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Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Das eigene Leben offen, schonungslos und radikal zum Gegenstand des Schreibens zu machen – dies ist das Konzept, zu dem sich Karl Ove Knausgård in einem furiosen Mammutprojekt entschlossen hat. Radikal ehrlich und mit unglaublicher sprachlicher Kraft nähert er sich in »Sterben«, dem ersten Roman einer sechsbändigen Serie, seinem schwierigen Verhältnis zum Vater, das ihn grundlegend geprägt hat.

Als dieser stirbt und er sich mit seinem Bruder daran macht, den Nachlass zu ordnen, bietet sich beiden ein Bild des Grauens. Während sie das Haus reinigen und die Beerdigung vorbereiten, kommen Erinnerungen hoch. Nach und nach entsteht so das Porträt eines Mannes, über den sich in der Kindheit das Gleichgewicht der Familie definierte und den die beiden Söhne unsäglich zu hassen lernten. So sehr hat dieser Vater einen Schatten auf das Leben der Brüder geworfen, dass sie den Bestatter bitten, die Leiche sehen zu dürfen. Erst dann, so sind sich beide einig, werden sie glauben können, dass er wirklich tot ist. Der Sog, der von Knausgårds direkter Art des Erzählens schon mit den ersten Sätzen ausgeht, macht seinen Roman zu einer faszinierenden und erschütternden Lektüre. Gerade weil er so radikal persönlich schreibt, gewinnt sein Text eine schmerzliche Allgemeingültigkeit. Selten ist in einem Stück Literatur so greif- und fühlbar geworden, was jeder Mensch ist: ein einmaliger und unerschöpflicher innerer Kosmos.

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KARL OVE KNAUSGÅRD

Sterben

roman

Aus dem Norwegischen von Paul Berf

Luchterhand

Das eigene Leben offen, schonungslos und radikal zum Gegenstand des Schreibens zu machen – dies ist das Konzept, zu dem sich Karl Ove Knausgård in einem furiosen Mammutprojekt entschlossen hat. Radikal ehrlich und mit unglaublicher sprachlicher Kraft nähert er sich in »Sterben«, dem ersten Roman einer sechsbändigen Serie, seinem schwierigen Verhältnis zum Vater, das ihn grundlegend geprägt hat. Der Sog, der von Knausgårds direkter Art des Erzählens schon mit den ersten Sätzen ausgeht, macht seinen Roman zu einer faszinierenden und erschütternden Lektüre. Gerade weil er so radikal persönlich schreibt, gewinnt sein Text eine schmerzliche Allgemeingültigkeit. Selten ist in einem Stück Literatur so greif- und fühlbar geworden, was jeder Mensch ist: ein einmaliger und unerschöpflicher innerer Kosmos.
KARL OVE KNAUSGÅRD wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt in London.
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Die norwegische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Min kamp« im Verlag Oktober, Oslo Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.
Copyright © der Originalausgabe 2009 Forlaget Oktober as, Oslo Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München. Satz: Uhl + Massopust, Aalen Umschlaggestaltung: Roland Eschlbeck Umschlagmotiv: © Christina Ottosson Öygarden ISBN 978-3-641-05508-0V005
www.luchterhand-literaturverlag.de

TEIL EINS

FÜR DAS HERZ IST DAS LEBEN EINFACH: Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es. Früher oder später, an dem einen oder anderen Tag, hört seine stampfende Bewegung ganz von alleine auf, und das Blut fließt zum niedrigsten Punkt des Körpers, wo es sich in einer kleinen Lache sammelt, von außen sichtbar als dunkle und feuchte Fläche unter der beständig weißer werdenden Haut, während die Temperatur sinkt, die Glieder erstarren und die Gedärme sich entleeren. Diese Veränderungen der ersten Stunden geschehen so langsam und werden mit solcher Sicherheit vollzogen, dass ihnen fast etwas Rituelles innewohnt, als kapitulierte das Leben festen Regeln folgend, in einer Art gentlemen’s agreement, an das sich auch die Repräsentanten des Todes halten, indem sie stets abwarten, bis sich das Leben zurückgezogen hat, ehe sie ihre Invasion der neuen Landschaft beginnen. Dann jedoch ist sie unwiderruflich. Die riesigen Bakterienschwärme, die sich im Inneren des Körpers ausbreiten, hält nichts mehr auf. Hätten sie es nur ein paar Stunden früher versucht, wären sie augenblicklich auf Widerstand gestoßen, doch nun ist ringsum alles still, und sie dringen fortwährend tiefer in das Feuchte und Dunkle vor. Sie erreichen die Haversschen Kanäle, die Lieberkühnschen Drüsen, die Langerhansschen Inseln. Sie erreichen die Bowman-Kapseln in der Niere, die Stilling-Clarkes’sche Säule im Spinalis, die schwarze Substanz im Mesencephalon. Und sie erreichen das Herz. Noch ist es intakt; aber der Bewegung beraubt, auf die seine gesamte Konstruktion abzielt, wirkt es eigentümlich verlassen, wie eine Fabrikanlage, zum Beispiel, die von den Arbeitern in Windeseile geräumt werden musste, die still liegenden Fuhrwerke, die sich gelb abheben vor dem Dunkel des Waldes, die leer stehenden Baracken, die Loren an der Seilbahn, die voll beladen, in Reih und Glied, parallel zur Felswand hängen.

Wenn das Leben den Körper verlässt, gehört dieser im selben Moment zum Toten. Die Lampen, Koffer, Teppiche, Türklinken, Fenster. Die Felder, Moore, Bäche, Berge, Wolken, der Himmel. Nichts von all dem ist uns fremd. Die Gegenstände und Phänomene der toten Welt umgeben uns kontinuierlich. Dennoch gibt es nur wenige Dinge, die uns unangenehmer berühren, als einen Menschen in ihr gefangen zu sehen, zumindest wenn man die Mühen bedenkt, die wir auf uns nehmen, um die toten Körper unseren Augen zu entziehen. In größeren Krankenhäusern werden sie nicht bloß in eigenen, unzugänglichen Räumen vor uns verborgen, nein, auch die Wege dorthin sind verdeckt, haben eigene Aufzüge und Kellergänge, und selbst wenn man sich zufällig in einen von ihnen verirren sollte, sind die toten Körper, die vorbeigeschoben werden, doch immer verhüllt. Sollen sie vom Krankenhaus abtransportiert werden, geschieht dies von einem gesonderten Ausgang aus, in Wagen mit rußigen Scheiben; auf dem Friedhofsgelände gibt es für sie einen eigenen, fensterlosen Raum; bei der Bestattungszeremonie liegen sie in verschlossenen Särgen, bis sie schließlich in die Erde hinabgesenkt oder in Öfen verbrannt werden. Es fällt einem schwer, in dieser Vorgehensweise einen praktischen Sinn zu entdecken. So könnten die toten Körper ebenso gut offen durch die Krankenhausflure geschoben und in einem gewöhnlichen Taxi abtransportiert werden, ohne eine Gefahr für andere darzustellen. Der ältere Mann, der während eines Kinobesuchs stirbt, könnte genauso gut auf seinem Platz sitzenbleiben, bis der Film vorbei ist und die komplette nächste Vorstellung noch dazu. Der Lehrer, der auf dem Schulhof einen Hirnschlag erleidet, muss nicht zwingend auf der Stelle weggeschafft werden, es passiert nichts Schlimmes, wenn er liegen bleibt, bis der Hausmeister die Zeit findet, sich um ihn zu kümmern, selbst wenn dies erst am Nachmittag oder Abend der Fall sein sollte. Wenn sich ein Vogel auf ihn setzt und pickt, was macht das schon? Soll das, was ihn im Grab erwartet, besser sein, nur weil wir es nicht sehen? Solange die Toten einem nicht im Weg liegen, besteht kein Grund zur Eile, sie können ja nicht erneut sterben. Insbesonders winterliche Kältewellen müssten so gesehen eigentlich von Vorteil sein. Penner, die auf Parkbänken und in Hauseingängen erfrieren, Selbstmörder, die von Hochhäusern und Brücken springen, ältere Frauen, die in Treppenhäusern ums Leben kommen, Unfallopfer, die in ihren Autowracks eingeklemmt sind, der Junge, der nach einem Abend in der Stadt angetrunken in den See fällt, das kleine Mädchen, das unter die Räder eines Busses gerät, warum diese Eile, sie unseren Augen zu entziehen? Anstand? Was wäre anständiger, als dass die Eltern des Mädchens es dort ein oder zwei Stunden später sehen dürften, im Schnee neben der Unglücksstelle liegend, sowohl ihre blutbesudelten Haare als auch die saubere Steppjacke? Offen für die Welt, ohne Geheimnisse, so würde sie dort liegen. Doch selbst diese eine Stunde im Schnee ist undenkbar. Eine Stadt, die ihre Toten nicht aus dem Blickfeld entfernt, in der man sie auf Straßen und Gassen, in Parks und auf Parkplätzen liegen sieht, ist keine Stadt, sondern eine Hölle. Dass diese Hölle unsere Lebensbedingungen realistischer und letztlich wahrhaftiger widerspiegelt, spielt keine Rolle. Wir wissen, dass es so ist, wollen es aber nicht sehen. Daher rührt der kollektive Akt der Verdrängung, für den das Wegschleusen der Toten ein Ausdruck ist.

