Aus Opas Federhalter und Omas Handtasche - Elke Ottensmann - E-Book

Aus Opas Federhalter und Omas Handtasche E-Book

Elke Ottensmann

0,0

Beschreibung

Waldenburg, Schlesien – 1900, ein kleiner Junge erblickt das Licht der Welt. Arthur, der eigentlich Alfred heißen sollte, wird ein ereignisreiches Leben haben. Mit seiner großen Liebe Johanna meistert er die dunklen Tage des Zweiten Weltkriegs und die Zeit danach. Immer wieder erleben die beiden Bewahrung und Wunder, und selbst in den dunkelsten Zeiten gibt es manche Lichtblicke. So sorgen eine ausgegrabene Likörflasche sowie ein Oberst im Schlafanzug für Heiterkeit auf lange Zeit. Fröhliche Lesestunden sind garantiert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 253

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elke Ottensmann

Aus Opas Federhalterund Omas Handtasche

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7417-6 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5845-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2018 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Bilder im Bildteil: Elke Ottensmann, privat

Titelbild: fotolia.com, © ischoenrock

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Ein herzliches Dankeschön dir, lieber Christoph, für deine unzähligen Stunden des Sortierens, Abfotografierens und Sammelns von Aufschriften, Fotos und anderen Dingen aus dem Kämmerchen.

Genauso danke ich unseren Vätern – den Zwillingen Werner und Reinhard, die manche Lücke der Vergangenheit mit ihren Erzählungen schließen konnten. Danke auch für das Lesen des Manuskripts und natürlich für eure Zustimmung zur Veröffentlichung.

Ebenfalls sehr dankbar bin ich denjenigen Menschen, die während des Schreibens für mich gebetet haben. Vor allem danke ich dir, lieber Roland, dass du von Anfang an im Gebet hinter mir gestanden hast. Ich zitiere hierzu meinen Großvater: Die Fürbitte im Gebet ist ein herrlicher, wichtiger Dienst, an dem wir alle teilhaben können.

Anmerkungen:

Die meisten Namen von Personen, die nicht zur Familie gehören, sind geändert.

Am Ende des Buches sind für alle ehemaligen deutschen Ortsnamen die heutigen polnischen angegeben.

Inhalt

Über die Autorin

Vorwort

Schlesische Wurzeln

Arthurs Leben wird in neue Bahnen gelenkt

Liebe und Nestwärme

Der Krieg rückt näher

Kriegsende

Wie Fremde in der eigenen Heimat

Von Schlesien in den Schwarzwald

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

Elke Ottensmann wurde 1968 in Alpirsbach geboren, lebt heute mit ihrer Familie in der Nähe von Kaiserslautern. Sie schreibt am liebsten über das wahre Leben.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Wertvoller als Gold und Edelsteine – Wie dieses Buch zustande kam

Als mein Cousin Christoph vor etwa drei Jahren das kleine, unscheinbare Türchen unter der Dachschräge seines Elternhauses öffnete, ahnte noch niemand, welche Schätze dort seit Jahrzehnten unberührt in der Dunkelheit der Dachkammer lagen.

Mit einer Taschenlampe in der Hand brachte er erst einmal Licht in das Dunkel und war erstaunt über die Vielzahl an Fotoalben, Tagebüchern und zahlreichen anderen Dokumenten, die fein säuberlich geordnet geduldig darauf warteten, ans Tageslicht befördert zu werden. Auch die Handtasche aus dunkelblauem Leder meiner Großmutter lag noch dort.

Wir wussten zwar, dass unser Großvater Arthur Tagebuch geführt hatte und dass unsere Großmutter Johanna ihre alte Handtasche stets wie ihren Augapfel gehütet hatte – doch niemand sonst in der Familie hatte jemals einen Blick auf diese Dinge geworfen.

Und so wurde im Laufe der folgenden Wochen und Monate das kleine Türchen in der Dachkammer für uns zu einem Tor in eine andere Welt. Ich begann damit, die Aufschriebe meines Großvaters zu lesen, was zunächst nicht einfach war, denn ein Großteil war in deutscher Schrift geschrieben. Doch mit der Zeit lernte ich, diese Schrift zu entziffern, und begann, die Texte abzutippen. Dabei merkte ich, dass mein Großvater den heimlichen Wunsch gehegt hatte, mit seinen Schilderungen der Nachwelt ein Vermächtnis zu machen. Und so wurde es spannend.

Schnell stellte ich außerdem fest, dass Arthur uns etwas Großartiges vermacht hatte. Vor mir lagen seitenweise Schilderungen aus erster Hand – historische Ereignisse, manche davon weltbewegend, aber auch vieles aus dem persönlichen Leben der Familie. Die Idee, aus diesem wertvollen Material ein Buch zu schreiben, begann sich schon bald in mir zu formen.

