Träumen - Karl Ove Knausgård - E-Book
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Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Die vierzehn Jahre, die ich in Bergen lebte, sind längst vorbei. Ich führte ein Tagebuch, das habe ich verbrannt. Ich knipste ein paar Bilder, von denen besitze ich noch zwölf. Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande. Aber in welch einer Stimmung ich war, als ich dort ankam!

14 Jahre verbrachte Knausgård in Bergen, bevor er aus der norwegischen Küstenstadt regelrecht nach Stockholm floh, als ginge es ins Exil. Es waren Jahre, in denen er so unermüdlich wie erfolglos versuchte, Schriftsteller zu werden, in denen schließlich seine erste Ehe scheiterte, in denen sich Momente kurzer Glückgefühle mit jenen tiefster Selbstverachtung die Hand gaben, in denen sich Demütigungen und Höhenräusche ebenso schnell abwechselten wie selbstzerstörerische Alkoholexzesse und erste künstlerische Erfolge. Dabei hatte es am Anfang so gut ausgesehen, dieses Leben in Bergen. Dem jungen Knausgård schien die Welt offenzustehen, all seine Träume schienen sich zu erfüllen. Er hatte einen Studienplatz an der Akademie für Schreibkunst bekommen, endlich eine Freundin gefunden ...

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Zum Buch

14 Jahre verbrachte Karl Ove Knausgård in Bergen, bevor er aus der norwegischen Küstenstadt regelrecht nach Stockholm floh, als ginge es ins Exil. Es waren Jahre, in denen er unermüdlich versuchte, Schriftsteller zu werden, in denen schließlich seine erste Ehe scheiterte, in denen sich Momente kurzer Glücksgefühle mit jenen tiefster Selbstverachtung die Hand gaben, in denen sich Demütigungen und Höhenräusche ebenso schnell abwechselten wie selbstzerstörerische Alkoholexzesse und erste künstlerische Erfolge. Dabei hatte es am Anfang so gut ausgesehen, dieses Leben in Bergen. Dem jungen Knausgård schien die Welt offenzustehen, all seine Träume schienen sich zu erfüllen. Er hatte einen Studienplatz an der Akademie für Schreibkunst ergattert, endlich eine Freundin gefunden …

Zum Autor

KARL OVE KNAUSGÅRD wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Als erster Debütant überhaupt bekam er den Norwegischen Kritikerpreis verliehen. »Träumen« ist – nach »Sterben«, »Lieben«, »Spielen« und »Leben« – der fünfte Roman eines sechsbändigen, autobiographisch angelegten literarischen Projektes, das zunächst in seinem Heimatland und mittlerweile weltweit zur literarischen Sensation wurde. Karl Ove Knausgård lebt mit seiner Familie an der schwedischen Südküste.

KARL OVE KNAUSGÅRD

Träumen

ROMAN

Aus dem Norwegischen von Paul Berf

Luchterhand

TEIL EINS

DIE VIERZEHN JAHRE, DIE ICH IN BERGEN LEBTE, von 1988 bis 2002, sind längst vorbei, geblieben sind von ihnen lediglich einige Episoden, an die sich manche Menschen eventuell erinnern, ein Geistesblitz hier, ein Geistesblitz da, und natürlich alles, was mir selbst aus jener Zeit im Gedächtnis geblieben ist. Doch das ist erstaunlich wenig. Das Einzige, was von den tausenden Tagen noch existiert, die ich in dieser kleinen, gassenreichen, regenschimmernden, westnorwegischen Stadt verbrachte, sind wenige Ereignisse und eine Vielzahl von Stimmungen. Ich führte ein Tagebuch, das habe ich verbrannt. Ich machte ein paar Bilder, von denen besitze ich noch zwölf, sie liegen neben meinem Schreibtisch in einem kleinen Haufen auf dem Fußboden, zusammen mit all den Briefen, die ich in dieser Zeit bekam. Ich habe in ihnen geblättert und hier und da ein paar Zeilen gelesen, was mich immer deprimiert, es war eine so fürchterliche Zeit. Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande. Aber in welch einer Stimmung ich war, als ich dorthin ging! Ich war in jenem Sommer mit Lars nach Florenz getrampt, wo wir ein paar Tage blieben und anschließend den Zug nach Brindisi nahmen, und wenn man den Kopf aus dem offenen Zugfenster steckte, war es so heiß, dass man das Gefühl hatte, es würde brennen. Nacht in Brindisi, dunkler Himmel, weiße Häuser, eine nahezu traumartige Hitze, riesige Menschenmengen in den Parks, überall junge Leute auf Vespas, laute Rufe und Lärm. Wir stellten uns mit unzähligen anderen, die fast alle jung waren und Rucksäcke trugen, in die lange Warteschlange vor dem Steg zu dem großen Schiff, das nach Piräus fuhr. 49 Grad auf Rhodos. Ein Tag in Athen, dem chaotischsten Ort, an dem ich jemals gewesen war und wo es so irrsinnig heiß war, danach das Schiff nach Paros und Antiparos hinaus, wo wir jeden Tag am Strand lagen und uns jeden Abend mit Schnaps betranken. Eines Nachts trafen wir dort ein paar norwegische Mädchen, und als ich auf der Toilette war, erzählte Lars ihnen, er sei Schriftsteller und werde im Herbst sein Studium an der Akademie für Schreibkunst aufnehmen. Als ich zurückkam, unterhielten sie sich lebhaft darüber. Lars sah mich bloß an und grinste. Was tat er denn da? Dass er es mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm, wusste ich, aber in meiner Gegenwart? Ich sagte nichts, beschloss aber, mich in Zukunft von ihm fernzuhalten. Wir fuhren zusammen nach Athen, mir war das Geld ausgegangen, Lars hatte noch eine Menge und beschloss, am nächsten Tag nach Hause zu fliegen. Wir saßen in einem Straßenrestaurant, er aß Hähnchen, sein Kinn glänzte fettig, ich trank ein Glas Wasser. Ich wollte ihn auf gar keinen Fall um Geld bitten, die einzige Möglichkeit, von ihm Geld anzunehmen, bestand darin, dass er mich fragte, ob ich mir etwas von ihm leihen wolle. Das tat er nicht, also ging ich hungrig zu Bett. Am nächsten Tag fuhr er zum Flughafen, und ich nahm den Bus aus der Stadt hinaus, stieg an einer Autobahnauffahrt aus, um zu trampen. Wenige Minuten später hielt ein Streifenwagen, die Polizeibeamten sprachen kein Wort Englisch, aber ich begriff, dass es verboten war zu trampen, so dass ich mir von meinem letzten Geld eine Zugfahrkarte nach Wien, ein Weißbrot, eine große Flasche Cola und eine Schachtel Zigaretten kaufte.

Ich glaubte, die Fahrt würde nur ein paar Stunden dauern, und war schockiert, als ich begriff, dass es um fast zwei Tage ging. In meinem Abteil saßen ein Schwede in meinem Alter und zwei englische Mädchen, die, wie sich herausstellte, zwei, drei Jahre älter waren als ich. Wir fuhren schon seit längerem durch Jugoslawien, als ihnen schließlich aufging, dass ich weder Geld, noch etwas zu essen hatte, und mir anboten, ihr Essen mit mir zu teilen. Die Landschaft vor dem Zugfenster war so schön, dass es einem wehtat. Täler und Flüsse, Höfe und Dörfer, Menschen, die in einer Art gekleidet waren, die ich mit dem neunzehnten Jahrhundert verband, und die das Land offenbar noch wie zur damaligen Zeit bearbeiteten, mit Pferden und Heuwagen, Sensen und Pflügen. Eine Reihe von Waggons war sowjetisch, am Abend ging ich durch die Wagen, verzaubert von den fremden Buchstaben, den fremden Gerüchen, der fremden Einrichtung, den fremden Gesichtern. Als wir in Wien ankamen, wollte die eine der beiden Engländerinnen, sie hieß Maria, dass wir unsere Adressen austauschten, sie war attraktiv, und normalerweise hätte ich mir ausgemalt, dass ich sie irgendwann in Norfolk besuchen, vielleicht ihr Freund werden und dort mit ihr würde wohnen können, aber an diesem Tag, als ich durch die Straßen in der Peripherie Wiens marschierte, war es bedeutungslos, da meine Gedanken weiter ausschließlich Ingvild galten, der ich zwar nur einmal begegnet war, an Ostern im Frühjahr, mit der ich danach jedoch Briefe gewechselt hatte, und neben ihr verblasste alles andere. Eine streng wirkende, blonde Frau um die dreißig nahm mich zu einer Tankstelle an der Autobahn mit, wo ich ein paar Lastwagenfahrer fragte, ob sie mich mitnehmen könnten. Einer von ihnen nickte, er war Ende vierzig, dunkelhaarig und dünn, mit schwer glühenden Augen, er wolle nur kurz noch etwas essen.

