Aus der Welt - Karl Ove Knausgård - E-Book

Aus der Welt E-Book

Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Hoch oben im Norden Norwegens spielt diese Geschichte, kurz vor der Jahrtausendwende. Der junge Henrik Vankel arbeitet hier als Aushilfslehrer. Selbsthass, Einsamkeit und Schamgefühle bestimmen sein Leben. Schon lange ist er Aus der Welt gefallen, schon lange versteht er die Zeichen seiner Mitmenschen nicht mehr – schon lange verschwimmen ihm Traum und Realität. Bis ihm eines Tages klar wird, dass er sich verliebt hat. In eine seiner Schülerinnen. Eine eigentlich unmögliche Liebesgeschichte. Ist dies wirklich die Rettung – oder der Auftakt zum endgültigen Zusammenbruch?

Aus der Welt“, das gefeierte Romandebüt von Karl Ove Knausgård, hat viele Facetten. Von Sprach- und Verbindungslosigkeit ist darin die Rede, vom verzweifelten Versuch, sich einen Sinn zu erschaffen in einem rätselhaften Dasein. Es erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Norwegen der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in einer Familie und einer Welt, in der Scham und Schuldgefühle zu den stärksten Triebfedern überhaupt gehören. Es ist das sprachmächtige Debüt eines jungen Schriftstellers, eine erbarmungslose Erkundung des männlichen Egos und der Selbstzerstörung, aber auch eine literarische Feier von überbordender Phantasie.

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Seitenzahl: 1426

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Buch

Hoch oben im Norden Norwegens spielt diese Geschichte, kurz vor der Jahrtausendwende. Der junge Henrik Vankel arbeitet hier als Aushilfslehrer. Selbsthass, Einsamkeit und Schamgefühle bestimmen sein Leben. Schon lange ist er aus der Welt gefallen, schon lange versteht er die Zeichen seiner Mitmenschen nicht mehr – schon lange verschwimmen ihm Traum und Realität. Bis ihm eines Tages klar wird, dass er sich verliebt hat. In eine seiner Schülerinnen. Eine eigentlich unmögliche Liebesgeschichte. Ist dies wirklich die Rettung – oder der Auftakt zum endgültigen Zusammenbruch?

Autor

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt mit seiner Familie in London. Aus der Welt, 1998 in Norwegen erschienen, ist sein Debüt als Autor, das nun erstmals auf Deutsch erscheint. Der Roman wurde bei seiner Veröffentlichung in Norwegen gefeiert als eines »der wichtigsten Bücher der letzten 25 Jahre« (Dagbladet) und mit dem Norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet. Es war das erste Mal, dass dieser Preis einem Debütanten verliehen wurde.

KARL OVE KNAUSGÅRD

Aus der Welt

ROMAN

Aus dem Norwegischen von Paul Berf

Luchterhand

Die norwegische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »UTE AV VERDEN« im Verlag Tiden Norsk, OsloDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich sehr herzlich dafür.

Copyright © der Originalausgabe 1998,

Karl Ove Knausgård & Tiden Norsk Forlag, 1998, Oslo

All rights reserved

© der deutschsprachigen Ausgabe 2020

Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Regina Kammerer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Umschlaggestaltung: buxdesign München

nach einem Entwurf und unter Verwendung

eines Fotos von Yngve Knausgård

ISBN 978-3-641-17711-9V002www.luchterhand-literaturverlag.de

ERSTER TEIL

1

Manchmal schloss ich nachts die Schule auf, ging durch das flache, unbeleuchtete Gebäude, betätigte dabei einen Lichtschalter nach dem anderen und sah, wie das Licht die Dunkelheit über mir aufriss, als wäre ein Schwarm schlummernder Insekten geweckt worden und schwärmte nun gereizt in die Räume aus. Hier und da lagen von den Schülern vergessene Dinge herum: ein an die Wand geworfener Sportbeutel, übersät mit den Namen von Fußballspielern, die mit dicken, runden Kinderbuchstaben geschrieben waren, ein Heft auf dem Fenstersims, dekoriert mit Herzen und verschiedenen Zahlen, die einen Code zu bilden schienen, eine Strickmütze, die schwach nach Obst roch. Apfel, dachte ich und fragte mich, wem sie gehören mochte. Ich legte sie zurück und ging weiter, öffnete die Tür am Ende des Flurs und gelangte in den großen Raum, in dem auch meine Klasse unterrichtet wurde. Die Gruppenarbeiten, mit denen wir uns ein paar Wochen zuvor beschäftigt hatten, hingen noch an der Wand. Die schlichten Zeichnungen von Pflanzen und Algen, Seevögeln und Muscheln, die gewellte Borte, die das Meer darstellen sollte. DASUFERLEBENBEIEBBE. Ein Projekt von Kenneth, Hanna, Simen, Annette und Miriam. Die gleichen Namen standen auf den Regalen am hinteren Ende des Raums, kleine Namenszettel, die sie selbst geschrieben und an einem der ersten Tage nach den Sommerferien aufgeklebt hatten. Dort verwahrten sie ihre alten Klassenarbeiten und vollgeschriebenen Schulhefte, Dinge, die für niemanden außer ihnen selbst von Bedeutung waren, dennoch zog ich eine der Schubladen auf und sah die Papiere durch, die darin lagen, legte sie zurück und zog eine neue auf, nahm mir Regal für Regal vor, um zu schauen, ob sie etwas von Bedeutung hinterlassen hatten, persönliche Gegenstände, irgendetwas: eine rührende Zeichnung, ein vergessenes Tagebuch, eine versteckte Liebeserklärung – kleine Zeichen, die mir etwas mitteilten, was ich nicht wusste, oder etwas in mir auslösen mochten. Zärtlichkeit vielleicht, Vertrautheit.

Vertrautheit? Vertrautheit?

Nein, nein, deshalb jedenfalls nicht. Nichts wurde in mir geweckt, auch nichts gestillt. Ich lief einfach ein wenig herum. Als die Wolkendecke über den Bergen aufriss und sich das fahle Licht des Mondes auf den Schulhof legte, sah ich, dass der Schnee draußen zusammengesunken war. Ich sah das grobmaschige Netz an einem der Klettergerüste im Wind sachte hin und her schwingen und dass die Holzlatte, an der es befestigt war, vor Nässe glänzte. Die Wolken, die sich zusammenballten, die Dunkelheit, die sich herabsenkte, die Landschaft, die erneut verschluckt wurde. Im Fenster wurde jetzt nur noch der unscharfe Widerschein des Raums reflektiert. Mein eigenes undeutliches Gesicht. Daran erinnere ich mich. Dass ich dort stand. Doch dann muss ich unmerklich fort und in diese Gedanken geglitten sein, die sich selbst nicht kennen, die sich wie Erinnerungen nur greifen lassen, wenn sie längst vorbei sind, denn meine nächste Erinnerung ist, dass ich, den Kopf in die Hände gestützt, am Lehrerpult saß. Von Übelkeit erfüllt und kalt starrte ich ihr Pult an, außer Stande, das regelmäßige, monotone Geräusch einzuordnen, das ich lange gehört hatte, aber erst jetzt bemerkte.

Ding, ding, ding, ding.

Wie aus einem Traum stand ich auf und ging auf die Toilette. Ohne Licht zu machen, kniete ich vor der Toilettenschüssel, steckte mir den Finger in den Hals und übergab mich. Längere Zeit lag ich ausgestreckt auf dem unebenen Fußboden, ehe ich mich aufraffte, mir den Mund ausspülte und hinausging. Dort wurde das Geräusch lauter. Es war der Wind, der die Schnur gegen die Fahnenstange schlug. Ich blieb stehen. Es tat gut, so dazustehen, den milden Wind auf meinem Gesicht zu spüren, die rieselnden Laute von schmelzendem Schnee zu hören und zu sehen, wie das Wasser aus den Fallrohren in einem V nach dem anderen über die glänzende Fläche des Asphalts floss. Den Hauch von Salz im Wind zu spüren. Es war ein Geruch, den ich kaum noch wahrnahm, dachte ich; er erinnerte mich an die ersten Wochen, die ich dort gewohnt hatte. Ich entsann mich meiner kindlichen Freude, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit manchmal vor dem Haus innehielt und sah, wie die Wolken sich über dem Meer auftürmten, die Wasserfläche, die grau und silbern unter dem regenschweren Himmel schimmerte, die Nebelschwaden, die flach über den Berg glitten. Und wie das Geräusch der Wellen, die gleich unterhalb meines Fensters schäumend an Land schlugen, wenn ich abends zu Bett ging, mir das Gefühl von etwas fast Unwirklichem gaben, von etwas Fremdem, das langsam verschwand, je tiefer ich in den Schlaf sank, nur um erneut Form anzunehmen, wenn ich viele Stunden später erwachte, ein gleichmäßiges Meeresrauschen, das immer da war, das niemals aufhörte und das ich jetzt wieder bemerkte.

