechte der Frauen gingen mit der »Virilisierung der Revolution durch Robespierre und die Jakobiner«74 einher. Wie mythische Szenen von Brudermord und Milchbruderneid auf der einen, von Bruderliebe und brüderlicher Freundschaft auf der anderen Seite erscheint auch die revolutionäre Brüderlichkeit im höchsten Maße ambivalent: Sie ist sowohl ausschließend, frauenfeindlich, hierarchisch und gewaltsam wie auch universal, egalitär und menschenliebend. Diese paradoxe Logik der Brüderlichkeit lässt sich nicht durch eine historische Abfolge revolutionärer Phasen und abgebrochener Utopien auflösen,75sondern hat mit der Brüderlichkeit selbst zu tun, das heißt, sowohl mit der »eigentlichen« Bedeutung und verwandtschaftlichen Herkunft von Brüderlichkeit als auch mit ihrer metaphorischen Übertragung und politischen Ausweitung.
Die Brüderlichkeit des antiken Geschlechter- und Verwandtschaftsmodells bleibt das richtungsweisende Paradigma. Es kann im Zuge seiner symbolischen, figuralen, spirituellen, christlichen oder revolutionären Universalisierung nicht vollständig überschritten und transformiert werden. Zweifellos weist die im Zusammenhang mit der patriarchalischen, paternalistischen und despotischen Familie generierte Brüderlichkeit über die »natürliche«, auf Zeugung und Abstammung gegründete familiäre Ordnung hinaus. Denn die »Adoption« ist ein formales Verfahren zur Erzeugung von Söhnen und Brüdern. Allerdings ist es irreduzibel mit dem Recht, der Macht und Gewalt des Vaters verknüpft. Der Sohn wiederum kann nur außerhalb der Familie auf einen Freund oder eine Gruppe von Brüdern treffen, die sich womöglich brüderlicher verhalten als jeder einzelne Bruder der eigenen Familie. Zwar kann auch diese Hyperbole der Brüderlichkeit als eine initiale Überschreitung oder Überbietung der Familie im Namen einer nicht-generischen Brüderlichkeit verstanden werden. Jedoch bleibt die übertragene und ausgeweitete Brüderlichkeit in der Bewegung der Überschreitung an das androzentrische Modell gebunden, wie Jacques Derrida in seiner »Dekonstruktion des genealogischen Schemas«76 der Brüderlichkeit vor Augen führt.
Selbst wenn die Brüderlichkeit schwesterlich erweitert oder geschwisterlich umgedeutet wird, selbst wenn sie eine Brüderlichkeit der Hautfarben, Kulturen und Sprachen meint, selbst wenn sie die Brüderlichkeit der Frauen und die Zahllosigkeit aller geschlechtlichen Differenzen77 einschließt, bleibt die väterlich erzeugte und männlich orientierte Brüderlichkeit das Modell universeller Brüderlichkeit. Es ist dies eine Brüderlichkeit, die auf den Vatermord, den Königsmord und den Gottesmord zurückgeht.78 Die egalitäre Brüderlichkeit kann nur um den Preis der Enthauptung des Königs und als vaterlose Gesellschaft errichtet werden.79
In der Theorieszene80 von Totem und Tabu hat Sigmund Freud das Scheitern des Vatermordes durch die ödipale »Bruderhorde« dramatisiert. Insofern es sich gerade nicht um einen »Urvater«, sondern um ein »totemistisches Ungeheuer« handelt,81 das mit uneingeschränkter Macht alle Frauen für den eigenen sexuellen Genuss reserviert, »geht der ›Vatermord‹ dem ›Vater‹ als Figur seiner eigenen Abwesenheit voraus«.82 Die Brüder, die jeweils sein und haben wollen, was der Urvater (genauer: der Unvater) ist und hat, ohne dass sie sich an dessen Stelle setzen können, werden beständig