Der Wald und der Fluss - Karl Ove Knausgård - E-Book

Der Wald und der Fluss E-Book

Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Es gibt Menschen, die auf solche Weise bekannt sind, dass man niemals damit rechnet, ihnen zu begegnen, sie scheinen in einer anderen Welt zu existieren.

Karl Ove Knausgård ist dem Künstler Anselm Kiefer an vielen Orten auf der Welt begegnet, unter anderem in Donaueschingen, seinem Geburtsort, und in dem gigantischen Atelier Kiefers in Paris, in dem er lebt und arbeitet. Er hat mit Kiefer über seine Kunst gesprochen, getrieben vom Wunsch und dem Bemühen, zu verstehen, was diese Kunst bei uns bewirkt, wenn wir sie betrachten, und woraus sie ihre Inspiration bezieht. Wie können Bilder ohne Menschen aufgeladen sein mit dem Menschlichen? Wie kann eine leere Landschaft aufgeladen sein mit Geschichte? Wie sieht sie eigentlich aus, die Beziehung zwischen der Kunst und dem Künstler? Und wer ist Anselm Kiefer?

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Seitenzahl: 169

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BUCH

Es gibt Menschen, die auf solche Weise bekannt sind, dass man niemals damit rechnet, ihnen zu begegnen, sie scheinen in einer anderen Welt zu existieren.

Karl Ove Knausgård ist dem Künstler Anselm Kiefer an vielen Orten auf der Welt begegnet, unter anderem in Donaueschingen, seinem Geburtsort, und in dem gigantischen Atelier Kiefers in Paris, in dem er lebt und arbeitet. Er hat mit Kiefer über seine Kunst gesprochen, getrieben vom Wunsch und dem Bemühen, zu verstehen, was diese Kunst bei uns bewirkt, wenn wir sie betrachten, und woraus sie ihre Inspiration bezieht. Wie können Bilder ohne Menschen aufgeladen sein mit dem Menschlichen? Wie kann eine leere Landschaft aufgeladen sein mit Geschichte? Wie sieht sie eigentlich aus, die Beziehung zwischen der Kunst und dem Künstler? Und wer ist Anselm Kiefer?

AUTOR

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christian-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

KARLOVEKNAUSGÅRD

Der Wald und der Fluss

Über Anselm Kiefer und seine Kunst

Aus dem Norwegischen von Paul Berf

Mit Bildern von Anselm Kiefer und Fotografien von Paolo Pellegrin

Luchterhand

Die norwegische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Skogen og elva. Om Anselm Kiefer og kunsten hans« bei Forlaget Oktober, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Die Übersetzung wurde gefördert von NORLA. Der Luchterhand Verlag bedankt sich dafür.

Verwendete Literatur

Flaubert, Gustave: Drei Erzählungen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2011, S. 62.

Kiefer, Anselm: Notizbücher. Band 1. 1998–1999. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 96.

Sloterdijk, Peter: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 16.

Copyright © 2023

Luchterhand Literaturverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Aquarells von Anselm Kiefer

© Extases feminines – Margherite Porete, 2012,

photo credit GeorgesPoncet, und eines Fotos von Paolo Pellegrin

Lektorat: Regina Kammerer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27088-9V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Kurz vor Weihnachten kam ich am Nachmittag in Freiburg an. Der Himmel war grau, und die Luft über dem Kopfsteinpflaster der Straßen kalt und feucht. Auf den dunklen, bewaldeten Höhen, die gleich außerhalb des Stadtzentrums aufstiegen, lag vereinzelt Schnee. Das muss der Schwarzwald sein, dachte ich, als ich im Hotelzimmer am Fenster stand und hinaussah. Aus irgendeinem Grund hatte der Name seit jeher verlockend auf mich gewirkt. Freiburg war ein Teil dieser Romantik, die eng verbunden mit dem alten Deutschland und seinen Universitäten, Dichtern und Philosophen war, aber auch mit der mittelalterlichen Faust-Gestalt, über die Goethe und später Thomas Mann schrieben. Das Mythologische wurde nicht unbedingt geschmälert davon, dass Martin Heidegger während seiner gesamten akademischen Laufbahn an der Universität von Freiburg gelehrt hatte, denn Heidegger war zweifellos der große Philosoph des vorangegangenen Jahrhunderts. In den dreißiger Jahren war er außerdem aktiver Nationalsozialist gewesen.

