Kämpfen - Karl Ove Knausgård - E-Book

Kämpfen E-Book

Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Die Rücksichtslosigkeit anderen – aber vor allem sich selbst gegenüber. Die Radikalität des Ansatzes. Die schwindelerregenden Wechsel zwischen kleinsten Details und großen Gedanken. Die essayistischen Passagen zu Themen der Kunst- und Literaturgeschichte. Und diesmal auch: die berührende Schilderung einer Krankheit und Ehekrise.

In „Kämpfen“, dem fulminanten Abschluss des sechsbändigen autobiographischen Projektes von Karl Ove Knausgård, findet sich alles, was schon die ersten fünf Bände zu einem Ereignis machte, und geht noch einmal weit darüber hinaus. Geschrieben nach dem sensationellen Erfolg der Vorgängerbände in Norwegen, dem darauf folgenden Skandal auf Grund der Preisgabe von vermeintlich Intimem, radikalisiert Knausgård seine schonungslose Methode noch einmal und treibt sie bis zu einer äußersten Schmerzgrenze. Ein künstlerischer Triumph, ein Vordringen zum Kern des Menschlichen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 2122

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KARL OVE KNAUSGÅRD

Kämpfen

ROMAN

Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen. .
Die norwegische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Min Kamp 6« im Verlag Oktober, Oslo
Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.
Teil 1 und Teil 2 wurden übersetztvon Ulrich Sonnenberg.Der Name und die Zahl wurde übersetztvon Paul Berf.
Copyright © der Originalausgabe 2011 Forlaget Oktober as, Oslo Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Lektorat: Regina Kammerer Covergestaltung: buxdesign, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-10209-8V006
www.luchterhand-literaturverlag.de

TEIL EINS

MITTE SEPTEMBER 2009 FUHR ICH zu Thomas’ und Maries kleinem Landhaus zwischen Höganes und Mölle, er sollte für die nächsten Romane Fotos von mir machen. Ich hatte ein Auto gemietet, einen schwarzen Audi, und fuhr mit einem starken Glücksgefühl in der Brust vormittags auf der vierspurigen Autobahn Richtung Norden. Der Himmel war vollkommen klar und blau, die Sonne brannte wie im Sommer. Links blinkte der Öresund, rechts breiteten sich gelbe Stoppelfelder und durch Zäune getrennte Weideflächen aus, Bäche, an denen Laubbäume wuchsen, plötzliche Waldränder. Ich hatte das Gefühl, als gäbe es diesen Tag eigentlich gar nicht, er stand wie eine Oase des Sommers inmitten dieser fahlen Herbstlandschaft; und dadurch, dass es eigentlich nicht so sein sollte, dass die Sonne nicht so heftig brennen und der Himmel nicht so gesättigt von Licht sein sollte, spürte ich trotz der Freude eine Unruhe in mir aufsteigen, verdrängte den Gedanken allerdings in der Hoffnung, dass dieses Gefühl von allein verschwinden würde, und sang stattdessen beim Refrain von Cat People mit, der aus der Stereoanlage kam, und genoss den Anblick der Stadt, die links von mir auftauchte, die Hafenkräne, die Fabrikschornsteine, die Lagerhäuser. Es waren die Ausläufer von Landskrona, an denen ich vorbeifuhr, genau wie ich vor einigen Minuten an Barsebäck mit der charakteristischen und immer etwas erschreckenden Silhouette des Atomkraftwerks in der Ferne vorbeigefahren war. Die nächste Stadt war Helsingborg, und das Landhaus, zu dem ich wollte, lag zehn, zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt.

Ich war spät dran. Erst hatte ich lange in dem großen kühlen Auto im Parkhaus gesessen, weil ich nicht wusste, wie ich es anlassen sollte; und ich konnte einfach nicht ins Büro der Mietwagenfirma gehen und sie fragen, ich hatte Angst, dass sie mir den Wagen wegnehmen würden, wenn ich eine derart umfassende Unkenntnis verriet, also schlug ich im Handbuch nach, blätterte vor und zurück, aber dort stand nichts über das Anlassen des Motors. Ich untersuchte das Instrumentenbrett, danach den Zündschlüssel, bei dem es sich nicht um einen Schlüssel handelte, sondern nur um eine schwarze Plastikscheibe. Ich hatte den Wagen geöffnet, indem ich auf die Scheibe drückte, und überlegte nun, ob man das Auto mit einem ähnlichen System starten konnte. An der Lenkradsäule gab es jedenfalls kein Zündschloss. Aber das da? War das nicht ein Spalt.

Ich steckte die schwarze Plastikscheibe hinein, und das Auto sprang an. Die nächste halbe Stunde fuhr ich durchs Zentrum von Malmö und suchte nach der richtigen Ausfallstraße. Als ich endlich die Autobahn erreichte, hatte ich beinahe eine Stunde Verspätung.

Als Landskrona hinter dem Höhenzug verschwunden war, tastete ich nach dem Handy auf dem Beifahrersitz, fand es und gab die Nummer von Geir A. ein. Er hatte mich seinerzeit mit Thomas bekannt gemacht, sie hatten sich in einem Boxclub kennengelernt, als Thomas an einem Fotobildband übers Boxen arbeitete und Geir eine Abhandlung über dasselbe Thema schrieb. Sie waren ein ungleiches Paar, um es vorsichtig auszudrücken, hatten aber großen Respekt voreinander.

»Hallo, mein Junge«, sagte Geir.

»Ja, hallo«, sagte ich. »Würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Natürlich.«

»Kannst du Thomas anrufen und ihm sagen, dass ich eine Stunde später komme.«

»Natürlich. Aber du bist auf dem Weg, oder?«

»Ja.«

»Klingt gut.«

»Es ist fantastisch, eine Abwechslung. Aber jetzt muss ich einen Lastwagen überholen.«

»Na und?«

»Ich kann nicht gleichzeitig telefonieren.«

»Deine Fähigkeiten, Dinge gleichzeitig zu tun, wären mal eine Studie wert. Aber okay, bis bald.«

Ich beendete das Gespräch, schaltete einen Gang runter und fuhr an dem langen weißen Lastwagen vorbei, der im Wind leicht schaukelte. In diesem Sommer hatte ich die ganze Familie nach Koster gefahren, und auf dem Weg dorthin war es beinahe zu zwei Unfällen gekommen, beim ersten Mal war es Aquaplaning bei hohem Tempo gewesen, das hätte richtig bös ausgehen können, beim zweiten Mal war es nicht so schlimm, aber genauso erschreckend gewesen; in einer Schlange vor Göteborg musste ich die Spur wechseln und sah das von hinten kommende Auto nicht; ich entging einem Zusammenstoß nur, weil der andere Fahrer so schnell bremste. Das anschließende wütende Hupen schnitt mir direkt in die Seele. Seitdem hatte ich beim Fahren immer ein ungutes Gefühl, die Angst fuhr irgendwie mit, was vermutlich gesund war, aber dennoch, selbst einen Lastwagen zu überholen, brachte mich aus der Fassung, ich musste mich zwingen, es zu tun; und nach so einer Fahrt war ich immer einige Tage vollkommen fertig, als wäre ich betrunken gewesen. Dass ich den Führerschein gemacht hatte und tatsächlich fahren durfte, interessierte die Seele nicht, sie hing hinterher und lebte noch immer in der Zeit, in der einer meiner großen und immer wiederkehrenden Albträume davon handelte, dass ich mich in ein Auto setzte und losfuhr, ohne es zu können. Voller Angst, die Polizei könnte kommen, während ich auf den kurvenreichen norwegischen Straßen unterwegs war, schlief ich in irgendeinem Bett, das Kopfkissen und die obere Hälfte der Bettdecke nassgeschwitzt.

Ich bog von der Autobahn auf die schmalere Reichsstraße nach Höganes ab. Draußen war es sichtlich heiß, es lag an der Fülle des Lichts, dem gleichsam verschleierten Himmel und diesem weichen Glitzern, das die Sonnenstrahlen über alles streuten. Es war, als stünde die Welt offen und vibrierte.

Zehn Minuten später fuhr ich auf den Parkplatz eines Supermarkts, hielt und stieg aus. Oh, es gab einen Sog in dieser Luft. Sie enthielt das Blau des Meeres, war aber nicht so heiß wie die Luft im Sommer, es lag ein Hauch von Kühle und Ruhe darin. Als ich über den Asphalt auf den Supermarkt und dessen schlaff herunterhängende Fahnen zuging, erinnerte mich die Luft an das Gefühl, das ich jedes Mal hatte, wenn ich an einem glühend heißen Sommertag in einer italienischen Stadt mit der Hand über eine Marmorfläche strich, an diese ebenso subtile wie überraschende Kühle.

Ich kaufte ein Körbchen mit Himbeeren als Geschenk, für mich eine Packung Zigaretten und ein Päckchen Kaugummi, stellte den Korb auf den Beifahrersitz und fuhr das letzte Stück. Nur hundert Meter nach dem Supermarkt führte die Straße hinunter zum Meer, sie war schmal und wurde von den Hecken kleiner weißgestrichener Ferienhäuser gesäumt. Thomas und Marie wohnten ganz am Ende der Straße, mit dem Meer im Westen und einer großen grünen Wiese im Osten.

