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Carsten Brosda

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Beschreibung

In Zeiten sich überlagernder Krisen und Katastrophen zeigt Carsten Brosda Wege in eine gute Zukunft auf. Im Zentrum steht dabei die Kraft gemeinsamer Geschichten, die wir uns als Gesellschaft endlich neu und besser erzählen müssen. In diesem ebenso erhellenden wie Hoffnung stiftenden Buch erzählt Carsten Brosda auf kluge und persönliche Weise, warum eine gute Zukunft trotz aller Krisen und Konflikte noch immer möglich ist. Plausible Gründe für das Gelingen einer besseren Gesellschaft entdeckt er unter anderem in den Songtexten von Bruce Springsteen, in Filmen wie Nomadland und auch in Büchern oder in Theaterstücken. Sie sind nicht bloß Versuche, eine chaotische Welt zu ordnen und besser zu verstehen. Carsten Brosda findet in diesen Erzählungen reiche Quellen politischer Zuversicht. Sie sind Ausdruck einer tieferen Vernunft und unabdingbare Voraussetzung dafür, künftig freier, gerechter und solidarischer zusammenzuleben. Ein faszinierendes Werk, das Politik nicht nur überraschend verständlich macht, sondern auch einen überzeugenden Gegenentwurf zum um sich greifenden Fatalismus liefert. »Einer der wichtigsten und klügsten Zukunftsgeschichtenerzähler unseres Landes. Was Carsten Brosda sagt und schreibt, verdient größtmögliche Aufmerksamkeit und Beachtung. Und zwar immer.« Igor Levit  »Eloquent und fundiert verwebt Brosda gegenwärtig verhärtete Debatten mit Kunst, Kultur und Philosophie und bietet eine erfrischend klare, persönliche und zugleich nachdenkliche Perspektive. Ein mutiges, weitsichtiges Buch. Ausgerechnet aus der Mitte politischen Betriebs. Welch' intellektuelles Feuerwerk!« Kübra Gümüşay  »Carsten Brosda ist so schlau und uneitel, dass er es schafft hochpolitische und komplizierte Vorgänge so zu schreiben, dass sie unterhaltsam und geistreich sind und alle sie verstehen können. Bei den meisten anderen ist es genau anders herum.« Thees Uhlmann  »Carsten Brosda weigert sich beharrlich, klein und lauwarm zu denken – und baut hier erzählend allen, die das Politische groß und mutig denken wollen, ein kluges, leidenschaftsorientiertes Geländer. Den nötigen Beat in den Hüften gibt es gratis obendrauf dazu.« Simone Buchholz

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Carsten Brosda

Mehr Zuversicht wagen

Wie wir von einer sozialen und demokratischen Zukunft erzählen können

Sachbuch

Hoffmann und Campe

Für Mara, Alva, Finn und Frida

»We learned more from a three-minute record, baby

Than we ever learned in school.«

Bruce Springsteen – No Surrender

Einleitung

Besser erzählen

Beppo und Gigi

Seit ich Politik mache, hadere ich mit Beppo Straßenkehrer. Der alte Mann ist einer der beiden besten Freunde des Mädchens Momo aus dem gleichnamigen Jugendbuch von Michael Ende. Jeden Tag muss er eine scheinbar endlose Straße kehren. Er erklärt Momo, dass das nur mit stoischer Gelassenheit zu schaffen sei. Wenn die Straße so lang sei, dass man glaube, sie nicht bewältigen zu können, dann dürfe man nicht den Fehler machen, auf das Ende der Straße zu schauen. Denn dann fange man an zu zweifeln und versuche sich zu beeilen. Man gerate aus der Puste und werde nicht fertig. Deshalb sei es so wichtig, immer nur an den nächsten Schritt zu denken. Dann würde die eintönige Arbeit sogar anfangen, Spaß zu machen. »Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat«, sagt Beppo. »Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht aus der Puste.«[1]

Als sozialdemokratischer Politiker habe ich diese Geschichte oft erzählt, wenn es galt, schwierige und langwierige Aufgaben zu bewältigen. Ich erinnerte dann an die Strategie des Straßenkehrers: Nicht auf das Ende fokussieren! Sondern beharrlich dem Dreiklang von »Schritt – Atemzug – Besenstrich« folgen! Die kleine Geschichte von Beppo stimmt in jedem Fall zuversichtlicher als jene, die viele andere Politiker*innen zu bevorzugen scheinen, wenn sie in ähnlichen Situationen sind: die des armen griechischen Sagenhelden Sisyphos, den man sich laut Albert Camus »als einen glücklichen Menschen« vorzustellen habe.[2] Dass es glücklich machen und sinnstiftend sein soll, einen Stein bergan zu rollen, nur damit er wieder den Abhang hinunterkullert, habe ich noch nie verstanden. Mir erschien es immer wie der verzweifelte Versuch, die Vergeblichkeit des eigenen Handelns zu bagatellisieren. Ähnlich vielleicht wie in jener Anekdote, der zufolge Willy Brandt sich gewünscht haben soll, auf seinem Grabstein möge stehen: »Man hat sich bemüht.« Doch das ist nicht mehr als eine schöne Legende. Tatsächlich steht auf dem Grabstein in Berlin-Zehlendorf schlicht und ergreifend: »Willy Brandt«.

