Das Brot der Fantasie - Stefan T. Gruner - E-Book

Das Brot der Fantasie E-Book

Stefan T. Gruner

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Beschreibung

Die Malerin Birgit M. unternimmt mit ihrem Mann eine "Bildungsreise" nach Istanbul. Die Besonderheiten der Stadt bringen sie zur Abkehr von jeder voreiligen Zuordnung und gewohnten Sichtweise, was ihr künstlerisch neue Impulse gibt, gleichzeitig die Trennung von ihrem Mann auslöst. Die Erzählung folgt einem rauschhaften Sog, unterlegt mit Zitaten aus Walter Benjamins Haschischprotokollen, die nur bestärken, dass seine "physiognomische" Wahrnehmung der Pariser Passagen für ähnlich traditionsreiche urbane Gebilde mit dem größten Gewinn anzuwenden ist. Es bestätigt das Paradox, dass es der Aneignung von etwas ganz Anderem bedarf, um dem Eigenen näher zu kommen.

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Man redet oft davon: Steine für Brot. Hier

diese Steine waren das Brot meiner Fantasie,

die plötzlich heißhungrig darauf geworden war,

das Gleiche aller Orte und Länder zu kosten.

Walter Benjamin

(Haschischprotokolle)

Prolog

Walter Benjamins starb, zu Tode gehetzt, am 27. September 1940 in Port Bou. Seine unerlöste Seele suchte sich einen Ort, der zumindest eine teilweise Linderung versprach. Einige Fäden des Banjamin‘schen Psychosoms zögerten, ehe sie sich vom gewohnten Animageflecht lösten. Dagegen wusste ein starker Strang, durchtränkt mit den Entwürfen, Notizen und Halbsätzen aus Benjamins Haschischprotokollen, sofort wohin und zog den Rest nach.

So stieg die Seele – an den Rändern flimmernd und tief unzugehörig wie immer – auf 9000 Meter Höhe, ließ sich zwischen dem einundvierzigsten und zweiundvierzigsten Breitengrad ostwärts treiben und landete auf einer Treppenstraße im farbenreichen Cihangir-Viertel Istanbuls.

Hier flüstert sie seither bevorzugt Künstlern, Freigeistern und schwermütigen Passanten ihre drogenerhellten Einsichten zu, bis sie genügend Nachfolger zusammen hat, um sich aufzulösen.

Zwei Jahre hatte ich unsere Reise nach Istanbul vor mir hergeschoben. Um mein Zögern zu rechtfertigen, wiederholte ich gerne Urteile von Vielgereisten: "Istanbul? Alles, was du dir in Istanbul holst, ist Durchfall!"

Doch die Freunde, Elke und Horst, die in Istanbul als Lehrer arbeiteten, blieben hartnäckig bei ihrer Einladung. Arno drängte ebenfalls. Mir gingen die Argumente aus. Ich gab nach und sah mir einige Bildbände von Istanbul an, um mich einzustimmen. Die Fotos vom alltäglichen Straßenleben wirkten auf mich wie der Blick in eine überfüllte Schlangengrube. Beunruhigt schlug ich die Bücher zu.

Arno organisierte die Reise. Da die deutschen Reiseveranstalter versicherten, zu dem gewünschten Termin seien alle Flüge nach Istanbul ausgebucht, ging Arno in das einzige türkische Reisebüro der Stadt, dem sich sonst nur türkische Landsleute anvertrauen. Arno wollte gerade zugeben, er wisse, dass es im Juli so gut wie keine Verbindung--- da wurde von der Frage überrascht: Wo sei das Problem? Ein Flug nach Istanbul? Wann immer sie wollten! Statt Formulare und Unterschriften ein Handschlag.

Arno strahlte: „Siehst du mal, Verbindung hin und zurück gebucht, Hand drauf, fertig...“

Die Buchung wirkte auf unsere deutschen Bekannten verdächtig locker: „Traut ihr einer solchen Hinterküchenwirtschaft?“ Einen Tag vor dem Abflug hatten wir unsere Tickets und obendrein noch konkurrenzlos günstig.

Am Istanbuler Flughafen prallte uns mit der Hitze ein unerträglicher Lärm entgegen. Ich fühlte mich wie von einer rasenden Menge angefallen. Ein schrilles Getriebe, dazu rüde herumbrüllende Polizisten, die in einem Bulli saßen und über Megaphone die Leute niederschrien. Es machte mich zugleich kleinlaut und wütend. Die Polizisten duldeten keinen, der mit seinem Auto vor dem Flughafengebäude hielt oder sich auch nur länger verabschieden wollte. Halfen die Anraunzer nicht, sprang einer der Polizisten aus dem Bulli und schubste die Leute weiter. Wir wurden angerempelt. Die Taxifahrer glaubten, vor unseren Gesichtern fuchteln und uns in ihre Wagen zerren zu müssen. Ich stand wie im dampfenden Atem eines Raubtiers, während wir auf Horst warteten.

Horst hatte sich verspätet. Wir warteten über eine Stunde. Inzwischen füllte sich mein Kopf mit Gewaltszenen – ein Steinregen auf das Flughafengebäude, Massenpanik, Schreie Gestürzter, die zu Tode getrampelt wurden – bis mir die Sinne zu versagen drohten.

Was sollte ich hier? Als Touristin? Als Malerin?

Mir war übel vor Hilflosigkeit.

