Aus gegebenem Anlass - Stefan T. Gruner - E-Book

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Stefan T. Gruner

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Beschreibung

Die drei Texte beschäftigen sich mit "feierliche" Anlässen, die gewöhnlich entscheidende Lebensabschnitte markieren: Eine Geburtstagsfeier, zwei Hochzeiten und zwei Grabreden. Die Geburtstagsfeier einer Achtzehnjährigen vollzieht sich in einem spiritistischen Drogenritual - ausgerichtet von den Hippie-Eltern - und raubt der Gefeierten die letzten Nerven. Die beiden Hochzeiten - die erste bei der Mutter, die zweite bei der Tochter nach 39 Jahren - sind Muster an Unglück, Schieflage, Komik und Verlogenheit. Die zwei Grabreden halten Valéry und Majakowski. Sie thematisieren zwei Extrempositionen in der Literatur, eine hermetisch "absolute" Dichtung und eine Dichtung im Dienst einer (politischen) Sache. Es sind solche Ereignisse, in denen wir versuchen, einen nächsten Schritt zu tun, neue "Rollen" anzunehmen, neue Aufgaben zu übernehmen, Dinge für uns zu klären - oder Aus gegebenem Anlass zu erkennen, dass nichts mehr zu machen ist.

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Aus gegebenem Anlass:

Cytas Geburtstag

Zwei Hochzeiten

Zwei Grabreden

Cytas Geburtstag

Erst mal lieber doch dann danke nein.

(Cyta nach ihrer achtzehnten Geburtstagfeier)

Mami und Papa Dewill schenken Cyta zum achtzehnten Geburtstag ein Pilzessen. Die Vorbereitungen laufen an. Atemschulung. Sinndialog. Und sieben Tage vor dem Fest keinen Alkohol, keinen Kaffee, keinen Sex, keine fetten Mahlzeiten mehr. Cyta wird abgeduscht, eingeölt. Die Umgebung muss stimmen, die Gerüche müssen passen, die Gäste müssen harmonieren. Sie wird in eine Toga gesteckt. Darunter ist sie nackt – nichts soll kneifen.

Mami und Papa sind ins Unerschütterliche geschliffene Persönlichkeiten. Ihre intensive Reifung – die jährlichen Reisen nach Indien, die Studiensemester in Big Sur, die Aufenthalte in tibetischen Klöstern, die Selbsterfahrungsseminare in den Schweizer Alpen – hat alles Bare verschlungen. Ja und? So hat man wenigstens zu seinen wahren Quellen gefunden.

Arbeit mit Rentenansprüchen haben beide konsequent gemieden. Besitz wurde nicht angehäuft. Erbschaften sind nicht zu erwarten. So ist ihre soziale Talfahrt im Alter vorgezeichnet, was sie einen Dreck schert. Es hat sich gelohnt, sagen sie. Sie haben gelebt, mehr noch: sie haben den Kern der Welt begriffen! Der Kern der Welt ist immateriell. Ihr körperverhaftetes Leben ist bei aller Einzigartigkeit Schein. Ihre Leiber sind Hüllen. Gefängnisse! Lästige Etappe hin zur dauerhaften Erlösung. Was die Etappe nicht bedeutungslos macht, die Lust daran und darin nicht ausschließt…

Ihr Denken ist nur völlig entleert auf gleicher Augenhöhe mit dem Universum. Alles ist nur eine Momentaufnahme im ewigen Gang durch die unterschiedlichen Formen bei gleichem Gehalt. Das genauere Wort für Tod ist Neuanfang. Sie können gelassen ihrer nächsten Metamorphose entgegensehen.

Cyta hat früh erfahren, was es heißt, als Tochter der Dewills durch die Straßen zu ziehen. Mami und Papa genossen den Status der Sonderlinge, die nicht erst durch ihre kuttenähnlichen Aufmachungen verdeutlichen mussten, dass hier Erdenthobene wandeln. Es reichte schon die seifige Stimmlage, der halb gehauchte, halb im Singsang aufgelöste Wortwechsel, auch wenn es nur um den Kauf eines Brötchens ging. Dazu die unerschütterbare Freundlichkeit, die wie in Sirup getauchten Bewegungen... Heilige, mag sein, meinten die Nachbarn, Idioten nichtsdestoweniger. Vermieter sahen es schon etwas verbissener. Erst recht die Erbsenzähler vom Finanzamt, die jedes Jahr vergeblich irgendwelche Belege einklagen wollten.