Sshhh Sshhh Sshhh Sshhh

Um den bitteren Geschmack von Erbrochenem loszuwerden, den ich noch im Mund hatte, nahm ich etwas Schnee von einem der zusammengesackten Haufen an der Wand und ließ die Zunge darüber gleiten. Er war porös und kalt und sorgte dafür, dass ich mich etwas besser fühlte. Ich ging die Straße hinab. Am Geschäft, an der Fischverarbeitung, am Postamt und den dunklen Häusern vorbei. Überall herrschte Stille. Ich sah zwei Fahrräder, die an einer Wand lehnten, Bruchstücke ausgebleichter Feuerwerkskörper tauchten auf einer Rasenfläche aus dem schmelzenden Schnee auf, ich sah eine Gardine, die sich sachte über der wabernden Wärme eines Heizkörpers bauschte, ein Paar Stiefel vor der Haustür, einen zerlumpten Wimpel, der in den Windstößen vom Meer heftig schlug. Aber keinen einzigen Menschen. Alle schliefen.

Auch sie.

Bei dem Gedanken wurde mir wieder schlecht. Als gäbe es eine Verbindung zwischen ihr und meinem Körper, dachte ich, ein geheimes Bündnis, das mich nicht einschloss. Als läge es nicht in meiner Hand.

Ich blickte hoch und sah vage das Dach des Hauses, in dem sie lag, in dem Zimmer, wo sie schlief, hinter der Tür, die den ganzen Abend geschlossen gewesen war, die ich dennoch regelmäßig angestarrt hatte. Ich seufzte und schaute mich jedes Mal ein wenig um, wenn eine Pause in unserer Unterhaltung entstand, ließ den Blick zufällig zu der Tür schweifen, versuchte zu bestimmen, welche Musik sie hörte, überlegte, dass sie vielleicht am Schreibtisch saß und schrieb. Oder lag sie im Bett und las? Die ganze Zeit war ich angespannt, wartete ich darauf, dass die Tür aufgehen und sie herauskommen würde. Trotzdem war ich unvorbereitet, als es geschah. Was auch für sie galt. Als sie mich entdeckte, röteten sich ihre Wangen. Was ist, Miriam, willst du nicht bald mal ins Bett gehen, sagte ihr Vater, und ich streckte mich nach einer Zigarette, um die Scham zu überspielen, die mich augenblicklich überkam. Die Wärme im Gesicht, die flackernden Augen, die Hände, die sich nicht mehr auf natürliche Art bewegen ließen. Ich muss geglüht haben. Aber ihr Vater und Henning unterhielten sich weiter, alles war wie zuvor, sie ging ins Bad, jetzt zieht sie sich aus, ein vibrierendes Gefühl des Wohlbehagens, als sie spürt, wie der leichte Baumwollstoff über ihre schmalen Schultern gleitet, jetzt denkt sie daran, dass ich hier sitze. Ein Lächeln im Spiegel, eine Hand auf der Wange. Oh ja. Denn als sie wieder herauskommt, traut sie sich stehenzubleiben, sie lässt sich Zeit, verharrt im Türrahmen und sieht mich herausfordernd an.

»Gute Nacht, Henrik«, sagt sie und bekommt die Aufmerksamkeit, die sie sich wünscht. Sie sehen sie geistesabwesend mit dem nackten Fuß über den Teppich vor sich streichen: Ihr Blick ruht auf mir. Als wären nur wir zwei im Raum, zieht sie vorsichtig das weite T-Shirt straff, lächelt kurz und dreht sich dann um. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass ihr Vater sich vorbeugt. Sie öffnet ihre Tür. Er füllt mein Glas.

»Schade, dass du nur ein Jahr bleibst«, sagt er und reibt mit dem Daumen unter dem Rand am oberen Ende des Flaschenhalses, leckt an ihm. Ich hebe ihm zugewandt das Glas und lächele.

»Ja, das ist schade«, erwidere ich. »Es gefällt mir wirklich gut hier.«

Wir prosten uns zu. Ihr Vater steht auf, muss sich auf die Lehne der Couch stützen, um nicht zu fallen. Er geht durch den Raum und ins Bad. Ich drehe mich um und sehe aus dem Fenster. Es schneit und schneit. Unsere Spuren sind fast verschwunden, geblieben sind nur Andeutungen, dunkle Mulden im Licht vom Fenster. Kurz darunter verschwinden die Schneewehen in der Dunkelheit. Keine Bäume, nichts, nur Berge, und schließlich das Meer, erkennbar als ein dünner, weißer Rand in allem Schwarzen, wo die Wellen sich am Land brechen. Dort schneit es auch, denke ich, aber ohne Folgen. Das Meer schluckt alles, was kommt, das Meer vereinnahmt alles.

»Was machst du da, Henrik?«, sagt Henning.

Seine Augen fixieren mich. Aber ich muss natürlich antworten, greife nach dem Glas und trinke, streiche mir über den Mund.

»Was ich mache?«, sage ich.

Vielleicht hat sie darauf gewartet, auf den Klang meiner Stimme, vielleicht liegt sie in ihrem Zimmer mit geschlossenen Augen wach und lauscht. Sehnt sich. Zieht das Knie an, es gleitet über den Stoff des Lakens, eine Hand ruht auf der Bettkante, reglos; sie ist kurz davor einzuschlafen. Sie denkt an mich, sieht mich vor sich, mein Gesicht, meine Augen, meine Hände, die über ihre Haut streichen, sie spürt es, sie erinnert sich, sie sehnt sich.

Henrik Henrik Henrik

Mein Herz bebte.

Selbst die schlimmsten Erinnerungen haben früher oder später etwas Gutes, immer gibt es etwas, dessen Nähe die Gedanken suchen können. Die Nostalgie ist schamlos. Nicht, was du gemacht hast oder was mit dir gemacht wurde, nicht, wie es dir ging, sondern dass du dort warst. In einer anderen Welt.

Ein Ort direkt am Meer, im nördlichsten Norwegen, dorthin war ich gezogen, dort blieb ich fast neun Monate, vom wahnsinnigen Sommer mit Sonne rund um die Uhr bis zum ebenso wahnsinnigen Winter: Im Dezember wurde es in der Tagesmitte für eine Stunde hell, das war alles, ein gräuliches Aufflackern, so kurz, dass Morgen- und Abenddämmerung eins waren. Der Tag war ein Schacht in der Nacht, ein Graben, den die Dunkelheit langsam füllte. Dann aber kippte es, dann war es der Tag, der expandierte und geduldig die beiden Wände der Dunkelheit beharrlich weiter auseinanderschob. Sachte wurde der Himmel geöffnet und das Licht strömte herein, immer mehr Licht im Laufe des Frühjahrs, bis zum Mai, in dem die Dunkelheit so geschwächt war, dass sie nur noch eine Stunde Zeit um Mitternacht für sich beanspruchen konnte. Wie ein alternder Vater, dachte ich, er liegt im Schlafzimmer und wird sterben, im Haus verbreitet sich Erleichterung, er ist so schwach. Dennoch mobilisiert er all seine Kräfte und steht auf, einmal am Tag gesellt er sich zu den anderen, um mit ihnen zu essen, blass und welk sitzt er unter ihnen. Aber das reicht. Noch immer ist er von Furcht umgeben. Erst als er wieder im Bett liegt, wagen sie es, ihre Stimmen zu erheben. Und das geschieht immer öfter, seine Ausflüge werden kürzer und kürzer, bis er es eines Tages nicht mehr schafft und das Haus ihnen allein gehört. Alle Herzen freuen sich. Er wird sterben.

Aber stirbt er auch?

Nein, er stirbt nicht. Er schöpft neue Kraft. Seine Stärke wächst. Er zeigt sich in der Tür, es ist Herbst, die Luft kühlt ab, er wird stärker und stärker, kurz darauf ist er die ganze Zeit da, mitten unter ihnen, und sie beugen sich ihm, müssen sich ihm aufs Neue beugen.

Doch selbst das werden sie eines Tages vermissen, wie ich schon bald diese Monate vermissen werde, die ich da oben verbracht habe. Denn die Nostalgie ist schamlos. Sie erinnert sich nur an das, woran sie denken will, und zwingt dich zur Sehnsucht. Die Nostalgie schert sich nicht um dich und was dir wichtig ist, was es wert ist, in Erinnerung zu bleiben oder was lieber verdrängt werden sollte. Sie beharrt. Sie sagt: Es gibt immer etwas, was man vermisst. Und anfangs bist du ganz ihrer Meinung; wie sollst du auch anderer Meinung sein, wenn du gespürt hast, wie das Glück in dir tobt? Aber dann erinnerst du dich, dann schaust du dich in der Erinnerung um, dann kommt das, was du zu vergessen versuchst, nein, habe ich das getan, habe ich das getan, und kein Licht der Welt ist schön genug, um in dir Bestand zu haben, auch das Licht musst du zurückzwingen, in einem Versuch, dich zu wehren. Es führt etwas mit sich, woran du nicht denken darfst. Als gäbe es irgendwo in deinem Inneren einen Feind, jemanden, der in einem steten Strom alte Geschehnisse in dein Bewusstsein sendet, denkst du, jemanden, den du vor langer Zeit enttäuscht hast und der nun mit rachsüchtiger Gewandtheit die Mauern der Verdrängung umgeht und sich fortwährend Zugang zu deinen Gedanken erzwingt. Wenn du stark genug bist, kannst du sie zurücksenden, ohne sie dir anzuschauen, ihnen mit dem Denken einen kleinen Stoß versetzen, nein, nein, nicht das, woraufhin sie langsam in die Tiefe zurückfallen, aus der sie gekommen sind, ohne Schaden angerichtet zu haben.