Das Beispiel von Beppo Straßenkehrer illustriert, was man etwas hochgestochen einen »inkrementellen Politikstil« nennt. Meine Vorgängerin als Kultursenatorin in Hamburg, Barbara Kisseler, hat dieses Konzept auf die Formel gebracht: »Wir lösen die Probleme in der Reihenfolge ihres Auftretens.« Und dieses schrittweise Abarbeiten hat seine Vorteile: Man erledigt das, was man sich vorgenommen hat, sieht unmittelbar Erfolg, verliert nicht den Mut, kann schnell reagieren. Und man kann am Ende des Tages etwas vorweisen – man hat sich nicht in fernen Visionen verloren.

Diese Politik wird meist als »pragmatisch« gelobt. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt definierte seine Politik Mitte der siebziger Jahre als »pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken«, um darauf hinzuweisen, dass es auch hier nicht ohne Wertebasis geht.[3] Aber der Pragmatismus war eindeutig das Zentrale, der nächste Besenstrich der jeweils wichtigste.

Dennoch frage ich mich immer wieder, wie redlich es eigentlich ist, die Geschichte von Beppo zu erzählen. Schließlich weiß Beppo, wo er hinmuss, was zu tun ist und welche Mittel er dafür zur Verfügung hat. So überschaubar sind die Situationen, in denen Politiker*innen agieren, in der Regel nicht. Gerade in der gegenwärtigen Zeit. Angesichts von globalen Pandemien, Kriegen, digitalen und technologischen Umbrüchen und der die Lebensbedingungen auf unserem Planeten bedrohenden Klimakrise gerät dieser scheinbar so bescheidene Politikansatz schnell an seine Grenzen. Da er es auch nicht gerade darauf anlegt, Leidenschaft zu entfachen, eignet er sich zudem kaum, Unterstützer*innen für die richtige Sache zu gewinnen.

Vielleicht hilft uns hier der zweite beste Freund von Momo weiter, der bislang deutlich seltener in meinen Reden aufgetaucht ist: Gigi Fremdenführer, der »in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Beppo Straßenkehrer« ist, wie Michael Ende schreibt.[4] Der junge Mann schlägt sich mit allerlei Hilfsjobs durch. Am liebsten markiert er einen Fremdenführer, der den wenigen Touristen im Dorf »das Blaue vom Himmel heruntererzählt« und sich bei seinen Führungen so ziemlich alles einfach ausdenkt. Darauf angesprochen, verteidigt er sich: »Wer sagt euch denn, dass die Geschichten in den gelehrten Büchern nicht auch bloß erfunden sind, nur weiß es vielleicht keiner mehr … Ach, was heißt überhaupt wahr oder nicht wahr? Wer kann schon wissen, was hier vor tausend oder zweitausend Jahren passiert ist? Wisst ihr es vielleicht? … Wieso könnt ihr dann einfach behaupten, dass meine Geschichten nicht wahr sind? Es kann doch zufällig genau so passiert sein. Dann habe ich die pure Wahrheit gesagt!«[5]

Gigi ist der fröhliche und gut aussehende Hallodri, der sich charmant durchzuschlagen versteht und deshalb irgendwie davonkommt, bis ihn die Grauen Männer bei seiner Eitelkeit packen. Im politischen Raum geriete seine Masche schnell zu jenem postfaktischen Erzählen, das ein Populist wie Donald Trump zur perfiden Meisterschaft gebracht hat. Zu jenem Auflösen aller Wahrheitsbezüge in einem endlosen Strom der erfundenen Behauptungen und Erzählungen, in dem am Ende alle Maßstäbe abhandenkommen, mit denen sich vielleicht noch überprüfen ließe, ob an den Geschichten etwas dran sein könnte. Michael Ende hat das genau im Blick, schließlich legt er seinem Gigi schon 1973 eine Rechtfertigung in den Mund, die so klingt, als wäre sie erst gestern in ein Mikrophon gesprochen worden: Es sei doch alles nicht so schlimm, schließlich hätten die Leute doch »genau das bekommen, was sie wollten«, sagt Gigi und hat vermutlich nicht einmal unrecht damit.[6]

Auf die Politik übertragen, verkörpern die beiden, Beppo und Gigi, zwei sehr konträre Herangehensweisen bezüglich Form und Stil. Während die einen Politiker*innen redlich und gewissenhaft Problem für Problem abarbeiten und ihnen dabei zuweilen Charme und Aura eines grauen Leitz-Ordners attestiert werden, erzählen die anderen bunte Geschichten, denen zwar jeder Bezug zur Wirklichkeit fehlt, die aber Spaß machen. Die allermeisten, die in Deutschland Politik machen, sind geborene Beppos: lieber knochentrocken seriös und nahe an den konkreten Problemen als locker und flockig, aber ohne die nötige Bodenhaftung. Denn wenn Politik nicht liefert, nützen am Ende auch die unterhaltsamsten Geschichten nichts.

