Ausnahme / Zustand - Carsten Brosda - E-Book

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Carsten Brosda

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Beschreibung

Corona, und nun? Das Coronavirus hat unsere Welt ins Wanken gebracht. Wird es unserer Gesellschaft gelingen, sich von dem Schock zu erholen und zu vermeiden, dass die Ausnahme zum andauernden Zustand wird? Wir stehen vor wichtigen Debatten über die Verletzlichkeit unseres Seins, den Wert gesellschaftlicher Solidarität,den öffentlichen Raum, den Wert wissenschaftlichen Denkens, die Logik des Kapitalismus und die Rolle des Staates. Kultursenator Carsten Brosda beschreibt, wie wir unsere Gesellschaft sozial und demokratisch weiterentwickeln können, wenn wir uns diesen Fragen offensiv stellen. Vor uns liegt eine Zeit, die nach politischer Gestaltungslust verlangt. So können wir sie angehen.  

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Carsten Brosda

Ausnahme/Zustand

Notwendige Debatten nach Corona

Hoffmann und Campe

In Erinnerung an Helga Brosda (1943–2020)

Der Schock: Die Infektion der Gesellschaft

Auch wer noch nie etwas von der Chaostheorie gehört hat, kennt wahrscheinlich den Satz des US-Mathematikers Edward N. Lorenz, der fragte: »Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?« Diese scheinbar unschuldige Frage zielt nicht nur auf die globale Verflechtung von Ursache und Wirkung, sondern zugleich auch auf die Dynamik nicht linearer Entwicklungen. Beides haben wir seit Beginn des Jahres 2020 schmerzlich verdeutlicht bekommen und können heute sagen: Ja, eine Virusinfektion auf einem Markt in China kann die ganze Welt ins Wanken bringen.

Wir haben erleben müssen, wie schnell eine zunächst als weit entfernt empfundene gesundheitliche Gefahr zu einer unmittelbar nahen Bedrohung wurde, die unseren Alltag beinahe vollständig verändern konnte. Geschehen konnte das auch deshalb, weil wir gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren so gesetzt haben, dass wir besonders anfällig geworden sind. Denn das Coronavirus ist nicht nur eine externe Bedrohung, sondern berührt auch zahlreiche innere Strukturen unseres Zusammenlebens und konnte gerade deshalb seine fast nur chaostheoretisch zu erfassende anfängliche Wucht entfalten.

Der Soziologe Armin Nassehi hat im Tagesspiegel vom 12. April 2020 darauf hingewiesen, dass das Coronavirus schon jetzt weniger als frühere Epidemien vorrangig als ein Naturphänomen zu begreifen sei: »Denn seine Verbreitung und Gefahr rechnen wir vor allem menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Strukturen zu: der Globalisierung des Waren- und Personenverkehrs, der Kontaktsensibilität unseres Verhaltens und der Potenz des Gesundheitswesens, nicht zuletzt den finanziellen Möglichkeiten, eine angemessene Infrastruktur vorhalten zu können, vielleicht sogar erzwungener Sparpolitik auf Kosten solcher Infrastrukturen. Es stimmt also: In erster Linie ist die Gesellschaft infiziert.«

Der Einbruch des Coronavirus in unseren Alltag hat jene gewachsene Komplexität unserer Gesellschaft ins Wanken gebracht, die in der Regel verhindert, dass eine bestimmte soziale Logik, wie beispielsweise Profit- oder Machtstreben, alles andere dominiert. Normalerweise kennen wir in unserem Alltag getrennte Bereiche, die jeweils verschiedenen Logiken passgenau folgen. Wir empfinden deshalb Übergriffe dieser Logiken, wenn also beispielsweise mangelnde Bezahlbarkeit politisch Sinnvolles verhindert, als ein nachgerade gewaltsames Eindringen in fremde Bereiche, das Jürgen Habermas als »Kolonisierung« beschreibt. Doch durch Corona sind wir Zeugen einer historischen Ausnahmesituation in der Moderne geworden, eines umfassenden äußeren Schocks, dessen Folgen die Grenzen dieser sonst getrennten Bereiche eingerissen haben und in beinahe jeder Verästelung unseres Miteinanders spürbar wurden und werden.