Das ist der Segen der Verdrängung.

Doch sie hat ihren Preis. Manchmal denkst du, dass du all deine Kraft darauf verwenden musst, in Schach zu halten, was passiert ist, dass sie schwindet und schwindet und du nicht mehr stark genug bist zu bewältigen, was geschieht, hier und jetzt, dass du schwach und lebensunfähig und erbärmlich bist, ich armer, armer Kerl denkst du, um jäh umzuschwenken, das ist doch verrückt, denkst du als Nächstes, hier herumzuliegen und dich selbst zu verhöhnen, schließlich lebst du nur einmal, eine begrenzte Zahl von Jahren, und es kommt dir wie eine maßlose Verschwendung vor, sie damit zu verbringen, dich selbst schlechtzumachen. Vollkommen idiotisch, denkst du, aber was kannst du tun?

Vielleicht jemand werden, der handelt, statt jemand, mit dem gehandelt wird. Jemand sein, der mit klinischer Distanz analysiert, was sich abgespielt hat, jemand, der versteht.

Wäre es möglich, mit Hilfe klaren Denkens und kühlen Intellekts eine dieser gewaltigen Erinnerungen in den Operationssaal der Vernunft zu bugsieren, sie dort zu sezieren und zu versuchen, jeden Bestandteil zu verstehen? Denn ist es nicht unerträglich, in der Gewalt unbekannter Kräfte zu sein, sich von etwas leiten zu lassen, was jenseits der Reichweite deines Willens liegt?

Unerträglich und entwürdigend. Also entsendest du eine Expedition in die Tiefe deiner selbst. Flackernder Lichtschein vor feuchten Gehirnwindungen, die eine oder andere versteinerte Erinnerung, eine bleiche Trauer, die sich davonschleppt, kaum noch lebendig. Die Expeditionsteilnehmer lassen sie in Frieden, sie wird ohnehin bald sterben. Sie haben Wichtigeres zu tun, setzen ihren Weg durch die Gehirnwindungen fort, gelangen immer tiefer, spüren die steigende Wärme, an einem Ort in unmittelbarer Nähe herrscht gewaltige Aktivität. Sie eilen weiter. Plötzlich ist da etwas, was an ihnen vorbeischießt, eine jähe Bewegung, die alles stoppt. Was war das? Ängstlich richten sie die Taschenlampen tiefer ins Dunkle. Sie halten die Luft an. Dann lacht einer von ihnen. Das war nur eine Eingebung! Als sie weitergehen, herrscht eine heitere Stimmung, sie lassen die Lichtkegel umherschweifen, lächeln angesichts all der unnützen Informationen, die hier gesammelt sind. Aber schon bald werden sie wieder ernst. Vor sich entdecken sie ein rötliches Licht und begreifen, dass sie näher kommen. Ehrfürchtig halten sie am Rand des Abgrunds. Ihr Führer zeigt: Dort verläuft die Gehirnbrücke, zur anderen Seite hinüber, da vorn ist der Stirnlappen. Und wir müssen da hinunter. Sie legen sich hin und robben zur Kante vor. Sie starren in das Unterbewusstsein hinab. Es glüht und brodelt vor Aktivitäten. Gedanken werden zermahlen und durchgeknetet, zerschlagen und geschmolzen und zu immer neuen Formen gehämmert und geschlagen.

»Da hinunter?«

»Ganz genau, mein Junge. Hier!«, sagt der Führer und reicht ihm Seil und Haken.

Ein solcher Abstieg ist schmerzhaft, jeder Haken muss tief verankert werden, um den notwendigen Halt zu geben, manchmal tut es weh zu denken. Doch langsam dringen sie tiefer hinab, bis sie auf dem Grund stehen und sich verwirrt umsehen können. Alle möglichen verzerrten und eigenartigen Geschöpfe quillen aus diesem unförmigen Chaos hervor, manche kommen ihnen bekannt vor, andere lassen sie angsterfüllt zurückschrecken. Nach sorgfältigen Erwägungen entscheiden sie sich für eines davon. Eine Riesenerinnerung, die noch intakt ist. Sie liegt regungslos da und ruht in sich selbst. Mit viel Mühe gelingt es ihnen, ein Seil um sie zu schlingen. Sie klettern erneut zum Gipfel hinauf, wo sie sich umdrehen und beginnen, an den Seilen zu ziehen. Langsam löst sich die Erinnerung und hebt ab, sie ziehen und ziehen, wippen sie schließlich über den Rand und können sie durch die Gänge zum Bewusstsein schleppen, wo sie bereits erwartet werden: Vertreter der Vernunft stehen um einen Tisch herum bereit. Das Licht beleuchtet unbarmherzig und grell die extrem scharfen Instrumente, die hinter ihnen aufgereiht liegen. Die Stimmung ist angespannt und erwartungsvoll. Was für eine Erinnerung mag es sein?

Sie schnallen die umfangreiche Erinnerung am Tisch fest und greifen mit sicherer Hand zu ihren Werkzeugen. Die Sektion kann beginnen.

Es ist eine gute Erinnerung. Es ist die erste Frostnacht, als die Feuchtigkeit am Abend auf dem Erdboden gefror und du in der Dunkelheit schwer atmend die Straße hinabkeuchtest. September in Nordnorwegen. Daran kannst du denken. Sauge den Geruch von Berg in den plötzlichen Taschen aus rauer Luft auf der Straße ein. Fühlt sich das gut an? Wie die Stiche in der Lunge sich bei jedem Atemzug gut anfühlen. Die kalte, schneidende Luft, die feuchte, schmutzige Lunge. Du läufst und läufst. Hhha-ha hhha-ha hhha-ha durch die Dunkelheit. In den Tunnel hinein. Dort drinnen geht es leicht aufwärts, und du läufst schneller. Noch fünfzig Meter, dann kannst du auf dem Plateau vor seiner Öffnung stehen und auf den Ort hinabschauen, während du wieder zu Atem kommst. Der Sauerstoffmangel als ein fast panischer Schmerz in der Brust. Aber das geht rasch vorüber. Du lächelst und machst an die Felswand gelehnt Dehnübungen, siehst den Sauerstoff vor dir, der sich über die arme, vertrocknete Lunge ergießt, wie die Bläschen sofort anschwellen und die Luft gierig aufsaugen, das Einzige, was sie je begehrt haben.

Was hast du dort gemacht, was hast du gefühlt, woran hast du gedacht?

Es war September, und ich arbeitete in dem kleinen Ort seit einem Monat als Lehrer. Vieles war noch ungewohnt, aber ich hatte ein paar Leute kennengelernt, ich begann die Arbeit in den Griff zu bekommen, es schien ein schönes Jahr zu werden. Ich hatte sogar angefangen, abends laufen zu gehen! Wie zu erwarten, hielt ich nicht länger als eine halbe Stunde durch, ein, zwei Kilometer am Fjord entlang; wenn ich hinter dem Tunnel stehenblieb, waren meine Beine von der Anstrengung weich und schwach.

Das letzte Stück ging ich, den Hügel hinab und durch den Ort, diese kleine Ansammlung von Häusern, die eingeklemmt zwischen dem Meer auf der einen und einem steilen Gebirgsmassiv auf der anderen Seite lag. Eine Fischverarbeitung, ein Geschäft, ein Postamt, eine Kirche und eine Schule. Dreihundert Seelen wohnten und arbeiteten dort, an diesem kahlen, ungeschützten Ort. Grauer Himmel, graue See, grauer Berg. Und jeden Tag zogen die Wolken wie schwere, träge Wale vom Meer heran, verloren dabei stetig an Auftrieb und sanken langsam auf das Land zu. Über dem Fjord schleiften ihre Bäuche über die graugrüne Dünung, füllten die Luft zwischen den Häusern und sättigten alle Farben mit Nässe. Immerfort die gleiche Bewegung. Alles kam vom Meer. Die ohnehin unwirtliche Landschaft sah sich im Laufe des Herbstes einem Angriff nach dem anderen ausgesetzt, eine Offensive, die an Intensität ständig zuzunehmen schien, der Wind stieß auf keine Hindernisse, er jagte über das Meer, blies sich auf und traf das Dorf mit gewaltiger Wucht. Eines Nachts riss er ein Hausdach mit, das in die Luft gehoben und in der Ferne niedergeschleudert wurde, eines Nachmittags kippte er einen Wohnwagen um, eines Morgens erfasste er eine Frau und stieß sie die Böschung vor dem Haus hinunter; ich sah es vom Fenster aus, wie sie sich verstört aufrappelte und sofort umschaute, um zu prüfen, ob jemand sie bei ihrem Sturz beobachtet hatte.