Doch so konträr die beiden Typen sind – es bräuchte eine kluge Mischung ihrer Fähigkeiten. Dass man sich um handfeste Probleme kümmert und versucht, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern, spricht nicht dagegen, das Ganze mit überzeugenden Geschichten zu verbinden, ja es vielleicht sogar in eine Erzählung einzubetten, die erleichtert zu verstehen, worum es eigentlich geht.

Sagen, was sein könnte

Es spricht nicht nur nichts dagegen, sondern im Gegenteil: Ohne Geschichten geht es nicht! Und es ist die Essenz kulturellen und künstlerischen Wirkens, diese Geschichten in die Gesellschaft zu tragen. Dies wurde mir schlagartig bewusst bei einer Rede des britischen Dramatikers Simon Stephens. Am Sonntagvormittag des 11. November 2018 sprach er bei der 175-Jahr-Feier des Hamburger Thalia Theaters über die Kraft des Geschichtenerzählens. Er warnte eindringlich: »Vielleicht weil wir es vernachlässigt haben, uns ausreichend um sie zu kümmern, sind die Geschichten den Bastarden in die Hände gefallen.«[7] Er wählte als Beleg für diese Mutmaßung unter anderem eine Anekdote aus der Zeit der Brexit-Kampagne 2016, als einer der ärgsten Befürworter des britischen Austritts aus der Europäischen Union, Michael Gove, im Fernsehen mit den düsteren Vorhersagen von Experten zu den ökonomischen Konsequenzen dieses Schritts konfrontiert wurde. Der Satz, mit dem der konservative Tory-Politiker reagierte, habe ihn, so wie fast alle Liberalen auf der Welt, frösteln lassen, sagte Stephens. Gove wischte damals alle wissenschaftlichen Warnungen mit dem »Argument« vom Tisch: »Ich denke, wir hatten mehr als genug von diesen Experten, oder?«[8]

Zwei Jahre später in Hamburg, der Stadt, die sich rühmt, die britischste auf dem europäischen Kontinent zu sein, berichtete Simon Stephens davon, wie er später mit seinem Sohn über die Expertenfeindlichkeit der Brexit-Befürworter*innen diskutiert habe. Und sein Sohn habe ihm erklärt, dass Gove recht habe. Einer der Gründe dafür, dass die Brexit-Kampagne Erfolg hatte, sei doch gewesen, dass sie sich eben nicht auf Expertenwissen habe verlassen müssen. Wie bitte? Der Vater stutzte, aber der Sohn ließ sich nicht beirren. Er fragte seinen Vater: Würdest du plötzlich für den Brexit sein, nur weil jemand dir vorrechnet, dass sich das Verlassen der EU für das Vereinigte Königreich wirtschaftlich lohnen würde? Natürlich nicht, war die Antwort des Vaters. Siehst du, so der Sohn, denn es geht nicht darum, wer die besseren Berechnungen oder Statistiken hat, sondern um etwas ganz anderes. Es geht um eine Geschichte Europas, die die Bürger*innen überzeugen kann. Und die hätten die Europa-Befürworter*innen in Großbritannien ganz offensichtlich nicht erzählt. Mit den bekannten dramatischen Auswirkungen und dem folgenden Austritt aus dem gemeinsamen europäischen Projekt.

Simon Stephens zog aus dem kurzen Disput eine wichtige Lehre: Sein Sohn habe recht. »Mehr als je zuvor sollten wir den Drang verspüren, unsere Geschichten besser zu erzählen«, appellierte Stephens. Nur dann könne es gelingen, Menschen an etwas glauben zu lassen, was sie noch nicht sehen können. Dazu reiche es eben nicht aus, es bloß besser zu wissen und das auch wissenschaftlich begründen zu können. Dazu brauche es eine Geschichte, die Emotionen und Zugehörigkeit ermöglichen kann.

»We all need to tell our stories better.« Wir alle müssen unsere Geschichten besser erzählen. Als ich am Sonntagmittag aus dem Theater trat, wusste ich: Diese Aufforderung wird mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Doch wo sind die wahrhaftigen Geschichten, die zu erzählen sich lohnt? Warum konzentrieren wir uns so sehr auf die Beschreibung des Gegenwärtigen und vertrauen bloß den Statistiken und methodisch gesicherten Prognosen, mit denen die Politik Tag für Tag versorgt wird, während wir den utopischen Überschuss einer Erzählung des Fortschritts oder auch nur des künftigen guten Lebens vernachlässigen?

Storys sollen die Analyse nicht ersetzen. Dann wären sie bloße Propaganda, faule PR anstelle harter politischer Arbeit. Gigi anstelle von Beppo. Aber Geschichten können politische Veränderungen möglich machen. Schließlich werden in ihnen ein besseres Morgen und die Kraft zu seiner Gestaltung spürbar – emotional und praktisch. Es sind kulturelle Formate wie Songs und Bücher, Theaterstücke und Filme, Bilder und Bauten, in denen sich diese Vorstellungen einer anderen Gegenwart und Zukunft zeigen lassen. Politik hat früher häufig ihre Nähe gesucht. Das zeigte sich etwa in den großen Inszenierungen der ägyptischen Pharaonen oder den Heldenerzählungen mittelalterlicher Höfe. Es sind die großen Epen, die bis heute überdauert haben und die uns erinnern, welchen Werten, Zielen und Utopien frühere Zeitalter nacheiferten. Und es waren die feudalen Herrscher*innen früherer Jahrhunderte, die die Freiheit ihrer Hofkünstler*innen sicherten,[9] bevor die Künste zum Gegenstand und Instrument bürgerlicher Kritik wurden.