Als ich die Wagentür zuschlug, kam Thomas mir barfuß über den Rasen entgegen. Er umarmte mich, einer der wenigen Menschen, die das tun konnten, ohne dass es etwas Intimes hatte. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht kam es einfach daher, weil er fünfzehn Jahre älter war als ich, und obwohl wir uns nicht sonderlich gut kannten, verhielt er sich mir gegenüber immer sehr freundlich.

»Hallo, Karl Ove«, sagte er.

»Lange her«, meinte ich. »Was für ein fantastischer Tag!«

Wir gingen über den Rasen. Die Luft stand vollkommen still, die Bäume standen vollkommen still, die Sonne hing über dem Meer und schickte ihre glühenden Strahlen über die Landschaft. Und dennoch, die ganze Zeit über dieses Gefühl von Kühle. Es war lange her, dass ich eine solche Ruhe empfunden hatte.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Thomas, als wir an der Rückseite des Hauses stehen blieben, an die er im Sommer des vergangenen Jahres eine Holzterrasse gebaut hatte, wie das Deck eines Schiffs war sie, von der Hauswand bis zu der dichten, vollkommen undurchdringlichen Hecke, deren regloser Schatten sich ein paar Meter in den Garten erstreckte.

»Gern«, antwortete ich.

»Setz dich doch.«

Ich nahm Platz, setzte die Sonnenbrille auf, legte den Kopf in den Nacken, um so viel Sonne wie möglich abzubekommen, und zündete mir eine Zigarette an, während Thomas in der kleinen Küche am Wasserhahn einen Kessel mit Wasser füllte.

Marie kam heraus. Sie hatte ihre Sonnenbrille auf die Stirn geschoben und musste deshalb blinzeln. Ich sagte, ich hätte heute Morgen in Dagens Nyheter etwas über sie gelesen, es war ein Artikel über eine Kunstdebatte, an der sie beteiligt war. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, was da genau über sie gestanden hatte, obwohl ich mich anstrengte, aber glücklicherweise fragte sie nicht nach, sondern sagte nur, dass sie es sich in der Bibliothek anschauen würde, sie wäre ohnehin auf dem Weg dorthin.

»Ist dein Buch schon erschienen?«, erkundigte sie sich.

»Nein. Es kommt am Samstag heraus.«

»Wie aufregend!«, sagte sie.

»Ja«, bestätigte ich.

»Wir sehen uns später«, verabschiedete sie sich. »Du bleibst doch zum Mittagessen, oder?«

»Sehr gern«, sagte ich lächelnd. »Ich habe übrigens Lindas Manuskript dabei. Ich gebe es dir nachher.«

Marie hatte als Mentorin an der Schreibschule von Biskops-Arnö gearbeitet und sich bereit erklärt, ein Manuskript mit Erzählungen zu lesen, das Linda gerade beendet hatte.

»Gut«, sagte sie und ging wieder hinein. Kurz darauf wurde auf der anderen Seite des Hauses ein Auto angelassen. Thomas kam mit zwei Kaffeetassen und einem Tablett mit Muffins heraus. Er setzte sich, wir unterhielten uns ein bisschen, er holte die Kamera und schoss ein paar Fotos, während wir weiter über etwas ganz anderes plauderten. Als ich das letzte Mal bei ihnen gewesen war, hatte er Proust gelesen, und nun erzählte er mir, dass er immer noch dabei war; kurz bevor ich kam, hätte er hier gesessen und vom Tod der Großmutter gelesen. Das ist eine der schönsten Stellen, sagte ich. Ja, erwiderte er und stand auf, um Fotos aus einem anderen Winkel zu machen. Ich dachte an die wenigen Dinge, an die ich mich noch erinnern konnte. Der Tod der Großmutter kam wie aus dem Nichts. Eben war sie noch in einen Wagen gestiegen, der sie durch den Jardin du Luxembourg fahren sollte, im nächsten Augenblick hatte sie einen Herzanfall bekommen, an dem sie wenige Stunden später starb. Oder war es einige Tage später? Das Haus voller Ärzte, der alles verzehrende Kummer, der die Stimmung in der ersten Phase des Kummers prägt, wenn die Apathie noch von der Unruhe gestört wird, die die Hoffnung gibt. Alles geschieht so plötzlich, die Bestürzung darüber.

»Gut«, sagte Thomas. »Was hältst du davon, den Stuhl dort an die Hecke zu stellen?«

Ich tat, was er vorschlug. Dann ging er ins Haus, um sich die Fotos im Schatten anzusehen. Ich holte mir Kaffee aus der Küche und warf im Vorbeigehen einen Blick auf die Bilder, die er anklickte.

»Die sind gut«, sagte er. »Also, wenn du nichts dagegen hast, dich mit einer etwas zu langen Nase zu zeigen.«

Ich lächelte und ging wieder nach draußen. Thomas war nicht darauf aus, mich gut aussehen zu lassen, er wollte auch keinen bestimmten Ausdruck einfangen, sondern ich begriff, dass er auf das Gegenteil aus war, er wollte mich so fotografieren, wie ich aussah, wenn ich mich vollkommen entspannte und in keiner Weise anstrengte.

Er kam ohne Kamera heraus und setzte sich in die Sonne.

»Sind wir fertig?«, wollte ich wissen.

»Ja«, sagte er. »Sieht gut aus. Möglicherweise mache ich später noch ein paar Fotos von dir in voller Größe.«

»Gut«, erwiderte ich.

Von der anderen Seite der Hecke waren gedämpfte Stimmen zu hören. Ich legte die Beine übereinander und schaute in den Himmel. Er war vollkommen wolkenfrei.

»Ich war im Krankenhaus und habe einen meiner besten Freunde besucht, bevor wir hier hergefahren sind«, erzählte er. »Er hat sich den Hals gebrochen.«

»Grauenhaft«, meinte ich.

»Ja. Er wurde bei Gullmarsplan gefunden. Niemand weiß, was passiert ist, er lag einfach da.«

»Ist er bei Bewusstsein?«

»Ja. Er kann reden und ist vollkommen klar. Aber er erinnert sich an nichts. Er hat auch keine Ahnung, was er am Gullmarsplan wollte.«

»War Alkohol im Spiel?«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Er hat eine Krankheit. Ihm sind ähnliche Dinge schon früher passiert, einmal ist ihm in der Wohnung schwindlig geworden, und er ist aufgewacht, ohne zu wissen, wo er war. Aber diesmal hat es weit größere Konsequenzen. Ich glaube nicht, dass er es schafft.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und nickte. Eine Weile saßen wir wortlos da. Thomas sah mich an.

»Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?«

»Können wir machen«, sagte ich.

Drei Minuten später schloss er die Pforte hinter sich, und wir gingen über die gemähten Felder, die zu dem steinigen Strand und den Wellen, die dort ans Ufer schlugen, hinunterführten. Ein paar Kühe mit langen Hörnern standen auf einem kleinen Hügel und glotzten uns an. Obwohl in nur fünfzig Meter Entfernung ein Haus stand und dahinter eine befahrene Straße lag, hatte ich das Gefühl, als gingen wir über eine öde Heide. Vielleicht lag es am Meer, es war ungewohnt, dass die Weide bis ganz zum Strand reichte. Normalerweise war das in dieser Gegend das teuerste Stück Land, das man eigentlich nicht als Weide nutzte.

»Dort oben gibt es Stellungen aus dem Krieg«, meinte Thomas und zeigte auf einige niedrige Betonkonstruktionen, die ein Stück entfernt standen. »Du weißt ja, Dänemark ist hier sehr nahe.«

»Die gab es auch dort, wo ich aufgewachsen bin«, sagte ich. »Aber die waren von den Deutschen.«

»Wirklich?« Er hob die Kamera und fotografierte mich im Profil, mit dem Meer als Hintergrund.

»Wir haben dort gespielt, als ich klein war«, meinte ich. »Vor allem die Bunker im Wald waren spannend. Allein, dass sie noch standen! Es war Ende der Siebziger. Da war der Krieg ja schon über dreißig Jahre vorbei.«

Der Wind war hier im Freien kräftiger, doch die Wellen, die auf den Strand trafen, waren flach und schwach. Die Kühe hatten wieder angefangen zu fressen. Überall lagen Kuhfladen, einige waren weich und feucht, andere trocken und hart.

»Dort drüben gibt’s eine Seltenheit«, sagte Thomas und deutete auf einen kleinen Tümpel, der in einer moorartigen Umgebung aus Schilf und Moos lag, vor dem Meer durch eine Erhöhung geschützt. »Siehst du den Teich dort drüben?«

Ich nickte.

»Dort lebt ein Frosch, den es nirgendwo sonst in Schweden gibt. Er lebt nur hier. In diesem kleinen Teich.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Es gibt ihn wohl auch in Finnland. Glockenfrosch heißt er. Wenn wir Glück haben, können wir ihn hören. Sie klingen wie kleine Glöckchen. Ich habe es mal im Radio gehört, als sie das Geräusch von unseren hier mit denen aus Finnland verglichen haben. Horchen wir mal.«

Wir blieben vor dem kleinen See stehen. Nicht ein Ton war zu hören, nur der Wind, der auf die Ohren drückte, und das leise Rauschen des Meeres.

