Auslaufmodell Menschenwürde? - Heiner Bielefeldt - E-Book

Auslaufmodell Menschenwürde? E-Book

Heiner Bielefeldt

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Beschreibung

Obwohl die Menschenwürde als tragender Grund der Menschenrechte und als oberstes Prinzip des Grundgesetzes gilt, melden sich in jüngerer Zeit in Philosophie, Rechtswissenschaft und anderen Disziplinen vielfach skeptische Stimmen zu Wort. Die Einwände reichen von der Vermutung, der Begriff habe keinen präzisen Inhalt, bis hin zum Vorwurf, die Berufung auf die Menschenwürde laufe in der Praxis oft auf Tabuisierung strittiger Fragen oder gar auf Fundamentalismus hinaus. Heiner Bielefeldt legt dar, warum die Menschenwürde derzeit in Frage gestellt wird und welche Konsequenzen es hätte, wenn wir sie aus unserem moralischen und rechtlichen Vokabular streichen würden. Er zeigt auf, warum man Menschenwürde nicht zu- oder aberkennen kann und warum Menschenwürde und Menschenrechte nicht voneinander zu trennen sind. Eine engagierte Stellungnahme in einer Debatte, die weitreichende Konsequenzen für ganz unterschiedliche Felder der Gesellschaft hat – z.B. die Absolutheit des Folterverbots, den Umgang mit vorgeburtlichem menschlichen Leben, Fragen der Sterbehilfe.

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Heiner Bielefeldt

Auslaufmodell Menschenwürde?

Warum sie in Frage steht undwarum wir sie verteidigen müssen

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (E-Book) 978-3-451-33857-1

ISBN (Buch) 978-3-451-32508-3

Inhaltsübersicht

I. Fundamentalismusverdacht

1. Streitfragen

2. Fundamentalismusvorwürfe

3. Notwendige Klärungen

II. »Angeborene« elementare Statusposition

1. Zugänge: Religion, Kultur, Recht, Philosophie

2. Prämisse normativer Verbindlichkeiten

3. Der kategorische Imperativ

4. Exkurs: Leidensfähigkeit als moralisches Grunddatum?

5. Die Würde – angeborenes Merkmal oder zugeschriebener Status?

6. Zur Würde des ungeborenen menschlichen Lebens

III. Universale Gleichheit

1. Gleichheit als Folge personaler Unvertretbarkeit

2. Gegen alte und neue Hierarchien: Würde ohne Vorleistungen

3. Exkurs: »In Würde sterben« – eine mehrdeutige Formel

IV. Die Menschenwürde als Axiom

1. Zur »Unhintergehbarkeit« des Verantwortungssubjekts

2. Gegenstand eines Bekenntnisses?

3. Menschenwürde als Tabu?

V. Der Grund der Menschenrechte

1. Rückbezug aller Menschenrechte auf die Würde

2. Die Universalität der Menschenrechte

3. Freiheit, Gleichheit, Inklusion

4. »Unveräußerliche Rechte« – juristisch gesehen

5. »Unveräußerliche Rechte« – moralisch gesehen

VI. Säkulares Konzept und religiöse Deutung

1. Zwischen Krypto-Theologie und Religionskritik

2. Die Menschenwürde im Kontext eines freiheitlichen Säkularitätsansatzes

3. Offenheit für religiöse Deutungen

VII. Was wäre anders? Kurze Schlussreflexion

Literatur

|7|I.Fundamentalismusverdacht

1.Streitfragen

»Die Würde des Menschen war unantastbar«.1Unter diesem aufrüttelnden Titel veröffentlichte Bundesverfassungsrichter a. D.Ernst-Wolfgang Böckenförde vor einigen Jahren einen Zeitungsbeitrag, in dem er neuere Tendenzen der Verfassungsinterpretation einer scharfen Grundsatzkritik unterzog. Er warnte davor, den herausgehobenen Stellenwert der Menschenwürde – als Fundament der gesamten Rechtsordnung – juristisch einzuebnen und die Achtung der Würde kategorial zu einer positiven Rechtsnorm neben anderen Rechtsnormen herabzustufen.