Ich stand in der warmen Abenddämmerung, rauchte und betrachtete die vielen Lichter entlang der Straße, die umso deutlicher hervortraten, je dunkler es wurde, umgeben von einem Verkehrsrauschen, das ab und zu vom kurzen, aber harten Knallen von Autotüren, plötzlichen Stimmen von Leuten, die sich über den Parkplatz bewegten, auf dem Weg zu der großen Tankstelle oder von ihr zurück, unterbrochen wurde. Drinnen saßen die Menschen schweigend und aßen jeder für sich, dazwischen vereinzelt Familien, die ihre Tische überschwemmten. Ich war von einem stillen Jubel erfüllt, denn das liebte ich mehr als alles andere, das Vertraute und Bekannte, Autobahn, Tankstelle, Raststätte, das aber irgendwie auch nicht vertraut war, denn überall gab es Details, die sich von denen unterschieden, an die ich gewöhnt war. Der LKW-Fahrer kam heraus und nickte mir zu, ich folgte ihm, stieg in das riesige Fahrzeug, legte meinen Rucksack hinter meinen Sitz und machte es mir bequem. Er ließ den Motor an, alles grollte und zitterte, die Scheinwerfer leuchteten auf, wir rollten langsam los, immer schneller, aber durchgehend schwerfällig, bis wir sicher auf der rechten Spur fuhren und er mir zum ersten Mal einen Blick zuwarf. Sweden?, sagte er. Norwegen, erwiderte ich auf Deutsch. Ah, Norwegen!, sagte er.

Die ganze Nacht und einen Teil des nächsten Tages saß ich in seiner Fahrerkabine. Wir hatten uns die Namen einiger Fußballspieler zugeworfen, vor allem Rune Bratseth hatte es ihm angetan, aber da er kein Wort Englisch sprach, blieb es dabei.

Ich war in Deutschland und wirklich hungrig, aber ohne einen Pfennig in der Tasche blieb mir nichts anderes übrig, als zu rauchen, zu trampen und auf das Beste zu hoffen. Ein junger Mann in einem roten Golf hielt an, er heiße Björn, sagte er, und habe eine lange Fahrt vor sich, man konnte sich gut mit ihm unterhalten, und als er am Abend sein Ziel erreicht hatte, lud er mich in sein Haus ein und bot mir Müsli mit Milch an. Ich aß drei Portionen, er zeigte mir ein paar Fotos von Urlaubsreisen, bei denen sein Bruder und er als Kinder in Norwegen und Schweden gewesen waren, ihr Vater sei ganz verrückt nach Skandinavien, erzählte er, daher auch der Name Björn. Sein Bruder heiße Tor, ergänzte er und schüttelte den Kopf. Er fuhr mich zur Autobahn, ich schenkte ihm meine Trippelkassette von The Clash, er gab mir die Hand, wir wünschten einander viel Glück, und ich stellte mich wieder an eine der Auffahrten. Drei Stunden später hielt ein Mann mit wirren Haaren, Bart und Brille, in einer roten Ente, er wolle nach Dänemark, ich könne die ganze Strecke mitfahren. Er nahm sich meiner an und war sehr interessiert, als ich ihm erzählte, dass ich schrieb, ich überlegte, dass er eine Art Professor sein könnte, er kaufte mir an einer Raststätte etwas zu essen, ich schlief ein paar Stunden, wir kamen nach Dänemark, er kaufte mir noch etwas zu essen, und als ich ihn schließlich verließ, war ich mitten im Land, nur ein paar Stunden von Hirtshals entfernt, also fast zu Hause. Die letzte Etappe zog sich dann allerdings in die Länge, ich wurde immer nur für ein paar Kilometer mitgenommen, so dass ich um elf Uhr abends nur bis Løkken gekommen war und beschloss, am Strand zu übernachten. Ich ging auf einer schmalen Straße durch einen niedrigen Wald, an manchen Stellen war der Asphalt von Sand bedeckt, und bald darauf türmten sich Dünen vor mir auf, ich stieg sie hinauf und sah im Licht der skandinavischen Sommernacht grau und glatt das Meer vor mir liegen. Von einem Campingplatz oder einer Ferienhaussiedlung ein paar hundert Meter weiter schallten die Geräusche von Stimmen und Automotoren zu mir herüber.

Es tat gut, am Meer zu sein. Den schwachen Geruch von Salz und den fast rauen Zug in der Luft aus seiner Richtung zu spüren. Dies war mein Meer, ich war fast zu Hause.

Ich fand eine Senke und rollte den Schlafsack aus, kroch hinein, zog den Reißverschluss zu und schloss die Augen. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, ich hatte das mulmige Gefühl, jederzeit von jemandem entdeckt werden zu können, aber die letzten Tage hatten mich so erschöpft, dass ich erlosch wie eine Kerze, die jemand ausblies.

Ich wurde davon geweckt, dass es regnete. Kalt und steif schälte ich mich aus dem Schlafsack, zog meine Hose an, packte alles zusammen und ging landeinwärts. Es war sechs Uhr. Der Himmel war grau, es nieselte still und fast unmerklich, ich fror und ging schnell, um warm zu werden. Die Stimmungen eines nächtlichen Traums quälten mich. Vaters Bruder Gunnar war darin vorgekommen, oder vielmehr sein Zorn, ausgelöst davon, dass ich so viel getrunken und so viel angestellt hatte, wie ich nun begriff, als ich durch denselben niedrigen Wald hastete, durch den ich am Vorabend gegangen war. Alle Bäume standen regungslos, gräulich unter der dichten Wolkendecke, dem Toten näher als dem Lebendigen. Zwischen ihnen lagen Haufen von Sand, zusammengeweht in wechselnden und nicht vorhersehbaren, aber dennoch immer vorhandenen Mustern, an manchen Stellen wie ein Fluss aus feinen Sandkörnern auf dem gröberen Asphalt.

Ich kam auf eine größere Straße, folgte ihr etwa einen Kilometer, setzte den Rucksack an einer Kreuzung ab und hielt den Daumen raus. Es waren nicht mehr viele Kilometer bis Hirtshals. Wie es dort weitergehen würde, war mir nicht klar, denn ich hatte ja kein Geld, leicht würde es also nicht werden, auf die Fähre nach Kristiansand zu kommen. War es vielleicht möglich, sich eine Rechnung schicken zu lassen? Wenn ich einer gütigen Seele begegnete, die Verständnis für meine Situation aufbrachte?

Oh nein. Jetzt wurden auch noch die Regentropfen größer.

Zum Glück war es wenigstens nicht kalt.

Ich zündete mir eine Zigarette an, strich mir mit der Hand durchs Haar. Der Regen hatte das Haargel klebrig werden lassen, und ich wischte mir die Hand am Hosenbein ab, bückte mich und zog den Walkman aus dem Rucksack, ging die wenigen Kassetten durch, die ich dabeihatte, entschied mich für Skylarking von XTC, legte das Band ein und richtete mich auf.

Hatte es in meinem Traum nicht auch ein amputiertes Bein gegeben? Doch. Gleich unterhalb des Knies war es abgesägt worden.

Ich lächelte, und dann, als die Musik aus den kleinen Lautsprechern strömte, wurde ich von Stimmungen aus jener Zeit erfüllt, in der die Platte erschienen war. Das musste in der zweiten Klasse der Oberstufe gewesen sein. Aber vor allem war es das Haus in Tveit, das heraufbeschworen wurde und in dem ich in einem Korbsessel saß und Tee trank, rauchte und, verliebt in Hanne, Skylarking hörte. Yngve war mit Kristin da. Die vielen Gespräche mit Mutter.

Auf der Straße näherte sich ein Auto.