»Nein«, sagte er. »Sie quaken nicht jedes Mal. Es werden auch immer weniger. Früher, ja, es ist noch gar nicht so lange her, war die ganze Gegend hier ein See. Dann wurden in der Nähe Häuser gebaut, und der Grundwasserspiegel sank.«

»Wie kommt es, dass es sie nur hier gibt?«

»Keine Ahnung. Vermutlich gab es sie auch anderswo, und dann sind sie ausgestorben, abgesehen von diesem See, wo die Bedingungen für sie besonders gut zu sein scheinen.«

»Eigenartig.«

»Ja. Schade, dass du sie nicht hören kannst! Es hört sich wirklich besonders an.«

Wir gingen weiter zu einem Ort, der früher einmal ein kleines Fischerdorf gewesen war, jetzt standen hier Ferienhäuser. Alle alten Häuser waren renoviert, alle Gärten hübsch auf diese peinlich akkurate Art, in den Einfahrten standen neue, glänzende Autos. Wir folgten der Straße und saßen schon bald wieder in dem kleinen Garten hinter dem Haus, den wir vor einer Stunde verlassen hatten. Thomas kochte noch einen Kaffee, Marie bereitete die Mahlzeit vor.

Beim Essen, es gab Omelett, Bratkartoffeln, Brot und Bier, redeten wir über Jon Fosse. Marie übersetzte seine Dramen ins Schwedische und war gerade mit einem Stück fertig geworden, das im Spätherbst am Dramaten inszeniert werden sollte. Fosse ist ein Schriftsteller, der die Welt zunächst beschrieben hat, wie sie ist, seine ersten Romane mit ihren kleinen, unvermeidlichen Dingen und Verhältnissen voller Neurosen und Ängste sind ein sozialrealistischer Albtraum, nun beschreibt er die Welt, wie sie eigentlich ist, dunkel und offen. Die Entwicklungslinie in seinem Werk verläuft von der Welt, wie sie in einem Einzelnen sein kann, zu der Welt, wie sie zwischen uns ist. Daraus folgt die Hinwendung zu Gott und dem Göttlichen. Alle, die sich mit den Bedingungen der Existenz auseinandersetzen, landen früher oder später genau da. Das Menschliche hat eine innere und eine äußere Grenze, und dazwischen liegt die Kultur, in der wir für uns selbst sichtbar werden. Bei Fosse ist diese Grenze vage und so gut wie unbestimmbar, offen für die äußerlichen Kräfte, den Wind und die Dunkelheit, die in den Menschen, über die er schreibt, gleichsam ansteigen und absinken. Darin haben sie etwas Vormodernes an sich, denn Fosses Menschen stehen außerhalb all dessen, womit wir uns die Zeit vertreiben, all den Zeitungen, den Fernsehprogrammen, dem ganzen Wirbel aus Politik, Nachrichten, Klatsch und Prominenten, die unsere Welt ausmachen, jedenfalls meine. Die Einfachheit in seinen späteren Werken lässt einige von Minimalismus sprechen, im Zusammenhang mit der Dunkelheit wird Beckett erwähnt, doch es gibt nichts Minimalistisches bei Fosse, es ist existenzialistisch und hat nichts mit Beckett zu tun, denn Beckett ist hart, ironisch und ohne Hoffnung, die Dunkelheit bei ihm ist kalt und voller Gelächter, während die Dunkelheit bei Fosse warm, trostbehaftet und ohne Gelächter ist. Vielleicht weil er aus dem Inneren dorthin gelangt und nicht wie Beckett den anderen Weg geht?

Nichts davon konnte ich Thomas und Marie erklären, denn zu dem größten Teil dessen, was ich an Literatur lese und an Kunst sehe, verhalte ich mich, verschwende aber keinen weiteren Gedanken mehr daran. Fosse ist so und so, Beckett ist so und so, das weiß ich, aber damit hat es sich auch.

»Wie lief es eigentlich mit deinem Onkel?«, erkundigte sich Thomas. »Ist er noch immer so sauer? Du hast beim letzten Mal erzählt, dass er dich gerichtlich belangen will?«

»Es gibt noch nichts Neues«, sagte ich. »Das Buch ist in Druck, wenn es also zu einem Verfahren kommt, dann erst nach Erscheinen. Er droht auch damit, sich an die Presse zu wenden. Davor habe ich eigentlich am meisten Angst. Dass die davon Wind bekommen.«

»Wenn er nicht will, dass irgendjemand liest, was du geschrieben hast, dann ist es doch nicht besonders klug, das Ganze in die Zeitung zu bringen«, sagte Marie und führte die Gabel zum Mund. »Oder?«

»Nein, aber vernünftig ist an der Sache sowieso nichts mehr.«

Ich schob den Teller beiseite und lehnte mich zurück.

»Vielen Dank«, sagte ich. »Das war gut.«

Ich hätte gern eine Zigarette geraucht, wartete aber, bis sie fertig waren.

Thomas hob den Kopf und sah mich an.

»Du kannst gerne rauchen, wenn du willst.«

»Danke«, sagte ich, zündete mir eine Zigarette an und blickte auf den dunkelblauen Streifen Meer über der grünen Hecke, der bis zum Horizont schimmerte, wo das Sonnenlicht alles auswischte wie eine Bombe und der Himmel aufstieg, der im Dunst heller schien.

Es war ein richtig schöner Tag.

Sie begannen abzuräumen, ich legte die Zigarette in den Aschenbecher und half ihnen, stellte die Teller auf die Spüle neben Marie, die abwaschen wollte. Sie war fast sechzig Jahre alt, aber sie wirkte erheblich jünger, wie so viele, die schreiben; nur hin und wieder, in kurzen Momenten, sah man ihrem Gesicht das Alter an. Man könnte meinen, dass der Eindruck von einem Gesicht und ein Gesicht zwei verschiedene, ineinander verwobene Größen sind, ungefähr so wie bei diesen Zeichnungen, die eine Sache darstellen, wenn man sich die Schattenpartien ansieht, und eine andere, wenn man die anderen Bereiche des Blattes betrachtet, abgesehen davon, dass ein Gesicht unendlich viel komplexer ist. Nicht nur, dass es sich von einer Stunde zur nächsten verändert, je nachdem, welchen Stimmungen es ausgesetzt ist, sondern auch von Jahr zu Jahr, je nachdem, welche Beziehung man dazu hat. Das Gesicht meiner Mutter zum Beispiel ist für mich meist unverändert, ich sehe »Mutter«, wie sie immer gewesen ist; wenn sie den Kopf ein wenig dreht, sehe ich aber plötzlich zu meinem Entsetzen, dass sie jetzt ein alter Mensch ist, eine Frau, die bald siebzig wird und vielleicht nicht mehr als noch zehn Jahre zu leben hat. Dann dreht sie sich wieder um und sagt etwas, und alles, was ich sehe, ist wiederum »Mutter«.

Ich setzte mich nach draußen, die Zigarette brannte noch, ich steckte sie in den Mund und zog so fest, dass der Filter heiß wurde, blickte erst zum Himmel hinauf, dann zu Thomas, der mit den Himbeeren in den Händen herauskam.

»Früher konnte wir hier Nachtigallen hören«, sagte er und setzte sich auf die andere Seite des Tisches. »Es ist erst ein paar Jahre her.«

»Was ist passiert?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Sie sind einfach verschwunden.«

Als ich eine Stunde später nach Hause fuhr, die Sonne stand auf der anderen Seite des Sundes tief über Dänemark, dachte ich an die verschwundenen Nachtigallen. Es war ein perfekter Anfang für den Roman, den ich schreiben wollte, wenn ich Min kamp beendet hatte. Ein älterer Mann, des Lebens müde, schlurft durch seinen Garten auf Gotland, sitzt im Schatten und liest, unternimmt lange Spaziergänge im Wald oder auf den endlosen Stränden und geht jeden Abend früh zu Bett. Es ist Sommer, am Tag brennt die Sonne, die Vegetation ist trocken und versengt, er ist ganz allein, kein Mensch ist in der Nähe. Da sitzt er und denkt an eine Unterhaltung, die er vor mehr als dreißig Jahren einmal geführt hat, in der Sonne auf einem Landsitz am Ufer des Öresunds, als sein Freund Thomas, der wie so viele alte Freunde tot ist, anfing, über verschwundene Nachtigallen zu reden. Es war das erste Mal, dass er davon hörte. Kurz darauf sah er im Fernsehen einen Dokumentarfilm über verschwundene Bienen in den USA. Sie waren einfach von einem Tag auf den anderen fort, niemand wusste, wo sie geblieben waren, ob sie sich neue Aufenthaltsorte gesucht hatten oder ganz einfach ausgestorben waren. Eines Sonntags, als er in dem großen Buchenwald außerhalb der Stadt, in der er wohnte, mit seiner Familie spazieren ging, sahen sie mehrere hundert tote Fledermäuse, die auf der Erde lagen. In den Zeitungen las man von ähnlichen Fällen, große Vogelschwärme fielen vom Himmel, enorme Mengen an Fischen trieben tot an der Meeresoberfläche. Etwas geschah in der Welt, niemand wusste, was es war. Könnte es sich bei den Fischen um einen Vulkanausbruch unter Wasser gehandelt haben, um Gase, die aufgestiegen waren und sie getötet hatten? Oder gab es menschliche Ursachen? War es bei den Vögeln eine Krankheit, die sich unter ihnen ausgebreitet hatte? Aber warum fielen sie alle gleichzeitig vom Himmel? Könnte es sich um eine Art Stress gehandelt haben? Der Wildlachs verschwand, manch einer behauptete, aufgrund der Zuchtlachse. Bestimmte Schmetterlingsarten verschwanden, hatte sich die Umwelt so schnell verändert, dass sie es nicht schafften, sich anzupassen? Und dann, im Laufe von ein paar Sommern, kehrten einige der großen Vogelkolonien nicht mehr an ihre Nistplätze an den Küsten des Nordens zurück. Was genau passiert war, konnte niemand sagen.