Mit der Befürchtung, dass auf diese Weise die Menschenwürde relativiert werde und von ihrer »Unantastbarkeit« am Ende keine Rede mehr sein könne, steht Böckenförde dabei keineswegs allein. Andere finden hingegen, es sei höchste Zeit, den Begriff der Menschenwürde gleichsam juristisch zu »erden«, ihn aus der Sphäre eines metaphysischen Prinzips herunterzuholen und für die rechtliche Praxis besser handhabbar zu machen. Manche äußern darüber hinaus eine ganz grundlegende Skepsis und sprechen der Idee der Menschenwürde jeden rationalen Sinn ab. Die Berufung auf die Würde des Menschen diene erfahrungsgemäß meistens nur der rhetorischen Dramatisierung der je eigenen Position. In einer |8|wissenschaftlichen Debatte – in Jurisprudenz, Ethik und praktischer Philosophie – solle man auf diesen Begriff daher am besten ganz verzichten.

Ausgerechnet um die Menschenwürde ist seit einigen Jahren eine Kontroverse entbrannt, die nicht nur in akademischen Publikationen und Konferenzen ausgetragen wird, sondern auch auf Politik und Gerichtsbarkeit durchschlagen kann. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die Rede von der Menschenwürde typischerweise auf Konsens zielt, ja Konsensfähigkeit unterstellt. Die Menschenwürde steht für das, was eigentlich fraglos »selbstverständlich« ist – oder es jedenfalls sein sollte. Wenn in einem Debattenkontext die Menschenwürde beschworen wird, wirkt das generell wie ein Signal dafür, dass es mit der üblichen Vielfalt der Meinungen schwieriger wird. Kontroversen, in denen die Würde des Menschen auf dem Spiel steht, lassen sich zumindest nicht mehr im Gestus gepflegter Distanz führen.

Bei aller Evidenz, die wir bei der Menschenwürde unterstellen, fällt es jedoch zugleich schwer, genauer anzugeben, was darunter zu verstehen ist. Dies gilt für die Grundsatzebene genauso wie für die konkrete normative Praxis. Handelt es sich bei der Menschenwürde um ein anthropologisches Merkmal, also eine Eigenschaft, von der wir annehmen, dass jeder Mensch sie als Bestandteil seiner natürlichen Ausstattung besitzt? Oder ist die Menschenwürde eher das Ergebnis einer gesellschaftlichen Übereinkunft? Hängt sie vielleicht auch mit Leistungen des Einzelnen zusammen, der seine Würde durch entsprechendes Verhalten steigern, behaupten, verlieren und im Grenzfall auch verwirken kann, oder gilt die Anerkennung der Menschenwürde unabhängig vom Handeln der |9|jeweiligen Person? Verweist die Semantik der Unantastbarkeit auf einen Bereich des Sakrosankten, der sich allen rationalen Erörterungen entzieht? Hat die Menschenwürde somit vielleicht Züge eines Tabus, an das man nicht rühren darf? Oder manifestiert sich die Würde des Menschen gerade darin, dass er in seinem Drang nach Erkenntnis und Verstehen an keiner Grenze haltmacht und mit allen Tabus brechen kann? Fragen über Fragen, auf die höchst unterschiedliche Antworten gegeben werden.

Ähnliches gilt für die praktischen Konsequenzen, die aus dem Postulat der Menschenwürde zu ziehen sind. Folgt aus der Menschenwürde beispielsweise, dass man den Willen eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen, respektieren und möglicherweise sogar Assistenz bei der Selbsttötung zur Verfügung stellen soll? Oder verlangt es die Menschenwürde, einer Person auch dann in den Arm zu fallen, wenn diese offenbar genau weiß, was sie tut, und ihren Willen zu sterben eindeutig erklärt hat? Kommt auch dem vorgeburtlichen menschlichen Leben Würde zu, und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt? Was folgt daraus für die Forschung an embryonalen Stammzellen oder die Präimplantationsdiagnostik? Wie soll ein menschenwürdiges Existenzminimum in unserer Gesellschaft bemessen werden? Wiederum gehen die Antworten auf solche Fragen in ganz unterschiedliche, oft entgegengesetzte Richtungen.