When Miss Moon lays down

And Sir Sun stands up

Me I’m found floating round and round

Like a bug in brandy

In this big bronze cup

Es war ein Pick-up, auf der Motorhaube stand in roten Lettern der Name einer Firma, wahrscheinlich war es ein Handwerker auf dem Weg zur Arbeit, er warf nicht einmal einen Blick in meine Richtung, während er vorbeirauschte, und dann stieg das zweite Lied sozusagen unmittelbar aus dem ersten auf, ich liebte diesen Übergang, dabei stieg auch in mir etwas auf, und ich schlug mit der Hand ein paar Mal ins Leere und machte ein paar bedächtige Schritte im Kreis.

Weiter unten tauchte ein weiteres Auto auf. Ich streckte den Daumen hinaus. Auch diesmal war der Fahrer ein morgendlich müder Mann, der mich keines Blickes würdigte. Offenbar stand ich an einer Straße mit viel Lokalverkehr. Aber konnten sie nicht trotzdem anhalten? Mich zu einer größeren Straße mitnehmen?

Erst zwei Stunden später erbarmte sich jemand meiner. Ein Deutscher Mitte zwanzig, mit runder Brille und ernster Miene, fuhr mit seinem alten Opel rechts heran, ich lief zu ihm, warf den Rucksack auf die Rückbank, die bereits voller Gepäck war, und setzte mich neben ihn. Er komme aus Norwegen, sagte er, und sei auf dem Weg nach Süden, könne mich an der Autobahn herauslassen, es sei nicht weit, helfe mir aber vielleicht ein bisschen. Ich sagte, yes, yes, very good. Die Fenster waren stark beschlagen, er beugte sich beim Fahren vor und wischte die Windschutzscheibe mit einem Tuch frei. Maybe that’s my fault, sagte ich. What?, fragte er. The mist on the window, sagte ich. Of course it’s you, fauchte er. Okay, dachte ich, wenn er es so haben will, und lehnte mich in meinem Sitz zurück.

Zwanzig Minuten später ließ er mich an einer großen Tankstelle heraus, wo ich auf und ab ging und mich bei allen erkundigte, ob sie nach Hirtshals wollten und mich mitnehmen könnten. Ich war hungrig und patschnass und sah abgerissen aus nach den Tagen auf der Straße, so dass lange Zeit alle den Kopf schüttelten, bis ein Mann in einem Transporter, der offenbar mit Brot und anderen Backwaren beladen war, lächelte und bitte, steig ein, ich fahre nach Hirtshals, sagte. Während der ganzen Fahrt überlegte ich, ob ich ihn um etwas Brot bitten sollte, traute mich aber nicht und brachte lediglich heraus, dass ich Hunger hatte, ohne dass er auf diesen Wink mit dem Zaunpfahl reagierte.

Als ich mich in Hirtshals von ihm verabschiedete, sollte kurze Zeit später eine Fähre ablegen. Ich rannte mit meinem schweren Rucksack auf dem Rücken zum Ticketschalter, erklärte der Verkäuferin atemlos meine Situation, ich hatte kein Geld, war es eventuell möglich, trotzdem eine Fahrkarte zu bekommen und sich eine Rechnung schicken zu lassen? Ich hatte einen Pass, konnte mich ausweisen und würde ganz bestimmt bezahlen. Sie lächelte freundlich und schüttelte den Kopf, das gehe nicht, ich müsse bar bezahlen. Aber ich muss übersetzen!, sagte ich. Ich wohne da doch! Und ich habe kein Geld! Sie schüttelte erneut den Kopf. Tut mir leid, sagte sie und wandte sich von mir ab.

Ich setzte mich auf dem Hafengelände auf einen Bordstein, stellte den Rucksack zwischen meine Füße und betrachtete die große Fähre, die vom Kai ablegte, hinausglitt und auf dem Meer verschwand.

Was sollte ich tun?

Eine Möglichkeit bestand darin, wieder in südliche Richtung zu trampen, um nach Schweden zu kommen und von dort wieder nach oben. Aber musste man nicht auch dafür irgendein Gewässer überqueren?

Ich versuchte, mir die Landkarte zu vergegenwärtigen, ob es irgendwo eine Verbindung zwischen Dänemark und Schweden gab, aber das war nicht der Fall, oder? Dann musste man also bis nach Polen hinunter und anschließend durch die Sowjetunion nach Finnland und von dort aus nach Norwegen? Das würde bedeuten, zwei weitere Wochen zu trampen. Und für die Länder im Ostblock benötigte ich doch mit Sicherheit ein Visum oder etwas in der Art? Andererseits konnte ich natürlich Kopenhagen ansteuern, die Stadt war schließlich nur ein paar Stunden entfernt, und darauf setzen, dort Geld für die Fähre nach Schweden aufzutreiben. Betteln gehen, wenn es unbedingt sein musste.

Eine andere Möglichkeit bestand darin, Mutter zu bitten, mir Geld an eine hiesige Bank zu überweisen. Das würde sicher kein Problem sein, möglicherweise jedoch ein paar Tage dauern. Außerdem hatte ich nicht einmal genügend Geld, um zu telefonieren.

Ich öffnete eine neue Schachtel Camel, schaute zu den Autos hinüber, die sich unablässig in die neue Warteschlange einreihten, und rauchte hintereinander drei Zigaretten. Viele norwegische Familien, die in Legoland oder in Løkken am Strand gewesen waren. Einige Deutsche auf dem Weg nach Norden. Viele Wohnwagen, viele Motorräder, und ganz hinten die großen Sattelschlepper.

Mit ausgedörrtem Mund holte ich erneut den Walkman heraus. Diesmal legte ich eine Kassette von Roxy Music ein, aber schon nach dem zweiten Song klang die Musik immer schiefer, und die Batterieanzeige blinkte. Ich packte ihn wieder weg und stand auf, hievte mir den Rucksack auf den Rücken und ging landeinwärts durch die wenigen und trostlosen Straßen von Hirtshals. Ab und zu rumorte mein Bauch vor Hunger. Ich überlegte, ob ich in eine Bäckerei gehen und fragen sollte, ob sie ein Brot erübrigen könnten, aber darauf würden sie selbstverständlich nicht eingehen. Ich ertrug den Gedanken an eine so demütigende Ablehnung nicht und beschloss, mir diese Maßnahme für den Fall aufzusparen, dass es wirklich hart auf hart kommen würde. Deshalb heißt es ja auch Hartbrot, dachte ich und spazierte zum Hafen zurück. Vor einer Art Kombination aus Café und Imbissbude blieb ich stehen, dort würde ich vielleicht wenigstens ein Glas Wasser bekommen.

Die Verkäuferin nickte und füllte am Hahn hinter ihr ein Glas mit Wasser. Ich setzte mich ans Fenster. Der Raum war fast voll. Draußen regnete es wieder. Ich trank Wasser und rauchte. Nach einer Weile kamen zwei junge Kerle in meinem Alter zur Tür herein, sie waren in Regenjacken und -hosen gehüllt, setzten ihre Kapuzen ab und schauten sich um. Der eine kam zu mir, waren an meinem Tisch noch zwei Plätze frei? Of course, antwortete ich. Wir kamen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass sie aus Holland stammten, nach Norwegen wollten und die ganze Strecke mit dem Fahrrad zurückgelegt hatten. Sie lachten ungläubig, als ich ihnen erzählte, ich sei ohne einen Pfennig in der Tasche von Wien hierher getrampt und wolle nun versuchen, auf die Fähre zu kommen. Trinkst du deshalb Wasser?, fragte der eine, ich nickte, er erkundigte sich, ob ich eine Tasse Kaffee haben wolle, ich antwortete, that would be nice, er stand auf und kaufte mir eine.

Ich brach mit den beiden auf, sie sagten, dass sie hofften, wir würden uns an Bord wiedersehen, und verschwanden mit ihren Fahrrädern, ich trottete zu den Spuren mit den Sattelschleppern und fragte die Fahrer, ob sie mich mitnehmen könnten, ich hätte kein Geld für die Fähre. Nein, das wollte natürlich keiner. Einer nach dem anderen ließen sie ihre Motoren an und rollten an Bord, während ich zu dem Café zurückkehrte, mich hinsetzte und die Fähre beobachtete, die ein weiteres Mal langsam vom Kai ablegte und immer kleiner wurde, bis sie eine halbe Stunde später endgültig verschwunden war.