Jeden Abend, bevor er zu Bett geht, schreibt der alte Mann einige Seiten in ein Notizbuch, meist nur um seiner selbst willen, denn seine Tage verlaufen so eintönig, dass sie ohne diese Notizen unmerklich zusammenfließen würden. Er schreibt auf, was er tut, wie er sich fühlt, was er sieht, mitunter auch Ereignisse aus seinem früheren Leben, die bei dieser Gelegenheit unstrukturiert hochkommen.

Das war die Idee, die ich in Gedanken ausschmückte, während ich nach Hause fuhr. Um den ganzen Nachmittag frei zu haben, hatte ich morgens die Kinder versorgt, ihnen Frühstück gemacht, sie angezogen und zum Kindergarten gebracht; deshalb war ich auch so früh von Thomas und Marie losgefahren, denn nun blieb mir noch ein bisschen Zeit, die ich in einem Café in Helsingborg verbringen wollte. Ich bog an einer Abfahrt links ab, fuhr durch ein industrieartiges Gebiet, das in ein Reihenhausviertel überging, kam an einer lange Reihe zusammenhängender Häuser auf beiden Seiten der Straße vorbei, dann ging es einen steilen Hügel hinunter, und das Zentrum der Stadt lag vor mir. Das Meer glitzerte im Schein der niedrig stehenden Sonne.

Ich hatte Helsingborg schon einmal mit Linda und den Kindern besucht, es war der erste Ausflug gewesen, nachdem ich den Führerschein gemacht hatte. Da mein Name in einem Schuldnerverzeichnis stand, erhielt ich in Schweden weder einen Bankkredit, noch konnte ich ein Auto mieten, daher hatten wir den Wagen auf Lindas Namen geordert, eine gewaltige, unhandliche, kleinbusartige Kiste, mit der wir in die Stadt rollten, ich mit klopfendem Herzen, da ich nur mit Mühe und Not manövrieren konnte, gleichzeitig aber auch glücklich, denn es gab mir ein unglaublichen Gefühl von Freiheit, ein eigenes Auto zu fahren, als könnte die Fahrt all meine Probleme lösen. Seit diesem Ausflug wusste ich, dass es weit draußen bei den großen Kaianlagen Parkplätze gab, und so fuhr ich langsam dorthin.

Ein enormes Kreuzfahrtschiff ankerte ein Stück vor dem Pier. Es sah aus, als könnte es mehrere tausend Passagiere beherbergen. Ich schloss die Wagentür ab und ging darauf zu. Auf der anderen Seite des Sundes, verblüffend nah, lag Schloss Helsingör. Bei dem Gedanken, Hamlets Heim zu sehen, lief mir ein Schauer über den Rücken. Im Geiste versuchte ich alles zu eliminieren, was an Autos, Schiffen und Häusern seither dazugekommen war, um nur das Schloss in der Landschaft zu sehen und an die enormen Entfernungen zu denken, die es damals gab, daran, wie wenig Platz der Mensch auf der Welt einnahm und wie groß die Räume zwischen den Menschen waren, ich sah hinüber zum Schloss, wo der vor Verzweiflung gebrochene Königssohn, denn sein Vater war tot, vermutlich von seinem Onkel ermordet, vielleicht im Bett lag und an die Decke starrte, gemartert von der riesigen Sinnlosigkeit, die sich zwischen ihn und alle Dinge gestellt hatte. Seine Freunde, Rosenkranz und Güldenstern, saßen auf einer Bank im Burghof und warfen lange Schatten über das Kopfsteinpflaster, trunken vor Licht und Langeweile.

Ich betrachtete eine Weile das Schloss, bevor ich mich umdrehte und den Kai entlangging. An einigen Stellen lehnten Touristen am Geländer und starrten in das kühlblaue Wasser. Vielleicht schwammen dort Fische, vielleicht war die Tiefe an sich anziehend.

Das Zentrum lag unterhalb eines steilen Hangs; von allen Städten Schonens, in denen ich gewesen war, gab es nur hier Hügel und Höhenunterschiede. Es vermittelte ein ganz anderes Raumgefühl. Ich ging durch die Fußgängerzone, an deren Ende ein Park liegt; und dort, unter einigen großen schattigen Laubbäumen, stand ein Pavillon, wo ich mich einige Minuten später hinsetzte und einen Kaffee bestellte. An den Tischen um mich herum wurde Englisch mit amerikanischem Akzent gesprochen, vermutlich kamen sie vom Kreuzfahrtschiff.

Ich blickte hinauf in die Baumkronen. Die Blätter waren nicht gelb, aber die grüne Farbe war nicht mehr so satt und pastös wie im Sommer, sie war jetzt trockener, bleicher. Mich umgaben die Geräusche der Stadt. Rollende Reifen auf Asphalt, brummende Automotoren, das Geräusch von Schritten, Stimmen, Gelächter.

Hamlet wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts geschrieben. Die erste erhaltene Ausgabe stammte aus dem Jahr 1603. Noch vor wenigen Jahren hätte ich gedacht, das ist lange her. Das dachte ich nicht mehr. Das 17. Jahrhundert lag lediglich einige Generationen zurück. Goethe zum Beispiel musste noch Menschen begegnet sein, die im 17. Jahrhundert geboren worden waren. Für Hamsun war Goethe jemand, der eine Generation vor seiner Geburt gestorben war. Und für mich war Hamsun jemand, der eine Generation vor meiner Geburt gestorben war.

Nein, das 17. Jahrhundert war nicht lange her.

Eine Kellnerin in schwarzer Schürze kam mit einem Tablett in der Hand über die Straße. Das eigentliche Café lag in einem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Sie ging rasch die beiden Treppenstufen zum Pavillon hinauf, blieb vor mir stehen und stellte eine Tasse Kaffee, ein Kännchen Milch und ein Papiertütchen mit Zucker auf den Tisch. Ich gab ihr dreißig Kronen und sagte, es sei in Ordnung. Sie verstand nicht und fing an, in ihrer Schürzentasche nach Wechselgeld zu suchen, ich hielt die Handflächen hoch und sagte Nein, Nein. Danke, erwiderte sie und drehte sich um.

Der Kaffee war bitter, er hatte offenbar schon einige Stunden gestanden. So etwas tranken die Leute bei der Hitze nicht.

Ich zündete mir eine Zigarette an und blickte auf die Dächer der anderen Straßenseite, ein mit Blech ummantelter Schornstein reflektierte den Schein der Sonne, aber ohne dass die Bewegungen des Lichts sichtbar wurden, es sah aus, als würde das Blech das Licht wie aus einer unerschöpflichen Quelle aussenden. Grauschwarze Schieferplatten waren rund um den Schornstein angebracht, Feuerleitern verschwanden in den Hinterhöfen auf der anderen Straßenseite.

Es gab einen Horizont im Leben aller, das war der Horizont des Todes, der irgendwo zwischen der zweiten und dritten Generation vor uns lag und irgendwo zwischen der zweiten und dritten Generation hinter uns. Innerhalb dieser beiden Linien waren wir und unsere Nächsten. Außerhalb dieser Linien befanden sich die anderen, die Toten und die Ungeborenen. Dort klaffte das Leben ohne uns. Deshalb konnte eine Figur wie Hamlet so wichtig werden. Er war fiktiv, jemand hatte ihn erdichtet, ihm Gedanken und Handlungen und einen Raum gegeben, in dem er denken und handeln konnte, aber entscheidend war, dass das Fiktive keine gültige Grenze mehr war, kein gültiger Unterschied, sobald man außerhalb des Todeshorizonts kam. Hamlet war weder mehr oder weniger lebendig als die historischen Figuren, die einst ihren Platz auf der Erde hatten; in gewisser Hinsicht waren alle von damals fiktiv. Oder, seit Hamlet in Worte und Begriffe gefasst worden war und die anderen lediglich in Fleisch und Knochen, konnten nur er und seine Lebensform die Zeit und die Vergänglichkeit überwinden.