von der gespenstischen Figur seiner Abwesenheit heimgesucht. Die revolutionäre Brüderlichkeit im übertragenen und universalen Sinne entkommt nicht diesem europäischen Paradigma der Familie mit all seinen Hierarchien, Ambivalenzen, gewaltsamen Ein- und Ausschlüssen, mit all seinem Ethnozentrismus, Sexismus und Rassismus. Es gibt daher keinen Grund, an diesem Wort, an dieser Logik, an dieser Genealogie universeller, griechischer, christlicher, revolutionärer Brüderlichkeit festzuhalten, auch nicht in der Form einer »Brüderlichkeit jenseits der Brüderlichkeit«.83
Gibt es überhaupt, gab es jemals eine egalitäre Familienstruktur? Eine Ausweichbewegung gegenüber der Brüderlichkeit bietet sich in der Gestalt einer anderen Familienstruktur und Verwandtschaftskonzeption an, die wesentlich durch die mütterliche Selbst-Gabe der Nahrung, der alimentären Teilung, der Fürsorge und Pflege bestimmt ist. Diese mütterliche Zuwendung und Sensibilität, die nicht auf eine heterosexuell orientierte Frau eingeschränkt ist, sondern abseits geschlechtlicher Binarität gleichermaßen von einer lesbischen Frau, von einem homosexuellen oder einem mütterlichen Vater, von queeren und Transmenschen praktiziert werden kann, ist von einer ursprünglichen Trauer und das heißt von der Arbeit der Trauer getragen. Eine so verstandene Trauerarbeit bedeutet, den Tod der und des verletzlichen Anderen kraft fürsorglicher Gesten und Gaben aufzuschieben, anstatt den Tod zu geben und ihn willentlich herbeizuführen. Bei einer solchen Neubetrachtung ginge es darum, Familie von der mütterlichen Substanz und schwesterlichen Beziehung ausgehend zu denken,84 um den möglichen Linien ihrer Ausweitung und Übertragung auf das Feld des Politischen in Gestalt von schwesterlicher Zugehörigkeit, affektiver Verbundenheit, Gabe und Gastfreundschaft zu folgen. Diese führen auf Formen und Utopien schwesterlichmütterlichen Zusammenlebens, wie sie Saint-Simonistinnen und Anarchistinnen zu Beginn und im Laufe des 19. Jahrhunderts erfunden, gelebt und praktiziert haben.85
Woraus wird morgen gemacht und geschrieben sein?86
Genealogien einer anderen Familie beziehungsweise von anderen Familien im Plural weisen in eine offene Zukunft und in eine noch kaum gesehene Vergangenheit. Das gilt umso mehr für die Frage der Geschwisterlichkeit in nicht kristallisierten Situationen des Sozialen, und zwar aus der je eigenen Perspektive von Kindern. Allerdings: Originäre Stimmen, genuine Erfahrungsperspektiven, eigene Schreibweisen, Sprechakte und Praktiken von Kindern sind in historischen Quellen eher selten bezeugt und als solche überliefert worden. Zeichnungen, Briefe, Postkarten, Tagebücher, Schulhefte, Erzähl- und Gesprächsprotokolle, Selbstzeugnisse von Kindern finden sich in der Moderne vor allem in Krisen-, Extrem- und Ausnahmesituationen. Ansonsten bleibt die Erwachsenenperspektive auf Kinder die dominierende Sichtweise, das heißt, wie Erwachsene Kinder wahrgenommen, was sie über sie gedacht, von ihnen erwartet und gefordert haben, wie sie sich die Erlebnis-, Gefühls- und Gedankenwelt von Kindern jeweils vorgestellt haben.87 Eine solche Erwachsenenperspektive hängt wiederum davon ab, ob Erwachsene überhaupt Kinder als Kinder in Betracht gezogen haben, und nicht zuletzt auch davon, welche und wessen Kinder sie in den Blick genommen haben.