Die letzte Fähre ging am Abend. Wenn ich es nicht an Bord schaffte, musste ich nach Kopenhagen trampen. So war mein Plan. Während ich wartete, zog ich das Manuskript aus dem Rucksack und begann zu lesen. In Hellas hatte ich ein ganzes Kapitel geschrieben, an zwei Vormittagen war ich zu einer kleinen Insel hinausgewatet und von ihr zu einer weiteren Insel, meine Schuhe, das T-Shirt, den Schreibblock, den Stift, eine schwedische Taschenbuchausgabe von Ulf Lundells Roman Jack und die Zigaretten trug ich zu einem kleinen Bündel verschnürt auf dem Kopf. Dort angekommen, hatte ich einsam und alleine in einer Felssenke gesessen und geschrieben. Ich hatte dabei das Gefühl gehabt, den Ort erreicht zu haben, an dem ich sein wollte. Ich saß auf einer griechischen Insel, mitten im Mittelmeer, und schrieb an meinem ersten Roman. Gleichzeitig war ich rastlos, es gab dort sozusagen nichts, da war nur ich, und der Leere, die darin lag, war schwer auszuweichen. Und so war es dort, meine eigene Leere war alles, und selbst wenn ich in das Buch vertieft war und Jack las oder mich über den Schreibblock beugte und über meine Hauptfigur Gabriel schrieb, war es diese Leere, die ich spürte.

Von Zeit zu Zeit sprang ich in das dunkelblaue und herrliche Wasser, war aber nur wenige Züge geschwommen, als ich mir auch schon Sorgen machte, dass es darin Haie geben könnte. Ich wusste, dass es im Mittelmeer keine Haie gab, aber der Gedanke kam mir trotzdem, und ich kroch triefend nass an Land und verfluchte mich gleichzeitig selbst, das war idiotisch, Angst vor Haien, ausgerechnet hier, was sollte das, ich war doch keine sieben mehr? Aber ich war alleine unter der Sonne, alleine vor dem Meer, und vollkommen leer. Es kam mir so vor, als wäre ich der letzte Mensch. Das machte das Lesen und das Schreiben sinnlos.

Als ich das Kapitel über den Ort, der in meinen Gedanken eine Seemannskneipe im Hafenviertel von Hirtshals war, nun jedoch noch einmal las, gefiel es mir gut. Die Tatsache, dass ich einen Platz an der Akademie bekommen hatte, bewies, dass ich Talent hatte, nun kam es nur noch darauf an, es freizusetzen. Mein Plan lautete, im Laufe des kommenden Jahres einen Roman zu schreiben, der im nächsten Herbst veröffentlicht werden sollte, was natürlich ein wenig davon abhing, wie lange es dauern würde, ihn zu drucken und so.

Über Wasser/Unter Wasser sollte er heißen.

Eine Stunde später, bei Einsetzen der Dämmerung, ging ich erneut an der Reihe der LKWs entlang. Einige Fahrer dösten auf den Fahrersitzen, so dass ich an ihre Scheibe klopfte und anschließend sah, wie sie zusammenzuckten, ehe sie entweder die Tür öffneten oder das Fenster herabkurbelten, um sich anzuhören, was ich von ihnen wollte. Nein, ich konnte nicht bei ihnen mitfahren. Nein, das ging nicht. Nein, natürlich nicht, sollten sie etwa das Ticket für mich bezahlen?

Die Fähre lag am Kai und leuchtete. Überall um mich herum ließen Leute die Motoren an. Eine Wagenreihe setzte sich langsam in Bewegung, die ersten Autos verschwanden durch das offene Maul in der Tiefe des Schiffs. Ich war verzweifelt, redete mir jedoch ein, dass es am Ende trotz allem gut ausgehen würde. Schließlich hatte man noch nie von einem jungen Norweger gehört, der im Urlaub verhungert war oder es nicht nach Hause geschafft hatte, sondern in Dänemark geblieben war.

Vor einem der letzten Sattelschlepper standen drei Männer zusammen und unterhielten sich. Ich ging zu ihnen.

»Hallo«, sagte ich. »Kann einer von Ihnen mich vielleicht mit an Bord nehmen? Ich habe kein Geld für eine Fahrkarte, verstehen Sie? Und ich muss nach Hause. Außerdem habe ich seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.«

»Woher kommst du?«, fragte einer von ihnen in breitem Arendaler Dialekt.

»Arendal«, antwortete ich in so breitem Dialekt, wie ich nur konnte. »Besser gesagt, von Tromøya.«

»Was du nicht sagst!«, erwiderte er. »Da komme ich auch her!«

»Und woher genau?«, fragte ich.

»Færvik«, sagte er. »Und du?«

»Tybakken«, antwortete ich. »Können Sie mich vielleicht mitnehmen?«

Er nickte.

»Steig ein. Wenn wir an Bord fahren, duckst du dich. Kein Problem.«

So machten wir es. Als wir auf die Fähre rollten, saß ich zusammengekauert auf dem Boden, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Er parkte, schaltete den Motor aus, ich nahm den Rucksack in die Hand und sprang auf das Deck. Meine Augen waren feucht, als ich ihm dankte. Er rief mir hinterher, he, warte mal kurz! Ich drehte mich um, er reichte mir einen dänischen Fünfziger, meinte, er könne ihn nicht mehr gebrauchen, aber ich vielleicht?

Ich setzte mich in die Cafeteria und aß eine große Portion Fleischbällchen. Das Schiff legte ab. Die Luft ringsum war voller ausgelassener Gespräche, es war Abend, wir reisten. Ich dachte an meinen Fahrer. Normalerweise hatte ich für diese Sorte Mensch nichts übrig, sie vergeudeten ihr Leben damit, hinter einem Lenkrad zu sitzen, hatten keine Ausbildung, waren fett und hatten jede Menge Vorurteile zu allen möglichen Dingen, und er war keinen Deut anders, das sah ich doch, aber verdammt, er hatte mich mitgenommen!

Nachdem die Autos und Motorräder am nächsten Morgen ruckend und brummend von der Fähre auf die Straßen von Kristiansand gefahren waren, blieb die Stadt vollkommen still zurück. Ich setzte mich auf die Treppe des Busbahnhofs. Die Sonne schien, der Himmel war weit, die Luft bereits warm. Von dem Geld, das der LKW-Fahrer mir gegeben hatte, war noch etwas übrig, so dass ich Vater anrufen und ihm Bescheid geben konnte, dass ich vorbeikommen würde. Er hasste unangekündigte Besuche. Sie hatten etwa zehn Kilometer entfernt ein Haus gekauft, das sie im Winter vermieteten und den ganzen Sommer über selbst bewohnten, bis sie zum Arbeiten wieder nach Nordnorwegen umsiedeln mussten. Ich hatte vor, ein paar Tage bei ihnen zu bleiben, und mir dann das Geld für die Fahrkarte nach Bergen zu leihen, vielleicht den Zug zu nehmen, das würde die billigste Lösung sein.

Es war allerdings noch zu früh, um ihn anzurufen.

Ich holte das kleine Reisetagebuch heraus, das ich im letzten Monat geführt hatte, und schrieb alles hinein, was von Österreich an passiert war. Auf meinen Traum in Løkken verwandte ich einige Seiten, er hatte großen Eindruck auf mich gemacht, sich im Körper festgesetzt wie etwas Verbotenes oder eine Grenze, und ich dachte, dass er ein wichtiges Ereignis war.

Um mich herum erhöhte sich die Frequenz der Busse, auf einmal verging kaum eine Minute, in der kein Bus hielt und sich leerte. Die Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit, ich sah es in ihren Augen, sie hatten leere Arbeitnehmerblicke.

Ich stand auf und machte einen Spaziergang durch die Stadt. Die Markens gate war fast völlig verwaist, nur wenige Menschen eilten auf und ab. Ein paar Möwen zerrten und rissen an Abfällen unter einem Mülleimer, dessen Boden herausgefallen war. Ich landete vor der Stadtbücherei, und es war die Macht der Gewohnheit, die mich hierhertrieb, denn etwas von der gleichen Panik, die ich verspürt hatte, als ich in diesen Straßen als Gymnasiast herumgelaufen war, hatte Besitz von mir ergriffen, dass ich nirgendwohin konnte und jeder es sah, und dieses Problem hatte ich stets dadurch gelöst, den Weg zu diesem Ort einzuschlagen, an dem man alleine herumlungern konnte, ohne dass es irgendjemand seltsam gefunden hätte.