In den ersten Wochen erfreute mich das. Ich war zu nichts verpflichtet, ich war ein Außenstehender, die baumlose Landschaft und das menschenfeindliche Wetter waren für mich bedeutungslos, ein Jahr sollte ich dort wohnen, danach würde ich wieder fortgehen.

Aber was war mit den Menschen, die dort lebten? Ging es ihnen gut?

Wenn sie gehässig und verbittert in ihren Häusern gehockt, sich gegenseitig die Schuld gegeben und einer infantilen Raserei der Selbstgerechtigkeit hingegeben hätten, wie man es in anderen kleinen Siedlungen tat, wären sie langsam zugrundegegangen. Denn was hatten sie schon außer einander? Sie besuchten sich gegenseitig, feierten gemeinsam, saßen gemeinsam im Geschäft und nippten an einer Tasse Kaffee, arbeiteten gemeinsam auf den Fischerbooten und in der Fischverarbeitung, reisten sogar gemeinsam in den Süden, sie schliefen miteinander, heirateten und bekamen Kinder, die gemeinsam spielten, so war es und so war es immer gewesen. Sie hatten nichts anderes. Die Aushilfslehrer, wir, die wir Jahr für Jahr zu ihnen zogen, wurden sicher mit einer gewissen Befriedigung betrachtet, dachte ich, da wir alle die gleiche Entwicklung durchliefen, von der ersten südostnorwegischen Begeisterung: Ich habe einen Adler gesehen! Ich habe einen Fisch gefangen! bis in dieses langsame Verschlucken und Verzehren des Fremden, das jede kleine Ortschaft in Gang setzt – vom Tag deiner Ankunft, an dem all deine Gedanken um andere Orte und andere Menschen kreisen, bis zu dem Tag, an dem du fortgehst und es die Einwohner des Dorfs sind, an denen dir etwas liegt, an dem es die Geschehnisse im Dorf sind, die dich beschäftigen. Solche Dinge, die unmerklich ablaufen: Du redest mit einigen, du denkst an sie, wie sie an dich denken, ihr trefft euch wieder, woraufhin du anderen vorgestellt wirst, und vielleicht streift dich ein leichtes Bedauern darüber, wie sie dich wahrnehmen – dann hat es angefangen, dann stecken sie in dir.

Wie du in ihnen steckst.

Doch da oben war das nichts Bedrohliches, ihre Freundlichkeit war kein Deckmantel für verborgene Motive, sie war ehrlich gemeint, so waren sie einfach. Sie waren mir wohlgesonnen. Dennoch: Das an sich ist noch nie ein Kriterium für Güte gewesen. Entscheidend ist, ob du dir selbst wohlgesonnen bist.

Und wie stand es um sie? Waren sie sich selbst wohlgesonnen?

Sie arbeiteten hart, Tag für Tag draußen in den Fischgründen, und wenn sie an Land gingen, tranken sie, so lebten sie. Ich wurde nicht schlau aus ihnen. Es kam mir vor, als löste sich ihre Persönlichkeit in einem Lächeln und in Witzen auf, sie entzogen sich jeder Beschreibung, die sich nicht auf das richtete, was sie die meiste Zeit taten: arbeiten, essen, schlafen, feiern. Lustige Gestalten. Wenn man sie anpikste, zogen sie sich zurück, wenn man sie bedrängte, wandten sie sich ab, sie scheuten alles Unangenehme und Ernste, sie tranken und lachten und gaben Geld aus, ich verstand sie nicht, trotzdem luden sie mich ein, gaben mir einen aus, als wäre ich einer von ihnen, dachte ich anfangs, aber nein, das war nicht der Grund. Sie interessierten sich überhaupt nicht für mich, so wenig, wie sie sich für sich selbst interessierten. Was ich tagtäglich im Geschäft, in der Post, auf der Straße sah, wozu ich nickte und lächelte und wobei ich mit ihnen trank, war ihr kleinster gemeinsamer Nenner, ein Kompromiss, denn nur ein Idiot schafft es, sich mit seiner Persönlichkeit und seinem Ernst als Bürde auf den Schultern dort, in diesem Ort, seinen Weg zu bahnen, nein, das schüttelt man lieber zu Hause ab. Das sind Probleme, von denen sich dein böser Zwilling ernährt. Er, der hinter den Vorhängen lebt und wirkt, er, der Fremde scheut, er, der nur sich liebt.

Mir war beim Gehen bereits kalt geworden. Der Wind blies durch den dünnen Trainingsanzug, trotzdem fehlte mir die Kraft zu laufen, so erschöpft und zittrig war ich, aber als ich zu dem kleinen Hügel vor dem Haus kam, entdeckte ich sie, vier Mädchen aus meiner Klasse, sie standen vor meiner Tür und warteten. Sie hatten mich noch nicht gesehen. Ich lief los. Sie drehten sich um, schauten zu mir hoch und unterhielten sich dabei. Ich spurtete die letzten Meter und war völlig ausgepumpt, als ich vor ihnen stehenblieb. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Sie lachten über mich, weil ich zu sehr außer Atem war, um etwas zu sagen, ich konnte nur auf die Tür zeigen, wollten sie mit hineinkommen?

Die Mädchen liefen abends durch die Gegend oder hingen vor der Videothek herum, es passierte nicht viel, manchmal besuchten sie einen ihrer Lehrer. Hanna, Katarina, Miriam und Annette. Ohne ihre Jacken auszuziehen, nahmen sie auf der Couch Platz, alle vier, alberten herum und kicherten, ihre Ärmel raschelten, ab und zu wurde eine von ihnen rot, weil sie sich verstellt und mit hohler Stimme gesprochen hatte: Das sollte ich sein. Ich lächelte und setzte Kaffee auf, fragte wie immer, ob sie auch einen wollten, nein, keinen Kaffee. Ich setzte mich auf die andere Seite des Tischs, zündete mir eine Zigarette an, hustete, weil die Kehle noch zugeschnürt war nach der Anstrengung, sie lachten wieder, schauten sich eine Weile im Zimmer um, knufften sich ein wenig, sagten, ja, wollen wir mal gehen – und dann gingen sie.

Und ich?

Von einer Art Zärtlichkeit erfüllt, sah ich sie in Richtung Geschäft davonziehen, es freute mich, dass sie kamen. Gleichzeitig brachten sie mich immer dazu, mich plump und hölzern zu fühlen, viel zu groß für sie, ihr verlegenes Lächeln und ihre errötenden Gesichter; irgendetwas an ihnen brachte mich aus dem Konzept. In der Schule war es anders, dort ließen sie sich manipulieren und kontrollieren, denn ich wusste alles über sie, und sie wussten nichts über mich. Aber hier? Was hatten sie an sich, das mich so aus der Fassung brachte, was war es?

Manchmal kamen andere, kleinere Kinder zu Besuch, sie waren kein Problem, im Umgang mit ihnen reichte es, sich anders zu verhalten, als sie es von einem Erwachsenen erwarteten, und schon lachten sie. Wenn man ihnen etwas erzählte, von dem sie genau wussten, dass es nicht stimmte – zum Beispiel, dass ich gar nicht Henrik war, sondern sein Zwillingsbruder –, starrten sie mich überrascht an, Oh, nein! Und ich, Oh, doch, und sie, Nein?, und ich fragte sie, was sie von Henrik hielten, war er nicht eigentlich ziemlich dumm, und ihre Augen leuchteten, wenn sie nickten.

Ich dachte, dass sie einer anderen, feineren Rasse angehörten, die in einer einfacheren Welt lebte als meiner, unbeeinflussbar, denn nichts hier färbte auf sie ab, sie waren immer sie selbst und ich hatte nie Probleme mit ihnen. Die Mädchen dagegen hatten angefangen, sich von ihren eigenen Leuten zu distanzieren. Sie waren dreizehn und stammten aus demselben Ort, aber nun waren sie auf dem Weg in etwas für sie Unübersichtliches und Unverständliches. Ich merkte es ihnen an. Die hilflose Härte, die ihnen in der letzten Zeit zu eigen war, diese kantigen, überlegten Bewegungen, die den Drang kontrollierten, einfach herumzulaufen und zu spielen, an nichts zu denken, nur zu lachen und zu lachen und zu lachen. Ihre Augen, die sie schnell verdrehten, wenn sie bei Gleichaltrigen kindliche Züge entdeckten, um sie so als unwürdig abzustempeln, ihre Finger, die Kaugummis in langen Bändern aus dem Mund zogen und sie drehten, während sie mit dieser Miene bemühten Lebensüberdrusses auf den Schulhof starrten, der sie immer öfter kennzeichnete, die tuschelnden Gespräche, die im Klassenzimmer geführt und abrupt abgebrochen wurden, wenn ich eintrat; sie schoben sich zu ihren Plätzen, ich sah, dass sie zu verbergen versuchten, wie aufgedreht sie waren, wenn sie die Hände auf ihr Pult legten und zu mir hochsahen, und ihre Erleichterung, wenn ich etwas Dummes sagte, denn dann konnten sie resigniert aufstöhnen, dann konnten sie die Augen verdrehen, dann konnten sie diejenigen sein, die es besser wussten.