Der Begriff der Menschenwürde zeichnet sich anscheinend durch eine eigentümliche Verbindung von Evidenzanspruch und inhaltlicher Offenheit aus.2Dies macht |10|den Umgang mit ihm schwierig. Auf der einen Seite steht die Menschenwürde für eine letzte, existenzielle Gewissheit in normativen Fragen, und ihre Inanspruchnahme geht oft mit großen Emotionen einher. Wenn die Würde auf dem Spiel steht, geht es ums Ganze. Auf der anderen Seite ist es nicht leicht, genauer anzugeben, worin die Würde des Menschen inhaltlich denn eigentlich besteht und welche konkreten praktischen Konsequenzen aus ihrem Postulat zu ziehen sind. Außerdem suggeriert die Rede von der Menschenwürde eine Konsensfähigkeit, die sich im konkreten Fall jedoch oft genug als illusionär erweist. Führt die Unterstellung von Konsensfähigkeit vielleicht sogar dazu, dass sich bestehende Dissense eher verhärten, wenn der moralisch und weltanschaulich so hoch hängende Begriff der Würde ins Spiel kommt? Wirkt die Beschwörung der Menschenwürde nicht oft genug wie ein bloßes Ausrufezeichen, dem keine klare Aussage vorangeht und das deshalb eher der Dramatisierung als der Klärung kontroverser normativer Fragen dient? Wäre es dann aber nicht besser, den Begriff aus dem moralischen und rechtlichen Vokabular – zumindest aber aus dem wissenschaftlichen Vokabular – zu streichen?

Diese Konsequenz wird von einigen Autoren gefordert. Illusion Menschenwürde lautet der plakative Titel eines Buches von Franz Josef Wetz. Er verkündet darin »das Ende einer metajuristischen Pathosformel im Recht, welche die Interpreten in einem liberalen Gemeinwesen zwangsläufig in Aporien verstrickt«.3In einem Aufsatztitel bezeichnet er die Menschenwürde gar provokativ als |11|»Opium fürs Volk«.4Dass die Formulierung an Lenins Religionskritik erinnert, ist kein Zufall. Ähnlich radikal äußert sich Malte Hossenfelder. Er nennt die Menschenwürde einen »windigen« Begriff, der außerdem noch »starke emotionale Konnotionen« aufweise und die rationale Auseinandersetzung daher nur belaste.5Solche Einwände sind nicht neu. Sie stehen in der Tradition Schopenhauers, der bereits den Verdacht formulierte, die Rede von der Menschenwürde sei »das Schiboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel einer wirklichen, oder doch wenigstens irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck ›Würde des Menschen‹ versteckten«.6

Die meisten kritischen Stimmen gehen so weit indessen nicht. Namentlich die Vertreterinnen und Vertreter der Jurisprudenz kommen in Deutschland nicht daran vorbei, dass die Menschenwürde im Grundgesetz als erste und oberste Norm festgeschrieben ist und damit zur positiven Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gehört. Mehr noch: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, deren Achtung und Schutz nach Art. 1Abs. 1GG »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« ist, kann auf legalem Wege nicht aufgehoben werden; sie ist nach Art. 79Abs. 3 |12|GG der Verfügung des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen.7Gleichwohl gewinnt man den Eindruck, dass eine skeptische Haltung gegenüber der Idee der Menschenwürde in jüngerer Zeit auch in der deutschen Rechtswissenschaft an Boden gewonnen hat. Ein inhaltlich nicht leicht greifbares normatives Postulat, dem zugleich ein hohes Potenzial an gefühlsmäßiger Identifikation sowie ein alles überragender Stellenwert innerhalb der Verfassung und in der öffentlichen Debattenkultur zukommen, bereitet offenbar juristische Kopfschmerzen. Von daher erklärt sich das Interesse daran, den Begriff der Menschenwürde inhaltlich möglichst eng zu fassen und gewissermaßen positiv-rechtlich einzuhegen.