Auch die geheimnisvolle, prall gefüllte Handtasche meiner Großmutter entpuppte sich als eine wahre Fundgrube. Wir staunten darüber, was alles aus dieser Tasche zum Vorschein kam. Zahlreiche Fotos, stapelweise Feldpost aus den Jahren 1944/45, Zeugnisse von Johanna sowie viele Gedichte, die Arthur für sie geschrieben hatte, ergänzten auf wunderbare Weise die Aufschriften meines Großvaters.

Immer wieder erwähnte Arthur in seinen Tagebüchern, dass er selbst gerne Schriftsteller geworden wäre. Doch das wurde er nicht, und sein großer Traum, Lehrer zu werden, wurde ebenfalls nicht wahr. Auch füllte er keine Theatersäle, war kein gefeierter Schauspieler oder Musiker. Die allermeisten Menschen wissen nicht einmal, dass es ihn überhaupt gab. Aber er stand 80 Jahre lang auf der großen Bühne des Lebens, ohne jemals viel Worte gemacht zu haben. Im Stillen vertraute er sich seinen Tagebüchern an und schrieb sich alles von der Seele.

Obwohl er viele Gründe gehabt hätte, verbittert auf sein Leben zurückzublicken, tat er es nicht. Im Gegenteil. Kurz vor seinem Ableben schrieb er zufrieden in sein Tagebuch: Ich habe mein Leben gut gelebt.

Auch hätte er viele Gelegenheiten gehabt, Böses mit Bösem zu vergelten, doch er suchte stattdessen Wege, um Frieden zu stiften und Liebe zu üben und lebte vielleicht sogar unbewusst vor, was es heißt, wenn Jesus sagt: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem (Römer 12,21).

Als während und nach dem Zweiten Weltkrieg jahrelang das Böse die Macht ausübte und Arthur selbst völlig wehrlos dagegen war, vertraute er gemeinsam mit seiner Frau Johanna auf die eine Macht, die höher ist als alle menschliche Kraft – und erlebte wahre Wunder.

Ich verneige mich vor meinem Großvater, der mir während der Zeit des Schreibens immer wieder zeigte, dass es sich lohnt, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen, und dass man nie aufgeben soll, selbst wenn die Lage völlig aussichtslos erscheint. Außerdem zeigt sein Leben, dass ungünstige Voraussetzungen nicht automatisch bedeuten, dass man zum Scheitern verurteilt ist. So wurde er trotz des fehlenden leiblichen Vaters und trotz des negativen Beispiels seines Stiefvaters später zu einem liebevollen Ehemann und Vater.

Mögen alle, die dieses Buch lesen – egal, ob auf irgendeine Art mit Schlesien verbunden oder nicht –, auch in ihrem Leben etwas von der Liebe, dem Glauben und der Hoffnung spüren, wovon Arthur und Johanna ihr Leben lang getragen waren.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Schlesische Wurzeln

Noch war alles still auf dem alten Bauernhof. Der Vollmond am sternenklaren Himmel tauchte die tief verschneite Landschaft in schemenhaftes Licht. Es war bitterkalt. Der Weg zum Hof war gerade genug erhellt, um eine bis zur Nasenspitze verhüllte Gestalt dunkel erkennen zu lassen, die mit einer schwarzen Tasche in der Hand zur Eingangstür huschte. Der gefrorene Schnee knirschte unter ihren dicken Stiefeln. Ein rotes Wolltuch schützte ihren Kopf vor der klirrenden Kälte. Die Tür des Bauernhofes war nicht verschlossen, und die Person verschaffte sich selbst Eingang, indem sie die schwere Klinke herunterdrückte. Schnell schlüpfte sie ins Haus und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Dann war alles wieder still.

In der einsetzenden Morgendämmerung erhellte sich der Himmel allmählich. Die aufgehende Sonne verwandelte den gefrorenen Schnee um den Bauernhof herum in eine eisige Glitzerlandschaft. Gerade als der Hahn laut krähend den neuen Tag ankündigte, ertönte in der kleinen, von einer Petroleumlampe erhellten Stube des Bauernhofes ebenfalls ein Schrei. Nicht ganz so durchdringend wie der des Hahns, jedoch ebenso aus vollem Halse. Als der letzte Hahnenschrei verklungen war, legte die Hebamme ein Baby in die Arme seiner Mutter, die erschöpft, aber glücklich im Bett lag. »Herzlichen Glückwunsch, Anna. Du hast einen kräftigen, gesunden Jungen zur Welt gebracht. Da wird sich euer Fritz aber freuen, dass er einen kleinen Bruder bekommen hat.«

Willkommen, kleiner Alfred

Nachdem die Hebamme das Neugeborene abgenabelt, untersucht und gebadet hatte, nahm sie noch einen kräftigen Schluck aus der für sie bereitgestellten Tasse. Diese stand zum Warmhalten neben einer weiteren Tasse in der Ofenröhre des Kohleofens, wo auch das Badewasser für das Baby aufgewärmt worden war.