Vor mir lagen der Marktplatz und die graue Steinkirche mit ihrem grünspangefärbten Dach. Alles war kümmerlich und klein, Kristiansand war eine Kleinstadt, das sah ich nun klar und deutlich, nachdem ich durch Europa gereist war und gesehen hatte, wie die Verhältnisse dort waren.

Auf der anderen Straßenseite saß ein Penner an der Wand und schlief. Mit seinem verwucherten Bart, den langen Haaren und den zerlumpten Kleidern sah er aus wie ein Wilder.

Ich setzte mich auf eine Bank und zündete mir eine Zigarette an. Und wenn er das bessere Leben führte? Er machte, was er wollte, und sonst nichts. Wollte er irgendwo einbrechen, dann tat er es. Wollte er sich sinnlos besaufen, tat er es. Wollte er Passanten belästigen, tat er es. Hatte er Hunger, klaute er sich etwas zu essen. Okay, andererseits behandelten die Leute ihn entweder wie den letzten Dreck oder als wäre er Luft. Aber so lange ihm die anderen egal waren, spielte das natürlich keine Rolle.

So mussten die ersten Menschen gelebt haben, ehe sie sesshaft wurden und Landwirtschaft betrieben, als sie bloß herumzogen und aßen, was sie fanden, und schliefen, wo es gerade passte, und jeder Tag wie der erste oder der letzte war. Der Mann dort hatte kein Haus, zu dem er zurückkehren musste, das ihn an sich band, er hatte keine Arbeit zu erledigen, keine Zeiten, die er einhalten musste, war er müde, tja, dann legte er sich eben hin, wo er sich gerade befand. Die Stadt war sein Wald. Er war immer im Freien, seine Haut war dunkelbraun und zerfurcht, Haare und Kleider verdreckt.

Selbst wenn ich es wollte, würde ich niemals dorthin gelangen können, wo er war, das wusste ich. Ich würde niemals verrückt und niemals zum Penner werden können, das war undenkbar.

Auf dem Marktplatz hielt ein alter VW-Bus. Ein beleibter, leicht bekleideter Mann sprang auf der einen Seite heraus, eine beleibte, leicht bekleidete Frau auf der anderen. Sie öffneten die hintere Tür und begannen, kistenweise Blumen auszuladen. Ich warf die Zigarette auf den trockenen Asphalt, hob mir den Rucksack auf den Rücken und kehrte zum Busbahnhof zurück, wo ich Vater anrief. Er war mürrisch und gereizt und meinte, ich könne nicht zu ihnen kommen, sie hätten mittlerweile ein kleines Kind, könnten so kurzfristig keinen Besuch empfangen. Ich hätte früher anrufen sollen, dann wäre es in Ordnung gewesen. Jetzt wollten schon Großmutter und ein Kollege vorbeikommen. Ich erwiderte, dass ich das verstünde, und bedauerte, nicht schon früher angerufen zu haben, und danach legten wir auf.

Ich blieb eine Weile mit dem Hörer in der Hand stehen und dachte nach, ehe ich Hildes Nummer wählte. Sie sagte, dass ich bei ihr wohnen könne und sie mich abholen werde.

Eine halbe Stunde später saß ich neben ihr in ihrem alten Golf, auf dem Weg aus der Stadt heraus, das Fenster offen und die Sonne in den Augen. Sie lachte und meinte, dass ich schlecht riechen würde, wenn wir da seien, müsse ich unbedingt ein Bad nehmen. Danach könnten wir uns hinter dem Haus in den Garten setzen, dort sei es schattig, und sie werde mir ein Frühstück servieren, das scheine ich auch zu brauchen.

Drei Tage blieb ich bei Hilde, so lange, bis Mutter etwas Geld auf mein Konto überwiesen hatte und ich den Zug nach Bergen nehmen konnte. Er ging am Nachmittag, das Sonnenlicht strömte auf die bewaldete Landschaft in der Region Indre Agder herab, die es in ganz unterschiedlicher Weise aufnahm: Das Wasser der Seen und Flüsse glitzerte, die dichtstehenden Nadelbäume leuchteten, der Waldboden verfärbte sich rötlich, die Blätter der Laubbäume blinkten, wenn die seltenen Windstöße sie in Bewegung setzten. Mitten in diesem Spiel aus Licht und Farben wurden die Schatten allmählich größer und dichter. Ich stand lange am Fenster des hintersten Wagens und betrachtete die Details der Landschaft, die kontinuierlich verschwanden, wie zurückgeworfen, zugunsten des Neuen, das unablässig heranstürzte, ein Strom aus Baumstümpfen und Wurzeln, Findlingen und entwurzelten Bäumen, Bächen und Zäunen, unvermittelt auftauchenden Hängen mit Bauernhäusern und Traktoren. Das Einzige, was sich nicht veränderte, waren die Schienen, denen wir folgten, und die beiden Punkte, in denen die Sonne reflektiert wurde, die auf der gesamten Strecke auf ihnen lagen und leuchteten. Es war ein seltsames Phänomen, das aussah wie zwei Bälle aus Licht und sich nicht von der Stelle zu rühren schien, aber der Zug fuhr mit mehr als hundert Stundenkilometern und die Lichtbälle befanden sich immer in derselben Entfernung.

Im Laufe der Fahrt kehrte ich mehrfach dorthin zurück, um wieder die Lichtbälle zu sehen. Sie stimmten mich froh, fast glücklich, es war mir, als läge eine Hoffnung in ihnen.

Ansonsten saß ich auf meinem Sitz, rauchte, trank Kaffee und las ein paar Zeitungen, jedoch keine Bücher, weil ich dachte, es könne meine Prosa beeinflussen, dass ich verlieren könne, was mir einen Platz in der Akademie gesichert hatte. Nach einer Weile holte ich Ingvilds Briefe heraus. Ich hatte sie den ganzen Sommer über bei mir getragen, in den Falzlinien lösten sie sich allmählich auf, und ich konnte sie beinahe auswendig, aber sie verströmten ein Licht, etwas Gutes und Lustvolles, mit dem ich bei jeder Lektüre erneut in Kontakt kam. Es war sie, zum einen das, was mir von unserer einzigen Begegnung in Erinnerung geblieben war, zum anderen das, was in ihren Briefen von ihr aufschien, aber es war auch die Zukunft, das Unbekannte, das mich erwartete. Sie war anders, etwas anderes, und seltsamerweise wurde auch ich anders und etwas anderes, wenn ich an sie dachte. Ich hatte das Gefühl, dass der Gedanke an sie etwas in mir auslöschte, und das schenkte mir einen Neuanfang oder versetzte mich an einen anderen Ort.

Ich wusste, dass sie die Richtige war, das hatte ich sofort gesehen, aber vielleicht nicht gedacht, nur gespürt, dass all das, was sie in sich barg und war, was in ihren Augen aufblitzte, etwas war, zu dem ich hinein oder in dessen Nähe ich wollte.

Was war es?

Oh, eine Einsicht in sich selbst und die Situation, die ihr Lachen für einen Moment fortwischte, die in der nächsten Sekunde jedoch wieder auftauchte. Etwas Bewertendes und vielleicht sogar Skeptisches in ihrem Wesen, das überwunden werden wollte, jedoch Angst hatte, hintergangen zu werden. Darin lag ihre Verletzlichkeit, jedoch keine Schwäche.

Es hatte mir so sehr gefallen, mit ihr zu sprechen, und es hatte mir so sehr gefallen, Briefe mit ihr zu wechseln. Dass mein erster Gedanke am Tag nach unserer Begegnung ihr galt, musste nichts heißen, so war es oft, aber es war so geblieben, seither hatte ich täglich an sie gedacht, und mittlerweile waren vier Monate vergangen.

Ich wusste nicht, ob sie genauso empfand wie ich. Wahrscheinlich nicht, aber etwas im Ton ihrer Briefe sagte mir, dass auch sie die Spannung und Anziehungskraft spürte.