Was genau verdrängt wird, lässt sich dagegen nicht so leicht sagen. Der Tod an sich kann es nicht sein, dazu ist seine Präsenz in unserer Gesellschaft zu groß. Wie viele Tote täglich in den Zeitungen oder Fernsehnachrichten genannt werden, schwankt den Umständen entsprechend etwas, aber auf ein Jahr hochgerechnet dürfte die durchschnittliche Zahl einigermaßen konstant sein, und da sie auf zahlreiche Informationskanäle verteilt ist, erscheint es praktisch unmöglich, ihr zu entgehen. Dieser Tod wirkt allerdings nicht bedrohlich. Im Gegenteil, er ist etwas, was wir haben möchten, und wir bezahlen gern, um ihn zu sehen. Nimmt man die immensen Mengen von Tod hinzu, die fiktional produziert werden, fällt es umso schwerer, das System zu verstehen, das die Toten unserem Blickfeld entzieht. Wenn uns der Tod als Phänomen nicht ängstigt, woher rührt dann dieses Unbehagen angesichts der toten Körper? Es muss entweder bedeuten, dass es zwei Arten von Tod gibt, oder dass ein Widerspruch existiert zwischen unserer Vorstellung vom Tod und dem Tod, wie er in Wahrheit beschaffen ist, was im Grunde auf dasselbe hinausläuft: Entscheidend ist, dass unsere Vorstellung von ihm so fest in unserem Bewusstsein verankert ist, dass wir nicht nur erschüttert sind, wenn wir die Wirklichkeit davon abweichen sehen, sondern dies auch mit allen Mitteln zu verbergen suchen. Nicht als Folge einer irgendwie gearteten, bewussten Überlegung, wie es bei Riten geschieht, zum Beispiel der Beerdigung, deren Inhalt und Sinn heutzutage verhandelbar sind und somit von der Sphäre des Irrationalen in die des Rationalen überführt, vom Kollektiven zum Individuellen – nein, die Art und Weise, in der wir die Toten entfernen, ist niemals Gegenstand von Diskussionen gewesen, es war schon immer etwas, was wir einfach getan haben, aus einer Notwendigkeit heraus, die keiner begründen kann, aber jeder kennt: Stirbt dein Vater an einem stürmischen Sonntag im Herbst draußen auf dem Hof, deckst du ihn zumindest zu. Dies ist jedoch nicht der einzige Impuls, der uns im Umgang mit den Toten ereilt. Ebenso auffällig wie das Verbergen aller Leichen ist die Tatsache, dass sie schnellstmöglich auf Erdbodenniveau gebracht werden. Ein Krankenhaus, das seine Toten nach oben verfrachtet, seine Obduktionssäle und Leichenhallen in den obersten Etagen des Gebäudes unterbringt, ist nahezu undenkbar. Die Toten bewahrt man möglichst weit unten auf. Und das gleiche Prinzip wird auf die Firmen übertragen, die sich ihrer annehmen: eine Versicherung kann ihre Räumlichkeiten getrost in der achten Etage einrichten, ein Beerdigungsinstitut dagegen nicht. Alle Bestatter haben ihre Büros möglichst nahe am Erdgeschoss. Woher das kommt, ist schwer zu sagen; man könnte versucht sein zu glauben, dass es an einer alten Konvention liegt, die ursprünglich ein praktisches Ziel verfolgte, etwa, dass der Keller kalt war und deshalb am besten zur Aufbewahrung der Leichen geeignet, und dass dieses Prinzip bis in unsere Zeit der Kühlschränke und Kühlräume erhalten blieb, und sollte dies nicht so sein, dass der Gedanke, die Toten in Gebäuden nach oben zu transportieren, widernatürlich erscheint, als schlössen Höhe und Tod einander gegenseitig aus. Als verfügten wir über eine Art chtonischen Instinkt, irgendetwas tief in uns, das unsere Toten zu jener Erde hinabführen muss, aus der wir gekommen sind.

Es mag folglich den Anschein haben, als würde der Tod über zwei unterschiedliche Systeme vertrieben. Das eine ist mit Geheimhaltung und Schwere, Erde und Dunkelheit verknüpft, das andere mit Offenheit und Leichtigkeit, Äther und Licht. Ein Vater und sein Kind werden getötet, als der Vater versucht, das Kind in einer Stadt irgendwo im Nahen Osten aus der Schusslinie zu ziehen, und das Bild der beiden, eng umschlungen, während die Kugeln ins Fleisch einschlagen und die Körper gleichsam erbeben lassen, wird von einer Kamera eingefangen und zu einem der tausenden Satelliten gesendet, die unseren Planeten umkreisen, und von dort auf Fernsehapparate in aller Welt verteilt, wo es sich als ein weiteres Bild von Tod oder Sterben in unser Bewusstsein schiebt. Diese Bilder haben kein Gewicht, keine Ausdehnung, keine Zeit und keinen Ort und auch keine Verbindung zu den Körpern, aus denen sie einmal kamen. Sie sind überall und nirgendwo. Die meisten von ihnen gleiten lediglich durch uns hindurch und verschwinden, einige wenige bleiben aus unterschiedlichen Gründen gegenwärtig und leben in der Dunkelheit unseres Gehirns. Eine Abfahrtsläuferin stürzt, und die Schlagader in ihrem Oberschenkel wird durchtrennt, Blut strömt hinter ihr in einer roten Linie den weißen Hang hinunter, und sie ist bereits tot, noch ehe der Körper zum Stillstand kommt. Ein Flugzeug hebt ab und beim Aufsteigen der Maschine schlagen Flammen aus den Tragflächen, der Himmel über den Häusern der Vorstadt ist blau, das Flugzeug explodiert darunter in einem Feuerball. Ein Fischerboot sinkt eines Abends vor der nordnorwegischen Küste, die siebenköpfige Besatzung ertrinkt, am nächsten Morgen berichten alle Zeitungen über das Ereignis, da es sich um ein so genanntes Mysterium handelt, das Wetter war ruhig, und das Boot hatte keinen Notruf abgesetzt, es verschwand einfach, was die Fernsehredaktionen am Abend zusätzlich betonen, indem sie mit einem Hubschrauber die Unglücksstelle überfliegen und Bilder von der leeren See zeigen. Der Himmel ist bewölkt, die graugrüne Dünung ruhig und schwer, gleichsam im Besitz eines anderen Temperaments als die jähen, weithin schäumenden Kämme, die an manchen Stellen hochschlagen. Ich sitze alleine davor und sehe es, vermutlich irgendwann im Frühling, denn mein Vater arbeitet im Garten. Ohne zu hören, was der Reporter sagt, starre ich auf die Meeresoberfläche und plötzlich tauchen die Umrisse eines Gesichtes auf. Ich weiß nicht, wie lange es da ist, ein paar Sekunden vielleicht, jedenfalls lange genug, um mich ungeheuer zu beeindrucken. Als das Gesicht verschwindet, stehe ich auf, um jemanden zu suchen, dem ich davon erzählen kann. Meine Mutter hat Spätdienst, mein Bruder ist bei einem Fußballspiel, und die anderen Kinder in unserer Siedlung wollen mir nicht zuhören, bleibt also nur Vater, denke ich und eile die Treppe hinunter und laufe ums Haus herum. Wir dürfen auf unserem Grundstück nicht rennen, weshalb ich, bevor ich in sein Blickfeld gelange, abbremse und gehe. Er steht auf der Rückseite des Hauses, mitten in dem, was einmal der Gemüsegarten werden soll, und schlägt mit einem Vorschlaghammer auf einen Felsbrocken ein. Obwohl die Ausschachtung nur einen Meter tief ist, haben die schwarze, hochgeschaufelte Erde, auf der er steht, und die Gruppe von Vogelbeerbäumen, die gleich jenseits des Zauns hinter ihm wachsen, dafür gesorgt, dass die Abenddämmerung dort unten bereits weiter fortgeschritten ist. Als er sich aufrichtet, liegt sein Gesicht fast vollständig im Dunkeln.

Trotzdem verfüge ich über mehr als genug Informationen, um zu wissen, woran ich bei ihm bin. Man erkennt es nicht am Gesichtsausdruck, sondern an seiner Körperhaltung, und diese deutet man nicht mit Gedanken, sondern intuitiv.

Er stellt den Hammer ab, zieht die Handschuhe aus.

»Und?«, sagt er.

»Ich habe im Fernsehen ein Gesicht im Meer gesehen«, sage ich und bleibe auf dem Rasen über ihm stehen. Unser Nachbar hat am frühen Nachmittag eine Fichte gefällt, und der intensive Harzgeruch, den die Holzscheiben verströmen, die auf der anderen Seite der Steinmauer lagern, hängt in der Luft.

»Einen Taucher?«, sagt mein Vater. Er weiß, dass ich mich für Taucher interessiere, und kann sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ich etwas anderes spannend genug finden könnte, um zu ihm zu kommen und ihm davon zu erzählen.