Noch einmal vergewisserte sie sich, dass Mutter und Kind wohlauf waren. Dann packte sie ihr Hörrohr und die anderen Utensilien in ihre Tasche und verabschiedete sich mit den Worten: »Wollen wir hoffen, dass dieser kleine Kerl es seinem Bruder nachmacht und leben darf. Seinen beiden Schwestern vor ihm war dies ja leider nicht vergönnt. Heinrich wird Augen machen, wenn er nachher von der Arbeit heimkommt. Grüß ihn schön von mir und ruh dich aus. Ich sehe morgen wieder nach dir.« Sie schlüpfte in die dicken Stiefel, hüllte sich in ihren Wintermantel und wickelte das rote Wolltuch um den Kopf. Mit der schwarzen Tasche in der Hand verließ sie den Bauernhof, um durch den knirschenden Schnee nach Hause zu eilen und den verlorenen Schlaf der Nacht nachzuholen.

Anna hielt ihr Baby im Arm und blickte es zärtlich an: »Willkommen, kleiner Alfred. Dein Papa und ich haben uns schon vor deiner Geburt auf diesen Namen geeinigt für den Fall, dass du ein Junge bist. Dein Papa kommt bald heim, er muss noch ein bisschen arbeiten.«

Klein Alfred wurde in eine Bergarbeiterfamilie hineingeboren, die auf dem Bauernhof eines Gutsbesitzers eine kleine Wohnung gemietet hatte. Diese Wohnung bestand aus einer Stube und einem kleinen Vorraum, der als Küche diente. Die Stube war gleichzeitig Wohnzimmer und Schlafraum für die ganze Familie. Ein separates Schlafzimmer für die Eltern oder gar eigene Zimmer für die Kinder gab es nicht. In einer Ecke der Stube stand der Kohleofen, mit dem der Wohnraum beheizt wurde. In der Ofenröhre konnten Wasser und andere Flüssigkeiten erhitzt werden. Ganz nach Brauch standen an jenem Donnerstagmorgen zwei Tassen mit angewärmten Getränken in der Röhre. Die eine Tasse war mit Branntwein gefüllt, die andere enthielt Zuckerwasser. Während der Geburtsstunden hatte der Branntwein sowohl der angehenden Mutter als auch der Hebamme zwischendurch zur Stärkung gedient. Die Tasse mit dem Zuckerwasser war für das Baby bestimmt.

Kurz nachdem die Hebamme den Hof verlassen hatte, kehrte Heinrich von seiner Nachtschicht in der Kohlegrube heim. Erst dann erfuhr er von seinem neuen Vaterglück. Nachdem er sich den Kohlestaub abgewaschen und seinen kleinen Sohn begutachtet hatte, wollte er sich nach der langen, anstrengenden Nachtarbeit schlafen legen. Doch mittlerweile schrie der Säugling wieder aus vollem Halse. Anna bat ihren Mann, den bereits vorhandenen Schnuller in die mit Zuckerwasser gefüllte Tasse zu tunken und ihn dann seinem Sohn in den Mund zu stecken. Auch das war damals so üblich.

Heinrich ging zur Ofenröhre und tauchte den Schnuller wie geheißen in die Tasse. Um endlich seine Ruhe zu haben, steckte er ihn dem schreienden Baby in den Mund. Augenblicklich wurde es still. Doch nur für einen kurzen Moment. Sekunden später hörten die Eltern, wie ihr kleiner Sohn wimmerte und nach Luft schnappte. Erschrocken riss Anna ihrem Baby den Schnuller aus dem Mund und schnupperte daran. Ihre Vermutung bestätigte sich: der Schnuller roch nach Branntwein. In seiner Aufregung hatte der Vater die Tassen verwechselt und den Schnuller aus Versehen mit Branntwein statt mit Zuckerwasser getränkt. Als später die Mutter ihrem Sohn erzählte, dass er bereits in den ersten Stunden seines Daseins Bekanntschaft mit Alkohol gemacht hatte, meinte er schmunzelnd, er sei offensichtlich mit seinen 3200 Gramm kräftig genug gewesen, um diese erste »Begegnung mit des Teufels Engel« zu überstehen.

So begann das bewegte Leben meines Großvaters, geboren am 11. Januar 1900.

Aus Alfred wird Arthur

Alfreds Vater Heinrich war stolz darauf, seine Militärzeit unter Kaiser Wilhelm II. absolviert zu haben. Nach seiner Dienstzeit kehrte er wenige Jahre vor der Jahrhundertwende in seinen Heimatort Weißstein1 ganz in der Nähe von Waldenburg2 in Schlesien zurück und wurde Bergmann in der Steinkohlegewinnung. Nach seiner Lehrzeit arbeitete er als Schlepper, Lehrhauer und schließlich Vollhauer in der Grube.