In der Moderne haben sich die großen Traditionslinien so sehr verworren, dass nichts mehr nur deshalb gilt, weil es gestern schon galt. Deshalb sind Geschichten heute erst recht ein wesentlicher Treibstoff gesellschaftlicher, kultureller und politischer Entwicklungen. Und es ist daher in der Tat entscheidend, dass wir uns für sie interessieren und dass wir sie gut erzählen, wenn wir Politik möglich machen wollen.

Zu Beginn moderner Politik und in den Zeiten der Gründung der Sozialdemokratie schien diesbezüglich manches einfacher zu sein. »Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.«[10] Diese Worte stammen von Ferdinand Lassalle, der vor hundertsechzig Jahren, im Jahr 1863, mit einem Brief den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründete und damit nach gängiger Lesart die deutsche Sozialdemokratie ins Leben rief. Was für ein Anspruch: Auf die Fakten kommt es an, sie sind der Ausgangspunkt politischer Programme. Heute, in einer Zeit, in der jeder behaupten kann, was er will, ohne dass wir uns der Mühe unterziehen zu überprüfen, ob da auch etwas dran ist, klingen diese Sätze wirklich revolutionär. »Aussprechen, was ist.« Wie schön wäre es, wenn das gelänge.

Wir haben den Glauben an eine klar benennbare und erkennbare Wirklichkeit verloren. Wir wollen wissen, warum etwas so ist. Jede Behauptung braucht Gründe, um akzeptiert zu werden. Und genau hier beginnen die Schwierigkeiten. Gründe müssen nämlich akzeptiert werden. Wer sagt was warum? Das ist immer wieder aufs Neue Gegenstand erbitterter Debatten. Und je länger jemand dabei ist, desto gefährlicher wird es. Weil die Wahrscheinlichkeit steigt, dass andere ermüdet sind von dem Umstand, dass alles schon tausendmal gesagt wurde. Keine gute Aussichten, wenn man hundertsechzig Jahre alt ist.

In diesem Sinne war es früher wohl wirklich einfacher. Doch zugleich irritiert es, wenn sich auf einmal eine merkwürdige Melancholie breitmacht. Erst kürzlich ist eine Studie veröffentlicht worden, der zufolge 56 Prozent der Achtzehn- bis Vierunddreißigjährigen lieber in der Vergangenheit leben wollen, weil es da geordneter und sicherer gewesen sei und es weniger Krisen gegeben habe.[11] Aber was ist das für ein Befund, wenn schon die Jüngeren sich nach einer Vergangenheit sehnen, die sie vermutlich gar nicht selbst gelebt haben, sondern die sie nur aus Erzählungen kennen? Ich musste jedenfalls sofort an den Titel eines Buches von Joachim Meyerhoff denken: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war. Wenn schon die Jüngeren melancholisch zurückschauen, wenn sie von besseren Zeiten träumen, dann ist das allemal ein Anlass, unruhig zu werden.

Vielleicht lohnt es daher, bei diesem ominösen »Früher« noch einmal anzusetzen und zu schauen, was seitdem schiefgelaufen ist. Warum es eben nicht mehr reicht, einfach zu sagen, was ist. Und warum auch die Begründungen zunehmend hohler klingen. Warum uns die Gewissheit abhandengekommen ist. Vielleicht hat das ja auch etwas damit zu tun, dass das »Sagen, was ist« eigentlich noch nie ausgereicht hat, sondern immer schon eine Verkürzung war, wie Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrer Studie Erzählende Affen argumentieren, in der sie der Kraft der Geschichten in unserem Alltag und ihrer Bedeutung für unser Weltverstehen nachspüren.

»Aus einem ›Sagen, was ist‹ wurde auf einmal ein ›Sagen, was war‹ und ein ›Sagen, was sein könnte‹. Und irgendwann berichtete man von Dingen, die nicht in oder vor der Höhle existierten und passierten, sondern weit entfernt«, heißt es in dem Buch über frühe steinzeitliche Stammesgesellschaften, die anfingen, in Geschichten ungekannte, vielleicht drohende Erlebnisse in Gedanken durchzuspielen, um so die Welt mit all ihren Gefahren besser zu verstehen.[12] Daraus wurden dann irgendwann die klassischen Erzählungen, die unsere Weltwahrnehmung prägen. Dabei mischen sich nicht erst heute mitunter Fakten und Fiktionen. Erzählfiguren aus Kunst und Literatur rutschen immer wieder in unsere Ordnungsversuche hinüber. Problematisch ist das nicht, solange allen klar ist, dass das Teil unseres Erzählens ist und Fakt und Fiktion unterscheidbar bleiben.