Vor allem Matthias Herdegen hat mit seiner Neu-Kommentierung von Art. 1Abs. 1 in dem einflussreichen Grundgesetzkommentar »Maunz-Dürig« (zuerst erschienen 2003, Anfang 2005 noch einmal leicht modifiziert) den Versuch einer streng positivistischen Auslegung der Menschenwürde vorgelegt. Insbesondere an seiner Interpretation entzündete sich auch die eingangs genannte Kritik Böckenfördes.8Herdegen fasst die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes als eine Verfassungsnorm neben anderen Verfassungsnormen, die trotz mancher Besonderheiten juristisch wie andere hochrangige Rechtsnormen behandelt werden müsse.9Ausdrücklich bekennt |13|er sich zu »einer restriktiven Deutung, zur Beschränkung der inhaltlichen Konkretisierung auf einen engen Kern des personalen Achtungsanspruches«.10Zu den einflussreichen Befürwortern einer bewusst zurückhaltenden Interpretation der Menschenwürde zählt – mit etwas anderen Pointierungen – auch Horst Dreier, der sich in seiner Kommentierung dafür ausspricht, dass die Menschenwürde »nicht aus noch so ehrenwerten Motiven weit und umfassend verstanden wird, sondern – gerade auch um ihren exzeptionellen Status zu erhalten – eher restriktiv ausgelegt werden muss«.11

2.Fundamentalismusvorwürfe

In den skeptischen Äußerungen zur Menschenwürde aus Philosophie und Jurisprudenz meldet sich oft eine Art Fundamentalismusverdacht. Nicht immer ist klar, ob dieser Verdacht sich gegen den Begriff der Menschenwürde als solchen richtet oder eher auf seine unreflektierte, nicht selten inflationäre oder vielleicht sogar missbräuchliche Verwendung in der öffentlichen Debatte zielt. Der Fundamentalismusverdacht kann sich auf unterschiedliche Phänomene beziehen, nämlich (1) einen |14|argumentativen, (2) einen moralischen und (3) einen religiös-weltanschaulichen Fundamentalismus.

(1) Der Einwand des argumentativen Fundamentalismus speist sich aus der Erfahrung, dass die Beschwörung der Menschenwürde manchmal in diskursive Blockaden mündet. Wenn die Menschenwürde ins Feld geführt wird, so mag es oft genug scheinen, wird die Debatte schwieriger. An die Stelle von Argumenten treten dann womöglich Skandalisierungen oder auch höchstpersönliche Bekenntnisse, über die man sich erfahrungsgemäß nicht leicht verständigen kann. Nach Einschätzung des Bioethikers Dieter Birnbacher fungiert der Begriff der Menschenwürde in diesem Sinne regelrecht »als ›conversation stopper‹, der eine Frage ein für allemal entscheidet und keine weitere Diskussion duldet«.12Insofern verberge sich hinter der Rhetorik der Würde nicht selten ein autoritärer Reflex. Ähnlich äußert sich Hossenfelder, der den Rückgriff auf die Menschenwürde als argumentative Hilflosigkeit und Beliebigkeit entlarven will. Vor allem die Gegner bestimmter biotechnologischer Forschungsrichtungen setzten die Würde gern als einen »Rettungsanker« ein, »um ihre Argumentationsnot zu überwinden«.13

Vergleichbare Einschätzungen kommen auch in der juristischen Diskussion zu Wort. Insbesondere die Vertreter einer restriktiven Interpretation von Art. 1Abs. 1 sehen sich von der Befürchtung motiviert, das grundgesetzliche Postulat der Menschenwürde sei ein mögliches »Einfallstor |15|für bestimmte Partikularethiken« in das Verfassungsrecht, wie Dreier es formuliert.14Die rational-diskursive Erörterung verfassungsrechtlicher Probleme drohe durch einen emotional aufgeladenen Kampf um letzte Werte blockiert zu werden. Auch Herdegen wendet sich kritisch gegen das »Hohepriestertum« einer »höchstpersönlichen Ethik«,15das in der Verfassungsinterpretation nichts zu suchen habe. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die Rechtsordnung insgesamt an Transparenz, Klarheit und Rationalität einbüßen werde.