Erhebt er sich in seiner kühlen Schlafkammer? Geht er den schmalen Treppengang hinauf aufs Dach, bis hin zur Brustwehr? Was sieht er in diesem Fall? Den blauen Sund, das grüne Land auf der anderen Seite, die Ebene, die sich weit ins Land hinein erstreckt. Was denkt er? Das hat Shakespeare ja beschrieben. Die Erde sieht für Hamlet aus wie ein kahles Vorgebirge. Die Luft, dieser schöne Himmel, dieser herrliche Baldachin, dieses majestätische Dach, ausgelegt mit goldenem Feuer, wie er es seinen beiden Freunden Rosenkranz und Güldenstern beschreibt, ist für ihn nur ein fauler und verpesteter Haufen Dünste. Und der Mensch nur eine Quintessenz von Staub. Das hat er dort drüben auf dem Schloss gesehen. Das englische Wort für Dünste wurde auch für den Geist verwendet, wenn er verdunkelt war, und der Raum, der sich hier öffnet, zwischen der Verdunkelung des Geistes und jener der Welt, erinnert an einen Abgrund.

Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und wählte Lindas Nummer. Sie ging sofort ans Telefon.

»Wie geht’s?«, erkundigte ich mich.

»Gut«, antwortete sie. »Wir sind im Park. Es ist so fantastisches Wetter! Heidi hat sich irgendwann geweigert zu gehen, aber jetzt klappt’s. Wann kommst du nach Hause?«

»Bald. Ich bin in Helsingborg. Es dauert eine knappe Stunde. Dann muss ich noch den Wagen abgeben. Soll ich auf dem Heimweg irgendetwas einkaufen?«

»Nein, ich glaube, wir haben alles, was wir brauchen.«

»Okay«, sagte ich. »Bis dann. Mach’s gut.«

»Ebenfalls«, erwiderte sie, dann legten wir auf.

Ich blieb mit dem Handy in der Hand sitzen und schaute über die Straße. Zwei Frauen mit Rock, Sandalen und Taschen aus einem leichten Stoff kamen den Gehweg entlang. Dahinter ein Mann auf einem Fahrrad, in seinem Rücken ein Kind im Kindersitz. Beide trugen einen Helm. Der Mann mit Brille und Anzug. Ich dachte an Heidi und lächelte. Immer wollte sie getragen werden. Wenn es nach ihr ginge, wäre sie niemals auch nur einen Meter gegangen, sondern würde immer getragen werden. So war sie seit Anfang an. Ich war ihr so nah gewesen, damals, als sie auf die Welt gekommen war. Vanja war eifersüchtig und klammerte sich, so oft sie konnte, an Linda, und ich trug Heidi. Bis sie anderthalb Jahre alt war und John auf die Welt kam. Da endete diese Nähe, die wir zueinander hatten. Manchmal war ich deshalb ein wenig traurig. Aber so war das mit Kindern, alles vollzog sich in bestimmten Zeiträumen, und diese Perioden waren irgendwann zu Ende. Bald waren sie erwachsen, und diejenigen, die sie als Kinder waren und die ich geliebt hatte, würden fort sein. Ja, wenn ich Fotos sah, auf denen sie nicht älter als ein Jahr waren, wurde ich manchmal traurig, weil es die, die sie damals gewesen waren, schon jetzt nicht mehr gab. Normalerweise waren sie allerdings so präsent und wirbelten unsere Tage mit einer so großen Intensität durcheinander, dass es für derartige Gefühle keinen Platz gab. Mit ihnen spielte sich alles im Hier und Jetzt ab.

Eine Stunde später warf ich erleichtert den Autoschlüssel in den Briefschlitz von Europcar; dass sowohl ich als auch das Auto einen langen Tag auf der Straße unbeschadet überstanden hatten, war keine Selbstverständlichkeit. Die Sonne schien auf die hohe schwarze Turmspitze der St. Petri-Kirche über mir, während die Straße darunter schattig und kühl war. Ich beeilte mich, denn wie immer hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich die Familie allein gelassen hatte, das heißt, dass Linda allein mit den Kindern war. Es lag mir im Blut. Ich folgte der Straße bis zur Hansagalerie und ging am HiFi-Club und Orvars Hot-Dog-Stand vorbei, überquerte die Straße, lief durch den kleinen Park zum Kanal, ließ Granit und den Designtorget hinter mir und kam über die Brücke in die Fußgängerzone, an deren Ende sich das gelbweiße Hilton-Hotel auftürmte. Es waren viele Leute unterwegs, beide Straßencafés waren voll, junge Mädchen saßen dort zu zweit oder zu dritt und plauderten, ein paar Jungs im Teenageralter prahlten, außerdem gab es noch ein paar Männer in meinem Alter, die in ihrer Körpersprache und ihrer Kleidung allerdings vorsichtiger waren. Alle genossen diesen unerwarteten Sommertag. Ich war gleichzeitig ruhig und aufgedreht; ein gutes Gefühl, doch direkt darunter lauerte die Angst.

Unsere Wohnung lag an dem Platz gegenüber vom Hilton-Hotel. Ein steter Strom von Menschen ging vom frühen Morgen bis zum späten Abend an unserer Haustür vorbei, die von einem Søstrene Grene-Laden und einem chinesischen Schnellimbiss eingerahmt wurde. Auf dem Platz standen ein Springbrunnen, dessen rieselndes Geräusch wir die ganze Nacht über hörten, und ein großer achteckiger Imbiss, der für seine Kunden schmalzige Songs und Hits aus den Achtzigern spielte, meist für Leute von außerhalb, die mit einer enormen Zahl von Einkaufstüten zu ihren Füßen an den Tischen saßen und sich mit Würstchen und Hamburgern vollstopften. Ein Stück weiter saßen die Obdachlosen auf den Bänken. Unsere Wohnung lag im obersten Stock des Gebäudes, in der siebten Etage, über die gesamte Vorderseite zog sich ein Balkon. Einmal hatte Vanja ein Feuerzeug hinuntergeworfen, es fiel direkt neben einem Paar auf den Boden und explodierte. Sie sprangen zur Seite und blickten hinauf, und ich versuchte, beschwichtigend zu winken, war ein Versehen, nicht böse werden …

Ich sah hinauf zum Geländer und holte meinen Schlüsselbund aus der Tasche, damit war auch eine andere Erinnerung verbunden, denn daran befand sich ein in Kunststoff eingeschweißtes Foto von Vanja und mir; wir stehen auf einem Schiff und sehen uns Delphine an. Es stammte von den Kanarischen Inseln, sie war drei Jahre alt und hielt meine Hand, sie trug einen weißen Hut auf dem Kopf und hatte einen gespannten Gesichtsausdruck. Ich zog die orangefarbene Schlüsselkarte über die Platte neben der Tür, es ertönte ein Klicken, ich schob die Tür auf und trat in den Hausflur, drückte auf den Aufzugknopf und checkte mein Handy, während ich auf den Aufzug wartete. Niemand hatte angerufen. Ich hätte es mir denken können. Die Einzigen, die auf die Idee kamen, mich auf dem Handy anzurufen, waren Yngve, Mutter, Tore, Espen und Geir Angell. Sie alle hatten ihren eigenen Rhythmus, niemand rief um diese Zeit an. Mit Yngve und Mutter redete ich ungefähr einmal in der Woche, mit Mutter meist am Sonntagabend. Mit Espen telefonierte ich ungefähr jede zweite Woche, mit Tore vielleicht einmal pro Monat. Mit Geir A. redete ich ein paar Mal am Tag. Das war im Grunde mein gesamtes soziales Leben außerhalb der Familie. Aber es genügte, es war genau so, wie ich es wollte.

Der Aufzug kam, ich betrat ihn, drückte den obersten Knopf und betrachtete mich selbst im Spiegel, während ich langsam den schmalen, dunklen Schacht in der Mitte des Hauses nach oben glitt. Mein Haar war in diesem Sommer lang geworden, und ich hatte mir eine Art Bart stehen lassen. Mein Bartwuchs war nicht sonderlich stark, auf den Wangen wuchs beinahe nichts, so dass ich mich jedes Mal, wenn ich in den Spiegel blickte, fragte, ob es dumm aussah oder nicht. Es war schwierig, ja, eigentlich unmöglich zu entscheiden, denn es gab keinerlei Kriterien, nach denen ich mich hätte richten können. Fragte ich Linda, sagte sie natürlich, dass es gut aussähe. Meinte sie es ernst? Oh, unmöglich zu sagen. Und natürlich konnte ich niemanden sonst etwas so Intimes und Selbstbezogenes fragen. Ein paar Wochen vorher hatte ich ihn mir daher abrasiert. Als ich am nächsten Tag in den Kindergarten gekommen war, hatte mich Ola, der einzige Gleichaltrige dort, der Vater von Benjamin, Vanjas derzeit bestem Freund, und Dekan der Universität von Malmö, gesehen und gefragt, ob sich an mir etwas verändert hätte? Hatte ich nicht etwas im Gesicht gehabt? Er war ironisch gemeint, er wollte es nicht Bart nennen, und ich dachte, es war richtig, ihn abzunehmen. Doch dann hatte ich am Freitag einige Fotos entwickelt, die wir im Sommer gemacht hatten. Ich saß mit Vanja, Heidi und John im Café im Einkaufszentrum Triangeln, dorthin gingen wir jeden Freitag nach dem Kindergarten, die Kinder bekamen ein Eis, und ich trank Kaffee; an diesem Nachmittag zeigte ich ihnen einen Haufen Fotos. Auf einem davon stand ich am Strand in Österlen und hatte John auf dem Arm. Ich sah ungewöhnlich gut aus, fand ich, der Bart und die Sonnenbrille machten mich … ja, so maskulin. Noch dazu mit John auf dem Arm, ich sah aus wie … ja, verdammt, wie ein Vater.