El Ouassil und Karig beschreiben in ihrem Buch ausführlich, was Simon Stephens im Thalia Theater nur skizzenhaft angedeutet hat: Wir versuchen mit den Geschichten, die wir uns erzählen, Ordnung in das Chaos unserer Welt zu bringen. Wir sind in unserer Evolution offensichtlich so geprägt worden, dass unser Gehirn förmlich nach Geschichten sucht, um die vielen und oft kaum zueinanderpassenden Informationen, die auf uns einprasseln, zu strukturieren, um sie verarbeiten zu können, um ihnen einen Sinn zu geben. Das ist weniger eine bewusste Entscheidung, sondern Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses. Ohne Geschichten kämen wir in der Welt nicht zurecht und würden das, was uns geschieht, nicht verstehen.[13]

Deswegen ist Politik, die nicht bloß auf den Erhalt des Status quo aus ist, gut beraten, Geschichten zu entwerfen, in denen sie ausprobieren kann, wie sich die Alternative zum Existierenden denken, beschreiben und erzählen lässt. Gerade weil diese Alternative (noch) nicht sichtbar ist, braucht es Geschichten, in denen sie zumindest spürbar wird, wie Simon Stephens ausführte. Es ist dieser utopische Überschuss unserer alltäglichen Storys, der es uns möglich macht, wie »eine Horde Affen« zu sein, »die innerlich Theater spielt«, wie El Ouassil und Karig schreiben.[14]

Wir sind heute längst nicht mehr darauf angewiesen, dass andere für uns Geschichten schreiben, von denen wir uns überwältigen lassen. Vielmehr sind wir alle durch die technischen Möglichkeiten digitaler Plattformen zu Autor*innen unserer eigenen Geschichten geworden, können Storys über uns und unsere Weltsicht ungefiltert produzieren und veröffentlichen. Die Vielstimmigkeit unserer Gesellschaft nimmt unaufhörlich zu. Orientierung ist nur zu haben, wenn es gelingt, durch die Vielfalt hindurch zu gemeinsamen neuen Erzählungen einer bunten Gesellschaft in einer bisweilen grauen, düsteren Welt zu gelangen. Die britische Rapperin Little Simz beschreibt die gleichermaßen individuelle wie gesellschaftliche Herausforderung: »We walk in blind faith not knowing the outcome / But as long as we’re unified, then we’ve already won«.1

Deshalb braucht jede Politik, die Veränderung zum Besseren will, Erzählungen davon, was sein könnte. Sie schaffen das Vertrauen, das es braucht, um gemeinsam einen Weg zu gehen. Erzählungen, die sich dafür eignen, sind gewöhnlich tief in der gesellschaftlichen Alltagskultur verwurzelt. Geschichten, Bilder und Melodien, die auf Resonanz stoßen, finden sich überall. Wenn wir sie politisch ernst nehmen und in einen Zusammenhang setzen, dann können wir aus einem riesigen Reservoir schöpfen. Schließlich ist vieles schon vor uns gedacht worden und liegen geblieben. Vor allem in der Kunst finden sich meist Geschichten und Bilder, die besser sind als alles, was wir in der Politik entwerfen können. Denn parteipolitische Geschichten sind oftmals vor allem strategische Werbung für das eigene Programm und keine freie, utopische Beschäftigung mit den Möglichkeiten von morgen.

Deshalb suche ich in diesem Buch in künstlerischen und populärkulturellen Werken, in Songs, Filmen, Romanen nach Ideen, die uns bisweilen besser als die klügste und längste Abhandlung vor Augen führen und verstehen lassen, wie eine gute Zukunft aussehen könnte. Ich suche nach den Geschichten, die soziale und demokratische Ideen erzählen.

Natürlich sind die Geschichten, die ich hier auswähle, von meiner Biographie und von dem Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, geprägt. Ich schöpfe (manchmal unausgesprochen) aus den Quellen, die mir zugänglich waren oder sind – den Songs von Joni Mitchell, Bob Dylan, Patti Smith, Leonard Cohen und Nils Koppruch, den Romanen von Don DeLillo und Toni Morrison, den Filmen von Joel und Ethan Coen oder den Texten von Kurt Tucholsky. Vieles stammt aus den USA oder führt dahin zurück, nicht nur weil ein Jahr in Texas mich geprägt hat, sondern auch weil wir viel lernen können von dem US-amerikanischen Vertrauen in eine gute und kraftvolle Geschichte.

Vor allem aber sind es die Lieder, die mich seit meiner frühesten Jugend durch mein ganzes bisheriges Leben begleitet haben, auf die ich immer wieder zurückkomme. Wenn Bruce Springsteen in dem Song Factory von 1978 beschreibt, wie sein Vater morgens zur Arbeit geht, dann führt mich das in eine Welt, die mir noch in jeder Pore steckt: in meine Heimatstadt Gelsenkirchen, in der ich groß geworden bin. In eine Welt, in der harte körperliche Arbeit nötig war, um klarzukommen. »Through the mansions of fear, through the mansions of pain / I see my daddy walking through them factory gates in the rain / Factory takes his hearing, factory gives him life / The working, the working, just the working life«.2

Wenn ich das höre, dann spüre ich, was es ausmacht, sich für sich und seine Familie buchstäblich krummzumachen. Keine romantische Ode an die Arbeit, sondern eine düstere Erinnerung in wenigen Versen. Der Song lässt bereits erahnen, warum es wichtig ist sich zusammenzutun, um diese Situation vielleicht zu verändern. Besser als jeder soziologische Text oder jedes politische Programm das jemals könnte. Wenn dann im Konzert einige jener großen Hymnen folgen, in denen Menschen versuchen, aus diesen Verhältnissen auszubrechen, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und jenseits von Schmerz und Leid vielleicht gemeinsam mit anderen das Glück zu suchen, dann hat das eine Kraft, die nicht nur mitreißend, sondern bisweilen gar sinnstiftend sein kann.