In seltenen Fällen konnte ich allerdings beobachten, wie diese ständige und kräftezehrende Verleugnung aufgehoben wurde. Unvermittelt befanden sie sich eines Tages plötzlich zusammen mit den anderen Kindern auf der Hügelkuppe, schlaksig und linkisch überragten sie den Schwarm rundlicher, dick bekleideter Zehnjähriger, die in ihren glatten Steppjacken, ihren Schals und Mützen, Fäustlingen und klobigen Stiefeln um sie herumwimmelten, adäquat ausgerüstet für das, was sie dort trieben, sich in den Schnee bohren, Löcher graben und johlend Böschungen hinunterrutschen. Aktivitäten, in die sich die dünn bekleideten, dreizehnjährigen Mädchen nun stürzten, ich sah sie; kreischend warfen sie sich hinaus, und wenn sie sich ein paar Sekunden später am Fuß des Hügels erhoben, verschwendeten sie keinen Gedanken daran, den Schnee abzubürsten, um die Kleider trocken zu halten, worauf sie sonst peinlich achteten, nein, selbstvergessen stapften sie unverzüglich wieder durch den tiefen Schnee hinauf, um sich, vor Freude lachend, erneut hinauszustürzen. Eine Erlösung. Aber es war nicht etwa so, dass sie dadurch ihre Würde verloren hätten, wie es bei mir der Fall gewesen wäre, wenn mein Körper kichernd inmitten der Kinderschar hinabgerutscht wäre. Für mich war es dafür zu spät. Für sie lag es noch in Reichweite, wenngleich knapp: Ich sah, dass die Zehnjährigen sie ein wenig erstaunt ansahen, ehe sie es akzeptierten, und ihr fieberhaftes Verhalten ließ mich begreifen, dass es ihnen im Grunde ein wenig schmeichelte, dass die Mädchen plötzlich mit ihnen zusammen sein wollten. Sie nutzten die Chance, um sich ihnen zu zeigen, gewollt männlich stieß einer von ihnen Katarina um, irgendwie wusste er, was sonst undenkbar gewesen wäre, war jetzt erlaubt. Aber ich? Ich musste mich damit begnügen, sie zu betrachten, diese unendlich charmanten, dreizehn Jahre alten Mädchen, die sich selbst für einen Moment vergessen hatten, und die mich nun, erneut auf der Hügelkuppe, erblickten und mir lächelnd zuriefen, ich solle doch mitmachen.

So wechselten die Mädchen zwischen ihren beiden Stadien, und damit wechselte auch ihr Bild von mir. Auch ich veränderte mich für sie. Ein Mann, neben den sie sich setzen, dem sie spielerisch, anschmiegsam die Hand geben konnten, bis er sich verwandelte und zu jemandem wurde, den sie verstohlen anstarrten, der sie erröten ließ und dem sie auf keinen Fall nahe zu kommen wagten, obwohl sie es so gerne gewollt hätten.

Aber das alles war ihnen nicht bekannt. Sie wussten nicht, was vor sich ging.

Nun komm schon, Henrik!, jaulten sie, und ich schüttelte lächelnd den Kopf, und sie machten weiter; die ganze Pause tobten sie gemeinsam mit den sonst so unwürdigen Grundschulkindern. Als ich sie am Anfang der nächsten Schulstunde vom Lehrerpult aus musterte, merkte ich, dass etwas von dieser Stimmung noch in ihnen steckte. Nass und erhitzt setzten sie sich auf ihre Plätze. Sie waren aufgekratzt und wollten nur Unfug machen, versuchten mich zu erweichen, indem sie quengelten und wimmerten wie kleine Kinder, die Köpfe auf die Pulte legten und mich mit bettelnden Augen ansahen, Bitte, bitte, Henrik.

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte ich und klopfte mit dem Stapel Aufgabenblättern auf das Lehrerpult.

»Nun sei doch nicht so!«

»Komm schon, Henrik, sei lieb!«

»Henrik …«

»Nein«, sagte ich und gab mich streng. Sie spürten, dass sie zu weit gegangen waren, sie richteten sich auf, und als ich durch die Reihen ging und die Aufgaben austeilte, verweigerten sie mir ihren Blick. Wenn er es unbedingt so haben will. Mürrisch und widerwillig begannen sie zu rechnen, mit einem Ernst, dessen Konsequenzen sie nicht ahnten, zu dem sie sich dennoch zwangen.

Ich setzte mich auf den Stuhl am Lehrerpult und sah Henning draußen im Laufschritt unter das Dach des Regenunterstands eilen. Er warf einen Blick auf uns, ehe er durch die Tür am anderen Ende des Gebäudes verschwand.

Es dämmerte bereits. Ein schwacher Puls aus Licht war alles, was wir bekamen, als hätte der Himmel keine Kraft mehr, als drehte er sich bloß zur Seite, um weiterzuschlafen. Schwarz und schwer ließ er den Schnee durch sich hindurch fallen.

Alle arbeiteten. Hanna hatte Probleme, sie starrte Löcher in die Luft, als würde sie grübeln, aber ich wusste, wie es ihr erging. Schon die Angst, es nicht zu schaffen, machte es ihr unmöglich, sich zu konzentrieren. Ihr nachdenklicher Blick war eine Ablenkung, eine Entschuldigung dafür, dass sie nichts schrieb. Am Pult vor ihr saß Miriam über die Aufgaben gebeugt, den Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und die Hand gegen die Wange gefaltet. Sie schrieb. Ich hätte zu ihr gehen können, nur um sie zu riechen, dachte ich, den Geruch ihres warmen, feuchten Wollpullovers aufzunehmen. Die Süße des Atems. Mit Sicherheit geschärft von dem Mundspray, das sie benutzten, diesem apothekenartigen Geruch aus der Dose, die zu Beginn des Tages von Mädchen zu Mädchen geworfen wurde, tst in den Rachen gesprüht; sie schmatzten kurz, zufrieden. Darf ich auch mal! Sie waren eine kleine Gemeinschaft, in der alle möglichen Gegenstände zirkulierten, die Runde machten, sie bildeten Allianzen und betrieben Spionage, komplizierte Ränkespiele mit unterschiedlichen Zeichen, die nur Eingeweihte verstanden, und wenn es zu Ausschluss und Verbannung kam, wurde dies mit großer Konsequenz und Kraft betrieben. Plötzlich verstießen sie alte Freunde in tiefste Finsternis, als wären sie eine irre religiöse oder politische Sekte. Aber in einer Sekte hat das Verstoßen natürlich einen Grund: Zweifel, Unsicherheit, unterschiedliche Überzeugungen. Bei ihnen gab es keinen Grund, ihre Grausamkeit war launisch und basierte auf unklaren Begriffen, deren Inhalt sich kontinuierlich veränderte.

Ich stand auf und ging durch die Pultreihen. Sofort zu Hanna zu gehen, hätte sie an den Pranger gestellt, als würde sie immer Hilfe benötigen, als rechnete ich ohnehin damit, dass sie welche brauchte. Sie waren dreizehn Jahre alt, und ich wusste, wie es ihnen ergehen würde. Schon in der dritten, vierten Klasse zeichnet es sich deutlich ab. Aber dann ist es zu spät. Wenn man es sehen kann, ist es zu spät. Und es gab nichts, was ich tun konnte. Hanna, zum Beispiel, ich konnte ihr nicht helfen, obwohl ich erkannte, dass sie bald aufgeben und sich gegen die Schule wenden würde, die sie so quälte, Oh Mann, das ist alles so langweilig, um anschließend ein neues Leben zu beginnen, von dem sie den anderen atemlos erzählen würde. Eine Pionierin im Schmutzigen. Sie wissen, wer sie ist, sie erkennen sie, sie ist eine von denen, die mitmachen. Schamlos wird sie von ihnen genommen. Hinten im Auto, auf der Fahrt, sie spürt eine Hand, die am Reißverschluss zerrt, bleibt still sitzen, keine Zärtlichkeit, nichts, die Hand fummelt an ihr herum, sucht. Die Haare unter dem Slip. Finger. Sein betrunkener Atem. Sssch. Sie spürt einen Finger in sich, ist den Tränen nah, weiß nicht, was sie tun soll, schaut hinaus. Eine Träne auf der Wange? In einem abgeschlossenen Zimmer auf einer Party. Sie wissen, wer sie ist, sie ist eine von denen, die mitmachen. Sie wälzt sich herum, weiß in der Dunkelheit, sie verachten sie, sie stöhnt unter ihnen, wimmert.

Der Tummelplatz der jungen Dummen.

Hanna entdeckte, dass ich sie anstarrte, und senkte den Kopf. Schrieb etwas, strich etwas durch. Dann, endlich, konnte sie mir ein Zeichen geben. Ich lehnte mich über ihre Schulter.

»Die hier kriege ich nicht hin«, flüsterte sie und tippte mit dem Finger auf das Blatt.

Ich zeigte ihr, wie es ging.

»Ach ja, so geht das!«, flüsterte sie.

»Schaffst du die nächste?«, sagte ich.

»Vielleicht«, antwortete sie. »Ich denke schon.«

»Es ist das gleiche Prinzip«, sagte ich. »Du löst sie auf die gleiche Art.«

»Ja«, sagte sie.