Ich schüttele den Kopf.

»Es war kein Mensch. Es war eine Art Bild in der See.«

»Eine Art Bild«, sagt er und zieht die Zigarettenschachtel aus der Tasche auf seiner Hemdbrust.

Ich nicke und mache kehrt, um zurückzugehen.

»Warte mal kurz«, sagt er.

Er lässt ein Streichholz aufflammen und schiebt den Kopf ein wenig vor, um die Zigarette anzuzünden. Die Flamme gräbt ein kleines Loch aus Licht in das graue Zwielicht.

»So«, sagt er.

Nachdem er einen tiefen Zug genommen hat, setzt er einen Fuß auf den Fels und starrt zum Wald auf der anderen Straßenseite hinüber. Vielleicht starrt er aber auch den Himmel über den Bäumen an.

»War das, was du da gesehen hast, ein Bild von Jesus?«, sagt er und sieht zu mir hoch. Wäre seine Stimme noch freundlich gewesen und hätte es die lange Pause vor der Frage nicht gegeben, hätte ich angenommen, dass er mich auf den Arm nehmen will. Er findet es ein bisschen peinlich, dass ich gläubig bin; sein größter Wunsch ist, dass ich mich nicht von den anderen Kindern unterscheide, und unter all den Kindern, von denen die Siedlung nur so wimmelt, gibt es niemanden sonst als seinen jüngsten Sohn, der sich als Christ bezeichnet.

Aber er möchte es tatsächlich wissen.

Ich verspüre einen Anflug von Freude, weil es ihn wirklich interessiert, bin aber auch ein bisschen beleidigt darüber, dass er mich so unterschätzt.

Ich schüttele den Kopf.

»Es war nicht Jesus«, sage ich.

»Es freut mich fast, das zu hören«, erwidert Vater und lächelt. Oben auf dem Hang hört man das schwache Wispern von Fahrradreifen auf Asphalt. Das Geräusch wird schnell lauter, und es ist so still in unserer Siedlung, dass der leise, singende Ton, der in dem Rauschen entsteht, klar und deutlich zu hören ist, als das Fahrrad im nächsten Moment auf der Straße hinter uns vorbeirollt.

Vater zieht noch einmal an seiner Zigarette, wirft sie halb geraucht über die Steinmauer, hustet ein paar Mal, zieht die Handschuhe an und greift wieder nach dem Hammer.

»Denk nicht mehr daran«, sagt er und blickt zu mir hoch.

Ich war an jenem Abend acht, mein Vater dreißig. Auch wenn ich selbst heute noch nicht behaupten kann, ihn zu verstehen oder zu wissen, was für ein Mensch er war, ergibt sich aus der Tatsache, dass ich mittlerweile sieben Jahre älter bin, als er damals war, dass mir einzelne Dinge leichter verständlich erscheinen. Zum Beispiel, wie groß der Unterschied zwischen unseren Tagen war. Während meine Tage bis zum Rand mit Sinn gefüllt waren und jeder Schritt mir neue Möglichkeiten eröffnete und jede Möglichkeit mich restlos ausfüllte, und zwar in einer Weise, die mir heute letztlich unverständlich ist, war der Sinn seiner Tage nicht in einzelnen Begebenheiten gebündelt, sondern über so große Flächen verstreut, dass es kaum möglich ist, ihn mit etwas anderem als abstrakten Begriffen greifbar werden zu lassen. »Familie« war so einer, »Karriere« ein anderer. Wenige oder auch gar keine unvorhergesehenen Möglichkeiten dürften sich ihm im Laufe seiner Tage geboten haben, er muss immer in groben Zügen gewusst haben, was sie ihm bringen würden und wie er dazu stehen sollte. Er war seit zwölf Jahren verheiratet, von denen er acht Jahre als Lehrer in einer Gesamtschule gearbeitet hatte, er hatte zwei Kinder, ein Haus und ein Auto. Er war in den Gemeinderat gewählt worden und saß als Vertreter der Partei Venstre im Gemeindevorstand. Im Winterhalbjahr beschäftigte er sich durchaus erfolgreich mit Philatelie, binnen kurzer Zeit war er einer der kundigsten Briefmarkensammler der Region geworden, während er seine Freizeit im Sommerhalbjahr mit Gartenarbeit verbrachte. Was er an diesem Frühlingsabend dachte, weiß ich nicht, ebenso wenig, welches Bild er von sich hatte, als er sich mit dem Hammer in den Händen im Zwielicht aufrichtete, aber ich bin mir einigermaßen sicher, dass es in ihm das Gefühl gab, die Welt, die ihn umgab, recht gut zu verstehen. Er kannte alle Nachbarn in unserer Siedlung und wusste, wo sie im Verhältnis zu ihm selbst gesellschaftlich standen, und vermutlich wusste er auch einiges über Dinge, die sie lieber für sich behalten hätten, zum einen, weil er ihre Kinder unterrichtete, zum anderen, weil er einen Blick für die Schwächen anderer Menschen hatte. Als Mitglied der neuen, gut ausgebildeten Mittelschicht wusste er zudem viel über die große Welt, über die ihn Zeitung, Rundfunk und Fernsehen täglich auf dem Laufenden hielten. Er wusste einiges über Botanik und Zoologie, da er sich in seiner Jugend dafür interessiert hatte, und auch wenn er in den übrigen naturwissenschaftlichen Fächern nicht so bewandert zu sein schien, waren ihm doch ihre grundlegenden Prinzipien aus dem Gymnasium bekannt. Besser stand es um seine Kenntnisse in Geschichte, da er das Fach neben Norwegisch und Englisch studiert hatte. Er war mit anderen Worten kein Experte für irgendetwas, abgesehen von Pädagogik vielleicht, konnte jedoch von allem etwas. So gesehen war er ein typischer Lehrer, wohlgemerkt zu einer Zeit, in der es noch mit einem gewissen Status verbunden war, an einer Gesamtschule zu unterrichten. Unser Nachbar hinter der Steinmauer, Prestbakmo, arbeitete als Lehrer an derselben Schule, genau wie der Nachbar, der oberhalb des bewaldeten Hangs hinter dem Haus wohnte, Olsen, während ein anderer Nachbar, der am anderen Ende der Ringstraße wohnte, Knudsen, stellvertretender Direktor an einer anderen Gesamtschule war. Als mein Vater an jenem Frühlingsabend Mitte der siebziger Jahre den Vorschlaghammer über den Kopf hob und ihn auf den Fels hinabsausen ließ, tat er dies folglich in einer Welt, die er kannte und die ihm vertraut war. Erst als ich selbst in das gleiche Alter kam, begriff ich, dass man dafür auch einen Preis bezahlt. Wenn der Überblick über die Welt größer wird, schwindet nicht nur der Schmerz, den sie verursacht, sondern auch der Sinn. Die Welt zu verstehen heißt, einen bestimmten Abstand zu ihr einzunehmen. Was zu klein ist, um mit dem bloßen Auge wahrgenommen zu werden, wie Moleküle und Atome, vergrößern wir, und was zu groß ist, wie Wolkengebilde, Flussdeltas, Sternbilder, verkleinern wir. Wenn wir den Gegenstand so in die Reichweite unserer Sinne gebracht haben, fixieren wir ihn. Das Fixierte nennen wir Wissen. In unserer gesamten Kindheit und Jugend streben wir danach, den korrekten Abstand zu Dingen und Phänomenen einzunehmen. Wir lesen, wir lernen, wir erfahren, wir korrigieren. Dann gelangen wir eines Tages an den Punkt, an dem alle notwendigen Abstände bestimmt, alle notwendigen Systeme etabliert sind. Es ist der Punkt, ab dem die Zeit schneller zu vergehen beginnt. Sie stößt auf keine Hindernisse mehr, alles ist festgelegt, die Zeit durchströmt unser aller Leben, die Tage verschwinden in einem rasenden Tempo, und ehe wir uns versehen, sind wir vierzig, fünfzig, sechzig … Sinn erfordert Fülle, Fülle erfordert Zeit, Zeit erfordert Widerstand. Wissen ist Abstand, Wissen ist Stillstand und der Feind des Sinns. Mein Bild von Vater an jenem Abend 1976 ist mit anderen Worten eine Doppelbelichtung: Einerseits sehe ich ihn, wie ich ihn damals sah, mit den Augen des Achtjährigen, unberechenbar und beängstigend, andererseits sehe ich ihn als einen Gleichaltrigen, durch dessen Leben die Zeit weht und unablässig größere Stücke Sinn mit sich reißt.

Der Klang eines Hammers auf Stein hallte durch die Siedlung. Ein Wagen fuhr von der Hauptstraße kommend den sanften Anstieg herauf, passierte mit eingeschalteten Scheinwerfern. Die Tür des Nachbarhauses öffnete sich, und Prestbakmo blieb auf der Türschwelle stehen und zog sich Arbeitshandschuhe an, während er gleichzeitig die klare Abendluft einsog, ehe er die Schubkarre nahm und diese vor sich herschiebend über den Rasen ging. Es roch nach Pulver von dem Fels, auf den Vater einschlug, nach Fichte von den Holzklötzen hinter der Mauer, nach frisch umgegrabener Erde und Wald, und in der schwachen Brise aus Norden hing der Duft von Salz. Ich dachte an das Gesicht, das ich im Meer gesehen hatte. Obwohl nur wenige Minuten vergangen waren, seit es mir zuletzt in den Sinn gekommen war, hatte es sich bereits verändert. Jetzt sah ich das Gesicht meines Vaters.