Wie tief ein solcher Schock wirken kann, lässt sich den Schilderungen Heinrich Heines im sechsten Artikel seiner Französischen Zustände entnehmen, in dem er die Choleraepidemie in Paris 1832 beschreibt. Er legt dabei das Augenmerk auf die sozialen und öffentlichen Folgen der Krankheit, veranschaulicht, wie eine Gesellschaft buchstäblich aus den Fugen gerät, Gerüchte mit Wissen verwechselt werden und Emotionen die Vernunft beiseitedrängen. Die damalige Epidemie konnte sich ungehindert ausbreiten, weil sie zunächst nicht ausreichend ernst genommen wurde.

Die Parallelen zu den Ereignissen im Frühjahr 2020 lesen sich frappierend: 1832 wurden die Feiern zum französischen Karneval »Mi-Carême«, die nach Berichten über den milden Verlauf der Cholera in London ohne Vorsicht stattfanden, zum Inkubator und Katalysator der Krankheit. In den folgenden Wochen geriet Paris vollständig in den Griff der Epidemie. Sie raffte Tausende dahin, führte zu Aufständen derjenigen, deren Lebensmodell von den staatlichen Sanitätsvorgaben und Reinigungsaktionen bedroht wurde, und bewirkte schließlich den beinahe vollständigen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens. Heine beschreibt eindringlich, wie der Kampf gegen die Ursachen der Epidemie Menschen um ihre Lebensgrundlage brachte, welche sozialen und kulturellen Verwerfungen das nach sich zog und wie sich die Begierde in die Gesellschaft fraß, jede noch so abstruse, scheinplausible Erklärung für das Geschehen als wahr zu akzeptieren.

Schon diesen fast zweihundert Jahre alten Schilderungen lässt sich entnehmen, dass eine Pandemie eine Gesellschaft in ihrer ganzen Unübersichtlichkeit und Komplexität in den Griff nimmt und alle noch so unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche auf ihre Logik umpolen kann. Heute – in einer nochmals ungleich komplexeren und ausdifferenzierten Gesellschaft – gilt das immer noch.

Dass die gesellschaftliche Herausforderung maximal vereinheitlichend wirkt, bedeutet aber nicht, dass sich die Komplexität der herausgeforderten Gesellschaft in Luft auflöst. Wir müssen nicht nur mit den allgegenwärtigen Folgen des Virus umgehen, sondern zugleich in seiner Bekämpfung nach wie vor akzeptieren, dass es eben keinen archimedischen Punkt gibt, von dem aus man die Dinge ordnen kann, sondern dass wir mit den Widersprüchen zwischen medizinischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Notwendigkeiten leben müssen. Um in einer medizinischen Metapher zu verbleiben: Wenn wir auch auf Dauer ein gesellschaftliches Multiorganversagen verhindern wollen, brauchen wir eine differenzierte und komplexe Therapie, die das Wissen und die Kreativität vieler gesellschaftlicher Bereiche zusammenbringt.

Das hat die Erfahrung des teilweisen gesellschaftlichen Shutdowns recht deutlich gezeigt, mit dem wir im Frühjahr 2020 vergleichsweise zügig auf die Herausforderung des zunächst exponentiellen Virusverlaufs reagiert haben. Die Beschränkung von Kontakten zwischen Bürgerinnen und Bürgern, die damit einhergehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum und die Schließung vieler nicht für den alltäglichen Bedarf notwendiger Räume war aus epidemiologischer Sicht notwendig, um das Verbreitungsgeschehen des Virus so weit zu verlangsamen, dass eine lebensgefährliche Überlastung des Gesundheitssystems vermieden werden konnte. Zugleich aber hat diese Strategie dramatische wirtschaftliche und soziale Folgen, die bereits früh dazu geführt haben, dass die Stimmen lauter wurden, die eine differenziertere Abwägung verlangten. Sie befürchteten, dass die Folgen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vollbremsung nicht nur Kollateralschäden im Dienste eines höheren Gutes wären, sondern weit darüber hinaus reichen könnten.