In dem Moment entschied ich mich, den Bart wieder wachsen zu lassen. Aber jetzt, auf dem Weg nach oben in die Wohnung, wurde ich wieder unsicher. Am nächsten Tag sollte ich nach Oslo fliegen, um Interviews zum Erscheinen des ersten Romans zu geben. Ich musste an Hemden, Jacketts, Hosen, Schuhe, Frisuren und natürlich auch den Bart denken. In den letzten Jahren hatte mich das alles nicht interessiert, ich hatte nie über meine Kleidung nachgedacht, mir nur irgendetwas angezogen, wenn ich das Haus verließ, was im Großen und Ganzen nur passierte, wenn ich die Kinder in den Kindergarten brachte und abholte, oder wenn wir mit ihnen am Wochenende in eine Stadt fuhren, wo ich lediglich eine Handvoll Menschen kannte und mich nicht sonderlich interessierte, was sie über mich dachten. Es bedeutete eine gewisse Freiheit, in alten, weiten Hosen und großen, dreckigen Jacken, hässlichen Kopfbedeckungen und Turnschuhen herumzulaufen, aber jetzt, gegen Ende des Sommers, als das Erscheinen des Buches näherrückte und die ersten Interviewtermine seit fünf Jahren auf mich warteten, änderte sich das.

Ich drehte mich automatisch um, als der Aufzug die siebte Etage erreichte, nach drei Jahren wusste ich genau, wie lange er zum Hochfahren brauchte, trat auf den Flur, in dem all unsere Kindersachen standen, zwei Kinderwagen, ein Geschwister-Standbrett, Vanjas Tretroller und Heidis Laufrad, und schloss die Tür unserer Wohnung auf.

Jacken und Schuhe auf dem Boden, überall Spielzeug, Fernsehgeräusche aus dem Wohnzimmer.

Ich zog die Jacke aus und ging hinein. Heidi und Vanja saßen nebeneinander auf einem Stuhl und starrten auf den Bildschirm. John stand nur mit seiner Windel bekleidet auf dem Boden, einen kleinen Wagen in den Händen, und schaute zu mir hoch. Linda saß auf dem Sofa und las Zeitung.

Der Teppich war zusammengerollt, im ganzen Wohnzimmer lagen Stofftiere und eine Unmenge Bücher, Plastikspielzeug, Filzstifte und lose Blätter herum, auf denen sie gemalt hatten.

»Lief’s gut?«, fragte sie.

»Ja, schon«, sagte ich. »Fast hätte ich etwas angefahren, als ich getankt habe. Du weißt schon, in dem engen Keller. Aber es ging gut. Ich soll dich von Thomas und Marie grüßen.«

»Hast du ihnen mein Manuskript gegeben?«

Ich nickte.

»Wie geht’s euch, Mädchen?«, sagte ich.

Keine Reaktion. Reglos sahen sie mit ihren blonden Köpfen fern. Auf einem Stuhl. Mit anderen Worten, heute Abend waren sie Freundinnen.

Ich lächelte, sie hielten sich sogar an den Händen.

»Papa Keller?«, fragte John.

»Nein«, sagte ich. »Papa ist heute Auto gefahren.«

»Papa im Keller!«, sagte er.

»Hast du Hunger?«, erkundigte sich Linda. »Es ist noch ein bisschen vom Mittagessen übrig.«

»Okay«, sagte ich und ging in die Küche. Ihre Teller standen noch auf dem Tisch, die von den Mädchen waren noch fast voll, sie aßen mittags so gut wie nichts, hatten es nie getan. Anfangs gab es zwischen Linda und mir deshalb Diskussionen, ich wollte Disziplin, wenn es um die Mahlzeiten ging, sie sollten am Tisch sitzen bleiben, bis sie aufgegessen hatten, aber Linda war da vollkommen anderer Meinung, alles, was mit Essen zu tun hatte, sollte so frei und ungezwungen wie möglich sein. Ich sagte mir damals, sie hat Recht, es hörte sich ja auch schrecklich an, Essen und Zwang miteinander zu verbinden, also hatten wir die Kinder in all den Jahren machen lassen, was sie wollten. Wenn wir vom Kindergarten nach Hause kamen und sie schrien, dass sie Hunger hätten, bekamen sie eine Scheibe Brot, einen Apfel, ein paar Frikadellen oder auf was sie sonst Appetit hatten, und wenn das Essen fertig war und auf dem Tisch stand, durften sie so kurz oder lange sitzen bleiben, wie sie wollten. Meist waren es nur einige Minuten, in denen sie ein bisschen in sich hineinschlangen, bis sie vom Stuhl rutschten und im Wohnzimmer oder in ihrem Zimmer verschwanden, während ich und Linda allein weiteraßen.

Ich füllte einen Teller mit Makkaroni und Köttbullar, dem schwedischen Nationalgericht, schnitt eine Tomate in Scheiben, goss etwas Ketchup darüber und setzte mich. Das erste Jahr in Malmö hatte ich mit einem der anderen Kindergartenväter darüber geredet. Wie hielten sie es bei ihrer Tochter mit dem Mittagessen? Nein, bei ihnen gäbe es keine Probleme, sagte er. Ihre Tochter würde am Tisch sitzen und ihr Essen aufessen. Wie um alles in der Welt habt ihr das geschafft?, wollte ich wissen, während ich neben ihm herradelte, wir waren wie jeden Sonntag auf dem Weg zum Sportplatz, um Fußball zu spielen. Sie weiß, dass sie aufzuessen hat, sagte er. Wieso weiß sie das?, fragte ich. Wir haben ihren Willen gebrochen, sagte er. Sie muss sitzen bleiben, bis sie aufgegessen hat, egal wie lange es dauert. Einmal hat sie bis zum späten Abend dagesessen. Sie hat geheult und gebrüllt, sie wollte absolut nicht essen. Schließlich hat sie es aber begriffen, aß auf und durfte den Tisch verlassen. Ich glaube, sie hat drei Stunden dort gesessen! Danach gab es so gut wie keine Probleme mehr. Er sah mich an und lächelte. Weiß er eigentlich, was er da gerade über sich erzählt?, dachte ich, sagte aber nichts. Es ist genau wie bei einem Wutanfall, fügte er hinzu. Ich habe bemerkt, dass du hin und wieder ein paar Probleme mit Vanja hast. Ja, gab ich zu, und was machst du in solchen Situationen? Ich halte sie fest, antwortete er. Nicht auf irgendeine dramatische Art und Weise. Ich halte sie nur fest, bis es vorbei ist, egal wie lange es dauert. Das solltest du auch machen, es ist effektiv. Ja, sagte ich, irgendetwas muss ich mir jedenfalls einfallen lassen.

Das Merkwürdige an diesem Gespräch war, dachte ich jetzt, als ich mir die lauwarme Mahlzeit in den Mund schob, dass ich sie – also die beiden Eltern – für Alternative gehalten hatte, das heißt, für ziemlich locker. Er trug seinen Jüngsten in einem Tragetuch, und in einem Zeltlager des Kindergartens hatte ich gehört, wie er über die Vorteile des Tuchs gegenüber den Tragesitzen von BabyBjörn sprach. Sie legten überdurchschnittlich viel Wert darauf, dass das Essen gesund und frei von Zusatzstoffen war und die Kleidung der Kinder so weit wie möglich aus natürlichen Materialien bestand. Auch bei den Elternabenden im Kindergarten gehörten sie zu den Aktivsten. Dass ausgerechnet bei ihnen kompromisslose Erziehungsmethoden des 19. Jahrhunderts praktiziert wurden, überraschte mich. Oder vielleicht vervollständigte es auch nur mein Bild, denn ich hatte mich immer gefragt, warum ihre älteste Tochter, die oft mit Vanja spielte, so fügsam war. Nie saß sie im Kinderwagen, stets ging sie dorthin, wo sie hingehen sollte, im Gegensatz zu Vanja, die es fertigbrachte, nur wenige Meter vor der Tür zum Kindergarten darum zu betteln, hinter Heidi im Kinderwagen sitzen zu dürfen.