Unten in der Senke hörte er auf zu schlagen.

»Stehst du da immer noch herum, Junge?«

Ich nickte.

»Nun geh schon rein.«

Ich setzte mich in Bewegung.

»Und du?«, sagte er.

Ich blieb stehen und drehte mich fragend zu ihm um.

»Diesmal wird nicht gerannt.«

Ich starrte ihn an. Woher wusste er, dass ich gelaufen war?

»Und mach den Mund zu, es zieht«, sagte er. »Du siehst aus wie ein Idiot.«

Ich gehorchte, schloss den Mund und ging langsam um das Haus herum. Als ich zur Vorderseite kam, war die Straße voller Kinder. Die ältesten standen in einer Traube zusammen, auf Fahrrädern, die in der Dämmerung wirkten, als wären sie Teil ihrer Körper. Die jüngsten spielten Verstecken. Wer gefangen worden war, stand in einem Kreidekreis auf dem Bürgersteig, die anderen lagen ringsum im Wald unterhalb der Straße versteckt, für den Suchenden, der gleichzeitig die bereits Gefangenen bewachen musste, nicht zu sehen, wohl aber für mich.

Über den schwarzen Baumwipfeln leuchteten rot die Lichter an den Brückenpfeilern. Auf dem Anstieg näherte sich erneut ein Auto. Im Licht der Scheinwerfer wurden erst die Fahrradfahrer deutlich sichtbar, ein kurzes Aufblitzen von Reflektoren, Metall, Steppjacken, schwarzen Augen und weißen Gesichtern, danach die spielenden Kinder, die nur den notwendigen Schritt seitlich ausgewichen waren, damit das Auto passieren konnte, und nun geisterhaft dastanden und es anstarrten.

Es war das Ehepaar Trollnes, die Eltern von Sverre, einem Jungen aus meiner Klasse. Er schien nicht bei ihnen zu sein.

Ich wandte mich um und sah den roten Rücklichtern nach, bis sie über die Hügelkuppe verschwanden. Dann ging ich hinein. Eine Weile versuchte ich auf dem Bett liegend zu lesen, aber es wollte sich nicht die nötige Ruhe einstellen, so dass ich stattdessen in Yngves Zimmer trottete, von wo aus ich auf Vater hinabschauen konnte. Wenn ich ihn sah, wusste ich, wo er war, und im Grunde war diese Gewissheit das wichtigste. Ich kannte seine Launen und hatte längst gelernt, sie mit Hilfe eines unterbewussten Kategorisierungssystems vorherzusehen, wie mir später klar wurde, bei dem das Verhältnis zwischen wenigen festen Größen ausreichte, um zu entscheiden, was mich erwartete, so dass ich die nötigen Vorkehrungen treffen konnte. Eine Art Meteorologie des Gemüts … Die Geschwindigkeit des Wagens auf dem sanften Anstieg zu unserem Haus, die Zeit, die er benötigte, um den Motor auszuschalten, seine Sachen zu packen und auszusteigen, die Art, wie er sich umsah, wenn er die Autotür abschloss, die Nuancen in den unterschiedlichen Lauten, die aus dem Flur hochdrangen, wenn er den Mantel ablegte – das alles waren Zeichen, das alles ließ sich deuten. Ergänzt wurde es durch Informationen darüber, wo er und wie lange er und mit wem er zusammen gewesen war, ehe die Schlussfolgerung, der einzige Teil des Prozesses, den ich bewusst wahrnahm, gezogen wurde. Am meisten fürchtete ich mich deshalb, wenn er einfach kam … Wenn ich aus irgendeinem Grund unaufmerksam gewesen war …

Woher in aller Welt hatte er gewusst, dass ich gelaufen war?

Es war nicht das erste Mal, dass er mich in unerklärlicher Weise ertappt hatte. So hatte ich an einem Herbstabend eine Tüte Süßigkeiten unter dem Plumeau meines Betts versteckt, weil ich schon ahnte, dass er in mein Zimmer kommen und mir nie und nimmer glauben würde, wie ich an das Geld geraten war, um sie mir zu kaufen. Als er wie erwartet hereinkam, sah er mich einige Sekunden an.

»Was hast du da im Bett versteckt?«, sagte er.

Woher wusste er das?

Draußen schraubte Prestbakmo die starke Glühlampe fest, die über der Platte angebracht war, an der er regelmäßig arbeitete. Das neue Auge aus Licht, das aus der Dunkelheit hervorstach, war voller Sachen und Dinge, die Prestbakmo stehend, vollkommen reglos anstarrte. Stapelweise Farbtöpfe, Gläser mit Pinseln, Holzklötze, Bretterenden, zusammengelegte Planen, Autoreifen, ein Fahrradrahmen, ein paar Werkzeugkästen, Boxen voller Schrauben und Nägel in allen Größen und Formen, Bretter mit Milchtüten voller üppig sprießender Blumen, Säcke mit Kalk, ein aufgerollter Gartenschlauch und an die Wand gelehnt eine Platte, auf der sich alle möglichen Werkzeuge abzeichneten, wahrscheinlich war sie für den Hobbykeller im Haus gedacht.

Als ich erneut zu Vater hinübersah, ging er mit dem Hammer in der einen Hand und dem Spaten in der anderen über den Rasen. Rasch wich ich zwei Schritte zurück. Im selben Moment wurde die Haustür geöffnet. Es war Yngve. Ich sah auf die Uhr. Zwei Minuten vor halb neun. Als er unmittelbar darauf in jener charakteristischen, fast ruckartigen, ein wenig gespenstischen Gangart die Treppe heraufkam, die wir entwickelt hatten, um uns im Haus schnell, aber lautlos bewegen zu können, war er außer Atem und hatte einen roten Kopf.

»Wo ist Papa?«, sagte er, nachdem er ins Zimmer gekommen war.

»Im Garten«, antwortete ich. »Aber du bist nicht zu spät. Schau, jetzt ist es halb neun.«

Ich streckte den Arm mit der Uhr aus.

Er ging an mir vorbei und zog den Schreibtischstuhl heraus. Er roch noch nach draußen. Kalte Luft, Wald, Kies, Asphalt.

»Hast du meine Kassetten angerührt?«, sagte er.

»Nein.«

»Was tust du dann in meinem Zimmer?«

»Nichts«, erklärte ich.

»Kannst du das nicht in deinem eigenen Zimmer machen?«

Unter uns wurde die Haustür geöffnet. Diesmal waren es Vaters schwere Schritte, die dort unten über den Fußboden gingen. Die Stiefel hatte er sich wie immer vor dem Haus ausgezogen, und nun war er auf dem Weg in die Waschküche, um sich dort umzuziehen.

»Ich habe in den Nachrichten ein Gesicht im Meer gesehen«, sagte ich. »Hast du was davon gehört? Weißt du, ob andere es auch gesehen haben?«

Yngve sah mich halb fragend, halb abweisend an.

»Was laberst du da?«

»Das Fischerboot, das gesunken ist?«

Er nickte kaum merklich.

»Als sie in den Nachrichten die Stelle gezeigt haben, an der es gesunken ist, habe ich im Meer ein Gesicht gesehen.«

»Eine Leiche?«

»Nein. Es war kein echtes Gesicht. Es war das Meer, das eine Art Bild von einem Gesicht gemacht hat.«

Einen Moment lang sah er mich wortlos an. Dann kreiselte sein Zeigefinger an der Schläfe.

»Du glaubst mir nicht?«, sagte ich. »Es ist wirklich wahr.«

»Die Wahrheit ist, dass du eine Null bist.«

Als Vater unten im selben Augenblick Wasser laufen ließ, dachte ich, dass es das Beste sein würde, jetzt in mein Zimmer zu gehen, um nicht Gefahr zu laufen, ihm im Flur zu begegnen. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass Yngve das letzte Wort behielt.

»Du bist hier die Null«, sagte ich.

Er machte sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten. Drehte sich nur um, schob den Oberkiefer vor und blies zwischen den Zähnen Luft ein und aus wie ein Kaninchen. Die Pantomime spielte auf meine vorstehenden Zähne an. Ich wandte mich ab und beeilte mich, aus dem Zimmer zu kommen, bevor er sehen konnte, dass mir die Tränen kamen. Solange ich alleine war, machte es mir nichts aus zu weinen. Und diesmal war es ja auch gutgegangen, oder? Er hatte es doch nicht etwa gesehen?