Viele Expertenpapiere sind schon früh zur Notwendigkeit des teilweisen Shutdowns geschrieben worden. In einem davon – dem Thesenpapier »Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren« – weisen Gesundheitsexperten rund um den Kölner Mediziner und ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Sachverständigenrates Gesundheit Matthias Schrappe auf die Gefahren hin, die entstehen können, wenn die Politik keine ausreichend differenzierte Abwägung vornimmt. Sie schreiben im April 2020: »Zum einen darf der Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht den politischen Charakter konfliktärer Entscheidungssituationen und die Verantwortung für ihre demokratische Absicherung abschwächen oder in Frage stellen. Eine solche Entwicklung wäre geeignet, einer Verschärfung der in der gegenwärtigen politischen Diskussion immer wieder benannten Legitimationskrise der Demokratie Vorschub zu leisten (Kritik an der ›Expertokratie‹). Zum anderen kann, insbesondere bei selektiver oder auf Bestätigung ausgerichteter Beratungsnachfrage, die Wissenschaft ihr auf Multidimensionalität beruhendes Gleichgewicht verlieren und insofern Schaden nehmen.«

Hier warnen Wissenschaftler und Fachleute zu Recht davor, ihrer jeweils fachspezifischen Perspektive allein zu viel Gewicht in der Anwendung auf eine komplexe Gesellschaft zuzusprechen. Sie fordern die Politik dazu auf, die Vielfalt möglicher Perspektiven auf die aktuelle Lage zur Kenntnis zu nehmen, eine transdisziplinäre Analyse vorzunehmen und dann auf dieser Grundlage eine auf das Allgemeine bezogene Strategie zu entwickeln. Diese frühe Mahnung fand viel Beachtung – und sie ist in der Tat bemerkenswert. Schließlich hätten wir ja annehmen können, dass wir genau diese Vernetzung unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektiven bereits in anderen Debatten, zum Beispiel über den Klimawandel, gelernt hätten. Dass auch mit Blick auf das Coronavirus so früh eine Engführung auf virologische und epidemiologische Expertise beklagt wurde, zeigt, dass wir uns weiter damit befassen müssen, wie wir öffentliche Debatten in einer vielstimmigen Wissensgesellschaft organisieren wollen.

Denn wenn die Herausforderungen vielgestaltig sind, dann müssen es auch die Lösungsansätze sein. Dann sind die gesundheitsbezogenen Überlegungen mindestens zu ergänzen durch soziologische, ökonomische, psychologische, ethische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, die die blinden Flecken der aufgrund der Dringlichkeit der Pandemiebekämpfung dominanten medizinischen Positionen ausleuchten und beobachtbar machen können. So wie es beispielsweise in den Stellungnahmen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina versucht wurde. Es ist die Aufgabe der Politik in der Krise, solche Prozesse anzustoßen, zu moderieren und zu Entscheidungen zu führen. Oder in den Worten der zitierten Experten um Matthias Schrappe: »Demokratische Grundsätze dürfen nicht gegen Gesundheit und Bürgerrechte ausgespielt werden. Die Einbeziehung von Experten aus Wissenschaft und Praxis muss in einer Breite erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirkt.« Das ist in einer unübersichtlichen Krisenlage natürlich leichter geschrieben als getan. Aber zumindest im weiteren Prozess ist es unerlässlich.

Gerade in der Anfangsphase der Pandemie musste angesichts einer exponentiellen Infektionsentwicklung schnell und entschieden gehandelt werden. Wer in so einer Situation alles vorab durchdenken und diskutieren will, wird mit seinen Entscheidungen mit Sicherheit zu spät dran sein.