Den besorgten Sparkassenleiter lächelten Mami und Papa immer nur entrückt an. Gesprengter Kreditrahmen? Drohende Kontokündigung? Die Sorgen materiell-fixierter Kreaturen!

Immer noch ist Cyta ihr Cytababy, ihre kleine Flocke, ganz unten drinnen, auf dem rutschfesten Teil des Herzbodens.

Es ist der letzte Abend im Juli. Die Nachbarn haben auf den Balkonen gegessen, Bierchen geköpft, Skat gedroschen. Die Nachbarn haben auf den Balkonen Formel 1 gekuckt, bis die Sonne hinter den Garagendächern verschwand, die Tauben im Hof ihr Gurren einstellten. Die Nachbarn haben sich in ihre Wohnzimmer zurückgezogen, um sich im Schutz der eigenen Wände müde zu zanken. Cyta wird zwischen Mami und Papa Dewill ins Wohnzimmer geführt, wo die Freunde der Familie warten.

Die Freunde der Familie, von da und dort angereist, eingeflogen, einige auf Motorrädern herbeigeritten, sitzen im Kreis auf Kirschkernkissen. Das Wohnzimmer ist zur tisch- und sofafreien Zone umgeräumt. Durch ständige Räucherstäbchenzündeleien und Aromatherapiesitzungen sind die Tapeten ölig parfümiert: sie sorgen für den Grundgeruch, auf dem das jeweils neue Rauchzeug frische Melodien in die Nase zirpt.

An den Wänden hängt Selbstgemaltes. Eine Serie weißer Scheiben vor gelblich verwaschenen Hintergründen. Alles angeblich unmittelbar nordindisch.

Mami Dewill ist die Zeremonienmeisterin.

Aus Steinschalen steigt Rauch von Wacholder, Beifuß, Thymian und Bilsenkrautsamen, fingerspitzengenau dosiert, gehackt, eingeharzt und abgemischt. Über die Soundanlage wispert eine Nusrat Fateh Ali Khan CD derart runtergepegelt, dass nur noch dünnster Klangtau einsickert.

‘Subohral’ ist eines von Mami Dewills Lieblingswörtern.

Mami Dewill begrüßt die Freunde der Familie. Sie spricht »Familie« besonders brustbetont: „Unsere Familie wird sich um Cyta erweitern. Ihr alle kennt Cyta, aber ihr kennt sie nicht. Sie selbst kennt sich nur halb. Deshalb sind wir hier zusammen. Zur Feier ihrer zweiten, wir wissen es, ihrer eigentlichen Geburt.“

„Cyta, du darfst dich ruhig setzen.“

„Such dir einen günstigen Platz.“

„Lass dir Zeit...“

Cyta macht das Gesicht eines Hundes, der einen verbotenen Knochen an seinen Herrschaften vorbei nach draußen schummeln möchte: Maul fest um den Gegenstand der Sünde, Augen ein Feuerwerk flackernder Unschuld.

Sie wagt sich nicht zu setzen. Sie rätselt, welcher Platz ihr in dem Kreis zusteht. Ob es nicht doch einen angemessenen, von allen erwarteten Platz für sie gibt. Vielleicht versteckt sich hinter der Aufforderung sogar eine erste Prüfung ihrer intuitiven Fähigkeiten? Bei den vom Kronen- bis zum Wurzel-Chakra energetisch frei durchflossenen Leuten weiß man nie...

Pilze wachsen manchmal in erstaunlich exakten Kreisen, den »Hexenringen«, bei denen jeder rätselt, wie sie sich absprechen, um sowas hinzukriegen – so hocken die Leute vor ihr. In einen solchen »Hexenring« möchte sie sich nicht einfach dazumogeln, womöglich sogar in ihrer uninspirierten Ahnungslosigkeit ein zahlenmystisches Muster auseinanderreißen...