Deshalb lohnt es sich, aus solchen Quellen zu schöpfen, wenn wir frisches Wasser auf die Mühlen einer progressiven politischen Erzählung lenken wollen. Viele dieser Quellen, das bringt diese Betrachtungsweise nun einmal mit sich, entspringen einer vergangenen Zeit und sind in einer spezifischen Kultur verankert, sind damit aber noch lange nicht versiegt. Und erstaunlich viele dieser Quellen führen das gleiche Wasser, aus dem auch die sozialdemokratischen Ideen für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft geschöpft werden können. Es geht um den Willen zur Menschlichkeit, um die Erfahrungen der Gemeinschaft und um den Wunsch, es besser zu machen als die Vorangegangenen.

Der Countrysänger Willie Nelson hat einmal trefflich auf den Punkt gebracht, warum gerade die Politik sich um solche Quellen kümmern sollte: »Anstatt sich darüber Sorgen zu machen, wie man Eminem oder irgendwelche anderen Rapper wie Lil Black oder Dr. Dre oder Snoop Dogg oder wen auch immer zum Schweigen bringen kann, sollten Politiker darüber nachdenken, warum die so etwas rappen … Wenn sie in einem gewalttätigen Getto aufwachsen, wie kann man da erwarten, dass sie über Blumen singen? Es ist einfacher zu versuchen, einem jungen Sänger das Fluchen über die Armut auf der Straße zu verbieten, als die Armut auf der Straße selbst zu beenden. Probleme lösen ist schwerer.«[15] Und das stimmt: Wir sollten uns lieber daranmachen, die Ursachen der Wut in den Songs anzugehen, statt uns bloß über die Wut zu echauffieren. Statt sich die Geschichten anzuhören und politische Schlüsse aus ihnen zu ziehen, verharren wir viel zu oft bei Äußerlichkeiten und verlieren uns im Nebensächlichen.

Ich möchte zeigen, wie sich gerade in solchen Geschichten die Kraft finden lässt, die nötig ist, um unsere Gesellschaft sicher durch die Moderne zu führen. Es gibt viele Beispiele dafür, dass hier nicht nur zutreffende Beschreibungen aktueller Probleme, sondern vor allem auch konkrete Utopien zu finden sind. Die Beispiele, die ich nenne, sind mit meiner Biographie verbunden. Auch mit völlig anderen Werken aus einer völlig anderen Zeit ließe sich zu ähnlichen Ergebnissen gelangen. Entscheidend ist, was uns wichtig ist und was Resonanz findet. Für die Kraft der Kunst, nicht nur zu sagen, was ist, sondern auch was sein könnte, sollte sich Politik dringend mehr interessieren. Die SPD könnte sich in ihr sogar wiederfinden.

Kapitel 1

Früher

Die Wiese lacht

Wenn ich heute darüber nachdenke, wann dieses »Früher«, von dem bereits die Rede war, für mich genau angefangen hat, landen meine Gedanken auf einer großen, etwas unförmigen Wiese. Ich stehe da in kurzen Hosen und habe keine Ahnung, was auf der Welt außerhalb der Grünfläche vor sich geht. Außer dass oben auf dem Balkon mein Vater und meine Mutter wahrscheinlich in der Sonne dösen und hoffen, dass wir Kinder sie noch eine Weile in Ruhe lassen. Was wir dann auch gemacht haben. Und zwar mit Freude. Über so komplizierte Dinge wie Lassalle, die Wahrheit und das, was ist, haben wir uns damals Anfang der achtziger Jahre keine Gedanken gemacht. Wir waren einfach froh, diesen riesigen grünen Spielplatz hinter dem Haus zu haben. Und natürlich war alles so, wie wir es aussprachen. Was denn sonst? Außer vielleicht, wenn jemand tollkühn »Abseits!« rief. Abgesehen von dieser seltsamsten aller Fußballregeln, war für uns Kinder alles klar. Und die Wiese war ein nicht unwesentlicher Grund dieser Klarheit.