Zeit für gründlichere Reflexion haben die Entscheidungsverläufe anfangs oft kaum zugelassen, Raum für Debatte auch nur in seltenen Fällen. Das ist in dynamischen Krisenverläufen oft zwangsläufig so – aber es bedarf in der Folgezeit einer Diskussion über die Lehren aus der Krise und die sich anschließenden notwendigen Veränderungen. Bereits jetzt kristallisieren sich Fragekomplexe heraus, mit denen wir uns gesellschaftlich werden auseinandersetzen müssen. Natürlich ist die Lage noch viel zu unübersichtlich, um auch nur vorläufige Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber rechtzeitig die notwendigen Debatten zu markieren kann helfen, sich gegen die Verdrängungsmechanismen zu wappnen, die einer fundamentalen Krise stets auf dem Fuße folgen.

Dieses Buch soll daher einen ersten Versuch darstellen, einige Themenfelder zu umreißen, auf denen wir miteinander klären sollten, wie ein künftiger gesellschaftlicher Normalzustand aussehen kann. Denn ein einfaches Zurück zu der Zeit davor – das zeichnet sich bereits ab – wird es nicht geben können. Zu tiefgreifend und zu breit gefächert sind die Auswirkungen des Coronavirus und der Entscheidungen zu seiner Bekämpfung, mit denen die anfänglich sich exponentiell aufbauende Welle der Neuinfektionen gebrochen werden musste – und vielleicht auch wieder muss, sollten weitere Infektionswellen bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes entstehen. Diese Auswirkungen betreffen Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur gleichermaßen und setzen nicht selten auch die privaten Lebensumstände vieler Bürgerinnen und Bürger gehörig unter Druck.

Es ist daher davon auszugehen, dass die Fragen, die in der Aufarbeitung der Coronakrise auf uns zukommen werden, weit komplexer sein werden als diejenigen nach der richtigen Strategie zur weiteren Eindämmung und Zurückdrängung des Virus. Um besser zu verstehen, welche Fragen das sein werden, bedarf es eines genauen Blicks auf die Dimensionen des Schocks, den das Coronavirus und seine Bekämpfung in unserer Gesellschaft ausgelöst haben. Daran anschließend können erste Hinweise auf die Fragen gegeben werden, die wir werden diskutieren müssen, wenn wir vermeiden wollen, dass die aktuellen Ausnahmen zu einem neuen Zustand werden.

Die neue Erfahrung globaler Nähe

In der Wahrnehmung der Krise dominierten die Abstandsregeln, die sich zur Bekämpfung der Ausbreitung des Virus in unserer Gesellschaft durchgesetzt haben. Hygiene, Mund-Nasen-Schutz und ein Sicherheitsradius von anderthalb Metern zwischen sich begegnenden Fremden haben sich als die wichtigsten Mechanismen zur Verhinderung von Infektionen erwiesen. In der Folge ist viel nachgedacht worden darüber, was diese neue Distanziertheit im Alltag mit unserem Miteinander macht.

Aber zu Beginn der Virusentwicklung ist eine ganz andere Erfahrung der Nähe von Bedeutung gewesen: die Erfahrung, dass es keine distanzierte Entwicklung auf unserem Globus mehr gibt, dass uns alles sehr schnell sehr nahe kommen kann – auch ein Krankheitsgeschehen am anderen Ende der Welt.