Als Bergbauarbeiter, der im Deutschen Reich gedient hatte, zollte man ihm mehr Respekt als denjenigen, die dem Vaterland nicht gedient hatten. Gedienter Gardemann zu sein, war für Heinrich äußerst wichtig, und er legte großen Wert darauf, dies nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. In Erinnerung an seinen Dienst beim Alexander-Garderegiment in Berlin hatte er deswegen seinem ersten Sohn Fritz den Mittelnamen Alexander gegeben.

Als Heinrich drei Tage nach Alfreds Geburt dienstfrei hatte, machte er sich auf den Weg zum Rathaus, um sein Söhnchen amtlich anzumelden. Auf dem Meldeamt traf er einen Bekannten aus dem Dorf und erfuhr, dass auch er kürzlich Vater eines kleinen Sohnes geworden war. Dieser Bekannte war ein einfacher Fabrikarbeiter. Neugierig fragte Heinrich den frischgebackenen Vater: »Wie soll der Kleine denn heißen?« Als er hörte, dass der Fabrikarbeiter seinem Sohn den Namen Arthur geben wollte, überlegte er: »Arthur, das ist ein seltener Name. Alfred hingegen gibt es wie Sand am Meer. Und wenn dieser einfache Arbeiter seinen Sohn Arthur nennen kann, dann kann ich es als gedienter Gardemann und angesehener Bergmann erst recht.« Wieder einmal gewann sein Stolz die Oberhand, und kurz entschlossen meldete er seinen neugeborenen Sohn mit dem Vornamen Arthur an. Als er nach Hause kam, freute sich seine Frau: »Nun ist es amtlich, und unser kleiner Alfred trägt seinen Namen auch auf dem Papier.« Heinrich sah sie zuerst etwas verlegen an, doch dann wurde seine Miene trotzig. Wohl eher unwillkürlich nahm er plötzlich eine stramme Haltung ein und bellte wie ein Feldwebel los: »Arthur. Er heißt Arthur.« Das Einzige, was noch fehlte, war, dass er dabei salutierte. Anna blieb wohl oder übel nichts anderes übrig, als sich an die Namensänderung zu gewöhnen und sie zu akzeptieren. Denn selbst wenn Heinrich sich reuig gezeigt hätte, wäre eine Änderung des Vornamens vonseiten des Amtes nicht mehr möglich gewesen. So wurde also drei Tage nach seiner Geburt aus dem kleinen Alfred ein kleiner Arthur.

Arthur wuchs und gedieh. Während der Vater seiner Arbeit im Bergbau nachging, blieb der Junge mit seinem drei Jahre älteren Bruder Fritz unter der liebevollen Obhut seiner Mutter in der Stube auf dem Bauernhof. Anna besserte den kärglichen Lohn ihres Mannes etwas auf, indem sie von zu Hause aus für andere Leute Näharbeiten erledigte. Wenn der Vater nach seiner zehnstündigen Schicht unter Tage heimkam, sorgte die Mutter dafür, dass er die nötige Ruhe hatte, und beschäftigte die Kinder so gut wie möglich. Bei schönem Wetter waren sie viel draußen, und die Tiere des Hofes boten manche Abwechslung. Heinrich jedoch hielt sich von den Ställen fern; er empfand es unter seiner Würde, sich als gedienter Gardemann diesen auch nur zu nähern. Als Anna ihm einmal vorschlug, seinen Kindern die Kühe im Stall zu zeigen, wehrte er entrüstet ab: »Ich soll in den Kuhstall gehen? Das kommt gar nicht infrage. Wer seinem Vaterland so treu und gehorsam gedient hat wie ich, hat es nicht nötig, sich in einem stinkenden Stall von Rindviechern beglotzen zu lassen.«

Nun hätte das Glück der vierköpfigen Familie eigentlich perfekt sein können. Der Vater hatte ein regelmäßiges Einkommen, die beiden Jungen waren gesund und munter, und die Mutter arbeitete fleißig, um ihre Familie zu versorgen. Ihr Leben war zwar bescheiden, aber sie hatten ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und anzuziehen. Doch dann trat ein Ereignis ein, das für alle vier die Lebenswege für immer in andere Bahnen lenkte.