Ich blieb hinter meiner Zimmertür stehen und überlegte einen Moment, ob ich ins Badezimmer gehen sollte. Dort konnte ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser waschen und die Spuren entfernen. Aber Vater war bereits auf der Treppe auf dem Weg nach oben, so dass ich mich darauf beschränkte, meine Augen mit dem Ärmel des Sweaters trocken zu wischen. Die dünne Schmiere, die der trockene Stoff über die Oberfläche des Auges zog, ließ die Flächen und Farben des Raums ineinander verschwimmen, als wäre er plötzlich gesunken und befände sich nunmehr unter Wasser, und diese Vorstellung war so verlockend, dass ich die Arme hob, einige Schwimmzüge machte und langsam zum Schreibtisch ging. In Gedanken trug ich einen metallenen Helm aus den Anfängen des Tauchens, als sie noch in Schuhen mit Bleisohlen und dicken elefantenhautartigen Anzügen über den Meeresgrund gingen − an einem Luftschlauch hängend, der am Kopf wie eine Art Schnabel befestigt war. Ich atmete leise zischend durch den Mund und stapfte eine Weile mit den schwerfälligen und trägen Bewegungen der Taucher früherer Zeiten umher, bis das Grauen, das mit dieser Vorstellung verbunden war, langsam in mich einsickerte wie kaltes Wasser.

Ein paar Monate zuvor hatte ich die Fernsehserie Die geheimnisvolle Insel nach dem gleichnamigen Roman von Jules Verne gesehen, und die Geschichte von den Männern, die mit einem Ballon auf einer verlassenen Insel im Atlantik strandeten, hatte vom ersten Bild an einen überwältigenden Eindruck auf mich gemacht. Alles war spannungsgeladen gewesen. Der Ballon, der Sturm, die Männer in ihrer Kleidung aus dem 19. Jahrhundert, die raue, unfruchtbare Insel, auf der sie gelandet waren, die wahrscheinlich doch nicht so verlassen war, wie sie glaubten, denn laufend geschahen um sie herum mysteriöse und unerklärliche Dinge … Aber wer waren die anderen, die sich dort aufhielten? Die Antwort kam unvermittelt am Ende einer Folge. Jemand hielt sich in den Unterwasserhöhlen auf … menschenähnliche Geschöpfe … im Lichtschein der Laternen, die sie trugen, sah man flüchtig glatte, mit Masken bekleidete Köpfe … Warzen … sie ähnelten einer Art Echsen, gingen jedoch aufrecht … und auf dem Rücken trugen sie Behälter … einer von ihnen drehte sich um, er hatte keine Augen …

Ich schrie nicht, als ich es sah, aber die Angst, mit der die Bilder mich erfüllten, ließ sich nicht abschütteln; selbst mitten am helllichten Tag übermannte mich das Grauen, wenn ich an die Froschmänner in der Höhle dachte. Und jetzt waren meine Gedanken dabei, mich in einen von ihnen zu verwandeln. Mein Zischen wurde zu ihrem Zischen, die Schritte zu ihren Schritten, die Arme zu ihren Armen, und als ich die Augen schloss, waren es ihre augenlosen Gesichter, die ich vor mir sah. Die Höhle, das schwarze Wasser … die Reihe von Froschmännern mit Laternen in den Händen … Die Sache ging so weit, dass es nicht einmal mehr half, die Augen wieder zu öffnen. Obwohl ich sah, dass ich mich in meinem Zimmer befand, umgeben von meinen eigenen, vertrauten Sachen, ließ mich das Grauen nicht los. Aus Furcht, dass etwas passieren könnte, wagte ich kaum zu blinzeln. Steif setzte ich mich aufs Bett, zog den Ranzen zu mir heran, ohne ihn anzusehen, warf einen Blick auf den Stundenplan, Mittwoch, und las, was dort stand, Mathe, Sachkunde, Musik, hob den Ranzen auf meinen Schoß und blätterte mechanisch in den Büchern. Als das getan war, nahm ich das aufgeschlagene Buch vom Kissen, setzte mich, lehnte mich an die Wand und begann zu lesen. Die Sekunden, die vergingen, weil ich regelmäßig aufschaute, wurden nach und nach zu Minuten, und als Vater uns Punkt neun zum Abendessen rief, hatte nicht die Angst mich in ihrer Gewalt, sondern das Buch. Sich von ihm loszureißen, kostete Kraft.

Es war uns nicht erlaubt, uns selbst Brotscheiben abzuschneiden, und es war uns ebenso wenig erlaubt, den Herd zu benutzen, so dass immer Mutter oder Vater das Abendessen für uns machten. Hatte Mutter Spätdienst, übernahm Vater alles: Wenn wir in die Küche kamen, standen zwei Gläser Milch und zwei Teller mit vier fertig bestrichenen Broten auf dem Tisch und warteten auf uns. Die Brote hatte er meist schon vorher zubereitet und anschließend in den Kühlschrank gestellt, und dass sie kalt waren, machte es schwierig, sie hinunterzubekommen, selbst wenn sie mit etwas belegt waren, was ich mochte. War Mutter zu Hause, wurde der Brotbelag auf den Tisch gestellt, von ihr oder von uns, und dieser kleine Kniff, durch den wir selbst bestimmen konnten, was auf dem Tisch stehen würde und was wir auf unseren Scheiben haben wollten, und darüber hinaus, dass die Brote Zimmertemperatur hatten, reichte aus, um in uns eine Art Freiheitsgefühl auszulösen: Konnten wir die Schranktüren öffnen, die Teller herausholen, die immer ein wenig klirrten, wenn sie aneinander schlugen, und sie auf den Tisch stellen; konnten wir die Besteckschublade aufziehen, die immer ein wenig raschelte, und die Messer neben die Teller legen; konnten wir die Gläser abstellen, den Kühlschrank öffnen, die Milch herausholen und einschenken, dann konnten wir auch den Mund aufmachen und reden. Das eine führte irgendwie zum anderen, wenn wir mit Mutter zu Abend aßen. Wir sprachen über alles, was uns in den Sinn kam, und sie interessierte sich für die Dinge, die wir ihr erzählten, und wenn wir ein bisschen Milch verschütteten oder uns vergaßen und den gebrauchten Teebeutel auf die Tischdecke legten (denn sie setzte manchmal Tee für uns auf), war das nicht weiter schlimm. Doch so, wie unsere Mitarbeit an der Mahlzeit diese Schleuse zur Freiheit öffnete, regulierte der Grad von Vaters Anwesenheit andererseits deren Ausmaß. War er außer Haus oder unten in seinem Büro, redeten wir so laut und unbefangen und mit so ausladenden Gesten, wie wir wollten; kam er die Treppe herauf, sprachen wir automatisch leiser und wechselten das Gesprächsthema, falls wir uns über etwas unterhalten hatten, das ihm vermutlich unpassend erschienen wäre; betrat er die Küche, verstummten wir ganz, saßen steif und aufrecht am Tisch, wie in Konzentration auf das Essen versunken; setzte er sich dagegen ins Wohnzimmer, unterhielten wir uns weiter, allerdings leiser und vorsichtiger.

An diesem Abend erwarteten uns die Teller mit den vier fertigen Broten, als wir in die Küche kamen. Eins mit braunem Molkenkäse, eins mit gelbem Käse, eins mit Sardinen in Tomatensauce, eins mit Kümmelkäse. Sardinen mochte ich nicht, weshalb ich mir das Brot als Erstes vornahm. Fisch widerte mich an, von gekochtem Kabeljau, den wir mindestens einmal in der Woche aßen, wurde mir übel; vom Dampf aus dem Topf, in dem er zog, von seinem Geschmack und seiner Konsistenz. Gleiches galt natürlich auch für gekochten Pollack, gekochten Seelachs, gekochten Schellfisch, gekochte Scholle, gekochte Makrele und gekochten Rotbarsch. An den Sardinen war nicht der Geschmack das schlimmste, die Tomatensauce bekam ich hinunter, indem ich mir einredete, es wäre eine Art Ketchup, sondern die Konsistenz des Fischs, vor allem die kleinen, glatten Schwänze. Sie waren widerlich. Um den Kontakt mit ihnen zu minimieren, biss ich sie immer als Erstes ab, legte sie auf meinem Teller zur Seite, schob ein wenig von der Tomatenmasse zur Kruste am Ende der Scheibe, steckte die Schwänze in die Mitte dieses Haufens und klappte die Rinde gleichzeitig um sie herum. Auf die Art konnte ich mehrmals kauen, ohne mit den Schwänzen in Berührung zu kommen, und das Ganze anschließend mit Milch hinunterspülen. Wenn Vater nicht dabei war, wie an diesem Abend, bestand natürlich auch die Möglichkeit, die kleinen Schwänze einfach in die Hosentasche zu bugsieren.

Yngve runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als ich das machte. Dann grinste er. Ich grinste auch.