Die Dämmerung, die sich langsam auf die Stadt herabsenkte, ließ die Lampen in den Gebäuden auf der anderen Straßenseite heller brennen und die Räume darin hervortreten. Sie standen wie leuchtende Regale über den Straßen.

Ich war in Freiburg, um mich mit dem Künstler Anselm Kiefer zu treffen. Er kam aus dem Schwarzwald und hatte in seiner Jugend, Ende der sechziger Jahre, an der hiesigen Universität studiert. An diesem Abend sollte ihm die Ehrendoktorwürde verliehen werden, und aus diesem Anlass würde er eine Vorlesung über sein künstlerisches Werk halten. Am nächsten Tag wollte er mich in die kleine Stadt mitnehmen, in der er aufgewachsen war, und mir das Haus zeigen, in dem er während seiner ersten Lebensjahre gewohnt hatte.

Das Universitätsgebäude lag nur ein paar Häuserblocks vom Hotel entfernt, so dass mir noch reichlich Zeit blieb. Ich duschte ausgiebig, suchte Hemd und Jackett aus der Anzugtasche heraus, zog mich an, ging hinunter und rauchte eine Zigarette auf der Straße, wo ein steter Strom von Menschen schweigend an mir vorbeiging, wahrscheinlich nach einem langen Arbeitstag auf dem Weg nach Hause, ehe ich wieder nach oben lief, mich aufs Bett legte und die Notizen durchsah, die ich mir gemacht hatte, zu dem, was ich Kiefer am nächsten Tag fragen wollte.

*

Es gibt Menschen, die auf solche Weise bekannt sind, dass man niemals damit rechnet, ihnen zu begegnen, sie scheinen in einer anderen Welt zu existieren. So ist es beispielsweise bei Schauspielern, Sängern und Politikern, und zwar überall, ihre Gesichter sind immer präsent, ganz gleich, wo wir uns aufhalten, während sie selbst stets woanders sind. Auch Künstler können diese Wirkung haben, aber auf andere Art: Bei ihnen ist es nicht das Gesicht, das bekannt ist, sondern ihr Werk, und davon ausstrahlend, ihr Name.

Ein solcher Name ist für mich seit jeher Anselm Kiefer gewesen. Ja, vielleicht mehr als jeder andere Künstler unserer Zeit, weil seine Werke so monumental sind, so aufgeladen mit Zeit, so beladen mit Geschichte, und weil das Private, Kleine und Persönliche in ihnen vollkommen abwesend sind.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal eines seiner Kunstwerke sah, erinnere mich auch nicht mehr daran, wann ich zum ersten Mal seinen Namen hörte. Als ich zum Ende meiner Kindheit hin anfing, mich für Kunst zu interessieren, gehörte Kiefer bereits zu den bedeutendsten Namen der Gegenwartskunst. Ich war so jung, dass ich seine Werke vielleicht gerade deshalb mochte – weil es gewissermaßen angesagt war –, aber eigentlich glaube ich das nicht, denn seine Kunst stand für etwas, was ich damals intuitiv begriff und wofür ich kein besseres Wort finde als: ernst. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre war fast alles ironisch, jedenfalls in den Kreisen, in denen ich verkehrte. In der Kunst ging es häufig mehr um die Art, in der sie kommunizierte, als um das, was sie kommunizierte – the medium is the message hieß es damals –, und in den dominierenden Kunstwerken jener Zeit gibt es nicht einen Hauch von Innigkeit. Man denke nur an Jeff Koons’ kitsch-pornografische Skulpturen, Damien Hirsts Installationen oder die Slogans von Barbara Kruger, wie: I shop, therefore I am oder When I hear the word culture, I take out my checkbook.

Alles wurde als Konstruktion betrachtet, auch das Authentische, und wegen eines Buchs, Films oder Kunstwerks zu weinen, bedeutete letztlich, man war getäuscht worden. Stattdessen lachten wir.