»ENTDECKUNG DER KINDHEIT«
In jener Revolutionszeit verstanden sich die weißen Jakobiner als »Kinder der Republik«. Sie fanden sich, teils aus antirevolutionärem, teils aus brüderlichem Kalkül dazu bereit, die Schwarzen Revolutionäre in der französischen Kolonie Saint-Domingue als »Kinder der Republik« zu adoptieren. Es vollzog sich in Frankreich mit der Institutionalisierung der bürgerlichen und »konjugalen Familie«88die »Entdeckung der Kindheit«. Mit diesem kultur- und mentalitätshistorisch einschneidenden, sich über mehrere Zeiträume erstreckenden Prozess, der Philippe Ariès zufolge bereits unter dem Ancien Régime in aristokratischen Familiengefügen einsetzte,89 hatte es folgende Bewandtnis: Kindheit als ein gegenüber dem Erwachsenenleben deutlich abgegrenztes Lebensalter habe es, so Ariès, vor der Moderne nicht gegeben. Kinder hätten vielmehr in der mittelalterlichen Gesellschaft, kaum dass sie körperlich unabhängig gewesen seien und nicht mehr hätten gestillt werden müssen,90 zur sozialen Gruppe der Erwachsenen gezählt. Das sei bemerkbar daran, dass sie sich überall frei und ungehindert unter die Erwachsenen gemischt und an ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihren Spielen, Festen und sonstigen Aktivitäten teilgenommen hätten.91 Ariès zählt dazu auch sexuelle »Späße«, etwa »die Sitte, mit dem Geschlechtsteil des Kindes zu spielen«,92 Handlungen, die wir heute, nicht zuletzt dank Sigmund Freuds Studien über Hysterie, als sexuellen Missbrauch begreifen. Familienbande, so Philippe Ariès, seien aus der »gemeinsamen Erhaltung des Besitzes«, der »Ausübung eines Handwerks«93 und der testamentarischen Fortdauer des Namens erwachsen, angesichts hoher Kindersterblichkeit aber nicht aus einer besonderen affektiven Bindung der Eltern zu ihren Kindern.94 Gefühlsbeziehungen seien vielmehr »in einem sehr dichten und warmen ›Milieu‹« entstanden, »das sich aus Nachbarn, Freunden, Herren und Dienern, Kindern und Greisen, Männern und Frauen zusammensetzte«.95 Es handelte sich um ein durchlässiges Milieu, das Philippe Ariès als »Sozialität« charakterisiert.96 Hier wie auch in den Werkstätten, auf Marktplätzen und in allen anderen sozialen Situationen habe sich die Weitergabe von Wissen und Werten vollzogen. Ariès stützt sich auf ein breites Spektrum an sprachlichen, ikonografischen, vestimentären und dinglichen Quellen, die auf die Abwesenheit einer eigens markierten Lebensphase namens Kindheit schließen lassen. So stellt er das Fehlen eines spezifischen Vokabulars heraus: »enfant« bedeutete sowohl Kind wie Freund, aber auch Lakai, Geselle, Soldat, das Wort war also »mit der Vorstellung von Abhängigkeit verbunden«.97 Er nennt ferner das Fehlen des Alters und Namens von Kindern auf Grabsteinen.98 Hinweise findet er außerdem in der Darstellung von Kindern als kleine Erwachsene auf Stichen und Gemälden. Schließlich stützt er sich auf das Fehlen von Kinderkleidung, Kinderspielzeug, Kinderspielen, Kinderliteratur sowie von je eigenen Räumen, Orten und Erziehungsinstitutionen für Kinder. Dieser Beobachtung des Fehlens kindheitsspezifischer Bezeichnungen, Darstellungen, Praktiken und Institutionen, auch von Mutter- und Vaterliebe in den Feudalgesellschaften Europas ist die Kontrastfolie der bürgerlichen Familie, die sich um das Kind herum organisiert, bereits eingeschrieben: Der ehemals »polymorphe soziale Körper«, der alle Altersklassen und Stände umfasst habe, sei im 18. Jahrhundert in eine Vielzahl von kleinen, geschlossenen Gesellschaften, Familien, Alters- und sozialen Klassen, Körperschaften und Institutionen zerfallen. Orientiert an der neuen Grenzziehung zwischen (bürgerlicher) Privatsphäre99 und Öffentlichkeit seien die Kinder der »Sozialität mit Fremden« entzogen worden. Familie und Schule hätten die Kinder »aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen«, sie in abgeschotteten Räumen segregiert und dort einer »zunehmend strengen Disziplin« unterworfen:
Die Besorgnis der Familie, der Kirche, der Moralisten und der Verwaltungsbeamten hat dem Kind die Freiheit genommen, derer es sich unter den Erwachsenen erfreute. Sie hat ihm die Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren.100
Die Härte der Körperstrafen, mit denen die bürgerlichen Kinder des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa diszipliniert werden sollten, stand in einem eigentümlich ambivalenten Verhältnis zu jener »Unschuld«101 und Niedlichkeit, die ihnen nunmehr zugeschrieben wurden, aber auch zur »besitzergreifenden«102 elterlichen Liebe. Die von Ariès in diesem Sinne umrissene Freiheitsberaubung geht mit der Vorstellung der Kinder als unmündige und unreife, daher rigoros erziehungs- und schutzbedürftige Wesen einher. Die moderne Einstellung zur Kindheit, die zugleich die funktionalen Anforderungen an die Erwachsenen verschiebt und so einer weiteren Ausdifferenzierung zwischen Erwachsenen und Kindern Vorschub leistet, nimmt den Kindern ihren einstigen Akteursstatus. Diesen Wegfall an eigenen Handlungsspielräumen von Kindern kompensiert das Konzept der bürgerlichen Familie mit normativen Erwartungen an elterliche Fürsorge und affektive Bindungskraft.