Der Schuss geht nach hinten los

An einem grauen, verregneten Nachmittag im April zerriss plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die sonntägliche Stille auf dem Bauernhof, sodass die Hühner auf dem Hof verschreckt gackernd auseinanderstoben. Kurze Zeit später sah Hilde, die Bauersfrau, wie Heinrich mit einem Revolver in der Hand auf den Hof gerannt kam und in Richtung Bergwerk lief. Erschrocken eilte Hilde die Treppe hinauf in die Stube, wo sie Anna zusammengesackt auf einem Stuhl fand. Zu ihrer großen Erleichterung stellte die Bauersfrau schnell fest, dass Anna unversehrt war, und erfuhr von ihr, dass Heinrich auf sie geschossen hatte. Zum Glück für Anna hatte aber seine Hand dabei so stark gezittert, dass der Schuss an ihr vorbei in die Wand gegangen war. Fritz und Arthur waren nicht zu Hause, sie verbrachten den Tag bei ihren Großeltern. Entsetzt fragte Hilde: »Anna, warum um alles in der Welt wollte Heinrich dich erschießen?« Anna begann stockend, ihr zu erzählen: »Ich habe ihm vorhin eröffnet, dass ich die Scheidung eingereicht habe. Nun wollte er mit Gewalt verhindern, dass wir uns trennen. Ach Hilde, eigentlich will ich mich ja auch gar nicht von ihm scheiden lassen, aber meine Eltern und Verwandten setzen mich seit Wochen so unter Druck, dass ich ihnen nun nachgegeben habe.« Hildes Augen wurden immer größer, als Anna den Grund dafür erzählte. Heinrich hatte seine Frau schon längere Zeit betrogen, und aus dieser Beziehung war ein kleines Mädchen hervorgegangen. Das alleine wäre für Anna jedoch kein Anlass gewesen, sich von ihrem Mann zu trennen. Schließlich liebte sie ihn doch und war gewillt, ihm seinen Fehltritt zu verzeihen. Aber die Schande für ihre Familie war groß, und Annas Eltern verlangten die Scheidung und somit die Trennung von dem Mann, der diese Schmach über sie alle gebracht hatte. Nach langem Zögern hatte sie sich an jenem Sonntagnachmittag schweren Herzens dazu durchgerungen, ihrem Mann mitzuteilen, dass sie sich von ihm trennen würde. Damit nahm die eheliche Lebensbahn von Anna und Heinrich ein abruptes Ende, obwohl keiner von beiden dies eigentlich wollte. Die Ehe wurde im November 1902 geschieden.

Für Heinrich war dieser Schuss in jeder Hinsicht nach hinten losgegangen. Auf Bitten von Anna wurde er zwar nicht des Mordversuches angeklagt, wurde aber gerichtlich dazu verurteilt, für jeden seiner Söhne monatlich Alimente in Höhe von 10 Goldmark zu zahlen. Das war die übliche Währung des Deutschen Reiches von 1871 bis 1914.

Die beiden Jungen wurden selbstverständlich ihrer Mutter zugesprochen, und Heinrich verlor jegliche Vaterschaftsrechte. Geächtet von Familie und Dorfbewohnern, verließ er an einem grauen Januartag schließlich seinen Heimatort Weißstein. Er zog von Schlesien nach Westfalen, wo er die Frau heiratete, mit der er Ehebruch begangen hatte. Bei dem westfälischen Bergwerk fand er zwar eine neue Anstellung, doch Frieden in seinem Herzen fand er nicht mehr. Von einem gemeinsamen Bekannten erfuhr Anna einige Jahre später, dass Heinrich seinen Fehltritt bitter bereute.

Einzug in ein neues Heim

Für Anna und die beiden Jungen ging das Leben in ihrem Heimatdorf zwar weiter, doch auch sie konnten nicht auf dem Bauernhof bleiben. Für die Miete der kleinen Wohnung reichte das Geld nicht. Außer den 20 Mark Alimente von Heinrich gab es für Anna keine Unterhaltshilfe.

Sie war nun alleinerziehend und ohne geregeltes Einkommen. Es lag nahe, dass sie mit ihren Söhnen, die inzwischen drei und sechs Jahre alt waren, nach der Trennung von ihrem Mann zurück zu ihren Eltern zog. Fritz und Arthur bekümmerte das wenig, dazu waren sie noch zu klein. Mit ihren Großeltern waren sie vertraut, und sie fühlten sich in deren Wohnung schnell zu Hause. Wie sie es vom Bauernhaus nicht anders kannten, gab es auch hier eine Stube mit einer kleinen angrenzenden Kammer. Großvater Gustav und Großmutter Ernestine hatten in diesen Wohnungsverhältnissen bereits ihre fünf Kinder großgezogen. Ernestine war im ganzen Dorf bekannt und beliebt. Sie hatte stets ein offenes Ohr für die kleinen und großen Nöte ihrer Mitmenschen. Für sie war es selbstverständlich, ihre Tochter und die beiden Enkelsöhne aufzunehmen. Großvater Gustav hingegen war nicht sehr begeistert davon, und nur widerstrebend willigte er ein, als seine Frau ihn darum bat.