»Soll ich es dir zeigen?«

»Mhm.«

Ihre Augen hatten etwas Mechanisches, als sie auf die Zahlen starrte, die meine Hand schrieb, als fehlte es ihnen an Empfindsamkeit; der Blick, der aus ihr kam, war bereits voll; nichts von dem, was sie sah, fand dort noch Platz.

»Findest du das schwer?«

Sie schüttelte den Kopf. Im selben Moment kehrte Henning zurück.

Ich richtete mich auf.

»Mach es einfach wie ich«, flüsterte ich und ging zu ihm. Er hielt die öligen Hände ein wenig vom Körper weg, schien sich aber unmittelbar zuvor mit der einen durch das Haar gestrichen zu haben.

»Kannst du mir kurz helfen?«, sagte er. »Ihn nur schnell anschieben.«

Am anderen Ende des großen Raums stand Josephsen und sah uns an. Als er meinem Blick begegnete, drehte er sich wieder um und zeigte auf eine seiner Schülerinnen. Sie stand mit einem Seufzer auf und ging zur Tafel.

»Es dauert nur zwei Minuten«, sagte Henning.

»Ja, klar«, erwiderte ich und wies die Klasse an, in meiner Abwesenheit weiterzumachen. Sie waren träge und würden ruhig sitzenbleiben, dachte ich; für anderes fehlte ihnen die Kraft. Ein Freitag in Schnee und Dunkelheit: so schwermütig, wie es nur geht. Trotzdem tat es gut hinauszukommen. Erst dadurch bemerkte ich das Summen der Neonröhren, die leisen Stimmen aus den anderen Klassen, trockene Laute von Füßen, die über den filzigen Teppichboden rieben, das Rascheln von Papier, das Husten. All das, was einem überhaupt nicht auffällt, was einen aber dennoch ermüdet.

»Schieb du hinten an«, sagte Henning, öffnete die Tür und streckte den Arm ins Wageninnere. Schnee legte sich in Flocken auf sein Haar. Ich lehnte mich vor und presste die Hände auf die geschwungene Unterseite des Kofferraumdeckels. Unter der warmen Haut war das Metall kalt und hart. Es war ein gutes Gefühl. Henning rief Undeinsundzweiundeinsundzwei, und der Wagen begann, auf den Reifen vor und zurück zu rucken. Das Auto sollte einen sanften Anstieg hinauf, das war schnell erledigt; von dort konnte man es einfach hinunterrollen lassen. Er lief ein paar Meter neben dem Wagen, tat einen Satz hinein und knallte die Tür zu. Das Auto ruckte, als er den Gang einlegte. Ein Husten, noch eins, und der Motor sprang an.

Ich stand da und sah ihm hinterher. Eine unerwartet klare Farbe in diesem dichten Grau und Weiß. Selbst ganz unten, auf Höhe des Geschäfts, war die Kontur des Wagens scharf und abgegrenzt. Henning fuhr in schnellem Tempo wieder aufwärts, um die Kontrolle über den Wagen nicht zu verlieren. Das Motorengeräusch breitete sich aus, wie Kielwasser, schoss es mir durch den Kopf, eine Welle auf jeder Seite, schwächer und schwächer.

Er hielt vor mir und kurbelte das Seitenfenster herunter.

»Ich fahre in die Stadt. Kann ich dir etwas mitbringen?«

»Hmm … Nein.«

»Sicher?«

»Mm.«

»Okay!«

Er wandte das Gesicht ab und wollte losfahren, legte die Hand auf den Schaltknüppel.

»Gehst du nicht zu dem Fest?«, fragte ich.

Der Schnee rutschte langsam über die Windschutzscheibe, bis er in die Reichweite der Scheibenwischer kam und weggefegt wurde.

»Ich weiß nicht, ob ich Lust dazu habe«, meinte er und rieb mit dem Handrücken innen die beschlagene Scheibe frei. Dann drehte er sich zu mir um. »Du gehst hin?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete ich. »Nicht, wenn ich allein gehen muss.«

Er lächelte.

»Da besteht ja wohl keine Gefahr!«

Ich sagte nichts.

»Du kannst ja Linda mitnehmen«, meinte er.

Er dachte, ich würde betteln.

»Kann ich machen«, erwiderte ich. »Ich weiß aber auch noch nicht, ob ich wirklich Lust habe. Mal sehen.«

»Okay«, sagte Henning. »Bis bald!«

Er fuhr den Hügel hinauf, um auf dem Schulhof zu wenden. Auf den ersten Metern drehten die Reifen im feuchten Schnee durch. Ich kehrte in die Klasse zurück, wo die Stimmung jetzt lockerer war, sie wirkten rastlos, waren wieder mehr miteinander beschäftigt: Blicke, Winke, Flüstern.

Ich begegnete Miriams Augen und lächelte sie an.

»Bekommst du das?«, fragte sie und hob das Blatt ein wenig an.

»Nein, wir besprechen die Aufgaben am Montag«, antwortete ich.

»Das sagst du nur, weil du keine Lust hast, sie zu korrigieren«, sagte Kenneth laut. Er lachte.

»Ist die Stunde vorbei?«

Ich sah auf die Uhr.

»Ja«, sagte ich. »Das ist sie.«

Drei der Jungen gingen hinaus. Die anderen blieben sitzen, holten Pausenbrote und Saftflaschen aus den Ranzen, dieses rührende Ritual.

»Warum grinst du so? Henrik!«

»Wegen euch«, sagte ich und stand auf. »Könnt ihr nicht einfach ruhig sitzenbleiben, damit sich keiner über euch beschwert?«

»Was ist denn so lustig an uns?«, fragte Miriam.

»Gehst du heute Abend auf das Fest, Henrik?«, sagte Katarina.

»Du darfst dich nicht so besaufen, wie du es sonst immer tust!«, sagte Kenneth.

»Gehst du?«, sagte Katarina.

Ich merkte, dass ich lächelte, als ich das Lehrerzimmer betrat. Es war verwaist. Die Radspuren von Hennings Auto wurden schon wieder zugeschneit. Ich füllte Wasser in die Glaskanne, gab fünf Löffel Kaffeepulver in den Filter, saß auf der Couch und blätterte in der Lokalzeitung, als die Kaffeemaschine anfing zu klackern, als wäre sie ein kleines Tier, das gerade erwacht war.

Die Tür ging auf. Ich sah auf. Es war Linda. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel, sah anschließend mich an.

»Du hast Kaffee gekocht«, sagte sie und setzte sich auf die Couchkante. Ich las, war durch ihre Anwesenheit aber zu abgelenkt, um zu verstehen, was da stand. Sie krümmte ihre Finger und musterte die Nägel, ich blätterte um, sie seufzte, ohne dass ich Was ist los, bist du müde, hätte bemerken können, denn sie seufzte, als säße sie allein.

»Schön, dass Wochenende ist«, sagte ich.

Sie sah zu mir hinüber und lächelte.

»Ja«, sagte sie.

Jetzt war es unmöglich, einfach weiterzulesen. Ich musste mehr sagen.

Ich streckte mich.

»Aaahh«, sagte ich und drehte mich sozusagen zufällig um und warf einen Blick auf den menschenleeren Schulhof.

Es entstand eine Pause.

Sie war wieder in Gedanken versunken. Jetzt waren es meine Hände, die in der Gunst ihres Blickes standen. Sie fand die Situation nicht bedrückend, warum sollte ich es dann tun? Warum sollte ich nicht dort sitzen können und mich nicht dafür interessieren, was geschah? Ein bisschen Selbständigkeit, in meinen eigenen Gedanken, ist das zu viel verlangt? In ihnen sollte ich ja wohl der Alleinherrscher sein. Aber nein. Als sie den Blick von meinen Händen abwendete und auf meine Augen richtete, nestelte ich augenblicklich an der Zeitung herum. Wenn sie wollte, konnte sie mein Verhalten deuten, dachte ich, während ich nicht die geringste Ahnung hatte, was sich in ihrem Inneren tat. Nicht die geringste. Denn Linda kannte ich auf zwei Arten, und die eine lag so weit von der anderen entfernt, dass es mir schwerfiel, die beiden zu vereinen, wenn ich sie wie jetzt vor mir sah.

Sie wohnte in der Wohnung über mir, das Haus war hellhörig, ich hörte die beiden tagtäglich über meinem Kopf umhergehen. Linda und ihren Mann Richard. Dump, dump entfernten sich die Schritte. Und dann Stimmen. Worte zu verstehen war unmöglich, nur die Stimmen drangen durch den Fußboden zu mir herab, und anhand ihrer musste ich mir erschließen, welche Stimmung bei den beiden herrschte. Er steht vor dem Kleiderschrank im Schlafzimmer und ruft etwas zu ihr hinüber, die im Wohnzimmer sitzt. Keine Worte, nur diese fragende Stimme. Dennoch fühlte ich deutlich, dass das, was zu mir durchsickerte, mich nichts anging. Wer kann allein in einem Schlafzimmer liegen und die harten, wütenden Stimmen zweier erwachsener Menschen hören, ohne sich daran zu erinnern, wie es war, ein Kind zu sein, regungslos in seinem Bett zu liegen und auf Nuancen zu horchen, vielleicht einen Namen aufzuschnappen, den eigenen, was Papa wirklich von einem hält. Oder Mama. Was, wenn sie dich auch nicht mag? Die Gewissheit, dass deine Eltern eine Welt für sich haben, in die du niemals aufgenommen werden kannst. Ganz still liegen und Gott bitten, dass sie nett zueinander sind. Oder nur das Kissen aufs Ohr pressen, um sie auszusperren, diese Stimmen, denn wenn du sie nicht hörst, existieren sie auch nicht.