Nimmt man jedoch die von Ariès unternommene Historisierung konsequent beim Wort, dann kann kaum, wie vielfach in der Rezeption seiner Studie L'enfant et la vie familiale sous l'Ancien Régime geschehen, von einer Geschichte der Kindheit gesprochen werden. Bei der von ihm untersuchten Kindheit handelt es sich um eine europäische, bürgerliche und weiße Kindheit, der nicht nur andere Kindheitskulturen an die Seite gestellt werden müssen, sondern gerade auch verlorene, verwehrte und zerstörte Kindheiten in institutionellen und organisationalen Gewaltzusammenhängen.103 Die Geschichte der bürgerlichen Kindheit kann nicht zum Paradigma erhoben werden. Denn sie fungierte geradezu als rassistisches Ausschlussmodell, wie Robin Bernstein in ihrer Untersuchung Racial Innocence: Performing American Childhood from Slavery to Civil Rights gezeigt hat. Namentlich das Konzept »kindlicher Unschuld« verbindet sich im 19. Jahrhundert mit der Vorstellung empfindsamer weißer Kindheit und dem Bild des weißen Engelskinds, das die moralisch korrumpierten Erwachsenen in den Himmel geleitet. Diesem sentimental aufgeladenen Bild kindlicher Unschuld wird in der US-amerikanischen Populär- und Spielzeugkultur die Karikatur des gefühllosen schwarzen »Pickaninny« entgegengesetzt.104 Auf Postern, Plakaten, als Keramik- und Spielzeugfiguren wurden »Pickaninnies« dargestellt mit »wulstigen Augen, ungepflegtem Haar, roten Lippen und breiten Mündern, in die sie riesige Wassermelonenscheiben stopften«,105 getrieben von einem unstillbaren Hunger nach Brathähnchen. Zugleich dienten sie selbst als schmackhafte Beute für Alligatoren. In Harriet Beecher Stowes Anti-Sklaverei-Roman Onkel Toms Hütte tritt Topsy als erste literarisch gestaltete »Pickaninny«-Figur auf, »ein unbezähmbares ›wildes Kind‹, das durch die Sklaverei unauslöschlich verdorben worden war«.106 Zur rassistischen Ding- und Spielzeugkultur des 19. Jahrhunderts gehörten außerdem »Topsy-Turvy-Puppen«.107 Es handelte sich um Klapppuppen, die aus einer schwarzen und einer weißen Puppe zusammengesetzt und an der Taille miteinander verbunden waren. Der an der Taille befestigte Rock erlaubte die Verwandlung in eine jeweils schwarze oder weiße Puppe und damit die spielerische Entgegensetzung von weißer, kindlicher Unschuld auf der einen, von schwarzer Gefühllosigkeit, aber auch von sexueller Gewalt und Rassenmischung auf der anderen Seite, in einem einzigen Objekt.108 Das Spielskript mit der Puppe »Raggedy Ann« war ebenfalls von der Projektion der »Schmerzunempfindlichkeit« versklavter Schwarzer Mädchen bestimmt. Wie jede andere imaginäre treue Sklavin, wie jeder andere »Pickaninny« sollte es »Raggedy Ann« angeblich genießen, von einer Mistress »geworfen, gekocht, ausgewrungen, gehäutet, gehängt«, gepeitscht und begraben zu werden.109 Rassistische und sadistische (Lynch-)Gewalt gegen Schwarze travestierte im Puppenspiel zu einem »unschuldigen Spaß«, nicht zuletzt, weil die Hersteller schwarzer Puppen in ihren Verkaufskatalogen weiße Kinder dazu anregten, ihre schwarzen Spielgefährtinnen zu misshandeln. Traktierten die Kinder hingegen ihre weißen Puppen mit der gleichen Gewalt, wurden sie von ihren Eltern bestraft:110 Es erschien verstörend, wenn weiße Kinder das rassistische Spielskript durcheinanderbrachten, etwa indem sie eine besondere Liebe für schwarze Puppen hegten,111 wie eine Mutter 1887 in der Zeitschrift Babyhood in Bezug auf ihre eigene Tochter berichtete: »her affections are centered on the colored [doll]«. Ohne ihre schwarze Puppe »Dinah« könne die Kleine gar nicht einschlafen und beginne schluchzend nach »Di« zu rufen, wenn ihre Kinderfrau vergessen habe, sie abends in ihr Kinderbett zu legen.112