Ernestine war eine tiefgläubige Frau, die Arthur für den Rest seines Lebens prägen sollte. Später sagte er über sie: »Sie war ein Mensch, so voller Gottesglauben und Zuversicht, aber auch reger Hilfsbereitschaft, wie nur ein überzeugter Christ es haben kann. Ihr freundliches, gütiges Wesen strahlte auch ohne viele Worte die Liebe Gottes aus.«

Leider waren es nur zwei Jahre, die Ernestine noch mit ihrer Familie vergönnt waren, nachdem Anna mit ihren Söhnen eingezogen war. Doch Zeit genug, um Arthur und seinem Bruder Fritz das Samenkorn des Glaubens in ihr Herz zu legen, das sie ihr ganzes Leben lang tragen würde. Ernestine starb im Alter von 54 Jahren an einem Magenleiden. Noch kurz vor ihrem Tod strahlte sie einen tiefen Frieden aus in der Zuversicht auf Jesu Worte kurz vor seinem eigenen Tod: Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren (Johannes 13,7).

Das Bild des langen Trauerzuges bei der Beerdigung seiner Großmutter war für den fünfjährigen Arthur so eindrücklich, dass er sich noch im hohen Alter daran erinnerte. Ernestine war nicht reich an Gütern gewesen, doch reich an Liebe und Barmherzigkeit. Und diesen Schatz hatte sie mit vielen Menschen geteilt.

Mit seinen fünf Jahren war Arthur nicht bewusst, was dieser Schicksalsschlag für seine Mutter und seinen Großvater bedeutete. Das Bett seiner Großmutter war nun sozusagen frei geworden und er freute sich darüber, dass er jetzt sein eigenes Bett bekam, nachdem er sich die letzten beiden Jahre ein Bett mit seinem Bruder Fritz geteilt hatte.

Der Alltag

Die gute Seele des Hauses war nun nicht mehr da, und Anna übernahm die Haushaltsführung. Mit ihrer Nähmaschine versuchte sie, die spärliche Haushaltskasse etwas aufzubessern, indem sie für ihre Nachbarn und Bekannten Kleider nähte oder ausbesserte. Doch es reichte kaum, um für sich und die beiden Jungen den notwendigen Unterhalt zu verdienen. Die dem Vater auferlegten monatlichen 20 Goldmark gingen nur unregelmäßig ein. Doch wenn der Briefträger kam und Anna entweder ein 20-Mark-Goldstück oder zwei 10-Mark-Goldstücke brachte, wurde dieser Tag für sie und ihre Jungen zu einem Festtag. Dann durften Fritz und Arthur beim Dorfbäcker sogenannte »Sechserstücke« kaufen, das waren sechs Stück Gebäck für 25 Pfennig. Dieses einfache Gebäck war für die Familie ein Hochgenuss, denn vom Bäcker holten sie sonst nie etwas. Der monatliche Gang dorthin war für sie purer Luxus. Gekauft wurde überhaupt nur das Allernötigste, alles andere wurde entweder selbst hergestellt oder man musste ganz darauf verzichten.

Großvater Gustav war auch Bergmann. An jedem 15. des Monats erhielten die im Bergbau tätigen Arbeiter ihren Lohn. Und dieser Tag wurde zum zweiten Festtag im Monat für Arthur und seine Familie, denn dann gab es zu dem üblichen trockenen Brot ein Stück Wurst für jeden. Darauf freuten sie sich den ganzen Monat.

Worüber Arthur sich aber gar nicht freute, war die allwöchentliche Karottensuppe, die jeden Mittwoch auf dem Mittagstisch stand. Als er wieder einmal seinen Löffel nicht anrührte, weil er die Suppe nicht essen wollte, schlug ihm sein Großvater kurzerhand mit dem Löffel auf die Finger. Der Teller musste leer gegessen werden. Jahre später erzählte Arthur verschmitzt lächelnd: »Die Suppe habe ich zwar dann widerwillig gegessen, meine Abneigung gegen dieses Gericht hat Großvater mir aber nicht austreiben können. Auch heute noch meide ich nach Möglichkeit Karottensuppe.«

Arthur und Fritz fühlten sich im Hause des Großvaters geborgen. Für die beiden Jungen war es normal, mit ihrer Mutter und ihrem Großvater unter einem Dach zu leben. Der Großvater hatte ganz selbstverständlich die Vaterrolle übernommen. Gemeinsam von ihm und ihrer Mutter bekamen die Brüder eine gesunde Mischung aus Liebe und Strenge.

Sowohl Anna als auch Gustav verlangten von ihnen Ordnung, Gehorsam und Mithilfe im Haushalt. Von klein auf lernten die Buben, Geschirr abzuwaschen, im Schuppen das gehackte Holz zu stapeln und den Ofen anzuheizen. Jeden Samstagabend hatten Fritz und Arthur die Aufgabe, Schuhe zu putzen, sowohl die eigenen als auch die des Großvaters und der Mutter.