Hin und wieder hatte auch ich überlegt, ihren Willen zu brechen, aber letzten Endes konnte ich mich natürlich nie wirklich dazu durchringen, und hinterher fühlte ich mich jedes Mal miserabel. Denn es war falsch. Andererseits war es gut für sie, mit uns zusammen zu essen, es war gut für sie zu laufen, es war gut für sie, sich anzuziehen, es war gut für sie, sich die Zähne zu putzen und rechtzeitig ins Bett zu gehen.

Einmal war Vanja bei ihnen zu Besuch gewesen, zum ersten Mal überhaupt sollte sie woanders übernachten. Als ich sie am nächsten Morgen abholte, hieß es, alles sei gut gelaufen, aber an Vanja, die sich ganz nah an mich drängte, spürte ich, dass es nicht so einfach gewesen war. Er sagte, es hätte ein kleines Problem gegeben, aber das hätten sie klären können, nicht wahr, Vanja? Was ist denn passiert?, wollte ich wissen. Tja, sie wollte noch mehr essen, und als wir es ihr gegeben hatten, wollte sie es doch nicht haben. Da musste sie sitzen bleiben, bis sie aufgegessen hatte.

Ich sah ihn an.

War er verrückt?

Nein, er begann, für mich nach ihren Socken zu suchen, und obwohl ich wütend war, sagte ich nichts. Was bildete er sich eigentlich ein, glaubte er, dass er das Recht hätte, mein Kind zu zwingen, seinen fixen Ideen zu gehorchen? Ich nahm die Socken und zog sie Vanja an, die mir erst den einen, dann den anderen Fuß hinstreckte, reichte ihr die Jacke und hoffte inständig, dass sie sie selbst anziehen würde, damit ich es nicht unter seinem kritischen Blick tun müsste.

Linda wurde böse, als ich ihr die Geschichte erzählte. Ich hatte mich inzwischen wieder gefasst und meinte, so schlimm sei es doch nicht, es wäre gar nicht schlecht, wenn sie auch mal erlebte, dass es in anderen Familien andere Regeln gebe.

»Darum geht es nicht«, erwiderte Linda. »Es ist auch eine Form der Kritik, oder? Oh, wie mich das ärgert. Diese beiden. Du solltest sie mal hören, wie selbstzufrieden sie sind. Es ist absolut unglaublich.«

»Sie haben Vanja übrigens zum Waldlauf eingeladen«, sagte ich. »Am nächsten Wochenende im Pildammspark.«

Auf derartige Aktivitäten wären wir selbst nie gekommen. Für Vanja war es eine große Sache. Sie durfte sich mit einer Nummer auf der Brust hinter einer Startlinie aufstellen und zusammen mit einer Gruppe anderer Kinder einen Waldweg entlanglaufen. Wenn sie die Ziellinie überquerte, sollte sie eine Medaille und ein Eis bekommen.

Ich begleitete sie zusammen mit ihrer Kindergartenfreundin und deren Mutter zum Start, während Linda am Ziel auf Heidi aufpasste. Vanja war stolz auf ihre Nummer, und als der Starter los! rief, rannte sie so schnell, wie es ihre kleinen Beine zuließen. Ich trabte unter den Bäumen langsam neben ihr her, inmitten einer Schar anderer Kinder und Eltern. Doch nach vielleicht hundert Metern wurde sie immer langsamer, um dann ganz stehen zu bleiben. Ich bin müde, sagte sie. Die Freundin und ihre Mutter waren uns natürlich schon weit voraus. Sie blieben stehen, drehten sich um und warteten. Komm schon, Vanja, sagte ich. Sie warten auf uns! Wir laufen! Und wir liefen weiter, Vanja in ihrem schwankenden, ich in meinem trottenden, elchartigen Laufstil, wir holten sie ein und liefen ein Stück nebeneinander, bis die Freundin und ihre Mutter wieder schneller waren und wir erneut weit zurücklagen. Vanjas Freundin rannte wie der Wind. Vanja schnaufte an meiner Seite und blieb stehen. Können wir nicht ein bisschen gehen, Papa?, fragte sie. Ja, sicher, sagte ich, ein bisschen. Wieder warteten sie geduldig, bis wir sie erreicht hatten, dann liefen wir vielleicht hundert Meter zusammen, bis der alte Abstand wieder hergestellt war. Komm schon, Vanja, sagte ich. Es ist nicht mehr weit. Du schaffst das! Und Vanja biss die Zähne zusammen und lief weiter, möglicherweise bekam sie neue Kraft, weil die Ziellinie schon zu sehen war und sie wusste, dass ein Eis wartete. Ihre Freundin war ungefähr zwanzig Meter vor uns und lief leicht und elegant; wären wir nicht gewesen, hätte sie das Ziel längst erreicht gehabt. Sie blieb stehen und winkte Vanja, doch als sie sich wieder umdrehte, stolperte sie. Sie fiel der Länge nach hin, fasste sich sofort ans Knie und weinte. Ihre Mutter beugte sich über sie. Wir kamen näher. Als wir fast neben ihnen waren, wollte Vanja stehen bleiben. Komm schon, Vanja!, sagte ich. Du bist gleich im Ziel! Lauf, so schnell du kannst! Und Vanja hörte auf mich und lief so schnell sie konnte an ihrer Freundin vorbei, die am Knie blutete, mit mir an ihrer Seite ließ Vanja ein Kind nach dem anderen hinter sich, rannte, blitzschnell, ins Ziel!

Hinter uns stand ihre Freundin auf und humpelte auf uns zu. Ein Helfer legte Vanja eine Medaille um den Hals, ein anderer gab ihr ein Eis. Ich habe gewonnen, Mama!, rief sie Linda zu, die lächelnd mit dem Kinderwagen und Heidi auf uns zukam. Erst jetzt begriff ich, was ich getan hatte, und errötete wie noch nie zuvor in meinem Leben. Wir waren an ihr vorbeigelaufen! Um als Erste ins Ziel zu kommen! Und das kleine Mädchen, das ständig stehen geblieben war und auf uns gewartet hatte, lag blutend auf der Erde!

Sie bekam auch eine Medaille und ein Eis und lächelte glücklicherweise schon wieder. Ihr Vater kam auf uns zu.

»Sah aus, als hättest du wirklich gewinnen wollen!«, sagte er lachend.

Wieder errötete ich, denn offensichtlich hatte er nicht gemerkt, dass es tatsächlich so war. Selbst in seinen wildesten Phantasien konnte er sich wohl nicht vorstellen, dass ein erwachsener Mensch sich so verhalten mochte. Er lachte, gerade weil es undenkbar war, dass ich meine Tochter angespornt haben sollte, seine Tochter zu besiegen, und das mit Hilfe unsportlicher Mittel. Sie waren damals ja nicht einmal vier Jahre alt.

Ihre Mutter kam und sagte dasselbe, es hätte tatsächlich so ausgesehen, als hätte ich gewinnen wollen. Beide gingen davon aus, dass es wohl Vanjas Idee gewesen war und ich sie nicht hatte aufhalten können. Sie konnten verstehen, dass eine Vierjährige keine Empathie mit einer Freundin empfand. Aber dass ein bald vierzig Jahre alter Mann sich ebenso verhielt, lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens.

Ich glühte vor Scham, während ich höflich lachte.

Auf dem Heimweg erzählte ich Linda, was geschehen war. Sie lachte, wie sie seit Monaten nicht mehr gelacht hatte.

»Jedenfalls haben wir gewonnen«, sagte ich.

Seit diesem Tag waren zwei Jahre vergangen. John war damals erst einen Monat alt gewesen, Heidi fast zwei und Vanja dreieinhalb. Ich erinnere mich auch deshalb so gut daran, weil wir an diesem Tag viele Fotos gemacht hatten. John mit seinem großen Babykopf und den schmalen, knittrigen Babyaugen, wie er mit seinen dünnen nackten Beinen in seinem Wagen strampelt und mit seinen dünnen nackten Armen wedelt, Heidi mit ihren großen Augen, dem kurzen Körper und den blonden Haaren, Vanja mit ihren kleinen, reinen Gesichtszügen und dieser besonderen Wesensmischung aus Empfindsamkeit und Eifer. Damals wie heute begreife ich die Verbindung zwischen ihnen und mir nicht, hauptsächlich sah ich in ihnen drei kleine Menschen, mit denen ich die Wohnung und das Leben teilte.

Was sie noch besaßen und ich verloren hatte, war ein großer, leuchtender, selbstverständlicher Platz in ihrem eigenen Leben. Ich dachte oft daran, wie sie jeden Tag in sich selbst und ihrer Welt erwachten und darin den ganzen Tag lebten, alles hinnahmen, wie es kam, ohne jemals irgendetwas in Frage zu stellen. Als wir Vanja erwarteten, hatte ich Sorge, dass meine Schwermut auf sie abfärben könnte, irgendwann erwähnte ich es auch einmal Yngve gegenüber, der erwiderte, dass Kinder zunächst einmal glücklich seien. Und dann stellte sich heraus, dass es tatsächlich so war, immer suchten sie die Freude, und solange es keine Komplikationen gab, waren sie stets fröhlich und voller Begeisterung. Selbst wenn es ihnen nicht so gut ging und sie aus irgendeinem Grund traurig, verzweifelt oder wütend waren, blieben sie immer sie selbst, es war, wie es war, und sie akzeptierten es. Irgendwann einmal würden sie zurückblicken und sich die gleichen Fragen stellen wie ich, warum war es so, wie es war, warum ist es jetzt so, wie es ist, und was ist eigentlich der Sinn meines Lebens?