Aber es war unmöglich, vor Kiefers dunklen, glühenden Bildern von nationalsozialistischen Gebäuden in Ruinen oder seinen Bibliotheken aus Blei zu lachen. Das heißt, man hätte lachen können, aber dieses Lachen hätte hohl geklungen. Dieses Lachen hätte die Lachenden lächerlich gemacht, und nicht das, worüber sie lachten.

Nein, vor Anselm Kiefers Bildern wurde man still.

Heute, dreißig Jahre später, gehört Kiefer längst zum Kanon. Nicht selten wird er als der größte lebende Künstler der Welt bezeichnet. Sein Name ist zu einer Art Markenzeichen geworden, und als Künstler verkörpert er nicht mehr das Neue und Subversive, sondern ist Bestandteil des Establishments. Es gibt Fotos von ihm zusammen mit der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin und dem französischen Präsidenten, und man findet seinen Namen auf einer Liste der tausend reichsten Deutschen. Wenn jemand sich dieser Tage von seiner Kunst provoziert fühlte, dürfte es am Preis liegen. Und man muss nicht lange suchen, um kritische Stimmen zu finden, es gibt genügend, die erklären, seine Kunst sei gigantomanisch, sie bestehe aus großen Gesten und wenig anderem, sie sei hohl und leer und vielleicht gar keine Kunst, sondern Kitsch? Und warum kehre er nur ständig zu den gleichen Motiven und Elementen und Symbolen zurück? Ist das, was er macht, Kunst oder Reproduktion?

Doch auch wenn sein Name im Laufe der Jahre seine Bedeutung verändert hat und obgleich seine Kunst unterschiedlich bewertet wird, geschieht angesichts seiner Bilder heute das Gleiche wie vor dreißig Jahren: Vor ihnen wird man still.

Zuletzt hatte ich das 2014 bei der großen Retrospektive seiner Arbeit in London erlebt. Natürlich war ich nicht direkt skeptisch gewesen, dennoch existierte die Kritik an ihm wie eine Art unklares Murmeln in mir, und deshalb besuchte ich die Ausstellung ohne große Erwartungen. Sie begann bereits auf dem Platz vor dem Museum, wo eine Reihe rostiger U-Boote symmetrisch in einer riesigen gläsernen Vitrine hingen. Diese U-Boote waren schön und unheilverkündend, sie glichen Haien, waren aber unterseeische Kriegsschiffe; sie glichen unterseeischen Kriegsschiffen, waren aber Kunst. Und das Kunstwerk war umgeben von Leben, denn die Sonne schien und die Leute saßen ringsherum auf Bänken, und unablässig bewegte sich ein gleichmäßiger Strom von Menschen durch die großen Museumstüren hinein oder heraus, aber diese einfache Konstruktion besaß eine unterwasserartige Stille, die alles um sie herum zum Verstummen brachte. Und in dieser Stille trat die pure Antriebskraft ebenso deutlich hervor, als wäre sie in einem Labor isoliert worden. Diese Kraft lässt sich wiedererkennen, aber nicht beschreiben, sie existiert nur als Wahrnehmung. Was die Maschine antreibt, aber auch, was die Menschen dazu antreibt, die Maschine herzustellen, was den Hai antreibt, was den Krieg antreibt, was das Leben antreibt, all das machte die Installation auf dem Vorhof des Museums plötzlich sichtbar.

In den großen Sälen im Gebäude war sein gesamtes Lebenswerk versammelt, vom Durchbruch Ende der sechziger Jahre mit der Serie Besetzungen, für die ein junger Anselm Kiefer die Länder bereiste, die das Deutsche Reich während des Zweiten Weltkriegs besetzt hatte, um sich dort in Uniform zu fotografieren, während er den Hitlergruß machte, über die gigantischen Gemälde von Ruinen in den achtziger Jahren – ebenso existentiell wie politisch aufgeladen –, bis zu den intensiven, elektrolysebehandelten Gemälden von goldenem Stroh unter dunklen Himmeln, die er Anfang der 2010er Jahre produzierte. Viele dieser Bilder wiesen die gleichen Elemente auf, es kam einem so vor, als würden sie durch die Räume und die sechs Jahrzehnte hindurch, die sie abdeckten, auftauchen und wieder verschwinden, auftauchen und wieder verschwinden. Schlangen, Baumstämme, blutbefleckte Schneelandschaften, Wälder, Wiesen, winterlich leere Äcker, Feuer, Meer. Paletten, U-Boote, Flugzeuge, goldene Kornfelder, schwarze Sonnenblumen, wackelige Türme, riesige Vogelschwingen, Asche, Steine.