Schließlich findet sich auch für sie ein Kirschkernkissen.

Die andern rütteln sich neu um sie zurecht.

Mami Dewill fordert die Gäste auf, von sich zu erzählen. Wer erzählt, hält ein seidenfetzenumwickeltes Stöckchen in den Händen. Ist er mit seinem Bericht fertig, reicht er das Stöckchen dem nächsten, nicht ohne es vorher durchzubrechen (ein Knacks, als brächen Fingerknöchel im wattierten Fäustling).

Warum die ausführlichen Lebensgeschichten? Mami Dewill ermuntert, ermahnt, sagt „Aha!“ und „Sag nur!“ und „Lass jetzt alles raus, wir sind unter uns.“ Nichts scheint ihr erschöpfend genug. Die derart Angespornten steigern sich zu rückhaltlosen Offenbarungen. Jetzt ist erst recht keine Regung mehr vor Mami Dewills Aufmerksamkeit sicher.

Mamis Fragen schrauben sich in die Berichterstatter-innen hinein, dulden keine falsche Scham, keine letzten Geheimnisse. Sie mischt sich solidarisch, sie mischt sich fürsorglich dazwischen. Was gab’s im Winter? Im Frühjahr? Im Beruf? Im Urlaub? Im Privaten? Im Spirituellen? Erzähl. Erzähl. Und vergiss nicht, mit uns über deine Trennung von Matthias zu reden...

So kommt auch noch die Trennung von Matthias dran, bis alle Familienmitglieder ihre Aaah! und Oooh! Mantras abseufzen. Sämtliche Störungen sollen angesprochen, so viele wie möglich im ersten Austausch schon gelöst werden.

Vorläufig unlösbar bleibt: Doros untherapierbares Asthma... Friedrichs immer bedrohlicher werdenden Depressionen... Miriams Brustkrebs aus heiterem Himmel... Der unerfüllte Kinderwunsch von Lea und Horst...

Warum ich?

Warum jetzt?

Wie weiter?

Das soll die Nacht klären.

Eine Gewissheit durchfeuert und eint sie: Alles, was in ihrem Leben und in ihrem Körper geschieht, hat in ihrem Bewusstsein begonnen. Die Schlussfolgerung aus dem richtig geführten Bewusstsein ist, dass alles geheilt werden kann.

Wer erkrankt, hat sich am Dharma vergangen.

Cyta wird vom konzentrierten Ernst der Leute angesteckt. Die Anteilnahme berührt sie. Die Teilnehmer ummanteln sich gegenseitig mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit. Kein Nebenbei entgeht ihnen. Sobald das seidenumwickelte Stöckchen bei Cyta angekommen ist, fühlt sie nicht nur alle Augenpaare auf sich gerichtet, sie fühlt jeden geistigen Atemzug zu ihr hin gebündelt.

--- »geistiger Atemzug«, schießt es Cyta durch den Kopf, Kokolores! Aber so geht’s mir immer, wenn ich mich auf die Gesellschaft der gutes Karma Sammelnden einlasse ---

Jedenfalls spürt sie Achtung und Respekt, sogar Liebe. Gleichzeitig stößt sie der importierte, auf seiner Reise von Indien nach Europa zu Mumpitz verkommene Gesinnungs-Salat ihrer Eltern ab. Von der vermutlich auch grausamen Spiritualität der Hindu bleibt ihnen die Pose. Weich gespülte Bewusstseins-Wolken mit Goldrand. Ihre Mutter, die ums Verrecken nicht Mutter, die Freundin sein will. Ihr Vater, auch er lieber Kumpan, Begleiter. Beide möchten mit ihren Vornamen angesprochen werden.

Die Mutter ist vor allem Klang – bei jeder Bewegung klimpert eine der dicken Hals-, Hand- oder Fußkettchen. Der Vater begnügt sich mit einem riesigen keltischen Runenamulett und fünf Silberringen. Wie die Kelten zu den Indern passen, weiß nur er. Alles ist ja irgendwie indo-germanisch, afro-asiatisch, sibirisch-indianisch verflochten, ineinander verwoben und von den gleichen Problemen geschüttelt: Liebe, Tod und Teuerungsraten. Sein humoriger Säufercharme bei vollkommener Alkoholabstinenz! Die lockere Gangart schäumt von innen. Er kennt genau die unwiderstehliche Wirkung seines triumphierenden Bettelblicks, der herzige Lump.