(2) Über den Verdacht eines argumentativen Fundamentalismus hinaus gibt es den Vorwurf des moralischen Fundamentalismus. Wer die Würde im Munde führe, wolle oft genug andere moralisch bevormunden oder der Gesellschaft insgesamt bestimmte Verhaltensstandards aufoktroyieren. Die verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechte drohten somit langfristig unter eine Art Würdevorbehalt zu geraten. Im Ergebnis dürften sich dann womöglich nur noch diejenigen auf ihre grundrechtlich verbrieften Freiheitsrechte berufen, die einen (wie immer im Einzelnen zu verstehenden) »würdigen« Gebrauch davon machten. Ulfried Neumann malt sogar die Gefahr einer »Tyrannei der Würde« an die Wand.16Ähnliche Bedenken äußert Horst Dreier. Als Beleg dafür, dass die Rhetorik der Würde, vor allem wenn sie mit großem moralischem Pathos durchsetzt ist, |16|durchaus zur Rechtfertigung antiliberaler Politik dienen könne, nennt er das Franco-Regime, das die Menschenwürde ständig im Wappen geführt habe; es sei »geradezu würdefixiert« gewesen.17

Die Befürchtungen, die sich an den Vorwurf des moralischen Fundamentalismus heften, gehen im Einzelnen in unterschiedliche Richtungen. Während die einen den mit der Menschenwürde begründeten gesetzlichen Embryonenschutz als eine unverhältnismäßige Einschränkung der Forschungsfreiheit beklagen,18warnen andere vor einem Klima der »political correctness«, in dem allerlei Empfindlichkeiten herangezüchtet würden, die Gift für eine liberale Debattenkultur seien.19Wieder andere sehen die allgemeine Handlungsfreiheit in Gefahr und führen als Menetekel die »Peepshow-Urteile« des Bundesverwaltungsgerichts an. Das Gericht hatte darin »Peepshows« für verfassungswidrig erklärt, weil sie gegen die Würde der sich zur Schau stellenden Frauen verstießen – und zwar auch dann, wenn die Betroffenen sich aus freien Stücken für diese Tätigkeit entschieden hätten.20Kritiker dieser Rechtsprechung sehen darin ein Beispiel dafür, dass Menschen unter Berufung auf die |17|Menschenwürde von Staats wegen moralisch bevormundet würden.21

(3) Der Fundamentalismusverdacht kulminiert gelegentlich in der Befürchtung, der Verfassungskonsens der pluralistischen Gesellschaft werde durch den klangvollen Begriff der Menschenwürde, in dem viele das Echo der christlichen Tradition hören,22weltanschaulich überfordert. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, so der Einwand, werde im Falle der Menschenwürde systemfremd durchbrochen – nämlich zugunsten eines religiösen oder zumindest zivilreligiösen Bekenntnisses, das in der modernen Gesellschaft prinzipiell niemanden mehr von Staats wegen zugemutet werden dürfe. Erweist sich der moderne Verassungsstaat – allen Bekundungen religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates zum Trotz – somit letztlich als Fortsetzung vormoderner Konfessionsstaatlichkeit mit anderen Mitteln? Wie aber passt dies zum Selbstverständnis einer pluralistischen Gesellschaft, in der es um der Freiheit aller willen eigentlich keine Staatsreligion und keinen staatlichen Bekenntniszwang geben darf?

Schon seit Längerem vertritt Norbert Hoerster die Position, bei der Menschenwürde handele es sich um einen Begriff, der »dazu herhalten muss, den normativen Konsequenzen eines stillschweigend vorausgesetzten religiösen Menschenbildes eine scheinbare säkulare Legitimation |18|zu geben«.23Franz-Josef Wetz steht ebenfalls für die Ansicht, dass hinter dem grundgesetzlichen Postulat der unantastbaren Menschenwürde eine krypto-religiöse Zumutung stecke, die längst anachronistisch geworden sei. Ihm hat sich kürzlich auch Stefan Lorenz Sorgner angeschlossen, der die Bindung des Grundgesetzes an die Menschenwürde für nicht mehr zeitgemäß und letztlich demokratiewidrig hält.24Denn damit werde die säkulare Verfassungsordnung ideologisch überfrachtet und auf Dauer delegitimiert. Wer die Verfassungsordnung auf ein verbindliches Bekenntnis zur Menschenwürde meint gründen zu können, so auch Wetz, stabilisiere den Verfassungskonsens daher nicht etwa, sondern trage ungewollt zu seiner langfristigen Destabilisierung bei.25