Am bemerkenswertesten war gleichwohl die Abwesenheit von Menschen. Und dass all diese Räume und Landschaften trotzdem randvoll mit dem Menschlichen aufgeladen waren. Vielleicht, so dachte ich, als ich herumging und mir alles ansah, ist das ja Kiefers Grundthema: die Art, wie wir die Welt aufladen.

Wie konnte eine leere Landschaft mit Geschichte aufgeladen sein?

Was war Geschichte?

Lange stand ich vor einem der größten Gemälde der Ausstellung. Es hieß Aschenblume und war dem Dichter Paul Celan gewidmet. Es war gigantisch, annähernd acht Meter breit und vier Meter hoch, und es war schlicht, es zeigte ein teilweise schneebedecktes Feld unter einem grauschwarzen Himmel. Mehrere große, schwarz verbrannte Bücher aus Blei waren an der Leinwand befestigt, und unten waren entlang der rechten Seite einige Wörter gekritzelt, die offenbar aus einem Gedicht Celans stammten.

Das Bild ließ sich auf vielfältige Weise verstehen, aber als ich es dort betrachtete, spielten Interpretationen keine Rolle. Da ging es nur um die Gefühle, mit denen es mich erfüllte. Es erschien mir nicht so, als sähe ich ein Bild vor mir, es war vielmehr, als würde das Bild mich umschließen und mit seiner Stimmung ausfüllen, der ich mich unmöglich erwehren konnte.

Den anderen Besuchern, die den Raum betraten und sich vor das Bild stellten, schien es genauso zu gehen, denn sie wurden alle still, als wären sie plötzlich an einen anderen Ort, in ihrem Inneren, versetzt worden.

Wir befanden uns mitten in einer Millionenstadt, ihre Geräusche wirbelten mahlstromartig Tag und Nacht, Autos hupten, Motorräder heulten auf, Metall ertönte, Menschen riefen, Sirenen erschallten, an- und abschwellend, unter dem Himmel, doch vor diesem Bild hörte das alles auf, es schien die Welt beiseitezuschieben und seine eigene zu erschaffen. Darin lag eine große Kraft. Es war die Kraft der Kunst, das, was sie zu leisten vermochte. Etwas anderes gegenwärtig werden zu lassen.

Was ließ dieses Bild gegenwärtig werden?

Das Gefühl, die Welt zu sehen, wie sie ohne andere ist. Das Gefühl, die Existenz an sich zu sehen. Das Gefühl, die Welt zu sehen, wenn man selbst nicht mehr in ihr ist.

Aber auch den Holocaust.

Als stimmten Kiefers Bilder die Zuschauer auf einen Ernst ein, den wir alle kennen, aber nur selten zum Zug kommen lassen, einen Ernst, der manchmal von Feierlichkeit geprägt ist, bei anderen Gelegenheiten aber fürchterlich ist.

Wer er war, er, der Anselm Kiefer hieß und diese Bilder gemalt hatte, war einfach keine relevante Frage. Der Name war nur ein Emblem, ein Ort, von dem die Bilder kamen, er repräsentierte keine Person mit individuellen Eigenschaften, niemanden, den man vor sich sah, in Shorts hinter dem Rasenmäher an einem Nachmittag im Sommer, oder in einer Raststätte an der Autobahn sitzend und ein Würstchen mit Kartoffelsalat essend und eine Cola trinkend, umgeben von quengelnden Kindern, unterwegs zu einem Vergnügungspark irgendwo in Europa.