1939 führten Mamie Phipps Clark und Kenneth Bancroft Clark ihren berühmten »Puppentest« durch, an dem 253 afroamerikanische Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren teilnahmen. Die Hälfte der Kinder besuchte Vorschulen im Süden von Arkansas, wo »Rassentrennung« herrschte, die andere Hälfte hingegen integrierte Vorschulen im nördlichen Bundesstaat von Massachusetts. Die Clarks zeigten den Kindern jeweils eine schwarze und eine weiße Puppe und fragten sie unter anderem, welche Puppe sie als »gut« oder »böse«, als »nett« oder »gemein« bezeichnen würden. Die Mehrheit der afroamerikanischen Kinder, genauer neunundfünfzig Prozent, befand, dass die weiße Puppe die »nette« Puppe sei. Siebzehn Prozent äußerten hingegen, dass sie »böse« aussehe. Ebenfalls neunundfünfzig Prozent gaben an, dass die schwarze Puppe »böse« aussehe. Auf die Aufforderung »gib mir die Puppe, die so aussieht wie du«, brachen einige Kinder in Tränen aus, andere stürmten aus dem Zimmer. Die Antworten der Schülerinnen und Schüler der Süd- und Nordstaaten fielen mehrheitlich ähnlich aus. Hatte sich die Color Line in die Seelen und Selbstbeziehungen Schwarzer Kinder eingeschrieben, unabhängig davon, ob sie eine integrierte oder eine segregierte Vorschule besuchten? Die Clarks werteten die Einschätzungen und Reaktionen der Kinder gegenüber der schwarzen Puppe jedenfalls als eine Form des internalisierten Rassismus und Selbsthasses.113
Im Licht ihrer eigenen Untersuchung schlägt Robin Bernstein eine anders gerichtete Deutung des Puppentests der beiden Clarks vor. Bei den Einschätzungen der Schwarzen Kinder, so Bernstein, handele es sich nicht um einen internalisierten rassistischen Selbsthass, sondern vielmehr um eine kulturell praktizierte Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Spielzeugen und Spielskripts, die da lauten, die weiße Puppe mit Liebe zu beschenken und mit positiven Eigenschaften zu versehen, die schwarze Puppe dagegen gewaltsam zu traktieren und mit negativen Eigenschaften zu verbinden. Auf diesem Spielfeld sind die Kinder allemal Expertinnen und Experten und erweisen sich als »handelnde Subjekte der Kinderkultur«.114 Sie wissen, was im Hinblick auf weiße und schwarze Puppen zu tun und zu sagen ist. Damit aber sind die Bewertungen der afroamerikanischen Kinder vor allem symptomatisch für eine rassistische, in die Zeit des Bürgerkriegs zurückreichende Spielkultur. Sie verweist zugleich auf Möglichkeiten der Ablehnung, etwa in Form von Tränen und Davonlaufen, und der Umwertung. Immerhin gab es im Rahmen des Puppentests eine gewisse Zahl an Kindern, die die schwarze Puppe bevorzugten und sie als »nett« bezeichneten. Schon in der Ära des New Negro entwickelten afroamerikanische Erwachsene ein neues, widerständiges »Skript« für ihre Kinder. Sie hatten gesehen, wie die Kinder selbst es ablehnten, mit schwarzen Puppen zu spielen und ihnen dabei Gewalt anzutun. Die Erwachsenen ermutigten sie daher zum »zärtlichen Spiel mit schwarzen Puppen als mögliche Heilung für die Pathologie« der rassistischen Spielanweisung.115
Die Entdeckung weißer Kindheit im Kontext eines bürgerlichen und emotional normativ besetzten Familienmodells korrespondiert also nicht nur mit mehr oder minder geschlossenen Disziplinar- und Erziehungsanstalten, wie Philipp Ariès unterstreicht. Verflechtungsgeschichtlich betrachtet ist sie ohne davon abweichende Formen von Kindheit – in Waisenhäusern, Kinderheimen, Asylen, psychiatrischen Anstalten – und von entgegensetzten Formen verweigerter Kindheit in destruktiven Ausbeutungsverhältnissen und Armut116 (als bettelnde Straßenkinder, in Werkstätten, Fabriken) sowie zerstörter Kindheit in rassistischen Gewalträumen (auf Sklavenschiffen, in Ghettos, Konzentrationslagern, als Kindersoldaten) gar nicht denkbar.