Im Wohnzimmer bewegte sich Vater im Sessel. Es raschelte kaum hörbar in einer Streichholzschachtel; im nächsten Moment ertönten das kurze Ratschen des Schwefelkopfs, der über die Reibefläche gezogen wurde, und das zischende Geräusch, als das Streichholz aufflammte, das in die nachfolgende Stille der Flamme quasi hineinfiel. Als einige Sekunden später der Zigarettengeruch in die Küche sickerte, lehnte Yngve sich vor und öffnete, so leise er nur konnte, das Fenster. Die Laute, die aus der Dunkelheit hereintrieben, veränderten die gesamte Atmosphäre in der Küche. Plötzlich war sie ein Teil der Landschaft vor dem Haus. Wir sitzen hier wie im obersten Rang, dachte ich. Bei dem Gedanken sträubten sich die Haare auf meinen Unterarmen. Der Wind strich säuselnd durch den Wald, wehte raschelnd über die Sträucher und Bäume auf dem Rasen unter uns. Von der Kreuzung drangen die Stimmen der Jugendlichen zu uns herein, die immer noch über ihren Fahrrädern hingen und sich unterhielten. Auf der Auffahrt zur Brücke schaltete ein Motorrad. Und in der Ferne, wie über alles andere erhoben, hing das Wummern eines Schiffs, das vom Sund hereinkam.

Er hatte mich natürlich gehört! Meine Schritte, als ich über den Kies lief!

»Wollen wir tauschen?«, sagte Yngve leise und zeigte auf die Scheibe mit Kümmelkäse.

»Können wir machen«, erwiderte ich. Ermuntert davon, das Rätsel gelöst zu haben, spülte ich den letzten Bissen der Sardinenscheibe mit einem winzigen Schluck Milch hinunter und ging zu dem Brot über, das Yngve auf meinen Teller gelegt hatte. Es war wichtig, die Milch zu dosieren, denn wenn man zur letzten Scheibe kam und keine mehr hatte, war es fast unmöglich, das Ganze hinunterzubekommen. Am besten war natürlich, sich ein bisschen was aufzusparen, bis alle Scheiben gegessen waren, denn nie schmeckte die Milch so gut wie in diesem Moment, wenn sie keine Funktion mehr erfüllen musste, sondern ganz für sich genommen die Kehle hinunterlief, rein und unverfälscht, was mir jedoch leider praktisch nie gelang; das momentane Bedürfnisse überwog stets die Verheißungen der Zukunft, ganz gleich, wie verlockend sie auch erscheinen mochten.

Yngve schaffte es dagegen. Er war ein Meister im Aufsparen.

Oben bei Prestbakmo schlug jemand seine Stiefelabsätze gegen die Türschwelle. Dann durchschnitten drei kurze Rufe den Abend.

Geir! – Geir! – Geir!

Die Antwort kam von dem Hof vor dem Haus, in dem John Beck wohnte, exakt so verzögert, dass jeder, der sie hörte, begreifen musste, dass er es sich erst einen Moment überlegt hatte.

Ja-ha!, rief er.

Unmittelbar darauf hörte man seine schnellen Schritte vor dem Haus. Als sie die Mauer zu Gustavsens Grundstück erreichten, stand Vater im Wohnzimmer auf. Irgendetwas an der Art daran ließ mich den Kopf einziehen. Auch Yngve zog den Kopf ein. Vater kam in die Küche, ging zum Tisch, lehnte sich wortlos vor und schloss das Fenster mit einem Knall.

»Bei uns bleibt das Fenster abends geschlossen«, erklärte er.

Yngve nickte.

Vater sah uns an.

»Jetzt seht zu, dass ihr fertig werdet«, sagte er.

Erst als er sich im Wohnzimmer wieder hinsetzte, begegnete ich Yngves Blick.

»Ha, ha«, flüsterte ich.

»Ha, ha?«, entgegnete er flüsternd. »Dich hat er genauso gemeint.«

Er hatte fast zwei Brote Vorsprung und konnte kurz darauf aufstehen und in sein Zimmer verschwinden, während ich noch ein paar Minuten kauend sitzen bleiben musste. Ich hatte vorgehabt, nach dem Abendessen zu Vater hinüberzugehen und ihm zu sagen, dass sie in den Abendnachrichten bestimmt den Bericht mit dem Gesicht im Meer senden würden, aber unter den gegebenen Umständen würde es sicher besser sein, darauf zu verzichten.

Oder nicht?

Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Wenn ich die Küche verließ, lugte ich immer kurz ins Wohnzimmer hinein und wünschte ihm eine gute Nacht. War seine Stimme dann neutral oder, bestenfalls, wohlwollend, würde ich es erwähnen. Sonst nicht.

Leider hatte er sich jedoch auf die Couch gesetzt, die am hinteren Ende des Wohnzimmers stand, und nicht in einen der beiden Ledersessel vor dem Fernseher wie sonst. Um Kontakt zu ihm aufzunehmen, konnte ich mich also nicht einfach wie beiläufig zu ihm umdrehen und ihm eine gute Nacht wünschen, sondern musste mehrere Schritte ins Zimmer hinein gehen. Dadurch würde er natürlich erkennen, dass ich auf etwas Besonderes aus war. Und daraufhin würde es keinen Sinn mehr haben, sich vorzutasten, dann musste ich unabhängig davon, in welchem Ton er mir antwortete, heraus mit der Sprache.

Dies wurde mir jedoch erst bewusst, als ich die Küche bereits verlassen hatte, und weil die Unsicherheit mich innehalten ließ, hatte ich plötzlich keine Wahl mehr, denn er hörte natürlich, dass ich stehen blieb, woraufhin ich ihm unverzüglich sagen musste, dass ich etwas von ihm wollte. Also machte ich die noch erforderlichen vier Schritte und trat in sein Blickfeld.

Er hatte ein Bein über das andere geschlagen, den Ellbogen auf die Rückenlehne der Couch gestützt, den Kopf in der Hand ruhend leicht in den Nacken gelegt. Sein Blick, der offenbar schräg zur Decke hinaufgegangen war, richtete sich auf mich.

»Gute Nacht, Papa«, sagte ich.

»Gute Nacht«, sagte er.

»In den Abendnachrichten zeigen sie bestimmt nochmal dasselbe Bild«, sagte ich. »Ich hab mir nur gedacht, dass ich dir das sagen sollte. Damit du es dir mit Mama ansehen kannst.«

»Was für ein Bild?«, fragte er.

»Das von dem Gesicht«, antwortete ich.

»Dem Gesicht?«

Mein Mund stand anscheinend offen, denn plötzlich ließ er den Unterkiefer nach unten fallen und starrte mich mit gähnendem Mund an, so dass ich begriff, er ahmte mich nach.

»Von dem ich dir erzählt habe«, sagte ich.

Er schloss den Mund wieder und richtete sich auf, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Jetzt ist aber mal Schluss mit diesem Gesicht«, sagte er.

»Ja«, erwiderte ich.

Als ich mich umdrehte und in Richtung Flur ging, spürte ich, dass sich seine Aufmerksamkeit von mir abwandte. Ich putzte mir die Zähne, zog mich aus und den Schlafanzug an, machte die Lampe über dem Bett an, bevor ich die Deckenlampe löschte, legte mich hin und begann zu lesen.

Eigentlich durfte ich nur eine halbe Stunde lesen, bis zehn, aber in der Regel las ich, bis Mutter gegen halb elf nach Hause kam. So auch an diesem Abend. Als ich den Käfer von der Hauptstraße aus herauffahren hörte, legte ich das Buch auf den Fußboden und löschte das Licht, um in der Dunkelheit zu liegen und zu lauschen: die Autotür, die zugeschlagen wird, ihre Füße auf dem Kies, die Haustür, die geöffnet wird, Mantel und Schal, die ausgezogen werden, die Schritte auf der Treppe … Das Haus wirkte verändert, wenn sie sich darin aufhielt, und seltsamerweise konnte ich dies merken; war ich beispielsweise eingeschlafen, bevor sie nach Hause kam, und wachte nachts auf, spürte ich, dass sie da war, denn die Atmosphäre hatte sich verändert, ohne dass ich hätte sagen können, wie, nur so viel, dass es beruhigend wirkte. Gleiches galt, wenn sie früher als geplant heimkam, während ich noch draußen gewesen war: Sobald ich den Flur betrat, wusste ich, dass sie da war.

Ich hätte natürlich gerne mit ihr gesprochen, denn wenn jemand das mit dem Gesicht verstehen würde, dann sie, aber zwingend notwendig erschien es mir nicht. Wichtiger fand ich, dass sie hier war. Ich hörte, wie sie den Schlüsselbund auf das Telefontischchen legte, nachdem sie die Treppe heraufgekommen war, dann die Schiebetür öffnete, etwas zu Vater sagte und sie anschließend wieder hinter sich schloss. Ab und zu, vor allem nach den Spätdiensten am Wochenende, hatte er für sie gekocht, wenn sie heimkam. Dann legten sie manchmal Platten auf. In seltenen Fällen hinterließen sie eine Flasche Wein auf der Arbeitsplatte in der Küche, immer dieselbe Marke, der Rotwein aus dem Monopol, und ganz selten Bier, ebenfalls immer dieselbe Marke, zwei oder drei Flaschen Pils von Arendals Brauerei, die braunen 0,7-Literflaschen mit dem gelben Segelschifflogo.