Endlich sahen wir Horst, der uns – mit einem Bein noch im Auto – heranwinkte. Wir rannten los, unsere Koffer gegen die Gepäckträger und Taxifahrer verteidigend. Horst bot uns zum Trost für seine Verspätung gleich die Butterseiten der Stadt. Istanbul sollte man sich, meinte er, nur auf dem Seeweg nähern. Die Anfahrt vom Flughafen sei so etwas wie der Dienstboteneingang in das Gesamtkunstwerk „Istanbul“. Er fuhr die Prachtperspektiven ab: Goldenes Horn, Galata-Brücke, Topkapi Palast, Hagia Sophia, Blaue Moschee, Taksim-Platz, die Straße der Unabhängigkeit, Bosporus Brücke... Grandiose, viel zu dicht ineinander geschobene Eindrücke.

Wir haben schon Aussichten geseufzt.

Grauviolette Felsen, goldgepuderte Hügel, das von der Abendsonne angezündete Wasser des Bosporus, darüber die scharf gekerbten, zusammengedrängten Gebäude, deren Dachränder mit dem Himmel verschmolzen. Unmittelbar um unseren „stadtgerecht verbeulten“ VW-Polo drückten sich Menschen zwischen Autos, Mofas und Bussen durch. Alles krachte, hupte, stank, wollte sich ans Leder, sich gegenseitig niederwalzen… weiter weg gaukelte mir die in weiche Farbdämpfe getauchte Silhouette der Stadt eine übernatürliche Gelassenheit vor.

In den Anblick der Hügelketten, Minarettspitzen und rötlich lasierten Wolkenschichten versunken, milderte sich der anfängliche Schock. Horst kannte die Wirkung. Er wies auf den abendlichen Farbrausch hin, als hätte er persönlich beim himmlischen Beleuchter dieses „auf der Welt wohl einmalige Licht“ bestellt.

Arno bereitete sich auf jede Reise gründlich vor. Ohne Hintergründe, meinte er, verfinge ich mich im Gestrüpp aufdringlicher Oberflächen, die zusammenhanglos auf mich einprasselten. Da lag er richtig. Es war das, was ich suchte. Oberfläche. Bei dem wenigen, was ich über Istanbul gelesen hatte, beeilte sich jeder Sachkundige, dem Wochentouristen die Hoffnung zu nehmen, ein geschlossenes Bild von der Elfmillionenstadt zu erhalten. Schon die Einwohnerzahl schwankte in anderen Schätzungen zwischen zwölf und siebzehn Millionen. Wer sollte das zählen? Wo war die Grenze? Wie hoch die Dunkelziffer? Zu unübersichtlich, zu eigenwillig und unkontrolliert wuchsen Häuser, Wellblechsiedlungen oder Villen über die Hügel. Ein echtes Zentrum war in dem amorphen Gebilde nicht mehr auszumachen.

Auf der europäischen Seite über 120 Kilometer von der Küste des Marmarameers nordwärts entlang der Küste des Bosporus gedehnt, nicht viel anders auf der asiatischen Seite, und dann die gleichen Kilometer legal und illegal ins jeweilige Hinterland gewuchert… Es hieß, das sich randständige Bezirksbewohner schon nicht mehr als Istanbuler empfanden und viele von ihnen den Bosporus nie gesehen hatten! Ja toll, da reichte kein Leben, um diesen urbanen Moloch abzuklappern, geschweige in groben Zügen zu begreifen. Und da kamen wir mit unseren drei mageren All-inclusive-Wochen! Ich mochte nicht einmal von einem Schnupperkurs reden! Wir ähnelten eher einem Irrsinnigen, der mit einem Glühwürmchen in der Glasröhre das Mammoth Höhlensystem in Kentucky – verzweigt über tausend Kilometer – auszuleuchten versucht. Als Irrsinniger wollte Arno bei keinem seiner Bildungsreisen gelten, also übernahm ich die Rolle in aller Stille für uns beide.

Istanbul ist das Etikett für eine Fiktion, ein Deckelbegriff, um der zersiedelten Schimäre einen Namen zu geben! Auch das behielt ich im Auto mit den Istanbul-Freunden besser für mich.

Gebetsmühlenartig betonten die Reiseführer – als sei das schon ein Wert für sich – die schroffen Widersprüche zwischen Tradition und Moderne, Asien und Europa, Religionszwang und Wirtschaftsdrang, Pracht und Elend, kosmopolitische Weltoffenheit und nationalistische Identitätssuche. Eine brodelnde Zone zwischen „Orient und Okzident“, die alle möglichen Extreme wie auch Versöhnungsversuche hervortrieb und es fertig brachte, im selben Viertel Wut, Stolz, Zerknirschung, Resignation, Schwermut und unbeschwerte Lebenslust zusammenzumischen…

Beim Eintauchen in ein derartig überdimensioniertes Gebilde von Widersprüchen entlastet es, von vornherein auf ein umfassendes Bild zu verzichten, es sei denn, man hat den Ehrgeiz eines Arno, der in egal welchem Winkel der Welt allem auf den soziokulturellen Grund gehen will. Ein Durchblicker selbst in Ländern, deren Sprache er nicht versteht, das ist sein Anspruch. Dafür macht er sich im Vorfeld schlau, landet am Zielort belesen, für mich ein anderes Wort für blind. Respektlos und wahrnehmungsbehindert. Eine erste, absolut winzige Täuschung punkt zehn.

„Intellektuelle und Dichter, die ihr Leben hier verbracht haben, grübeln noch immer“, erklärte Horst, als hätte er meine Gedanken erraten, „und schließlich geben sie es auf, das dissonante Gemisch mit dem Sammelnamen Istanbul auf den Punkt zu bringen.“

Aha! Also gab es doch geistige Verbündete…