--- Was hab ich mit diesen in ausladende Leinenklamotten gehüllten Schöngeistern zu schaffen? Warum dürfen mich solche Maharishi Mahesh Yogi-Verschnitte ihr Eigen nennen? Könnt‘ ich nicht genauso gut hier und jetzt mit einem Schweinebauchpärchen − einer Mutterschlampe und einem Vaterpenner in Unterhemd und Ballonseidenhose − vor der Glotze sitzen und für Borussia Dortmund fiebern? Bierchen zwischen den Füßen, Schüssel mit Paprika Chips im Schoß? Oder ganz woanders mit ganz wem anders ganz wer anders sein? ---

Ihr schwindelt.

--- Ein Lotteriewitz, meine Ich-Erwachung. Ausgerechnet in diesem Körper, in dieser Epoche, in diesem Land – in diesem verhippten Elternstall! Die Hälfte ihrer Tage verstreicht mit Befindlichkeitsprüfungen. „Ich fühl das jetzt nicht.“ „Ich glaube, mir ist jetzt nicht danach.“ „Ich bin momentan einfach noch nicht so weit.“ „Das tut mir jetzt nicht gut.“ „Was macht das jetzt mit mir?“

Und so ewig weiter.

Vor lauter Selbstverwirklichung haben sie die Umwelt aus den Augen verloren. Zum Beispiel mich. Ein echtes Anderes. Ein Knick in Papas Flugbahn zur ungestörten Freiheit. Ein Stolperstein auf Mamis Weg zum schmerzfreien Nirwana...

Sie haben sich auf ihrer inneren Reise bis zur weltlichen Verwahrlosung geläutert. »Eine strahlende Seele glänzt in jeder Hülle«. Die Außenwirkung wurde ihnen schnuppe. Gut für sie. Aber ich seh‘ mich nicht als Insel im Strom. Mir ist die Meinung anderer wichtig. Was ist schon so interessant an einem Ich, dass alles andere daneben verlottern darf? Sie sind ohne Not arm. Gebildet arm. Arm aus Überzeugung! „Da stehen wir drüber“, frohlocken sie. Gut für sie. Sache hat nur einen Haken. Ich stecke mit drin.

Arm ist für mich nicht schick. Arm ist peinlich. Arm ist erbärmlich. Ich mag der Armut keine gewaschene Seele entgegenhalten. Wie oft hab‘ ich bei ihnen ein Minimum an Wohlstand eingeklagt! Sie hätten es mit links erledigen können. Nichts zu machen. Sippenhaft... Zieh dir ihre Sandalen an und tanz mit oder verdrück dich...

Ihr Traum ist raus aus der Gesellschaft, die sie dann doch nie ganz verlassen. Mein Traum ist rein in die Gesellschaft, wenn sie mich nur lässt. Aber wie soll ich mich dort präsentieren? Hallo, liebe Personalleitung, ich bin zur voll ausgereiften Lebensuntüchtigkeit erzogen! Hoffentlich ist das für Sie kein ernsthaftes Hindernis...? ---

Kann Cyta, Stöckchen in der Hand, ein Problem nennen?

Sie muss den Kopf schütteln.

--- Nicht dass ich bemeckern möchte, was mir an Eltern beschert wurde... Ich fühl‘ mich nur um alle andern Möglichkeiten betrogen. Das ist der Punkt. Mami und Papa Dewill wären so verkehrt nicht, wenn sie mit einem Druck auf die Fernbedienung dem nächsten Familienprogramm weichen könnten. Das tun sie nicht. Da kann ich drücken, wie ich will. Sie kleben an mir und ich an ihnen. Ich renne, egal in welche Richtung, immer wieder in sie hinein.---

Kann sie, Stöckchen in der Hand, ein Problem nennen?

Sie muss den Kopf schütteln.