Doch gegen Ende der Ausstellung, im letzten Raum vor dem Ausgang, lagen in einigen Schaukästen Bücher, und auf den aufgeschlagenen Seiten sah man Aquarelle, dargestellt waren verschiedene Frauen in ekstatischen Posen, Gewässer und Gebäude. Alles war klar und schön, und die Bilder waren mit unglaublich leichter und sicherer Hand gemalt, sie waren voller Farben, glänzend blau und leuchtend rot, und voller Freude und Lebenskraft, und als ich sie sah, nachdem mich all die Leere umgeben hatte, war das Gefühl, jemandem nahezukommen, einer ganz bestimmten Person, ebenso überwältigend, wie es die Abwesenheit des Persönlichen in der übrigen Ausstellung gewesen war.

Schlagartig wurde mir bewusst, dass es Anselm Kiefer tatsächlich gab. Und ihm in Augenhöhe zu begegnen, verankert in dem bestimmten Augenblick, der Aquarelle zu eigen ist, nach all der Dunkelheit, Stille und existentiellen Schwere, gab den Anstoß zu einem ebenso plötzlichen wie unerwarteten Gedanken.

Verdammt, ich schreibe ihm!

Ich bitte ihn um ein paar Bilder für mein nächstes Buch!

Das kann doch nicht schaden, oder? Ist nicht das Schlimmste, was passieren kann, dass er Nein sagt?

Der Gedanke war so dumm, dass ich errötete, dennoch ließ er mich nicht mehr los, und ein paar Wochen später schrieb ich ihm einen Brief. Es war fast so, dass ich mir mit einer Hand die Augen zuhielt, während die Finger der anderen über die Tastatur huschten.

Lieber Anselm Kiefer …

*

An einem Morgen im nächsten Frühjahr stieg ich in einem Industriegebiet vor den Toren von Paris, vor einer riesigen Lagerhalle, aus dem Auto. Direkt vor mir standen seltsam deplatziert auf dem ansonsten leeren Parkplatz zwei Jagdflugzeuge. Waltraud Forelli, Kiefers österreichische Atelier-Leiterin, eine zierliche, gut gekleidete und freundliche Frau um die fünfzig, schloss den Wagen mit einem Druck auf den Schlüssel ab und lächelte mir zu. Ihre Augen waren sanft, aber es lag auch eine Glut in ihnen, und ich hatte den Eindruck, dass sie etwas zurückhielt.

»Wir gehen hier hinein«, sagte sie.

Mehr als sechs Monate hatte es gedauert, bis ich eine Antwort auf meinen Brief erhielt. Ich hatte Agenten, Galeristen und Künstler angesprochen und gefragt, ob sie mir nicht helfen könnten, mit Kiefer in Kontakt zu kommen. Nichts geschah: Es war, als schickte man Briefe in ein schwarzes Loch. Dann passierte plötzlich alles auf einmal. Man mailte mir eine Datei mit einer Menge Bilder, von denen ich einige für mein Buch auswählen konnte, ausnahmslos Aquarelle, und danach hatte man mich hierher eingeladen, um mit Anselm Kiefer zu Mittag zu essen und mir weitere Bilder anzuschauen.

Die gesamte Kommunikation war bisher über Forelli gelaufen. Von Kiefer selbst hatte ich nicht ein Wort gehört, so dass ich nach wie vor keine Ahnung hatte, was mich erwartete, als ich ihr in das Gebäude folgte. Ein Freund von mir, Björn, hatte Kiefer einmal auf einer Vernissage in Deutschland gesehen, in Köln oder Frankfurt, und von seiner Schilderung war mir eine schwarze Limousine in Erinnerung geblieben, im Regen glänzend, der Künstler unerreichbar wie ein Rockstar. Aber Kiefer ist jetzt dreißig Jahre älter, dachte ich und stellte mir einen deutschen Intellektuellen Anfang siebzig vor, in einem schwarzen hochgeschlossenen Pullover und mit runden Brillengläsern, einen strengen und seriösen Mann, der über Philosophen sprechen wollte, wie andere über Fußballspieler redeten. Ebenso wenig wusste ich darüber, wie er arbeitete. Na ja, ich wusste generell kaum etwas darüber, wie moderne Künstler arbeiten. Ich hatte begriffen, dass die meisten bekannten Künstler und Künstlerinnen Assistenten hatten und die körperliche Arbeit oft nicht eigenhändig ausführten. Kiefer war ungewöhnlich produktiv, das wusste ich, war das, was mich in dem Gebäude erwartete, also eine Art industrielle Produktion von Kunstwerken?