In Førde war Mutter aus ihrer Reihenhauswohnung in eine Souterrainwohnung in einem Haus gezogen, das etwa zehn Minuten vom Stadtzentrum entfernt in Angedalen stand. Sie lag schön, mit Wald auf der einen Seite und einem Feld auf der anderen, das an einen Fluss grenzte, war jedoch klein und studentisch, ein großes Zimmer mit Küche und Bad, das war alles. Sie wollte dort wohnen, bis sie etwas Besseres fand, was sie mieten oder eventuell sogar kaufen konnte. Ich wollte in der Zeit, in der ich bei ihr wohnte, schreiben, in den zwei Wochen bis zu meinem endgültigen Umzug nach Bergen, und sie schlug vor, mir das Sommerhaus ihres Onkel Steinar zur Verfügung zu stellen, es lag oben auf der alten Alm im Wald über dem Hof, von dem Großmutter stammte. Sie fuhr mich hinauf, wir tranken einen Kaffee vor der Hütte, dann fuhr sie zurück, und ich ging hinein. Kiefernholzwände, Kiefernholzboden, Kiefernholzdecke und Kiefernholzmöbel. Ein paar gewebte Teppiche, einige wenig künstlerische Bilder. In einem Korb ein Stapel Illustrierte, ein offener Kamin, eine kleine Küche.

Ich stellte den Esstisch an die einzige Wand, die fensterlos war, legte den Blätterstapel auf die eine Seite, den Kassettenstapel auf die andere und setzte mich, konnte aber nicht schreiben. Die Leere, die ich zum ersten Mal auf der Insel vor Antiparos empfunden hatte, machte sich wieder breit, ich erkannte sie, genau so war es dort gewesen. Die Welt war leer oder nichts, ein Bild, und ich war leer.

Ich legte mich ins Bett und schlief zwei Stunden. Als ich erwachte, dämmerte es. Das bläulich graue Abendlicht lag wie ein Schleier über dem Wald. Der Gedanke an das Schreiben widerstrebte mir nach wie vor, so dass ich mir stattdessen Schuhe anzog und hinausging.

Der Wasserfall oben im Wald rauschte, ansonsten war es vollkommen still.

Nein, irgendwo bimmelten ein paar Glocken.

Ich ging zu dem Weg am Bach hinunter und folgte ihm in den Wald hinauf. Die Fichten waren groß und dunkel, der Felsgrund unter ihnen war von Moos bedeckt, an einigen Stellen lagen die Wurzeln frei. An manchen versuchten dünne, kleine Laubbäume, sich einen Weg zum Licht zu bahnen, an anderen waren um umgestürzte Bäume herum kleine Lichtungen entstanden. Und entlang des Bachlaufs war die Landschaft natürlich offen, wo er wirbelte und schlug, sich über Felsen und Steine warf und stürzte. Ansonsten war alles dunkelgrün und dicht mit Nadeln übersät. Ich hörte meine Atemzüge, spürte meinen Herzschlag in der Brust, im Hals, der Schläfe, während ich aufwärts strebte. Das Rauschen des Wasserfalls wurde stärker, und schon bald stand ich auf dem Felsen über dem großen Gumpen und blickte auf die nackte, steil abfallende Felswand, an der das Wasser herabströmte.

Das war schön, aber ich hatte keine Verwendung dafür, und so stieg ich in den Wald neben dem Wasserfall hinauf, kletterte zu der nackten Felsfläche hoch, der ich bis zum etwa hundert Meter oberhalb gelegenen Gipfel folgen wollte.

Der Himmel war grau, das neben mir fließende Wasser glänzend und so klar wie Glas. Das Moos, auf dem ich ging, war nass und gab manchmal nach; dann rutschte der Fuß ab, und der dunkle Fels darunter wurde bloßgelegt.

Plötzlich sprang direkt vor meinen Füßen etwas fort.

Starr vor Angst blieb ich vollkommen regungslos stehen. Als wäre auch das Herz stehengeblieben.

Ein kleines, graues Geschöpf huschte davon, eine Maus oder eine Art kleine Ratte.

Ich lachte vorsichtig auf und stieg weiter nach oben, aber der Anflug von Angst hatte sich bei mir eingenistet, nun blickte ich mit Unbehagen in den finsteren Wald, und der Klangteppich des Wasserfalls, den ich bis dahin als etwas Gutes betrachtet hatte, veränderte sich zu etwas Bedrohlichem und hinderte mich daran, etwas anderes zu hören als meine eigenen Atemzüge, und so machte ich wenige Minuten später kehrt und ging wieder bergab.

An der ummauerten Feuerstelle vor der Hütte setzte ich mich und zündete mir eine Zigarette an. Es war schätzungsweise elf, vielleicht auch schon halb zwölf. Die Alm sah aus, wie sie ausgesehen haben musste, als Großmutter hier in den zwanziger und dreißiger Jahren gearbeitet hatte. Ja, alles sah mehr oder weniger noch genauso aus wie damals. Trotzdem war alles anders. Es war August 1988, ich war ein Mensch der achtziger Jahre, Zeitgenosse von Duran Duran und The Cure, nicht von der Geigen- und Akkordeonmusik, die Großvater damals hörte, wenn er mit einem Kameraden in der Dämmerung den Hang heraufschlenderte, um Großmutter und ihrer Schwester den Hof zu machen. Ich gehörte nicht hierher, das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Es half nicht, zu wissen, dass der Wald eigentlich ein Wald der achtziger Jahre war und die Berge eigentlich Berge der achtziger Jahre waren.

Also gut, was machte ich hier?

Ich wollte schreiben, aber das konnte ich nicht, denn im tiefsten Inneren meiner Seele war ich vollkommen einsam und allein.

Als die Woche vorbei war und Mutter den schmalen Kiesweg herauffuhr, saß ich auf der Treppe und wartete mit meinem fertig gepackten Rucksack zwischen den Beinen, ohne ein einziges Wort geschrieben zu haben.

»Hattest du eine schöne Zeit?«, fragte sie.

»Ja, klar«, antwortete ich. »Ich habe zwar nicht viel geschafft, aber davon abgesehen schon.«

»Aha«, meinte sie und sah mich an. »Vielleicht hat es dir ja auch gutgetan, dich einfach einmal ein bisschen auszuruhen.«

»Ja, bestimmt«, sagte ich und schnallte mich an, und daraufhin fuhren wir nach Førde zurück, wo wir Halt machten und im Sunnfjord Hotel essen gingen. Wir nahmen einen Tisch am Fenster, und Mutter hängte ihre Tasche über die Stuhllehne, ehe wir loszogen, um uns von dem Buffet in der Mitte des Speisesaals zu bedienen. Das Restaurant war fast leer. Als wir uns mit unseren Tellern setzten, kam ein Kellner zu uns, ich bestellte eine Cola, Mutter ein Mineralwasser, und als er gegangen war, begann sie, über die Pläne zu sprechen, die sie für die Schule, aus der jetzt offensichtlich etwas werden würde, für eine Weiterbildung in psychiatrischer Krankenpflege hatte. Die Räumlichkeiten hatte sie selbst gefunden, ihren Worten zufolge handelte es sich um ein prächtiges, altes Schulgebäude, das von der eigentlichen Krankenpflegeschule nicht sonderlich weit entfernt lag. Es habe eine Seele, erklärte sie, ein altes Holzgebäude, große Räume, hohe Decken, das sei etwas völlig anderes als der niedrige Steinbunker, in dem sie jetzt unterrichte.

»Das hört sich toll an«, sagte ich und blickte auf den Parkplatz hinaus, wo die wenigen Autos in der Sonne leuchteten. Der Hang am anderen Ufer des Flusses war vollständig grün, ausgenommen ein herausgesprengtes Areal mit Häusern, die mit ihren zahlreichen anderen Farben zu vibrieren schienen.

Der Kellner kehrte zurück, ich leerte meine Cola in einem einzigen langen Schluck. Mutter begann, über mein Verhältnis zu Gunnar zu sprechen. Sie meinte, dass ich ihn fast internalisiert und zu meinem Über-Ich gemacht zu haben scheine, das mir sage, was ich zu tun oder zu lassen habe, was falsch sei und was nicht.