Die Familie legt eine oberkörperwiegende Besinnungspause ein. Augen geschlossen. Solar-Plexus Chakra aktiviert. Mami Dewill, die kommandierende Psychonautin, stimmt ein nasales Summen an. Der Kreis nimmt ihr Summen auf. Sacht. Ganz sacht. Mehr auf Probe. Als könne der von Mami Dewill so sacht ausgeströmte Ton bei unvorsichtiger Mundbewegung dissonante Monster erzeugen...

Das Summen schwillt. Hebt an. Fällt ab. Bekommt Volumen. Füllt die Zimmerecken. Färbt sich. Taktet sich ein. Taktet sich um. Gewinnt Vibrato. Bleibt versammelt. Wächst zur gemeinsamen Geräuschglocke, die sich über den Kreis stülpt, Widerhall schafft, Rückkopplungen hochtreibt...

Der Mundraum auch Lauschhöhle? Das Innenohr bekehlt? Schädel ein Resonanzboden? Nach einigen Minuten strömt das Summen in den Bauch, breitet sich von dort in Beine und Arme aus...

--- Ach die Lieben! Sie sind ja wirklich lieb. Zum Liebhaben lieb. Blumenmenschenlieb. Ich bin ungerecht. Ich hänge doch an ihnen! Sie zerreißen mich vor Liebe. ---

Cytas Nachbarin versucht, eine Melodie anzubringen, die sofort niedergesummt wird, bis das auf eine Note zusammengerührte Tongebräu wieder hergestellt ist, das jeder zugleich einsaugt und absondert, wie Babys, die Milch von der Brust nuckeln und dabei Milch aus den Mundwinkeln abschäumen.

Doro hat begonnen, mit den Handflächen auf ihre Schenkel zu klopfen. Keiner weiß mehr, wer was warum anfängt, selbst der nicht, der angefangen hat, weil er glaubt, er habe es auch nur übernommen. Doro ertappt sich beim Schenkelklopfen und kann es sich nicht anders erklären als durch ihre Mitgerissenheit neben anderen Klopfern.

Schon wird der Schenkelklatschrhythmus von der halben Runde ausgeführt. Er droht das warm fließende Summen zu zerhacken.

Die meisten klopfen im Takt eines ruhig schlagenden Herzens

--- siebzig bpm, beats per minute, oder waren’s eher breakdowns per month? ---

von Hitzköpfen übermütig in der Schlagzahl verdoppelt, daraufhin von Trotzköpfen bis auf lebensbedrohliche zwanzig Schläge verlangsamt...

Schon ist er angezettelt, der Kampf zwischen dem schlagbetonten Tam-Tara-Tam und dem eintönig strömenden Ummummumm... Durch die Klopfer angestachelt, werden die Summer lauter. Es gelingt ihnen, die Taktwütigen niederzustimmen. Die fast abgemeldete Rhythmusgruppe wechselt daraufhin vom vergleichsweise dumpfen Schenkelschlagen zum helleren Fingerschnippen. Die Summer reagieren durch noch kräftigeres Stimmenwogen, komplett mit Nasenflügelbeben.

Nun geht die Schlagfraktion zum offenen Händeklatschen über. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Summende Nachbarn versuchen sich durch gegenseitiges Lippenlesen auf ein Lied zu einigen, legen mit einer Melodie los, um die Klanghoheit wieder an sich zu reißen, bis sie merken, dass doch nicht jeder mera piya gher aya vorbringen möchte...

Der akustische Tumult verwirbelt jede Ordnung – man gibt sich dem wirren Gewoge hin oder geht unter. Das Ziel ist erreicht.

Cyta wird von der Klanglawine begraben. Dabei durchlebt sie ein Gesetz, von dem Lawinenverschüttete berichten: Solange die Schneemasse rollt, rollen sie mit, können hierhin und dorthin rudern, in dem Schub umher gleiten, die Richtung beeinflussen – hält die Lawine an, sind sie augenblicklich bretthart eingegossen. Erst jetzt beginnt das Elend. Ihr Atem wird den Schnee schmelzen, bis sich eine Eismaske über ihr Gesicht legt und die Luftwege versiegelt...