Oh, meine Kinder, meine geliebten Kinder, hoffentlich kommen euch diese Gedanken nie! Möget ihr immer glücklich in euch selbst ruhen!

Aber so wird es nicht bleiben. Alle Generationen leben ihr Leben, als wären sie die Ersten, sammeln ihre Erfahrungen und durchleben die verschiedenen Altersstufen, und während die Einsicht auf diesem Weg wächst, verliert sich der Sinn des Lebens, und wenn er nicht schwindet, verliert er zumindest seine Selbstverständlichkeit. So ist es. Die Frage stellt sich, ob es schon immer so war. Im Alten Testament, in dem alles durch Handlung ausgedrückt wird und die Geschichten eng mit der physischen Wirklichkeit verknüpft sind, und in den alten griechischen Sagen, in denen die Leben sich auf eine ähnlich konkrete Weise entfalten, kommt der Zweifel niemals von innen, als eine Bedingung der eigenen Existenz, sondern immer von außen, durch einen Vorfall, zum Beispiel einen plötzlichen Tod, der mit den Bedingungen der äußerlichen, irdischen Welt verknüpft ist. Im Neuen Testament ist das anders. Wie sonst ließe sich die Dunkelheit in Jesus’ Seele erklären, die ihn schließlich nach Jerusalem treibt, um dort Tür um Tür zu schließen, bis ihm nur noch die letzte und einfachste bleibt? Seine letzten Tage lassen sich so lesen, dass er in gewisser Weise sämtliche Wahlmöglichkeiten eliminierte, bis er selbst nicht mehr die Verantwortung für das Geschehen trug, den langsamen Tod am Kreuz, sondern fast durch den Willen anderer dorthin geführt wurde. Den gleichen Vorgang sieht man bei Hamlet, auch seine Seele verdüstert sich, auch er geht seinem Untergang offenen Auges entgegen, auf eine Weise, die schicksalsgesteuert und unabänderlich wirkt. Für König Ödipus ist es Schicksal, er weiß wirklich nichts, aber bei Hamlet und Jesus geht es um eine Entscheidung, die sie treffen, und eine Richtung, die sie einschlagen. Ödipus ist blind. Hamlet und Jesus schauen mit offenen Augen in die Finsternis.

Ich stand auf, spülte den Teller ab und stellte ihn in die Spülmaschine. Wir hatten sie von dem bereits erwähnten Elternpaar übernommen, sie waren umgezogen und brauchten die Maschine nicht mehr. Sie hatten uns überhaupt viel geholfen. Hatten wir uns erkenntlich gezeigt?

Nicht sonderlich. Ich hatte beiden geduldig zugehört, hatte Fragen gestellt und viel getan, um an ihren Geschichten Interesse zu zeigen. Ich hatte ihn sonntags zum Fußball eingeladen. Und außerdem hatte ich ihm ein Exemplar meines letzten Romans mit Widmung geschenkt. Zwei Tage später erzählte er mir allerdings, dass er das Buch einem Onkel gegeben hätte, »den Bücher interessieren«. Aber das war doch für dich persönlich, Mann!, dachte ich, ohne etwas zu sagen; wenn er es nicht von sich aus kapierte, konnte ich es ihm auch nicht erklären.

So war es, Kinder zu haben, man kam mit Menschen zusammen, die einem zutiefst fremd waren, ja, denen man hin und wieder vollkommen verständnislos gegenüberstand. Einmal erzählte er, dass er und seine Frau sich abends gern unterhielten, er sagte es auf eine Weise, als sei es etwas Außerordentliches und beinahe Spektakuläres. Danach schlug ich Linda häufig vor, uns zu unterhalten. Es wurde zu einem gemeinsamen Witz. Vermutlich machten sie ähnliche Witze über uns. Trotzdem sahen wir uns auch weiterhin, bis sie umzogen, vor allem ich begegnete ihm häufig; nicht wenige Nachmittage verbrachte ich mit ihm auf dem Spielplatz und hörte mir all seine Ideen an, wie die Welt und ihre Bestandteile zusammenhingen, während unsere Kinder zusammen spielten.

Einmal blätterte er in dem Buch eines gewissen Wolfram. Es handelte von einem bestimmten wiederkehrenden Muster in allen Dingen, von Blättern bis hin zu Fluss-Deltas und verschiedenen statistischen Kurven. Meine erste Assoziation war Thomas Browne und seine Abhandlung über die Quincunx-Figur im 17. Jahrhundert, also das Muster der fünf Punkte auf Würfeln und ihr Vorkommen in der Natur, dann fiel mir etwas ein, das ich gerade in dem Buch gelesen hatte, das Geir Angell damals schrieb, wonach alle komplizierten Systeme – Gesellschaft, Aktienmärkte, Wetterphänomene oder Autoverkehr – früher oder später durch die Instabilität zusammenbrechen, die von den Systemen selbst erzeugt wird. Mich hatte es verblüfft, weil die Muster, die diese Zusammenbrüche verursachen, in den von Menschen geschaffenen Systemen identisch sind mit den Systemen, die in der Natur entstehen. Der Himmel war blau und so offen, wie er nur am Meer sein kann, und obwohl die Sonne tief stand, war die Luft noch immer warm. Der Sandspielplatz mit den, typisch für Schweden, sorgfältig ausgesuchten Spielgeräten war umgeben von einer Fläche aus festgetretenem Kies, außerdem gab es in der Mitte einen breiten, aber flachen Teich, in den die Kinder ständig neue bunte Blätter warfen. Hinter dem Kiesplatz lag eine Rasenfläche, dahinter ein Wohngebiet. Das grüne Gras leuchtete im Sonnenlicht. Ich sagte, die Sache mit den Mustern aus verschiedenen Bereichen, die in ihrer Grundstruktur gleich sind, hört sich interessant an. Er nickte und fing an, über die Evolution zu sprechen. Er sagte, die komplizierten Organismen und komplexen Systeme, die uns umgeben, seien eigentlich ganz einfach und müssten im Licht des enormen Zeitraums verstanden werden, in denen sie sich entwickelt hätten. Eine Million Jahre, sagte er, das ist so viel Zeit, dass wir es nicht begreifen können. Stell dir nur vor, was zwanzig Millionen Jahre bedeuten. Oder sechzig Millionen. Aber die Zeit an sich ist einfach. Das Prinzip der Entwicklung ist ebenfalls einfach. Es geht um Optimierung, also, wie erreicht man das Bestmögliche? Das Effektivste? Alles in der Natur sucht danach. Wenn Eis aufbricht, folgt der Riss all den schwachen Punkten im Eis. Das Gleiche passiert, wenn Glas splittert. Die Risse folgen den schwächsten Punkten.

»Aber das passiert doch ohne irgendeinen Willen«, erwiderte ich. »Das ist doch rein mechanisch. Ein Naturgesetz.«

»Ein Gesetz?«, sagte er. »Denk nicht an Gesetze. Das stört nur den Gedanken. Wesentlich ist, dass es passiert. Ein Glas bricht dort, wo es am zerbrechlichsten ist. Ein Ast bricht dort, wo er sich am leichtesten knicken lässt. Wichtig ist die Optimierung. Blätter brauchen Sonne, ja, sie suchen nach der optimalen Möglichkeit, Sonne zu bekommen. Müssen die Zweige sie anheben, dann heben die Zweige sie an. Legst du ein Hindernis über einen Ameisenpfad, entsteht im ersten Moment Verwirrung, aber die Verwirrung ist nur vorübergehend, denn wenn du nach einer Weile zurückkommst, wirst du sehen, dass der neue Ameisenpfad den kürzesten Weg über das Hindernis nimmt. Sie optimieren. Keine Ameise weiß, dass sie dem kürzesten Weg folgt, ebenso wenig wie das Eis weiß, dass es an seinem schwächsten Punkt bricht.«

Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und schüttelte kurz den Kopf, bis seine Frisur wieder so saß, wie sie sollte. Seine Tochter hockte vor dem zwanzig Zentimeter hohen Holzzaun, der sich um den Spielplatz zog, und legte Steinchen auf die Pfosten. Die Sonne glänzte auf ihrer gelben Regenhose. Vanja kletterte auf den rotlackierten Zug aus Holz. Auf Knien drehte sie sich nach mir um. Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht, sie strich sie zurück, sie wurden ihr wieder ins Gesicht geweht. Ich winkte ihr zu und sah mich nach Heidi um. Sie saß auf einer der schmalen Bänke im Zug. Sie saß genauso da wie er, vornübergebeugt, mit einer Hand auf jedem Knie. Dieser kleine Mensch, dachte ich, die Worte, mit denen Linda sie so oft bezeichnete. Dann stand sie auf und streckte den Kopf aus dem Fenster, sie schaute den Kindern zu, die immer noch das Laub unter den Bäumen zum Teich trugen.