Beim Nachdenken über die Wiese bin ich auf einen Satz gestoßen, den der römischen Rhetoriklehrer Quintilian vor 2000 Jahren als Beispiel für eine Metapher anführt: »Die Wiese lacht.« Mich lassen diese drei Worte stutzen, weil sie einerseits natürlich etwas ganz Unmögliches beschreiben, andererseits so unmittelbar einleuchten. Jedenfalls mir. Denn auf so einer lachenden Wiese bin ich groß geworden. Und das obwohl diese Wiese in Gelsenkirchen eigentlich gar nicht so viel zum Lachen hatte. Sie lag eingequetscht zwischen dem Haus, in dem meine Eltern im zweiten Stock eine Wohnung gemietet hatten, und einem Bahndamm, auf dem ein Gütergleis verlief. Dahinter stand eine Fabrik, in der Küppersbusch Küchenherde hergestellt hat. Auf der anderen Straßenseite war die große Auffahrt zu einer Firma, die irgendwelche hydraulischen Spezialmaschinen für die Kohlezechen baute und die ankommenden Lkw mit einem herzlichen »Glückauf« auf einem Leuchtschild begrüßte. Nebenan noch ein Glaslager, wenn ich es richtig erinnere, und auf der anderen Seite die Backstube, die zur Bäckerei bei uns unten im Haus gehörte. Das Mietshaus, in dem wir wohnten, hatte der Bäcker gebaut. Es stand samt Wiese irgendwie zufällig zwischen den Fabriken, umtost vom Lärm der Industrie.

Aber die Wiese lachte. Vor allem im Sommer. Dieser kleine grüne Fleck unter einer mächtigen Schwarzpappel in all dem grauen Rauputz und fast schwarz gerußten Backstein unserer Straße bot alles, was das Kinderherz begehrte. Wir wussten, dass sie ein echtes Privileg war in unserem Viertel. Anfangs standen da Schaukel und Rutsche, später wurde sie zum Platz zum Bolzen und für Rollenspiele. Und das Beste war das Fenster zur Bäckerei, aus dem wir kurz vor 18 Uhr im Sommer übrig gebliebene Plunderteilchen zugesteckt bekamen. So, dass es unsere Eltern auf den Balkonen nicht sehen konnten.

Zwar waren die Fliederbäume schnell eingegangen, die wir irgendwann aus Opas Garten auf die Wiese retten wollten, aber immerhin hielt sich der kleine Kirschbaum in der Mitte, der wie der Schiedsrichter beim Fußballspielen immer im Weg stand. Und warum der Flieder einging, der näher am Bahndamm stand, ahnten wir damals wohl auch schon. Gleichzeitig freuten wir uns auf den Zug, der mehrmals täglich die neuen Autos aus dem Werk in Bochum an uns vorbei in die Welt fuhr, und malten uns aus, wohin wir mitfahren könnten. Oder wir lachten mit der Wiese um die Wette. Gemeinsam gegen das Grau der Umgebung.

Aber der Flieder war nicht das Einzige, was im Laufe der Zeit in unserer Gegend verkümmerte. Irgendwann wurde das Glaslager durch einen Getränkemarkt ersetzt. Dann machten sie das Küppersbusch-Werk dicht. Dort stehen heute Wohnungen für die Angestellten des örtlichen Gefängnisses, entstanden als Projekt der Internationalen Bauausstellung Emscher Park in den neunziger Jahren. Der Zug bringt seit einigen Jahren auch keine Autos mehr vorbei. Aber gebacken wird immer noch. Brot braucht der Mensch immer. Und Plunderteilchen.

Vieles ging den Bach runter. Aber nicht alles. Die Zechenkaue am Ende der Straße, die ich zeitlebens nur als Kulturzentrum kennengelernt habe, existiert noch. Wo sich früher die Bergleute umzogen, geben sich jetzt Bands und Kabarettist*innen die Klinke in die Hand. Auf industrielle Lohnarbeit folgte kreative Leidenschaft. Hier wurde nichts verdrängt, sondern schmerzlich aufgerissener Raum neu gefüllt. Der Wandel der Industriegesellschaft, hier war er spürbar.

Aber an uns Kindern ging das zunächst vorbei. Klar, plötzlich stank es im Sommer nicht mehr so beißend, weil hinter dem Bahndamm nicht mehr mit heißem Stahl gearbeitet wurde. Auch die Lkw auf der Straße wurden weniger und das Fahrradfahren damit sicherer. Aber die Schienen im Straßenbett blieben liegen und waren für uns auf unseren Fahrrädern ohnehin viel gefährlicher. Erst später wurde mir klar, welche tektonischen Verschiebungen sich rund um unsere Wiese abspielten.

Das Haus, in dem meine Eltern mit meiner Schwester und mir lebten, wurde Mitte der siebziger Jahre zwischen die damals noch florierenden Betriebe gesetzt. Wer auf die Stadtpläne des Ruhrgebiets guckt, der kann erkennen, dass die alten Fabrikgelände die Zentren der Stadtteile ausmachten. Heute gruppieren sich die Viertel deshalb oft um Brachen oder neu genutzte Kerne ehemals industrieller Architektur. Dort, wo wir wohnten, war es noch mal anders. Es wirkte ein bisschen so, als hätte jemand eine Tüte mit allen Bestandteilen eines vernünftigen Stadtteils ausgekippt und dann einfach so liegen gelassen. Alle Versuche, hier später Ordnung zu schaffen, haben an diesem Durcheinander wenig geändert. Hier gab es kein leeres Zentrum zu füllen, sondern immer wieder neue Zwischenräume zu bespielen.