Cyta lebt also nur noch, solange die Töne fließen, summt mit, singt mit, klopft und klatscht mit. Endet das dynamische Gerumpel, ist es auch, fürchtet sie, mit ihr vorbei.

Einzelne Klopf- oder Gesangsausbrüche scheinen einstudiert, andere wirken spontan entwickelt. Ein Geräuschbrei jenseits von Ich-Du-Wir! Wo Vorreiter zur Nachhut, Tonjäger zur Klangbeute werden...

Cyta schießt eine befremdliche Hitze in den Kopf.

Ohne Vorwarnung singt Mami Dewill aus voller Kehle:

„Ihr Sonnen Monde und Sterne

die ihr den Himmel bewegt

hört meine Bitte!

Ein neues Leben ist gekommen

nehmt es auf unter euch!“

Der Kreis nickt. Murmelt Zustimmung. Unterstützt die Beschwörung durch Platzlaute. Schnippt dazu mit den Fingern… „Nehmt es auf, nehmt es auf unter euch!“

Und Mami Dewill ruft:

„Ebnet ihm seinen Weg

dass es den ersten Gipfel erreiche!“

Erneutes Nicken, Fingerschnippen, zusätzliches „Hoho!“ „Ha!“ „Jaha!“ Rufen des Kreises.

Nun übernimmt Papa Dewill die Anrufung:

„Ihr Winde Wolken und Nebel

die ihr die Luft bewegt

hört meine Bitte!

Ein neues Leben ist gekommen

nehmt es auf unter euch!“

Der Kreis: „Nehmt es auf, nehmt es auf unter euch!“ „Hohooo!“ „Jahaaa!“ Eindringlich. Einige noch flehend, andere schon drohend. Von dem Wunsch nach eigener Neugeburt hingerissen. Aufgeregt. Angerührt. Ergeben. Aber immer aus vollem Hals, bis Cyta unter den Geburtsbeschwörungen verlegen zittert.

Und Mami Dewill wieder dazwischen:

„Ebnet ihm seinen Weg

dass es den zweiten Gipfel erreiche!“

Darauf die gesamte Runde:

„Ihr Hügel Täler Flüsse und Seen

die ihr die Erde bewegt

hört meine Bitte!

Ein neues Leben ist gekommen!

Nehmt es auf unter euch!“

Und Mami Dewill feurig:

„Ebnet ihm seinen Weg

dass es den dritten Gipfel erreiche!“

„Hooo!“ „Haaa!“ „Jahaaaaa!“

Cyta sieht Verzückte, Entrückte, Köpfe nicken, Oberkörper schwingen, Arme schlängeln zur Decke, Finger imitieren Flammen.

Und noch einmal Papa Dewill:

„Ihr Vögel große und kleine

die ihr die Bäume bewohnt und die Berge

ihr Tiere große und kleine

die ihr die Felder bewohnt und das Wasser

ihr Schlangen und Käfer

die ihr durch die Gräser und Kiesel schleift

hört meine Bitte!

Ein neues Leben ist gekommen!

Nehmt es auf unter euch!“

Seinem Vortrag folgt ein endgültig enthemmtes Stampfen und Stammeln der Runde: „Nehmt es auf, nehmt es auf unter euch!“

In allen Tonlagen, Lautstärken und Dringlichkeiten. Und Mami Dewill offen erhitzt dazwischen:

„Ebnet ihm seinen Weg

dass es das Land über den drei Gipfeln erreiche!“

„Hoo-Hoooo!“ „Ha-Haaah!“ „Ja-Jaaaaaaah!“

So hat Cyta die Gäste noch nie erlebt. Sie ist von den ungezügelten Ausbrüchen um sie her derart neben sich, dass sie mechanisch zu den Pilzen greift, die ihr Mami Dewill aus einem Sammelkorb anbietet.

Cyta darf die Pilze nur paarweise essen. Die Pilze sind kleinfingerklein. Spitze braune Kegelköpfe. Glatt. Frisch gereinigt. Ansonsten unbehandelt. Ein bitterschleimiger, fleischiger, zwischendurch auch mehliger Geschmack. Damit’s besser rutscht, bekommt Cyta Trinkschokolade. Sie isst und trinkt. Isst und trinkt und wundert sich, dass niemand ihre Menge einschränkt. Dann hört sie auf, sich zu wundern und isst noch drei Paar Hüte mehr.