Gewalträume stehen nicht nur quer zur Grenzziehung zwischen familiärer Privatsphäre und kommunikativer Öffentlichkeit. In ihnen erhalten auch Praktiken des Spielens aus Sicht von Kindern eine geradezu existenzielle Bedeutung, die sich von den erwachsenen Drehbüchern vermeintlich unschuldiger Kinderspiele in einem weißen Milieu der Fürsorge eklatant unterscheiden. Anders, als es Johan Huizinga und Roger Caillois in ihren ethnologisch und kulturhistorisch orientierten Spieltheorien vermuten,117 ist das Spiel, genauer noch, ist das Spielen weit davon entfernt, stets in einem von der alltäglichen Realität abgesonderten Bereich stattzufinden und in Freiheit praktiziert zu werden.118 Das Spielen ist nicht zwingend und überall eine uninteressierte, zwecklose, vergnügliche und unproduktive Tätigkeit (paidia).119Das Spielen erzeugt nicht an jedem Ort mithilfe eigener Regeln beziehungsweise in freier Improvisation eine fingierte Welt, in der die Spielenden entweder in fremde Rollen (mimicry) schlüpfen können, um neue Identitäten und rauschhafte Zustände (ilinx) zu erproben, oder aber in einen spannungs- und hindernisreichen (ludus) Wettbewerb mit offenem Ausgang (allea) einzutreten, der jeweils unvorhergesehene Gewinnerinnen und Verlierer hervorbringt (agôn).120 Der Grund des Spielens ist nicht schlechterdings in einem anthropologisch verankerten »Spieltrieb«121 zu suchen, sondern rührt von denjenigen Kontexten her, in denen es jeweils stattfindet und mit denen sich die Spielenden auf unterschiedliche Weise auseinandersetzen.
»SPIELEN INMITTEN DES SCHATTENS«
Jenseits behüteter Familienkonstellationen und befriedeter Milieus erweist sich das Spielen in einer genuinen Kinderperspektive als eine existenzielle Praxis und desparate Handlungskraft auf eine andauernde extreme Gewaltsituation und Auseinandersetzung mit einer je verwehrten Kindheit. Gestützt auf Tagebücher, Gespräche und Zeugnisse Überlebender hat der Soziologe und Historiker George Eisen das Spielen von Kindern während der Shoah, in Verstecken, Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern untersucht. In seiner eindrücklichen Studie Children and Play in the Holocaust. Games among the Shadow verfolgt er zugleich die Absicht, »grundlegende Aspekte des Spiels unter brutalen Bedingungen, unter Streß und unmenschlichen Bedingungen«122 aufzuzeigen – und damit ausdrücklich auch jene Motive des Spielens, die in Huizingas und Caillois' Spieltheorien ebenso ausgespart werden wie in der Kindheitsforschung im Gefolge von Philippe Ariès. In seiner Studie berührt Eisen immer wieder das erschütternde »Nebeneinander von kindlichem Spiel und Holocaust«,123 das für einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung, nicht zuletzt des Wilnaer und Warschauer Ghettos, ein unauflösliches ethisches und religiöses Problem dargestellt habe: »ein Friedhof ist kein Ort der Belustigung«,124 sagten viele im Wilnaer Ghetto eingesperrte erwachsene Jüdinnen und Juden. Im Warschauer Ghetto reichte die Religionskommission bei Adam Czerniakow, dem Vorsitzenden des »Judenrates«, eine Beschwerde ein, in der ein Verbot von »Festen und Veranstaltungen mit Musik und Tanz«125 während der traditionellen drei Trauerwochen gefordert wurde.126 Adam Czerniakow stellte sich auf die Seite der Kinder und besuchte kurze Zeit später eine »Darbietung von 600 Volksschülern und -schülerinnen«, die von der Musikkapelle des Ordnungsdienstes begleitet wurde: »Von den Darstellern nahm ich ein kleines Mädchen, das als Chaplin verkleidet war (großer Beifall), mit zu mir auf die Tribüne.«127