3.Notwendige Klärungen

Nach dem Durchgang durch die verschiedenen Einwände drängt sich die Frage auf, ob Schopenhauer vielleicht doch Recht hatte mit seiner Grundsatzkritik, dass die allfällige Rede von der Menschenwürde letztlich nur Ausdruck von Verlegenheit sei. Wäre es dann aber nicht besser, auf diesen so schwer zu fassenden und zugleich affektiv aufgeladenen Begriff in ernsthaften Debatten zu verzichten oder, sofern dies aus verfassungsrechtlichen |19|Gründen nicht möglich ist, ihn wenigstens durch restriktive Auslegung positiv-rechtlich zu domestizieren?

In meinen nachfolgenden Überlegungen gehe ich von der Annahme aus, dass die Idee der Menschenwürde bei allen Interpretationsschwierigkeiten, die sie zweifellos aufwirft, für die Beschäftigung mit Grundfragen von Moral und Recht unverzichtbar bleibt. Sie richtet sich an das Selbstverständnis des Menschen als Verantwortungssubjekt, hat Appellfunktion, eröffnet Identifikationsoptionen, kann mobilisieren, ja in der Tat auch emotionalisieren.26In ihrer grundlegenden Funktion für alle Bereiche des Normativen ist die Würde begrifflich offenbar nicht leicht fassbar. Gleichwohl gibt es Kerngehalte, die sich aus dem weiten semantischen Feld herausschälen und diskursiv klären lassen. Nicht weniger wichtig als die kognitive ist die affektive Dimension der Menschenwürde, nämlich die Komponente existenzieller Ansprache, die sich mit ihr verknüpft. Die Eliminierung der Idee der Menschenwürde aus unserem normativen Vokabular, wenn sie denn möglich wäre, würde nicht nur eine Lücke aufreißen; sie würde den Weg zu einem angemessenen Verständnis von Moral und Recht verbauen.

Offensichtlich bedarf der Begriff der Menschenwürde einer Klärung. Andernfalls drohen endlose Missverständnisse, Beliebigkeit oder gar Autoritarismus. Der Verdacht, hinter dem Rekurs auf die Menschenwürde verberge sich oft genug die eine oder andere Variante von Fundamentalismus, ist ja nicht aus der Luft gegriffen. Wer hat nicht schon erlebt, dass sich ein Gesprächspartner |20|unter Beschwörung höherer Werte gegen vernünftige Argumente abschottet oder mit moralischem Pathos jede Debatte erstickt? Auch unter dem Banner der Menschenwürde lässt sich erfahrungsgemäß jene aggressiv-moralisierende Empörungslust mobilisieren, die Nietzsche als das Giftauge des Ressentiments beschrieben hat.27

Und doch kann selbst in der fundamentalistischen Verzerrung der Rede von der Menschenwürde ein Stück Wahrheit stecken. Dass moralische und rechtliche Fragen, zumindest wenn Grundlegendes auf dem Spiel steht, Gefühle auf den Plan rufen, ist unvermeidlich, mehr noch: Es ist angemessen. Wer über Folter oder Rassismus emotionsfrei spricht, weiß nicht, worum es geht, und hat keinen Zugang zur Sache. Die Verkehrung entsteht erst dann, wenn Emotionen an die Stelle von Argumenten treten, wenn geschürte Empörung eine sorgfältige und faire Sachprüfung ersetzen soll oder wenn alternative Einschätzungen und Bewertungen durch Skandalisierung ausgegrenzt werden. Noch in der Zerrform moralischer Bevormundung zeigt sich außerdem der unverzichtbar appellative Charakter jeder Rede von der Menschenwürde. Das Bewusstsein der Menschenwürde lässt sich nicht solipsistisch in ein bloß Selbstbewusstsein einsperren, sondern drängt nach außen und will Einfluss nehmen auf andere und mit anderen. Und schließlich birgt selbst die problematische Gleichsetzung der Menschenwürde mit einem weltanschaulich kompakten Menschenbild – zum Beispiel mit einem christlichen Menschenbild – insofern eine Wahrheit, als das Bewusstsein der Würde danach |21|drängt, in einem umfassenderen, »ganzheitlichen« Sinne ausgelegt zu werden. Dafür bieten sich die Religionen oder auch nicht-religiöse Weltanschauungen an. Der Begriff der Menschenwürde ist, obwohl er als säkularer Begriff nicht von einer bestimmten Religion oder Weltanschauung abhängt, sondern auf eigenen Füßen steht, zugleich gewissermaßen religionsaffin. Daraus entstehen manche Verwirrungen, die immer wieder aufs Neue aufgelöst werden müssen.