Für Gustav war Pflichterfüllung oberstes Gebot, wozu er auch seine Enkelsöhne anhielt. Der preußische Drill steckte noch in seinen Knochen, denn auch er hatte in jungen Jahren als Soldat im Militär gedient. Streng achtete er darauf, dass die beiden ihre Aufgaben pünktlich und ordentlich ausführten. War das nicht der Fall, bekamen sie es von ihm zu hören und mitunter auch zu spüren. Erst wenn die Arbeit zu seiner Zufriedenheit getan war, durften sie nach draußen gehen, um mit ihren Freunden zu spielen. Rückblickend erkannte Arthur: So ungern wir als Kinder auch manche der uns aufgetragenen Arbeiten verrichteten, war die konsequente Strenge doch die Grundlage für unser späteres Fortkommen.

Festtage

Auf die Geburtstage der Kinder wurde kein großer Wert gelegt. Geschenke gab es, wenn überhaupt, nur wenige. Arthur freute sich, wenn er zu seinem Geburtstag etwas Obst oder ein Paar von der Mutter selbst gestrickte Strümpfe bekam. An eine Kindergeburtstagsfeier mit Freunden war gar nicht erst zu denken. Die drei großen Feste der Christenheit hingegen wurden hoch in Ehren gehalten: Weihnachten, Ostern und Pfingsten. An diesen Feiertagen gab es als Festessen zum Mittagessen Koteletts. Und wenn die Mutter noch einen Streuselkuchen oder Mohnsemmeln zum Nachtisch gebacken hatte, war das Glück für Fritz und Arthur vollkommen.

Doch der absolute Höhepunkt im Jahr war der Geburtstag des Großvaters am 21. Oktober. Dieser Festtag war Anlass für eine der seltenen Familienfeiern. Dann kamen Annas drei Brüder mit ihren Frauen, und alle versammelten sich in der Stube des Großvaters. Auf dieses alljährliche Fest freuten sich Arthur und sein Bruder Fritz schon wochenlang vorher. Zur Feier des Tages gab es selbst gebackenen Mohnkuchen von der Mutter und echten Bohnenkaffee. Und wenn dann am Abend nach einem aus Saitenwürstchen und Kartoffelsalat bestehenden Festessen alle satt und zufrieden waren, wurde es in der voll besetzten Stube so richtig gemütlich. Großvater Gustav holte seine Akkord-Zither hervor und Onkel August rief fröhlich in die Runde: »Nun lasst uns singen!« August, der jüngste Bruder von Anna, kannte sowohl die altbekannten Volkslieder als auch die neuesten Schlager.

Kaum hatte Onkel August das erste Lied angestimmt, begleitete der Großvater die Melodie auf seiner Zither. Einer nach dem anderen stimmte mit ein. Begonnen wurde mit Deutschlandliedern, um dem Vaterland und seinem Kaiser Respekt zu zollen: »Der Kaiser ist ein lieber Mann«, »O Deutschland, hoch in Ehren«. Beliebt waren auch Soldatenlieder: »Was hört man Neues vom Kriege«, »Der gute Kamerad« oder »Muss i denn zum Städtele hinaus«, gefolgt von Liedern, deren Texte die aktuellen Themen der Zeit widerspiegelten. Sie erzählten davon, was die Menschen tagtäglich beschäftigte und bewegte. Dabei ging es um das Bergmannsleben, die Freiheit, das Auswandern und die Sehnsucht auf ein besseres Leben überhaupt: »Gottlob, nun ist vorbei die Schicht, Glück auf!«, »Ade, du teures Vaterland, es winkt zum Abschied unsre Hand« oder »Auf ihr Brüder lasst uns wallen fröhlich nach Amerika«.

Die Musik zog alle gleichermaßen in ihren Bann, und die Jüngsten in der Runde, nämlich Fritz und Arthur, hatten die Texte und Melodien schnell gelernt. Ein Lied folgte auf das andere. Die sentimentalen Melodien und Texte waren eine willkommene Abwechslung zu dem sonst recht eintönigen und kargen Leben der Bergmannsfamilie.

Im Laufe des Abends wurden sie auch ganz ohne Alkohol immer lustiger, bis sie schließlich so schwungvolle Lieder wie »Das ist die Berliner Luft« und »Bolle reiste einst zu Pfingsten« trällerten. Die fröhliche Runde verabschiedete sich zu später Stunde mit einem Schlaflied für Arthur und Fritz, die inzwischen doch recht müde geworden waren, und sang für sie das Sandmännchen-Lied: »Die Blümelein, sie schlafen schon längst im Mondenschein, sie nicken mit dem Köpfchen auf ihren Stengelein.«

Viele der Melodien klangen Arthur noch im Ohr, als Jahrzehnte später in Radio und Fernsehen die modernen Schlager gespielt wurden. Er vermisste die vertrauten Lieder aus seiner Jugendzeit:

Diese Abende in Großvaters Stube vermittelten uns die Kenntnis manches Volksliedes, das auch heute noch lebt. Die Texte waren nach meiner Empfindung schöner als die heutigen sinnlosen Schlager. Was wir damals Musik nannten, war lebendiges Singen. Die sogenannte »Konsummusik« der Schallplatten, des späteren Radios und des Tonbandes gab es ja noch nicht. Einige Familien hatten höchstens einen Phonographen oder später ein Grammophon, beide mit großen Trichtern als Schallverstärker. Für uns waren sie jedoch viel zu kostspielig.