Die Leute neben ihr geben sich aufgeräumt. Sie kichern, nicken, schnalzen und drücken sich Wasser aus den Augen. Cyta saugt die kräuterverrauchte Luft ein. Das erste, was sie verliert, ist das Zeitgefühl. Sie versucht, die Kontrolle zu behalten, klammert sich an Solides: Türzarge, Steckdose... Es klappt. Sie bleiben.

Wand. Fußbodenleiste... Sie bleiben.

Anker in einem schwellenden Nervenzittern.

Kleinigkeiten ändern sich. Ihre Finger liegen auf den Knien wie in farbige Paste gedrückt. Die Knie sprühen, als sie länger hinstarrt, einen dezenten Funkenregen ab, als seien es angezündete Wunderkerzen. Nach einigen Minuten verglühen sie. Cyta hört die fast unhörbare Musik von Nusrat Fateh Ali Khan plötzlich in knisternder Schärfe. Die Stimme Ali Khans. Das pfeifende, jauchzend-jammernde Harmonium, halb Schifferklavier, halb Miniorgel. Die Tabla-Trommler. Die Klatscher. Das wechselnde Falsett der Mitsinger. Der auf Zehen und Hacken hektisch trippelnde Takt…

--- nordindisch, pakistanisch, bengalohrisch, andaluziferisch, motzarabisch, was weiß denn ich---

…die ganze Zeit über dagewesen? Wie ist ihr? Warum hört sie plötzlich so überdeutlich? Einzelne Seufzer des Windkastens verbuckeln sich in der Luft, fahren Insektenbeine aus, beginnen, durch ihr Trommelfell an der Innenseite der Wangen entlang unter ihre Haut zu wandern...

Klanggezieferinvasion.

--- Meine Haut wird fellig. Meine Hände schwellen. Meine Fingernägel wachsen sich zu Fernsehschirmen aus. Ich starre auf buntes Schneegestöber. Winzige blaue Blitze dazwischen. Auch rot aufreißende Löcher. Glutstiche. Ich seh‘ in die Runde. Mir ist kotzübel, aber Mund und Kehle sind zu trocken, um was auszubrechen.

Ich warte. Meine Zunge verpelzt. Ich überlege, ob ich aufspringen soll, ausrasten soll, oder ob ich besser die Beine übereinanderschlage, um mich im Boden zu verankern. Oder noch besser die Beine spreize, um so viel Raum wie möglich zu greifen. Oder die Beine parallel ans Kinn ziehe, um möglichst kompakt das aufkommende Gestöber abzuwehren. Oder doch nur die Zehen wie gegen einen drohenden Krampf anzuwinkeln?

Die Beine liegen vor mir, holzig, auch nach kräftigem Hinlangen ohne spürbare Antwort. Wie von der Hüfte geschlagen. Was wird jetzt von mir erwartet? Sprung durchs geschlossene Fenster? Zur Decke schweben? Ich überlege, ob Panik zu meinem Zustand passen könnte. Ich zieh‘ mir noch andere Gefühle von der Stange über. Scham. Wut. Neugier... Nichts passt.

Ich zittre vor Hitze. Wortklumpen fallen ausgesprochen unelegant in mein Sumpfhirn. Jemand bellt: „Go on!“ „Get out!“ „Act!“ Ein Irrtum? Dagegen spricht die gebetsmühlenartige Wiederholung, zusammengeschnurrt auf „Gact!“ „Gact!“ Unerträgliches Gegacker und Schnabelhacken. „Gact!“ „Gact!“ Wieder und wieder in mein Gehirn gepickt. ---

Dann Stille. Aussetzer im Wechselgesang zwischen Ali Khan und seinem Männerchor. Unterhaltungsfetzen der Familie...