Der in diesem Buch angestrebte Klärungsprozess geschieht in mehreren Schritten. In den folgenden beiden Kapiteln geht es zunächst um eine inhaltliche Bestimmung der Menschenwürde: um die axiomatische Respektsposition, die dem Menschen als Verantwortungssubjekt zukommt (Kap. II), sowie um die wesentliche Gleichheit aller Menschen hinsichtlich ihrer Würde (Kap. III). Daran schließen sich Überlegungen zur Art des Geltungsanspruchs an, der im Namen der Menschenwürde vorgebracht wird (Kap. IV). Sodann soll die fundierende Rolle der Menschenwürde für die Menschenrechte – für das Verständnis ihrer Universalität, ihrer emanzipatorischen Ausrichtung und ihrer Unveräußerlichkeit – herausgearbeitet werden (Kap. V). Abschließend geht es um die Möglichkeit, die Idee der Menschenwürde unter Wahrung ihrer säkularen Eigenständigkeit, in der sie als Referenznorm im modernen Rechtskontext begegnet, doch zugleich auch religiös zu interpretieren (Kap. VI). Die Überlegungen werden schließlich durch ein kurzes Schlusswort abgerundet (Kap. VII).

|22|II. »Angeborene« elementare Statusposition

1.Zugänge: Religion, Kultur, Recht, Philosophie

Wie kann ein sinnvoller Einstieg in die Klärung des Konzepts der Menschenwürde aussehen? Wo soll man ansetzen: bei mehr oder weniger unreflektierten Vorverständnissen, wie sie sich in der alltäglichen Rede von der Würde zeigen, bei einem »Menschenbild des Grundgesetzes«, wie es vom Bundesverfassungsgericht konstruiert worden ist, bei kulturprägenden religiösen beziehungsweise philosophischen Überlieferungen oder beim Wortlaut international verbindlicher Menschenrechtsdokumente? Die genannten Alternativen schließen einander nicht unbedingt aus. Sie stehen aber für ganz unterschiedliche Ebenen im Verständnis der Menschenwürde, die, wenn nicht heillose Verwirrung herrschen soll, nicht alle gleichzeitig angesprochen werden können.

Viele Ausführungen zur Menschenwürde setzen bei einem bestimmten »Menschenbild« ein, dem ein autoritativer oder identitätsstiftender Charakter innerhalb unserer kulturellen Überlieferung zugeschrieben wird. Insbesondere gilt dies für die Auszeichnung des Menschen als »Ebenbild und Gleichnis Gottes«, wie sie im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht zu Beginn des Buches Genesis verkündet wird.28Die Gottesebenbildlichkeit, im Alten |23|Orient ansonsten als Hoheitstitel dem König vorbehalten, kommt laut der Genesis dem Menschen an sich zu, und zwar ausdrücklich Mann und Frau gleichermaßen.29Daraus resultiert die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung. Während er sich nach dem göttlichen Gestaltungsauftrag »die Erde untertan« machen soll,30bleibt ihm die letzte Verfügungsgewalt über seine Mitmenschen versagt. Die Tötung eines unschuldigen Menschen muss, wie es in Kapitel 9 der Genesis heißt, als kapitales Verbrechen angesehen werden, eben weil der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist.31