An diesem Abend war dies jedoch nicht der Fall, worüber ich froh war. Wenn sie zusammen aßen, schauten sie nämlich nicht fern, und das mussten sie, wenn ich meinen Plan in die Tat umsetzen wollte, der so simpel wie gewagt war: Ein paar Sekunden vor elf würde ich mich aus dem Bett und in den Flur hinausschleichen, die Schiebetür öffnen und mir die Abendnachrichten im Fernsehen anschauen. Etwas Derartiges hatte ich nie zuvor getan, nicht einmal in Erwägung gezogen. Was mir nicht erlaubt war, machte ich nicht. Niemals. Nicht ein einziges Mal hatte ich etwas getan, was Vater mir verboten hatte. Jedenfalls nicht mit Absicht. Doch das hier war etwas anderes, weil es nicht um mich ging, sondern um sie. Ich hatte das Bild von dem Gesicht im Meer ja schon gesehen und musste es folglich nicht noch einmal sehen. Ich wollte nur herausfinden, ob sie dasselbe sahen wie ich.

So lag ich da und überlegte in der Dunkelheit, während meine Augen die grünlichen Zeiger des Weckers verfolgten. Wenn es so still war wie jetzt, konnte ich die Autos hören, die unten auf der Hauptstraße vorbeifuhren. Eine akustische Schneise, die anfing, sobald sie beim B-Max, dem neuen Supermarkt, über die Hügelkuppe kamen, dann die Böschung bei Holtet hinunter weiterging, an der Einfahrt zu Gamle Tybakken vorbei und die Auffahrt zur Brücke hinaufführte, wo sie ebenso spurlos verschwand, wie sie eine halbe Minute zuvor aufgetaucht war.

Neun Minuten vor elf ging die Tür des Hauses auf der anderen Straßenseite auf. Ich kniete im Bett und lugte aus dem Fenster. Es war Frau Gustavsen, sie lief mit einer Mülltüte in der Hand die Einfahrt hinunter. Welch seltener Anblick dies war, erkannte ich erst, als ich es sah. Frau Gustavsen zeigte sich nämlich praktisch nie außer Haus; man sah sie entweder im Haus oder auf dem Beifahrersitz ihres blauen Ford Taunus, aber obwohl ich dies gewusst hatte, war es mir vorher doch nie bewusst gewesen. Nun jedoch, als sie vor der Mülltonne stehen blieb und den Deckel öffnete, die Tüte hineinhob und die Tonne wieder zumachte, alles mit der leicht trägen Grazie, die so vielen dicken Frauen eigen ist, schoss es mir durch den Kopf. Sie hielt sich niemals im Freien auf.

Die Straßenlaterne, die vor unserer Hecke stand, warf ihr hartes Licht auf sie, aber im Gegensatz zu den Dingen, von denen sie umgeben war – der Mülleimer, die weißen Wände des Wohnwagens, die Steinplatten, der Asphalt –, die das Licht ausnahmslos scharf und kalt reflektierten, war es, als modulierte und absorbierte ihre Gestalt es. Die nackten Arme glänzten schwach, der Stoff ihres weißen Pullovers schimmerte, die vollen, graubraunen Haare schienen fast golden zu sein.

Sie blieb einen Moment stehen und schaute sich um, erst zu Prestbakmo hinüber, dann zu Hansens hinauf und anschließend zum Wald auf der anderen Straßenseite hinunter.

Eine abwärts trippelnde Katze hielt inne und betrachtete sie einen Moment. Frau Gustavsen strich sich mit einer Hand mehrmals über den Arm. Dann wandte sie sich um und ging ins Haus.

Ich warf nochmals einen Blick auf die Uhr. Vier Minuten vor elf. Ich fror ein wenig und überlegte kurz, ob ich einen Pullover anziehen sollte, kam jedoch zu dem Schluss, dass dadurch alles zu geplant aussehen würde, falls ich entdeckt werden sollte. Außerdem ging es ja nur um ein paar Minuten.

Vorsichtig trat ich zur Tür und legte ein Ohr dagegen. Das einzige gravierende Risiko bestand darin, dass die Toilette diesseits der Schiebetür lag. Sobald ich an ihr stand, würde ich sie im Blick behalten und mich zurückziehen können, falls sie im Zimmer aufstünden, aber solange die Schiebetür geschlossen war, würde ich sie, wenn sie bereits unterwegs waren, zu spät entdecken.

Aber dann konnte ich natürlich immer noch so tun, als wollte ich aufs Klo!

Erleichtert über diese Lösung öffnete ich vorsichtig die Tür und trat aus dem Zimmer. Alles war still. Ich schlich mich durch den Flur, spürte den trockenen Teppichboden unter meinen schwitzenden Fußsohlen, blieb vor der Schiebetür stehen, hörte nichts, zog sie eine Spur zur Seite und lugte durch den Spalt hinein.

Der Fernsehapparat stand in einer Ecke. Die beiden Ledersessel waren leer.

Dann saßen sie also beide auf der Couch.

Perfekt.

Dann schwirrte der Erdball mit dem N-Zeichen über den Bildschirm. Ich betete zu Gott, dass sie dieselbe Reportage zeigen würden, damit Mutter und Vater sehen konnten, was ich gesehen hatte.

Der Nachrichtensprecher berichtete gleich zu Anfang der Sendung über den vermissten Fischkutter, und mein Herz schlug schnell. Aber die anschließende Reportage war eine andere: Statt der Bilder von einem unberührten Meer kamen Bilder von einem Polizisten, der auf einem Anleger interviewt wurde, gefolgt von einer Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm, und von dem Reporter selbst, der vor dem Hintergrund eines wogenden Meeres sprach.

Als der Bericht vorbei war, ertönte im Zimmer die Stimme meines Vaters, danach Gelächter. Das Schamgefühl, das sich in mir ausbreitete, war so stark, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Mir schien, als wäre mein Inneres vollkommen leer. Die Kraft dieser plötzlichen Scham war in meiner Kindheit nur vergleichbar mit der intensiven Angst, die ich manchmal empfand, und dem Jähzorn natürlich, und allen gemeinsam war, dass ich selbst wie ausradiert wurde. Nur dieses eine Gefühl zählte. Als ich mich umwandte und in mein Zimmer zurückging, nahm ich deshalb nichts wahr. Ich weiß, das Fenster an der Treppe muss so dunkel gewesen sein, dass sich das Bild des Flurs darin spiegelte, ich weiß, die Tür zu Yngves Zimmer muss genauso zu gewesen sein wie die zum Schlafzimmer meiner Eltern und die zum Bad. Ich weiß, der Schlüsselbund meiner Mutter muss aufgefächert auf dem Telefontischchen gelegen haben wie eine Art ruhendes kleines Fabelwesen mit seinem Kopf aus Ton und dem Gewimmel aus Metallbeinen, ich weiß, die kniehohe Keramikvase mit getrockneten Blumen und Stroh muss daneben auf dem Fußboden gestanden haben, ohne irgendeine Verbindung zu dem synthetischen Stoff des Teppichbodens. Aber ich sah nichts, hörte nichts, dachte nichts. Ich ging in mein Zimmer, legte mich ins Bett und löschte das Licht, und als die Dunkelheit mich umschloss, holte ich so tief Luft, dass mein Atem anfing zu zittern, während sich die Bauchmuskeln gleichzeitig spannten und die wimmernden Töne herauspressten, die so laut waren, dass ich sie in den weichen und schon bald durchnässten Stoff des Kissens lenken musste. Es half so, wie es einem half, sich zu übergeben, wenn einem übel war. Noch lange, nachdem die Tränen versiegt waren, lag ich schluchzend im Bett. Auch das tat gut. Als die wohltuende Wirkung verraucht war, drehte ich mich auf den Bauch, legte den Kopf auf den Arm und schloss die Augen, um zu schlafen.

DA ICH HIER SITZE UND DIES SCHREIBE, sind über dreißig Jahre vergangen. Im Fenster vor mir sehe ich vage den Widerschein meines Gesichts. Abgesehen von den leuchtenden Augen und der Partie unmittelbar darunter, die matt ein wenig Licht reflektiert, liegt die gesamte linke Hälfte im Schatten. Zwei tiefe Furchen durchziehen meine Stirn, eine tiefe Furche führt auf jeder Wange nach unten, jede von ihnen mit Dunkelheit gefüllt, und wenn die Augen so ernst sind und stieren und die Mundwinkel nach unten zeigen, ist es völlig ausgeschlossen, dieses Gesicht nicht düster zu finden.

Was hat sich darin eingebrannt?