Forelli öffnete die Tür, und wir betraten einen empfangsartigen Bereich.

»Das da ist mein Büro«, sagte sie und nickte zu einem großen, verglasten Raum hinüber. »Anselm arbeitet im Moment. Ich dachte mir, dass ich ihnen in der Zwischenzeit alles zeige. Anschließend treffen sie sich dann zum Mittagessen. Ist das okay?«

»Das ist großartig«, sagte ich und folgte ihr in die eigentliche Halle, die sich wie ein Schlund vor uns öffnete.

Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen. Die Halle war gigantisch, so groß wie ein Flugzeughangar, und sie steckte voller Kunst. Wie eine Welt innerhalb der Welt. Riesige Bilder aus Metall, die Elektrolyseprozesse in grünen, unterwasserartigen Mustern verfärbt hatten, standen an den Wänden. Kunterbunt durcheinander, auf Stativen mit Rädern, befanden sich große Gemälde von Meer und Stränden, Flüssen und Wiesen, Bergen und Wäldern, manche mit Blei belegt und voller rostiger, schluchtenartiger Risse. Überall gab es Vitrinen, in allen möglichen Größen, Hunderte von ihnen, gefüllt mit den seltsamsten Dingen, von herabhängenden Baumwurzeln und Ambossen bis zu einer kleinen Kirche, Gewändern und kleinen Schweinen aus Ton. Durch die Halle verliefen Regale, die mit allem möglichen Krempel gefüllt waren wie in der Werkstatt eines Zauberers. Gewichte, Haken, Gewehre, Öfen, Mauerblöcke, Steine, haufenweise getrocknete Blumen, an manchen Stellen ganze Bäume. Ich sah Schlangen, Hemden, Kleider, Flügel, Torpedos, Sonnenblumen aus Metall, Schmiedehämmer, Keulen. Jagdflugzeuge in Originalgröße standen dort, und eine etwa dreißig Quadratmeter große Umzäunung war vollständig von goldenem Stroh bedeckt wie eine kleine Wiese. Ich sah Betten mit Decken und Kissen aus Blei und eine Menge Frauenfiguren aus Gips, ohne Arme und Kopf, ein paar auf dem Boden, andere hoch oben unter der Decke stehend. Auch von der Decke hingen Baumwurzeln herab, und zwischen einer Reihe wackeliger Betontürme, die sicherlich acht Meter hoch waren, stand etwas, das dem Turm eines Atomkraftwerks ähnelte und neben dem ein Fahrrad herabbaumelte.

Es war, als strömte unsere gesamte Kultur durch diese Halle, aber roh und wild, als deren Unterbewusstes.

Konnte das alles von einem einzigen Menschen stammen?

Wer war dieser Mann?

Ich wandte mich Forelli zu, um deren Lippen ein leises Lächeln spielte.

»Darüber muss ich schreiben«, sagte ich. »Meinen Sie, es wäre möglich, einen Termin für ein Interview mit ihm zu bekommen?«

»Ja, das glaube ich ganz bestimmt«, antwortete sie.

Wir waren fast am Ende, als mir eine Bewegung hinter uns bewusst wurde, ich mich umdrehte und einen Mann in einer blauen Hose und einem weißen T-Shirt sah, der auf einem Fahrrad durch die Halle fuhr.

Das musste Anselm Kiefer sein.

Er fuhr einen kleinen Bogen und blieb vor uns stehen, einen Fuß auf die Erde gestützt, den anderen auf die Pedale. Er sah wesentlich jünger aus als seine mehr als siebzig Jahre. Er hatte eine Glatze, abgesehen von den Seiten des Kopfes, wo das Haar rasiert war und gerade erst von Neuem sprießte. Er trug eine schlichte, runde Brille und hatte einen Dreitagebart.

»Aha, ein Wikinger!«, sagte er laut und lachte glucksend.

Ich sagte, es sei mir eine Ehre, ihn kennenzulernen, er schnaubte und sagte auf Deutsch etwas zu Forelli, wandte sich dann mir zu und erklärte auf Englisch, dass wir uns bald beim Mittagessen sehen würden, woraufhin er sich auf sein Rad setzte und zurückfuhr.