Ich legte Messer und Gabel fort und sah sie an.

»Hast du etwa mein Tagebuch gelesen?«, fragte ich.

»Nein, dein Tagebuch nicht«, erwiderte sie. »Aber du hast ein Buch bei mir liegen lassen, in dem du auf deiner Reise geschrieben hast. Du bist doch immer so offen und erzählst mir alles.«

»Das war ein Tagebuch, Mama«, sagte ich. »Man liest die Tagebücher anderer Leute nicht.«

»Ja, da hast du recht«, sagte sie. »Das weiß ich auch, aber du hast es auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen, und deshalb kam es mir nicht so vor, als wäre es etwas, was du geheim halten wolltest.«

»Aber du musst doch gesehen haben, dass es ein Tagebuch war?«

»Nein«, widersprach sie. »Es war ja ein Reisetagebuch.«

»Schon gut, schon gut«, sagte ich. »Es war mein Fehler. Ich hätte es nicht liegen lassen sollen. Aber was soll das heißen, dass ich Gunnar internalisiert habe? Was meinst du damit?«

»So hat es auf mich gewirkt, als du den Traum und deine Gedanken dazu beschrieben hast.«

»Aha?«

»Dein Vater war ja immer sehr streng zu dir, als du noch ein Kind warst, aber dann ist er plötzlich verschwunden, und du hast vielleicht das Gefühl gehabt, dass du tun und lassen kannst, was du willst. Das sind zwei völlig verschiedene Wertvorstellungen, die beide irgendwie von außen kamen. Es geht aber darum, seine eigenen Grenzen zu finden. Das muss von innen kommen, aus einem selbst heraus. Dein Vater konnte das nicht, vielleicht war er ja deshalb so verwirrt.«

»Ist«, entgegnete ich. »Soweit ich weiß, lebt er noch. Jedenfalls habe ich vor einer Woche mit ihm telefoniert.«

»Jetzt scheint es jedoch so zu sein, dass du Gunnar an die Stelle deines Vaters gesetzt hast«, fuhr sie fort und sah mich kurz an. »Das hat doch nichts mit Gunnar zu tun, es sind deine eigenen Grenzen, um die es hier geht. Aber du bist jetzt erwachsen, das musst du selbst herausfinden.«

»Das versuche ich ja gerade zu tun, indem ich Tagebuch schreibe«, sagte ich, »aber dann lesen es alle möglichen Leute, so dass es unmöglich wird, etwas alleine herauszufinden.«

»Es tut mir leid«, erwiderte Mutter, »aber ich habe wirklich nicht gewusst, dass es in deinen Augen ein Tagebuch war. Sonst hätte ich es niemals gelesen.«

»Ich habe doch schon gesagt, dass es okay ist«, sagte ich. »Nehmen wir noch einen Nachtisch?«

Wir saßen in ihrer Wohnung zusammen und unterhielten uns bis in den späten Abend hinein, dann ging ich in den Flur, schloss hinter mir die Tür, holte die Luftmatratze, die an die Wand des kleinen Bads gelehnt stand, legte sie auf den Fußboden, bezog sie, zog mich aus, löschte das Licht und legte mich schlafen. Ich hörte, wie sie im Zimmer leise räumte, und darüber hinaus ab und zu ein vorbeifahrendes Auto. Der Plastikgeruch der Matratze erinnerte mich an meine Kindheit, ans Zelten, an weite Landschaften. Heute war eine andere Zeit, das Gefühl von freudiger Erwartung dagegen noch das gleiche. Am nächsten Tag würde ich nach Bergen fahren, in die große Studentenstadt, meine eigene Wohnung beziehen und auf die Akademie für Schreibkunst gehen. Abends und nachts würde ich im Café Opera sitzen oder im Hulen zu Konzerten toller Bands gehen. Das war fantastisch. Am fantastischsten war jedoch, dass Ingvild in dieselbe Stadt ziehen würde wie ich. Wir hatten ausgemacht, uns zu treffen, ich hatte eine Telefonnummer bekommen, die ich anrufen wollte, sobald ich dort war.

Es ist zu schön, um wahr zu sein, dachte ich auch, als ich erfüllt von innerer Unruhe und Freude über das, was beginnen würde, auf meiner Matratze lag. Ich lag mal auf der linken, mal auf der rechten Seite, während aus dem Wohnraum Mutters Stimme zu mir drang, sie sprach im Schlaf. Ja, sagte sie. Daraufhin folgte eine lange Pause. Ja, sagte sie erneut. Das ist wahr. Lange Pause. Ja. Ja. Mhm. Ja.

Am nächsten Tag fuhr Mutter mit mir ins Einkaufszentrum, sie wollte mir eine Jacke und eine Hose kaufen. Ich fand eine Jeansjacke mit Lederaufschlägen, die gar nicht übel aussah, und eine grüne, militärisch anmutende Hose und zusätzlich noch ein Paar schwarze Schuhe. Anschließend begleitete sie mich zum Bus, gab mir das Geld für die Fahrkarte, stand vor ihrem Wagen und winkte, als er vom Busbahnhof aus auf die Straße bog.

Nach einigen Stunden mit Wäldern, Wasser, schwindelnd hohen Bergen und engen Fjorden, Bauernhöfen und Feldern, einer Fähre und einem langgestreckten Tal, in dem der Bus im einen Augenblick hoch oben an einem Berghang entlangfuhr, im nächsten ganz unten am Ufer, und einer endlosen Reihe von Tunneln, erhöhte sich die Dichte der Häuser und Schilder, es gab immer mehr Ortschaften, und zu beiden Seiten der Straße tauchten Industriegebäude, Zäune, Tankstellen, Einkaufszentren und Neubausiedlungen auf. Ich sah ein Schild, das den Weg zur Handelshochschule wies, und dachte, auf die ist Mykle vor vierzig Jahren gegangen, ich sah die psychiatrische Klinik Sandviken, die wie eine Burg unter dem Berghang thronte, und auf der anderen Seite das Wasser, das in der Nachmittagssonne glitzerte, voller Segel und Boote, die im Dunst unscharf erschienen, vor dem Hintergrund von Inseln und Bergen und dem tief hängenden Himmel über Bergen.

Am äußeren Ende von Bryggen stieg ich aus dem Bus, Yngve hatte die Abendschicht im Hotel Orion übernommen, wo ich mir den Schlüssel zu seiner Wohnung abholen sollte. Die Stadt um mich herum war in jene Schläfrigkeit verfallen, wie nur Spätsommernachmittage sie hervorlocken können. Vereinzelte Gestalten, die in Shorts und T-Shirt mit langen und flackernden Schatten hinter sich vorbeitrotteten. Sonnenschimmernde Häuserwände, regungslose Laubbäume, ein Segelboot, das mit nackten Masten aus dem Hafen tuckerte.

Die Rezeption des Hotels war voller Menschen, Yngve stand vielbeschäftigt hinter dem Empfang, blickte zu mir auf und meinte, gerade sei ein Bus mit Amerikanern angekommen, schau, hier ist der Schlüssel, wir sehen uns dann später, okay?

Ich nahm einen Bus zum Danmarksplass und ging die letzten dreihundert Meter zu seiner Wohnung hinauf, schloss die Tür auf, stellte den Rucksack im Flur ab, blieb eine Weile ganz still stehen und überlegte, was ich tun sollte. Die Fenster gingen nach Norden hinaus, und die Sonne stand im Westen und war auf dem Weg ins Meer, so dass die Zimmer dunkel und kühl waren. Es roch nach Yngve. Ich ging ins Wohnzimmer und schaute mich um, danach ins Schlafzimmer. Dort hing ein neues Plakat, es war eine geisterhafte Fotografie von einer nackten Frau, unter der Munch und die Fotografie stand. Darüber hinaus hingen dort Aufnahmen, die er selbst gemacht hatte, eine Bilderreihe aus Tibet, die Erde war glänzend rot, eine Gruppe zerlumpter Jungen und Mädchen posierte für ihn, ihre Blicke waren dunkel und fremd. In der Ecke, neben der Schiebetür, stand seine Gitarre an den Verstärker gelehnt, auf dem ein klobiges Hall-Effektgerät stand. Eine schlichte, weiße IKEA-Decke und zwei Kissen verwandelten das Bett in eine Couch.