--- Sieh sie dir an. Schräge Figuren, freundliche Flaschen. Jetzt mal nicht ironisch. Sowas von daneben, na und? Ist von ihnen je ein Krieg, eine ethnische Säuberung, ein Börsencrash ausgegangen? Es sind die gesitteten Normalos, die Atombomben im Bikini Atoll zünden, den Erdball ruinieren, in ihrer Gier periodische Katastrophen verursachen. Zu dieser Armee der Ausbeuter will ich erst recht nicht gehören. Ja Himmel, zu wem dann...? ---

Cyta atmet wild. Sie will in die Wirklichkeit zurück. Kaum macht sie die ersten Bewegungen oder glaubt sie zu machen, erfasst sie ein Bilderbrei. Ihre Augen füllen sich mit Pflanzenornamenten. In geometrisch geordneten Wiederholungen staffeln sich Weinreben, Weinstöcke, Vogelköpfe und Efeu. Hausfassaden ziehen vorbei, zersplittern, als steckten sie in einem langsam sich drehenden Kaleidoskop. Sie kehren nach einer vollen Drehung zurück. Doch die Gebäude haben sich verändert, wie bei einer Straße, die man nach Jahrzehnten wiedersieht und kaum mehr erkennt, es sei denn an dem Briefkasten, der alle Umbauten überstanden hat.

Sie löst sich durch energisches Kopfschütteln.

--- Das ist mir mal eine Stümperei! ---

wettert sie los, ohne sich im geringsten aufzuregen. Nur damit klar ist, auf was sie nicht hereinfällt.

Sie sieht Leute, die ihr vertrauensvoll, aber mit deformierten Händen zuwinken. Wo ihre Augen sein sollten, nisten Störche. Die Welt ist in drei bemalte Holzwände geteilt: Eine Wand vor der Nase, eine ganz hinten, eine dazwischen. Ohne Übergänge. Der Rest muss sich entscheiden, wohin er gehört. Aha. Es handelt sich um eine Puppentheaterkulisse, die vor drei bemalten Holzwänden auf drei Schienen Figuren hin und her schiebt. Aha. Sehr übersichtlich. Aufs Wesentliche reduziert. Zugleich irreal: Vorne winken die Verunstalteten. Ihre Hände greifen durch Cytas Schädel direkt in ihr Gehirn zum Gedankenfischen. In der Mitte stehen stümperhaft geschminkte Pappkameraden, die sich nicht einmal die Mühe machen, die Illusion von Körperlichkeit zu erzeugen. An der Fernwand schließlich Plastikblumen in Tonröhrchen, wie sie’s von Schießbuden auf der Kirmes kennt, vor einem firnweißen Bergmassiv unter aquamarinblauem Himmel, aber wirklich ganz weit weg und fast schon beleidigend klar in seiner Unerreichbarkeit.

--- So also sieht‘s aus! Ich bin über die Wupper! Neben der Kappe! Im Land der leuchtenden Kuhfladen... ---

Der Verlust der äußeren Wahrnehmung stürzt Cyta nicht ins Orientierungslose, oder doch, aber ohne weitere Beunruhigung: Ein egales Gefühl hat sich in ihren Leib eingeschlichen. Eine kicherhafte Gelassenheit. Ihr Atem geht ruhig. Es atmet sie... Kein Anfang, keine Richtung... Dennoch eins aus dem anderen organisch herauswachsend... Eine Bilder-Evolution ohne Sprünge, als verfolge sie im Zeitraffer die Entwicklungsgeschichte aller Lebewesen, in dem Fall aller Bilderwesen. So bewahrt noch die abwegigste Darstellung eine Abstammungslogik…

--- Psylo-Chimären! Schadstoffprodukte, aus dem Giftbad entstiegen! Hirndung, zum Fleisch der Götter schöngeredet... Sankt Isidor, verdammte Zecke... ---

Cyta wechselt in die äußere Wahrnehmung zurück. Unaufgeregt. Studiert ihr linkes Knie wie das Präparat eines fremden Spenders. Ihre Nase wird klumpig, treibt aus, erreicht Armlänge, ein Ambossgewicht, zieht ihren Kopf nach unten. Ihre Nasenspitze pappt Halt suchend auf dem Boden fest.

Endlich haben sich ihre Augen so weit aus den Höhlen befreit, dass sie sich unabhängig voneinander bewegen können. Angenehme Raumkontrolle...