Als im Januar 2020 die ersten Meldungen von einem neuartigen Coronavirus aus China nach Europa gelangten, schauten die hiesigen Medien aus interessierter Distanz auf die Entwicklungen in Wuhan. Das im Verlauf immer rigidere Krisenmanagement der autokratischen chinesischen Staatsführung stand dabei genauso im Blick wie die Spezifika des unbekannten Erregers SARS-CoV-2. Der Bau zweier neuer Krankenhäuser binnen gerade einmal zehn Tagen wurde zum Anlass genommen, über die schleppenden Infrastrukturentwicklungen in Deutschland zu räsonieren. Das Schicksal des ersten Arztes, der Ende Dezember 2019 vor dem neuen Virus warnte und später selber erkrankte und verstarb, bewegte auch die hiesige Öffentlichkeit. Und die Berichte von Isolierstationen, Ausgangssperren und einem zunehmend an seine Grenzen gelangenden Gesundheitssystem beschrieben eine ferne Dystopie. Die Frage, ob und auf welchen Wegen das dortige Infektionsgeschehen auch nach Europa und nach Deutschland gelangen könnte, blieb demgegenüber – abgesehen von wenigen, damals aber noch marginalisierten Expertenstimmen – deutlich im Hintergrund.

Auch die politischen Aussagen zu den Gefahren von SARS-CoV-2 für die hiesige Gesellschaft waren betont undramatisch. Und das nicht, weil die Politik beschwichtigen wollte, sondern weil sie sich auf entsprechende Urteile der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Robert-Koch-Instituts (RKI) berufen konnte. Ende Januar führte der Bundesgesundheitsminister aus, dass man die Krankheit einordnen müsse, dass auch an der Grippe jedes Jahr bis zu 20000 Menschen in Deutschland stürben und dass im Vergleich dazu das Infektionsgeschehen bei der neuen Lungenkrankheit milder sei. Die Gefahr durch das neue Virus für die Gesundheit, so der Minister auf Grundlage von Einschätzungen des RKI, bleibe weiterhin gering. Und noch Ende Februar hieß es auf der Homepage der Tagesschau: »Man könne nicht ›das gesamte öffentliche Leben in Deutschland, Europa und der Welt beenden‹, so der Minister, zumal die Lage in China und Italien zeige, dass es ›das Infektionsgeschehen nicht beendet‹, wenn man ganze Orte abriegele.« Wenige Wochen später ist genau das in Deutschland, Europa und weiten Teilen der Welt geschehen, um die Welle der Neuinfektionen zu brechen.

Es wäre ein Leichtes, der Politik und den sie beratenden Expertinnen und Experten in diesen frühen Tagen Leichtsinnigkeit oder Inkonsistenz vorzuwerfen. Aber das wäre der Außergewöhnlichkeit der Situation und ihrer anfänglichen Undurchdringlichkeit nicht gerecht geworden. Schließlich handelte es sich um ein Infektionsgeschehen, das zumindest in unserer Zeit in Ausmaß und Geschwindigkeit ohne Beispiel war. Natürlich wissen wir, wie nahe die einzelnen Regionen der Welt einander gerückt sind, wie sehr die Distanzen zwischen den Kontinenten heutzutage keine Rolle mehr spielen. Und doch ist es etwas anderes, über solches Wissen abstrakt zu verfügen oder aber es konkret anhand einer lebensbedrohlichen Krankheit vor Augen geführt zu bekommen.

Gleiches gilt für die exponentielle Entwicklung, die sich einstellt, wenn ein Infizierter das Virus an mehrere Mitmenschen weitergibt. Hier kann mit einem Husten eine Lawine ins Rollen gebracht werden, deren Ausmaß man zwar errechnen, aber keinesfalls intuitiv erfassen kann. Unser Denken ist auf lineare Entwicklungen geeicht. Das ist der Maßstab, den wir zugrunde legen, wenn wir künftige Entwicklungen abschätzen und prognostizieren.

Und auch die vielen Analogieschlüsse zur normalen Grippe, zur SARS-Epidemie von 2003 oder zu den wieder steigenden Maserninfektionen waren eher hilflose Versuche, gesichertes Wissen auf eine ungesicherte Situation zu übertragen. Wenn das Geschehen global vernetzt ist und sich exponentiell entwickelt, dann können solche Spekulationen schnell problematisch werden. Denn schon minimale Veränderungen bei der Beurteilung der Ausgangslage können zu enormen Veränderungen bei den längerfristigen Rückschlüssen führen.