Als Gymnasiast hatte ich Yngve einige Male besucht, und seine Zimmer hatten für mich etwas fast schon Heiliges, sie verkörperten, was er war und was ich werden wollte. Etwas, was sich außerhalb meines Daseins befand und worin ich eines Tages einziehen würde.

Jetzt bin ich hier, dachte ich, ging in die Küche und machte mir ein paar Brote, die ich am Fenster stehend aß, mit Aussicht auf die Reihen alter Arbeiterwohnungen, die in Terrassen bis zum Fjøsangerveien ganz unten gingen. Auf der anderen Seite der Stadt schimmerte auf dem Berg Ulriken der Rundfunkmast im Sonnenschein.

Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich in letzter Zeit oft alleine gewesen war. Abgesehen von den wenigen Tagen zunächst mit Hilde und danach mit Mutter, war ich mit keinem Menschen zusammen gewesen, seit ich mich in Athen von Lars verabschiedet hatte. Deshalb konnte ich es kaum erwarten, dass Yngve nach Hause kam.

Ich legte eine Platte von den Stranglers auf und ließ mich mit einem seiner Fotobücher auf der Couch nieder. Ich hatte Bauchschmerzen, wusste aber nicht, aus welchem Grund. Es fühlte sich an wie ein Hunger, nicht auf Essbares, sondern auf alles andere.

War Ingvild auch schon in der Stadt? Saß sie jetzt irgendwo in einer der hunderttausend Wohnungen, die mich umgaben?

Eine der ersten Fragen, die Yngve mir stellte, als er nach Hause kam, lautete, wie es mit Ingvild lief. Ich hatte ihm nicht viel erzählt, nur ein paar Worte, als wir Anfang des Sommers auf der Treppe zusammensaßen, aber es hatte ausgereicht, um ihm deutlich zu machen, dass es ernst war. Vielleicht auch, dass es eine große Sache für mich war.

Ich erzählte ihm, dass sie in diesen Tagen in die Stadt kommen und draußen in Fantoft wohnen würde und dass ich sie anrufen wolle, um mich ein erstes Mal mit ihr zu verabreden.

»Vielleicht wird das ja dein großes Jahr«, meinte er. »Eine neue Freundin, die Akademie …«

»Noch sind wir nicht zusammen.«

»Nein, aber nach dem, was du so erzählst, scheint sie nicht abgeneigt zu sein, oder?«

»Das mag sein, aber ich bezweifle, dass es für sie genauso überwältigend ist wie für mich.«

»Aber das kann es ja noch werden. Wenn du es geschickt anstellst.«

»Ausnahmsweise einmal?«

»Das hast du gesagt«, erwiderte er und sah mich an. »Möchtest du ein Glas Wein?«

»Ja, gern.«

Er stand auf, verschwand in der Küche, tauchte mit einer Karaffe in der Hand wieder auf und ging ins Bad. Ich hörte es blubbern und gluckern und danach ein kurzes Rieseln, ehe er mit einer vollen Karaffe in der Hand zurückkehrte.

»Jahrgang 1988«, erklärte er. »Aber er schmeckt eigentlich ganz gut. Außerdem habe ich sehr viel davon.«

Ich trank einen Schluck. Er war so sauer, dass mir schauderte.

Yngve grinste.

»Ganz gut?«, sagte ich.

»Der Geschmack ist natürlich relativ«, meinte er. »Du musst ihn mit anderen selbstgemachten Weinen vergleichen.«

Wir tranken eine Weile, ohne etwas zu sagen. Yngve stand auf und ging zu seiner Gitarre und dem Verstärker.

»Ich habe seit dem letzten Mal zwei Lieder geschrieben«, sagte er. »Möchtest du sie hören?«

»Ja, klar«, antwortete ich.

»Na ja, Lieder ist vielleicht übertrieben«, sagte er und zog das Gitarrenband über die Schulter. »Eigentlich sind es nur ein paar Riffs.«

Als ich ihn dort stehen sah, wurde ich plötzlich von Zärtlichkeit für ihn erfüllt.

Er drehte den Verstärker an, wandte mir den Rücken zu und stimmte die Gitarre, schaltete das Effektgerät ein und begann zu spielen.

Das zärtliche Gefühl verschwand, denn was er mir vorspielte, war gut, der Gitarrenklang war mächtig und majestätisch, die Riffs waren melodiös und zupackend, es hörte sich an wie eine Mischung aus The Smiths und The Chameleons. Ich begriff nicht, woher er das nahm. Sowohl in seiner Musikalität als auch in seinem Geschick war er mir weit überlegen. Er hatte es einfach gekonnt, von Anfang an, als wäre es immer schon da gewesen.

Erst als er fertig war und die Gitarre wegstellte, wandte er sich mir zu.

»Das war echt gut«, erklärte ich.

»Findest du?«, sagte er und setzte sich wieder auf die Couch. »Das sind nur Kleinigkeiten. Ich bräuchte ein paar Texte, dann könnten fertige Lieder daraus werden.«

»Ich verstehe nicht, warum du nicht in einer Band spielst?«

»Na ja«, sagte er. »Manchmal spiele ich ein bisschen mit Pål. Sonst kenne ich niemanden, der ein Instrument spielt. Aber jetzt bist du ja hier.«

»Ich kann aber nicht spielen.«

»Du kannst ja fürs Erste ein paar Texte schreiben. Außerdem spielst du Schlagzeug, nicht?«

»Nein«, widersprach ich. »Ich bin zu schlecht. Aber vielleicht könnte ich ja wirklich etwas schreiben. Das würde mir Spaß machen.«

»Tu das«, sagte er.

Der Herbst rückt näher, dachte ich, als wir vor dem langgestreckten, flachen, steinernen Reihenhaus auf der Straße standen und auf unser Taxi warteten. Der hellen Sommernacht war eine Tiefe eigen, die nicht greifbar war, aber dennoch unverkennbar existierte. Die Verheißung von etwas Feuchtem und Dunklem und magisch Anziehendem.

Ein paar Minuten später kam das Taxi, wir stiegen ein, es fuhr schnell und sportlich zum Danmarksplass hinunter, an dem großen Kino vorbei und über eine Brücke, am Nygårdsparken vorbei und ins Stadtzentrum, wo ich die Orientierung verlor, die Straßen waren nur noch Straßen, die Häuser nur Häuser, ich verschwand in der großen Stadt, wurde von ihr verschluckt, und das gefiel mir, denn gleichzeitig wurde ich für mich selbst sichtbar, der junge Mann auf dem Weg in die große Stadt, voller Glas und Beton und Asphalt, fremde Menschen im Licht von Straßenlaternen und Fenstern und Schildern. Als wir weiter hineinrollten, lief mir ein Schauer über den Rücken. Der Motor brummte, die Ampeln schlugen von Grün auf Rot um, wir hielten vor etwas, was offenbar der Busbahnhof war.

»Waren wir da nicht schon einmal aus?«, fragte ich und nickte in Richtung eines Gebäudes auf der anderen Straßenseite.

»Stimmt«, sagte Yngve.

Ich war sechzehn gewesen, hatte ihn zum ersten Mal besucht; um hineinzukommen, war ich mit einem der Mädchen, mit denen wir unterwegs waren, Hand in Hand gegangen. Ich hatte mir Yngves Deo geliehen, und in den Minuten, bevor wir aus dem Haus gingen, hatte er vor mir gestanden, die Ärmel meines Hemds hochgeschlagen, mir sein Haargel gereicht, mich betrachtet, als ich es in die Haare einmassierte, und schließlich gesagt, in Ordnung, lass uns gehen.

Jetzt war ich neunzehn, und das alles gehörte mir.

Ich sah kurz den kleinen See mitten in der Stadt, dann bogen wir links ab und fuhren an einem großen Betongebäude vorbei.

ENDE DER LESEPROBE

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Die norwegische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Min Kamp 5« im Verlag Oktober, Oslo.

Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2010

Forlaget Oktober as, Oslo

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

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Paul Celan »Todesfuge« aus:

Paul Celan, Mohn und Gedächtnis, © 1952 Deutsche Verlags-Anstalt,

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Umschlaggestaltung: buxdesign /München

unter Verwendung eines Motivs von © Plainpicture/Wildcard

Lektorat: Regina Kammerer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-10208-1

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