Heute ist der 27. Februar 2008. Es ist 23.43. Ich, der ich dies schreibe, Karl Ove Knausgård, wurde im Dezember 1968 geboren und bin folglich im Augenblick der Niederschrift 39 Jahre alt. Ich habe drei Kinder, Vanja, Heidi und John, und bin in zweiter Ehe mit Linda Boström Knausgård verheiratet. Alle vier schlafen in den Zimmern ringsum, in einer Wohnung in Malmö, wo wir seit anderthalb Jahren leben. Mit Ausnahme einiger Eltern von Kindern in Vanjas und Heidis Kindertagesstätte kennen wir hier niemanden. Wir vermissen deshalb nichts, jedenfalls ich nicht, denn die Gesellschaft anderer Menschen gibt mir ohnehin nichts. Ich sage nie, was ich wirklich denke, nie, was ich wirklich meine, sondern passe mich unweigerlich meinem jeweiligen Gesprächspartner an und tue so, als würde es mich interessieren, was er oder sie erzählt, es sei denn, ich trinke, denn dann verfalle ich meist in das andere Extrem, um anschließend voller Furcht zu erwachen, die Schwelle des Erlaubten überschritten zu haben, eine Angst, die mit den Jahren immer größer geworden ist und mittlerweile wochenlang anhalten kann. Wenn ich trinke, habe ich zudem Blackouts und verliere völlig die Kontrolle über mein Tun, das oft verzweifelt und idiotisch ist, manchmal aber auch verzweifelt und gefährlich. Deshalb trinke ich nicht mehr. Ich will nicht, dass jemand an mich herankommt, ich will nicht, dass jemand mich sieht, und so ist es mittlerweile auch: Niemand kommt an mich heran, und niemand sieht mich. Das muss sich in mein Gesicht eingebrannt haben, das muss es so steif und maskenhaft gemacht haben, wodurch es mir kaum möglich ist, es mit mir selbst in Verbindung zu bringen, wenn ich auf der Straße in einer Fensterscheibe zufällig darauf stoße.

*

Das Einzige, was im Gesicht nicht altert, sind die Augen. Sie sind am Tag unserer Geburt so klar wie am Tag unseres Todes. Sicher, Äderchen können in ihnen platzen, sicher, der Augapfel kann trüber werden, aber das Licht in ihnen verändert sich nie. Es gibt ein Gemälde, das ich mir jedes Mal ansehe, wenn ich in London bin, und das mich jedes Mal aufs Neue anrührt. Es ist ein Selbstporträt des späten Rembrandt. Die Bilder des späten Rembrandt sind normalerweise von fast schon unerhörter Grobheit, in ihnen ist alles dem Ausdruck des einen Augenblicks unterworfen, schimmernd und heilig zugleich, bis heute unübertroffen in der Kunst – eventuell mit Ausnahme dessen, was Hölderlin in seiner späten Dichtung erreicht, so wenig sich beides vergleichen lässt, denn wo Hölderlins Licht, heraufbeschworen in der Sprache, ätherisch und himmlisch ist, da ist Rembrandts Licht, heraufbeschworen in der Farbe, das der Erde, des Metalls, der Materie – aber dieses eine Bild in der National Gallery ist einen Hauch klassisch realistischer und wirklichkeitsnäher gemalt, steht dem Ausdruck des jungen Rembrandt näher. Was das Bild jedoch darstellt, ist der Alte. Es ist das Alter. Alle Details seines Gesichts sind zu erkennen, alle Spuren, die das Leben darin hinterlassen hat, lassen sich verfolgen. Es ist zerfurcht, faltig, aufgedunsen, von der Zeit gezeichnet. Doch die Augen sind klar, wenn auch nicht jung, so doch außerhalb der Zeit stehend, die dieses Gesicht ansonsten prägt. Es ist, als sähe uns, von einem Ort im Inneren des Gesichts, ein anderer Ort an, an dem alles anders ist. Näher an eine andere menschliche Seele heranzukommen, dürfte schwerlich möglich sein. Denn alles, was Rembrandts Person betrifft, seine Gewohnheiten und schlechten Angewohnheiten, seine Körperausdünstungen und Körpergeräusche, seine Stimme und seine Wortwahl, seine Gedanken und Sätze, seine Verhaltensweise, die Schwächen und Gebrechen seines Körpers, all das, was einen Menschen in den Augen anderer ausmacht, ist weggefallen, das Bild ist über vierhundert Jahre alt, und Rembrandt starb in dem Jahr, in dem es gemalt wurde, und was hier folglich abgebildet worden ist, was Rembrandt gemalt hat, ist das Dasein dieses Menschen, zu dem er jeden Morgen erwacht, und das sofort Besitz ergreift von den Gedanken, ohne selbst Gedanke zu sein, das sofort Besitz ergreift von den Gefühlen, selbst jedoch kein Gefühl ist, und aus dem man Abend für Abend entschlummert, am Ende für immer. Das im Menschen, was die Zeit nicht anrührt und woher das Licht in den Augen kommt. Der Unterschied zwischen diesem und den anderen Gemälden des späten Rembrandt ist der Unterschied zwischen sehen und gesehen werden. Will sagen, in diesem Bild sieht er sich selbst sehen, während er selbst gesehen wird, und nur im Barock, mit seiner Vorliebe für Spiegel im Spiegel, play within the play, für Inszenierungen und den Glauben an den Zusammenhang aller Dinge, in dem das handwerkliche Geschick zudem auf ein Niveau gehoben wurde, das keiner vorher oder nachher jemals wieder erreichen sollte, war ein solches Bild möglich. Aber es ist unsere Zeit, in der es existiert, wir sind es, für die es sieht.

*

In jener Nacht, in der Vanja geboren wurde, lag sie da und sah uns stundenlang an. Ihre Augen waren wie zwei schwarze Laternen. Ihr Körper war blutverschmiert, die langen Haare klebten am Kopf, und wenn sie sich rührte, geschah es mit den bedächtigen Bewegungen eines Kriechtiers. Als sie so auf Lindas Bauch lag und uns anstarrte, sah sie aus wie etwas aus dem Wald. Wir konnten von ihr und ihrem Blick einfach nicht lassen. Aber was lag in ihm? Ruhe, Ernst, Dunkelheit. Ich streckte die Zunge heraus, es verging eine Minute, dann streckte sie ihre Zunge heraus. Nie hat es so viel Zukunft in meinem Leben gegeben wie damals, nie so viel Freude. Inzwischen ist sie vier, und alles ist anders. Ihre Augen sind hellwach, füllen sich ebenso schnell mit Eifersucht wie mit Freude, mit Trauer wie mit Wut, sie ist bereits in die Welt getrieben worden und kann so frech werden, dass ich völlig die Beherrschung verliere und sie anbrülle oder schüttele, bis sie in Tränen ausbricht. Oft lacht sie jedoch auch nur. Als es zuletzt so war und ich so wütend wurde, dass ich sie rüttelte und sie bloß lachte, hatte ich eine Eingebung und legte eine Hand auf ihre Brust.

Ihr Herz hämmerte. Oh, wie es hämmerte.

*

Es ist ein paar Minuten nach acht Uhr morgens. Es ist der 4. März 2008. Ich sitze in meinem Büro, vom Boden bis zur Decke von Büchern umgeben, und höre die schwedische Band Dungen, während ich daran denke, was ich geschrieben habe und wohin es führen wird. Linda und John liegen im Nebenzimmer und schlafen, Vanja und Heidi sind im Kindergarten, wo ich sie vor einer halben Stunde abgeliefert habe. Am riesigen Hotel Hilton, das noch im Schatten liegt, gleiten die Aufzüge in ihren drei Glasschächten an der Fassade pausenlos auf und ab. Daneben steht ein rotes Backsteingebäude, das allen Erkern, Bögen und Schnörkeln nach zu urteilen Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut worden sein muss. Hinter diesem sieht man wiederum eine kleine Ecke des Magistratparks mit seinen kahlen Bäumen und dem grünen Gras, wo ein grau verputztes Haus mit Siebzigerjahreausstrahlung die Aussicht beendet und den Blick gen Himmel zwingt, der zum ersten Mal seit Wochen klar und blau ist.

Da ich hier seit anderthalb Jahren wohne, kenne ich diese Aussicht und all ihre Facetten von Tag zu Tag und im Jahresverlauf, aber verbunden fühle ich mich ihr nicht. Nichts von all dem, was ich hier sehe, bedeutet mir etwas. Vielleicht habe ich es genau darauf angelegt, denn diese Unverbundenheit ist etwas, was mir gefällt, was ich möglicherweise sogar brauche, eine bewusste Entscheidung ist es dagegen nicht gewesen. Vor sechs Jahren schrieb ich in Bergen, und obwohl ich keineswegs die Absicht hegte, mein ganzes Leben in dieser Stadt zu verbringen, hatte ich doch auch keine Pläne, das Land oder die Frau zu verlassen, mit der ich damals verheiratet war. Im Gegenteil, uns schwebte vor, dass wir Kinder bekommen und vielleicht nach Oslo ziehen könnten, wo ich neue Romane schreiben und sie weiter für Rundfunk und Fernsehen arbeiten würde. Aber aus dieser Zukunft, die im Grunde nichts anderes war als eine Fortführung unserer damaligen Gegenwart mit ihrem Alltag und ihren Abendessen mit Freunden und Bekannten, ihren Urlaubsreisen und Besuchen bei Eltern und Schwiegereltern, alles bereichert von den Kindern, die wir uns vorstellten, wurde nichts. Es passierte etwas, und von einem Tag auf den anderen ging ich nach Stockholm, anfangs nur, um ein paar Wochen fortzukommen, und dann wurde daraus auf einmal mein Leben. Nicht nur die Stadt und das Land wurden darin ausgetauscht, sondern auch alle Menschen. Es mag seltsam erscheinen, dass ich dies tat, noch seltsamer ist jedoch, dass ich so gut wie nie darüber nachdenke. Wie bin ich hier gelandet? Warum haben sich die Dinge so entwickelt?