Dump dump auf dem Fußboden. Ich malte mir aus, dass Linda sich in den Türrahmen stellte und ihn betrachtete, der über die Kommode gebeugt stand; irgendetwas konnte er nicht finden. Oder ging es um etwas, das er gefunden hatte? Einen Beweis für den Verdacht, der schon so lange in seinem Kopf wütete. Vielleicht endete es damit, dass sie miteinander schliefen, direkt über meinem Kopf, erst wälzten sie sich etwas herum, und dann ging es richtig los, ich stellte mir vor, dass sein Gesicht sich an ihren offenen Schoß schmiegte, sie windet sich und stöhnt, wenn er sie leckt, es geschieht drei Meter über mir, ich höre alles, höre, dass sie sich windet, höre, dass er auf einem Bein herumhüpft, um die Hose auszuziehen, Linda lacht, und dann geschieht etwas, denn dann beginnt sie zu schreien und zu schreien, als würde er sie misshandeln, ich höre jede Nuance in ihren Stimmen, jedes einzelne Stöhnen registriere ich, es ist Richard, der sie vollpumpt, sie schreit, Was treiben die beiden da.

Diese Person, die in den Nächten unter diesem stillen Mann lag und sich wand, die vor Freude stöhnte und aus Genuss schrie, konnte ich einfach nicht mit der Frau in Einklang bringen, die ich jeden Tag in der Schule sah, sie, die leise zwischen ihren konzentrierten Erstklässlern umherging, die sich über sie beugte, um ihnen einen anderen Weg vorzuschlagen, etwas Bestimmtes zu tun; freundliche Ratschläge, die sie veranlassten, die Zunge im Mundwinkel herauszustrecken und sich noch mehr anzustrengen, um ihrer geliebten Lehrerin zu gefallen. Manchmal stand ich da und betrachtete sie, wenn sie dort mit zerzausten Haaren, bleicher Winterhaut und geröteten Wangen saßen. In diesen ersten Stunden waren sie so friedlich und still. Einer von ihnen legte das Kinn in die Hände und war mit seinen Gedanken weit weg. Vorsichtig standen sie auf, wenn die freie Stunde in der Tagesmitte begann und Linda ihnen vorlesen wollte, ich beobachtete sie dann oft, die Kinder, es war fast ein bisschen unheimlich, wenn sie nacheinander ihre Plätze verließen und zu ihr gingen, sich um ihre Füße scharten und mit großen Augen vor ihr saßen, während sie las, abwesend, als lauschten sie in Wahrheit etwas in ihnen selbst.

In ihnen selbst? Und was sollte das sein?

Es muss von Anfang an in ihnen gewesen sein. Etwas, das nach und nach verschwindet, denn eine solche Trance existiert bei Erwachsenen nicht, dieses absolute aus sich selbst Herausfallen, wenn man zuhört. Etwas lockt sie, und sie lassen sich locken. Jeder von ihnen verschwindet für sich selbst.

Ja, das ist unheimlich.

Lange grübelte ich darüber nach, was daran so unheimlich war, Kinder, denen vorgelesen wird, ich verstand mein Gefühl nicht, und Henning, dem ich davon erzählte, sah mich bloß verständnislos an, Unheimlich? Die meisten würden wohl eher sagen, dass es heimelig ist, wenn Kindern vorgelesen wird. Es gelang mir nicht, ihm zu erklären, was ich meinte. Nicht weiter verwunderlich, denn solche Empfindungen existieren außerhalb der Gedanken, und selbst wenn ein Wort es treffen würde, ist nicht sicher, dass andere die gleiche Bedeutung in es hineinlegen wie man selbst. Und Genauigkeit ist essentiell, wenn man über etwas so Ungenaues wie eine Empfindung spricht. So, nicht so, sondern so. Unheimlich?, sagte Henning, und niemals werde ich erfahren, was er damit meinte. Unheimlich?, dachte ich, wieso unheimlich, was bedeutete das?

Dass sie wehrlos waren, vielleicht, ja – denn es ist das Privileg des Kindes, dass man sich um es kümmert. Nur Kinder können umgeben von anderen schlafen, ohne dass irgendjemand es unangenehm findet. Aber wenn wir das tun, in einem Park auf der Bank einschlafen, auf der Couch des Nachbarn, im Friseurstuhl, im Bus oder auf einem Bürgersteig in der Stadt, wird man uns missbilligend anstarren, denn ein solch offensichtlicher Schlaf hat etwas Groteskes, etwas Entwürdigendes: Du berufst dich damit auf eine Unschuld, die du nicht mehr hast, Als hättest du nichts zu verbergen. Oder ist es vielleicht die Bloßstellung, deren Anblick wir nicht ertragen, das Wehrlose, dass du nicht mehr die Kraft hast, der Welt zu begegnen, du hast aufgegeben, du sitzt mitten im Menschengewimmel des Einkaufszentrums und schläfst, schamlos. Alle sehen es. Schlafen kannst du zusammen mit den Menschen, die dir am nächsten stehen, mit jemandem, der dich und deine Geheimnisse ohnehin kennt. Und die totale Trance, ist sie nicht wie der Schlaf, ist es nicht sie, vor der dieses seltsame, grausame Märchen warnt? Der Rattenfänger von Hameln, der die Kinder verzaubert und sie dazu verlockt, mit ihm zu kommen, sie haben keinen eigenen Willen mehr, keine Kraft, sie folgen ihm einfach, aus der Welt heraus und in den Berg hinein, der sich hinter ihnen schließt. Was mag in dieser Stadt passiert sein, welche Katastrophe war so schrecklich, dass die Erinnerung daran noch existiert, jetzt auch in mir, wovor ist er eine Warnung, dieser orpheusgleiche Flötenspieler, der die Kinder in den Tod führt? Welcher Macht gaben sie sich hin?

Es ist der Tod, dem sie sich hingeben, aber das wissen sie nicht. Und das ist unheimlich, weil es passiert. Es ist immer einer unter uns, der stirbt. In meiner Klasse war es Kurt. Ich erinnere mich noch gut, wir gingen in die zweite Klasse, als er verschwand. Ein Suchtrupp im Wald am ersten Abend, sie fanden nichts, es war im März, er war ja wohl hoffentlich nicht aufs Eis hinausgegangen? Am nächsten Tag spielten wir Fußball auf der Wiese, an einem Sonntag mit klarem und blauem Himmel, der Boden war mit Raureif überzogen, und unter denen, die älter waren als wir, herrschte eine aufgekratzte Stimmung, verschiedene Theorien kursierten, eine wüster als die andere. Gemeinsam mit Erling ging ich am Nachmittag, als der Himmel sich verdunkelte und das Laub auf der Erde unter unseren Füßen knirschte, in den Wald. An manchen Stellen lag noch Schnee. Jetzt, da die Sonne nicht mehr wärmte, fror ich an den Händen. Kalt und still ging ich neben Erling, ohne wirklich zu wissen, wonach wir suchten.

Wir hörten ihre Stimmen lange, bevor wir sie sahen. Versteckt zwischen ein paar Bäumen sahen wir ein Auto mit Anhänger, das direkt am See parkte, eine Gruppe von Männern, die am Ufer stand, mehrere Seile, die vom Land aus über das grünliche Eis liefen. Irgendetwas ging dort vor. Unablässig schauten sie nach vorn. Leise Stimmen, glühende Zigaretten, die ab und zu hart auf die Erde geworfen und ausgetreten wurden. Ein Ruf. In der Wuhne wird etwas sichtbar.

»Schau«, sagte Erling.

Ein Kopf ohne Gesicht taucht aus dem Wasser auf.

»Das ist ein Froschmann«, sagte ich.

»Weiß ich«, erwiderte Erling. »Schau mal.«

Der Taucher legte eine Lampe auf das Eis, krabbelte hoch und drehte sich um. Auf allen vieren hievte er etwas anderes aus dem Wasser. Etwas Schweres.

»Ist das Kurt?«, sagte Erling.