Das Bewusstsein dafür, dass der Mensch eine herausragende Stellung in der Schöpfung innehat, begegnet auch in anderen Büchern der hebräischen Bibel. Im achten Psalm verbindet es sich in paradoxer Weise mit einem Gefühl der Verlorenheit, das den Psalmisten angesichts der Weite des Firmaments überfällt. Nach seinem Loblied auf die Schönheit des Himmels richtet sich der Sänger verwundert, ja zweifelnd an den Schöpfer: »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Sohn, dass du dich seiner annimmst? […] Du hast ihm Macht gegeben über das Werk deiner Hände, alles hast du unter seine Füße gestellt […]«.32Die ambivalente Stimmungslage im achten Psalm erinnert an Kants Beobachtung, dass »der bestirnte Himmel über mir und das |24|moralische Gesetz in mir«33zwiespältige Gefühle auslösen können, wenn der Mensch dadurch gleichzeitig der eigenen Bedeutungslosigkeit im Gesamt des Kosmos und seiner einzigartigen Position als Verantwortungswesen innewird.

Die Gottesebenbildlichkeit, aus der hebräischen Bibel in die christliche Theologie übernommen, bildet den Hintergrund auch für die Schrift De hominis dignitate des Renaissancephilosophen Pico della Mirandola, die vielfach als hymnischer Auftakt zum neuzeitlichen, nun dezidiert freiheitlichen Verständnis der Menschenwürde bezeichnet worden ist. Pico fasst den göttlichen Zuspruch der Würde und freien Selbstbestimmung an Adam in folgende Worte: »Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selbst bestimmen.«34

Die Vorstellung, dass die Würde des Menschen in seiner Auszeichnung als imago Dei besteht, hat Bedeutung nicht nur für die gläubigen Anhänger der biblischen Religionen. Sie ist für die europäische – und vielfach auch für die außereuropäische – Geistes- und Kulturgeschichte insgesamt prägend geworden und entfaltet auch über |25|den Kreis gläubiger Juden und Christen hinaus bis heute für viele Menschen eine identitätsstiftende Kraft. Es ist deshalb undenkbar, in einer Abhandlung zum Thema Menschenwürde nicht über die Idee der Gottesebenbildlichkeit zu sprechen.

Und doch kann der unmittelbare thematische Einstieg über dieses Motiv auch Probleme aufwerfen, ja in kommunikative Aporien führen. Dafür ein Beispiel: In den Beratungen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 brachte Brasilien den Vorschlag ein, die biblische Idee der Gottesebenbildlichkeit als Begründung der Menschenwürde direkt in den Textentwurf aufzunehmen.35Auf diese Weise sollte der Menschenrechtserklärung ein religiöses Fundament eingezogen werden. Dieser Antrag stieß jedoch auf massiven Widerspruch und fand nur bei wenigen Staaten Unterstützung. Der prononciert vom Vertreter Chinas, dem Philosophen Chang, vorgebrachte Einwand lautete, dass die Erklärung durch Aufnahme einer biblischen Referenz nicht mehr den Konsens der religiös, weltanschaulich und kulturell pluralistischen Weltgesellschaft repräsentieren könnte. Dieser Argumentation schloss sich eine überwältigende Mehrheit der Delegierten an. Man entschied sich im Ergebnis dafür, den Begriff der Menschenwürde ohne religiöse Referenzen in die Menschenrechtserklärung aufzunehmen und es stattdessen bei einem rein säkularen Wortlaut zu belassen.

|26|Eine ähnliche Erfahrung machte der Parlamentarische Rat. Nach den Jahren der nationalsozialistischen Barbarei bestand Einigkeit darin, dass der neu zu gründende Staat an die Würde des Menschen zurückgebunden werden sollte. Darüber hinausgehende Vorschläge, die Menschenwürde religiös zu begründen, scheiterten demgegenüber – wenn auch mit knapper Mehrheit.36Die Zentralnorm des Grundgesetzes gleichsam von Staats wegen bruchlos auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zurückzuführen, wäre heute erst recht nicht mehr denkbar. Personen muslimischen Glaubens, bekennende Atheisten, religiös Distanzierte und viele andere würden sich dadurch womöglich auf den Status bloßer »Trittbrettfahrer« einer christlich geprägten Zivilreligion oder Leitkultur degradiert sehen und könnten sich vom Zugang zu einem vollen Verständnis der Menschenwürde in diskriminierender Weise ausgesperrt fühlen.