Zucht und Ordnung

Im April 1906 wurde Arthur eingeschult und der Ernst des Lebens begann für ihn. Arthur erinnerte sich noch im hohen Alter daran:

Die Schulzeit begann für mich Ostern 1906. Ich war für diese Zeit nicht vorbereitet. Ich konnte keinen Buchstaben lesen, keine Zahl erkennen. Ich hatte keinen Kindergarten kennengelernt. Heute ist es ein Stolz für die Mutter, wenn ihr sechsjähriges Kind lesen oder ein Bild malen, ja auch ein Gedicht aufsagen kann. Meine Mutter hatte keine Zeit dazu, ihren Sprössling darauf vorzubereiten.

Mit Arthur wurden etwa 50 weitere Kinder eingeschult, die sich einen Klassensaal teilten. Zunächst ging die Sitzordnung der Größe nach: die Kleinen saßen vorne, die Größeren hinten. Staunend sah sich Klein Arthur am Anfang in seinem Klassenzimmer um. Der Raum war im wahrsten Sinne des Wortes kaiserlich, denn an der Wand hing das Porträt von Kaiser Wilhelm II., der milde lächelnd auf die Schüler herabschaute. Vom ersten Schultag an wurde den kleinen Abc-Schützen vom Lehrer eingetrichtert, dass es außerordentlich wichtig sei, dem Vaterland treu zu dienen.

Merkwürdig fand Arthur damals das Gefäß hinten auf dem Boden in der Ecke, das einem Fressnapf für Tiere ähnelte. Der Lehrer erklärte, dass es sich bei diesem Gefäß um einen Spucknapf handelte, in den jeder Schüler hineinspucken sollte, wenn er husten musste. Erst Jahre später verstand Arthur, dass Tuberkulose und andere ansteckende Krankheiten oft eine lebensbedrohliche Gefahr darstellten und man auf diese Art versuchte, Ansteckungen zu vermeiden. Ob das allerdings erfolgreich war, fand er eher fragwürdig.

In einem Schrank an der Wand wurden Schiefertafeln, Griffel und Tinte sowie ein Zeigestock und ein Wasserkrug für den Tafelschwamm aufbewahrt. Der Rohrstock zur Züchtigung stand stets griffbereit für den Lehrer in der Ecke.

Bereits wenige Wochen nach der Einschulung setzte der Lehrer seine Schüler um. Die neue Sitzordnung sollte für den Rest von Arthurs Schulzeit gelten: die Besten der Klasse saßen von nun an in der letzten Reihe, die schwächeren Schüler hatten ihre Plätze in den vorderen Bänken. Je schlechter ein Schüler war, desto näher war sein Sitzplatz am Lehrerpult. Gezählt wurden die Reihen der Schulbänke von hinten nach vorne, die erste Reihe war also ganz hinten. Arthur freute sich, als er sich nach kurzer Zeit in die hinterste Bank setzen durfte. Noch wusste er nicht, dass die sozialen Unterschiede auch vor der Schule keinen Halt machten und dass manche Lehrer die Kinder des Pfarrers oder die von Beamten bevorzugt behandelten. Auch ließ sich der eine oder andere Lehrer davon beeinflussen, wie die Kinder gekleidet waren. Das Kind eines Arbeiters in seiner ärmlichen Kleidung wurde im Ansehen weiter unten angesiedelt als das Kind, das aufgrund eines wohlhabenderen Vaters entsprechend besser gekleidet war. Doch davon spürte Arthur in den ersten Schuljahren nichts und saugte wie ein Schwamm alles Neue auf, was sein Lehrer den Schülern beibrachte. Der Lehrer thronte während des Unterrichts Respekt einflößend vorne auf seinem erhöhten Pult, von wo aus er einen guten Überblick über die ganze Klasse hatte. Die Schulbänke für die Kinder waren so gebaut, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb als kerzengerade zu sitzen. Sobald der Lehrer das Klassenzimmer betrat, mussten die Schüler zur Begrüßung von ihren Bänken aufstehen und strammstehen wie die Soldaten. Dann riefen sie im Chor: »Guten Morgen, Herr Lehrer!« Bevor sie sich wieder setzten, machten die Mädchen einen Knicks, die Jungen eine Verbeugung. Beim Sitzen mussten die Füße parallel stehen und die Hände geschlossen auf dem