Das Bündel wurde auf das Eis gezogen, der Taucher löste das Seil und führte es unter den Armen des Körpers hindurch, und wir sahen Kurt langsam über das Eis rutschen, als einer der Männer an Land an dem Seil zog. Der Kopf, der willenlos über die Unebenheiten hüpfte und holperte. Dann kam ein weiterer Taucher aus dem Wasser. Die beiden legten sich auf den Bauch und robbten umständlich an Land. Sie glichen zwei Echsen. Ich hatte Angst, aber wir blieben stehen. Zwei schwarze Echsen, die über das Eis krochen. Die Männer, die an Land warteten. Als wüssten sie nicht recht, was sie tun sollten. Einer von ihnen kniete vor Kurt, richtete sich wieder auf und ließ Kurt liegen wie einen Fisch im Schnee. Die ganze Zeit lag er dort, während die Froschmänner sich neben ihm von ihren Bleigewichten befreiten und die Schwimmflossen abstreiften. Die Masken waren in die Stirn geschoben, als hätten sie zwei Sätze Augen: ein Augenpaar starrte in den dämmrigen Himmel hinauf, die beiden anderen konzentrierten sich auf das, was vor ihnen geschah – das ganze Hantieren an Gummi und Metall, diese Strahlen der Taschenlampen, die überallhin irrten, mit Ausnahme der Stelle, an der Kurt lag, denn das Schlimmste, was passieren konnte, war passiert, der Körper, der nun langsam am Harsch festfror, war ohne Leben, er war tot, und es gelang uns nicht wirklich, uns vorzustellen, wie das sein mochte, als der Lehrer uns am nächsten Tag in der Klasse erzählte, was passiert war. IST er nicht mehr? Meinst du, dass es ihn nicht mehr GIBT? Aber wir haben ihn doch GESEHEN?

Die größte Trauer, ein Kind zu verlieren, der grausamste Zeitpunkt zum Sterben, in der Kindheit, über das Eis laufend, irgendetwas hat dich alles vergessen lassen, du läufst einfach, siehst den Wald schwarz am anderen Ufer, es ist Abend, der Matsch spritzt um deine Füße, du schluchzt vor Wut und Verzweiflung. Atemlos läufst du weiter und weiter hinaus, das hast du dir nämlich überlegt, einfach zu laufen, denn am Ende wirst du verschwinden, früher oder später gibt das Eis unter deinen Füßen nach und du ertrinkst, der arme, arme Kleine, ganz allein mit dir selbst sinkst du durch das schwarze, kalte Wasser, was hast du nur getan?

Aber Linda dachte nicht so. Kinder hatten für sie nichts Unheimliches, das wusste ich, sie wünschte sich selbst eins, sprach oft darüber, scherzhaft, Du hast doch gute Gene, Henrik, kannst du nicht mal vorbeischauen, wenn Richard abends unterwegs ist?, sagte sie etwa, und wir lachten, aber ich wusste, dass sie wusste, dass ich sie hörte. Es war eine Herausforderung. Eine Art Spiel. Manchmal lud sie mich zu sich ein, wenn sie zum Beispiel am Abend gebacken hatte und Richard nicht da war, dann klopfte sie an und fragte, ob ich ihr Gesellschaft leisten wolle. Sicher. Auf ihrer Couch sitzen, während sie in Jogginghose mit einem Teller dampfender Rosinenbrötchen aus der Küche hereintapste, den sie vor mir auf den Tisch stellte, Iss nur, Henrik, und ich nehme mir eins, aus Höflichkeit, eigentlich mag ich es nicht zu essen, wenn andere mir dabei zusehen, aber für sie kann ich eine Ausnahme machen, denke ich und schlinge es hinunter, so schnell es nur geht. Vielleicht spricht sie an diesen Abenden über sich selbst, weil sie mich so harmlos findet, über Dinge, bei denen ich bezweifle, dass Linda sie anderen anvertraut. Auch sie ist als Aushilfslehrerin aus dem Süden gekommen, darüber reden wir, sie erzählt mir von früheren Beziehungen, vor allem, weil sie sich über diese ganz zufällig dem nähern kann, was sie auf dem Herzen hat: Richard. Er ist krankhaft eifersüchtig und misstrauisch. Sie muss über jede ihrer Bewegungen Rechenschaft ablegen; wenn er aus beruflichen Gründen in einer anderen Stadt ist, ruft er zu Hause an und verlangt, genau zu erfahren, wo sie gewesen ist und mit wem sie geredet hat. Ab und zu prüft er es nach, fährt im Ort herum und spricht mit den Leuten über seine Frau, leichthin, dennoch außerstande, das Misstrauen hinter den unschuldigen Fragen zu verbergen. Er ist völlig verrückt und versucht mit enormer Energie, sie zu kontrollieren. Jeder Schritt, den sie macht, jeder Gedanke, jedes Wort, das sie ausspricht, kann eine andere, verborgene Bedeutung haben; davon ist er überzeugt, und danach richtet er sein Leben aus.

Eines Abends rief er auf dem Weg zum Flughafen aus dem Auto an. Sie kehrte mir den Rücken zu und sprach mit leiser Stimme, aber ich begriff trotzdem, worum es ging. Sie erwähnte meinen Namen, dass ich bei ihr sei, und ja, sie habe mich eingeladen, Aber mein Gott, Richard, sagte sie. Als sie auflegte, wandte sie sich um und verdrehte die Augen. Richard war wieder auf dem Weg nach Hause. Ein wenig verlegen saßen wir da und warteten auf ihn. Das Motorengeräusch, das Knallen der Autotür, die Schritte im Schnee, die Haustür.

»Du hättest sagen sollen, dass du vorbeikommst, Henrik!«, meinte er und umarmte Linda flüchtig. »Haben wir nicht irgendwo noch eine Flasche Wein?«, rief er aus der Küche, sie sah mich resigniert an, als wir das Ploppen hörten, das Klirren der Gläser, die er zu uns hereintrug, als wäre es völlig normal, dass er auf dem Weg zum Flughafen abrupt kehrtmachte, die Besprechung fallen ließ, an der er am nächsten Tag teilnehmen sollte, und stattdessen in rasendem Tempo hierher fuhr, um mit seiner Frau und seinem guten Freund Henrik, dem Lehrer, ein Glas Wein zu trinken.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Henrik«, sagte sie häufig, wenn wir an diesen Abenden allein waren. »Ich kann ihn nicht einfach verlassen, nicht hier! Ich lebe doch gern hier, ich kann mir nicht vorstellen, fortzugehen, aber wenn ich ihn verlasse, kann ich hier unmöglich bleiben, so viel ist sicher.«

Das war derselbe Mensch, der nun sanft und freundlich vor mir saß, eine Frau, die nur Gutes wollte, dachte ich, und mit ihrem guten Willen sehr weit ging. Wie ließ es sich sonst erklären, dass sie sich sogar diesem Mann hingab? Denn das war es doch, was ich hörte; sie gab die Kontrolle über sich auf und lag dort offen für ihn, Richard, diesen schweigsamen, eifersüchtigen Mann.

Jetzt strich sie mit zwei Fingern über die Tischkante, immer wieder die gleiche Strecke.

»Ist Henning in die Stadt gefahren?«

Ich blickte überrascht auf, nickte und legte gleichzeitig die Zeitung fort.

»Hat er da eine Frau gefunden?«, fragte sie.

Sie sah mich an.

»Er, nein? Nein«, sagte ich.

Sie lachte und stand auf.

»Soll ich dir eine Tasse mitbringen?«

»Danke, das wäre nett«, antwortete ich.

Sie ging zum Schrank, streckte sich und holte zwei Tassen heraus, die sie auf der Arbeitsfläche abstellte. Wusste sie, dass meine Augen ihr folgten? Spürte sie diese hastigen Blicke? Leichte Berührungen wie von Licht, ein Kitzeln, das in ihr aufsteigt, die Beine und Oberschenkel hinauf, die Hüften, die Brüste. Die Lippen …

Sie sah mich lächelnd an.

»Ohne alles?«, sagte sie und hatte bereits eingegossen, kam mit den Tassen, die sie vorsichtig in den Händen balancierte, auf mich zu.

Doch, das musste sie merken. Aber es war nicht gesagt, dass sie wusste, wie eindeutig das war, exakt, wie gierig unsere Blicke waren. Für sie waren es vielleicht nur Blicke. Aber Henning, der nach einem halben Jahr hier oben kurz vor dem Platzen war, stand manchmal abrupt auf, wenn sie nebeneinander gesessen und sie ihn ungewollt mit ihrer Hüfte angestoßen oder die Hand auf seinen Arm gelegt hatte, wie sie es oft tat, wenn sie sich mit anderen unterhielt, Berührungen, die mehr waren, als er aushielt, er stand auf, ging auf die Toilette im Flur und glaubte nicht, dass irgendwer begriff, was die intensive Stille dort zu bedeuten hatte, das ablenkende Abziehen, sein betont forscher Ton, wenn er wieder herauskam. Ich sollte es ihm natürlich sagen. Sollte ihm erzählen, wie diese Minuten von außen wirken, in denen man mit verschiedenen Dingen beschäftigt ist und einander möglichst nicht in die Augen sieht. Es sei denn, Enoksen beschließt, die Situation zu retten. Als Schulrektor fühlt er sich vielleicht besonders verantwortlich, was weiß ich, jedenfalls füllt er die Pausen im Lehrerzimmer wenn nötig mit Themen. Enoksen übernimmt freudig die Verantwortung, er schaltet sich gern ein, er ist der Typ, der in die Hände klatscht und sie sich reibt, sobald er einen Raum betritt, Jetzt wird geredet!