In diesem städtebaulichen Durcheinander bin ich groß geworden. In einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung mit einem denkbar unsinnigen Grundriss. Mehr Flur als Wohnräume. Die winzige Küche war das halbe Zimmer. Immerhin gab es einen großen Balkon, der nach Süden ging. Umziehen – und damit vielleicht sogar je ein eigenes Zimmer bekommen –, das wollten meine Schwester und ich aber auch nicht. Die Freund*innen in der Nachbarschaft waren wichtiger und nicht zuletzt die große Wiese, dieser unbestimmte, zweckfrei daliegende Raum, den wir Tag für Tag mit unseren wirren Ideen, kühnen Träumen füllen konnten. Die Wiese lachte für uns. Sie war unsere Welt!

Aufwachsen in der »Brennstoffdemokratie«

Doch es gab nicht nur die Welt unten auf der Wiese. Es gab auch noch die Regale meiner Eltern mit vielen Büchern im Flur und ein paar Schallplatten im Wohnzimmer. Auch hier waren spektakuläre Entdeckungen möglich. Zum Beispiel in dem dreibändigen Lexikon von 1962 aus dem Dudenverlag, das meine Eltern sich Ende der sechziger Jahre zu ihrer Hochzeit gekauft hatten. Als ich in der Schule ein Referat über meine Heimatstadt halten musste, habe ich hier mit der Recherche begonnen. Der Eintrag, den ich fand, war damals gut zwanzig Jahre alt. Ich las, dass Gelsenkirchen 389000 Einwohner hatte, dass die Stadt eine der größten Kohlenstädte Europas war und eine vielseitige Industrie besaß. Erst später fand ich heraus, dass Ende der sechziger Jahre angeblich nirgends in Europa mehr Stahl gekocht wurde als in den Hochöfen meiner Heimatstadt. Und natürlich wusste ich um die sieben Meisterschaften des FC Schalke 04 in den dreißiger bis fünfziger Jahren. Doch als ich das Referat schrieb, war die Einwohnerzahl wenige Jahre vorher unter 300000 gefallen, die schwarzen Fahnen der Bergleute, die gegen Zechenschließungen demonstrierten, waren allgegenwärtig. Der letzte Hochofen in der Stadt war bereits gesprengt, und Schalke 04 pendelte zwischen der ersten und der zweiten Liga.

Da gab es offensichtlich viel beeindruckende Vergangenheit. Die Gegenwart hingegen erforderte einiges an Trotz und Phantasie. Dass es mit unserer Stadt nicht zum Besten stand, blieb uns Jugendlichen nicht verborgen. Jedes Jahr aufs Neue wurde über die Finanzierbarkeit des Theaters, des Schwimmbads oder auch nur der Straßenbeläge diskutiert. Es kursierte der Witz, man solle doch die Ortseingangsschilder abmontieren, da man am Zustand der Straßen schon merken würde, dass man in Gelsenkirchen sei. Und wenn wir im Urlaub an die Ostsee fuhren und durch unser »dat« und »wat« sofort zu erkennen gaben, woher wir kamen, ernteten wir mitleidige Blicke. Denn unsere Sprache galt nicht als Dialekt, sondern als Ausweis mangelnder Bildung.

Mein Vater sagte, in solchen Momenten musst du das Kreuz fest durchdrücken. Er war nicht nur in Gelsenkirchen aufgewachsen, sondern er hatte auch das Ruhrgebiet nie verlassen. Er erinnerte uns Kinder daran, dass hier in der Region die Industrie stand, die alle in Deutschland »am Kacken« gehalten hätte, wie er es rustikal formulierte. Von hier flossen die Mittel in den Länderfinanzausgleich, der den Abschied Bayerns und Baden-Württembergs von der Landwirtschaft ermöglichte. Und hierher kamen in den Trümmern der Nachkriegszeit sogar die Schauspieler*innen der Hamburger Theater, um ihre Kunst gegen Kohle und etwas Wärme zu tauschen. Wie er es wohl gefunden hätte, wenn er noch mitbekommen hätte, dass sein Sohn später einmal als Senator für eben diese Theater in Hamburg zuständig sein würde?

Doch damals ging es um etwas anderes. Um die Gewissheit, dass es keinen Grund gebe, sich bemitleiden zu lassen, nur weil man aus dem Ruhrgebiet kommt. Aus einer Gegend, in der schon der Kaiser keine Universitäten und keine Kasernen haben wollte, weil hier gearbeitet werden sollte. Aus einer Gegend, die schon ein Schmelztiegel der Kulturen war, als andere sich in Deutschland noch in homogene Kulturphantasien verstiegen. Aus einer Gegend, in der Özgür und Jakub selbstverständlich Teil meines Freundeskreises waren. Hier gab es vielleicht keine alten Kirchen, Schlösser oder Museen, dafür hatten wir Paläste der Arbeit, von denen viele bereits dichtgemacht wurden und langsam verfielen. Ihre Wiederentdeckung als romantische Tourismusattraktionen kam erst einige Jahre später. Aber noch erinnerten sich die meisten: Ohne das Ruhrgebiet wäre der Wohlstand Deutschlands nicht entstanden. Und das war nichts Abstraktes, sondern das Werk vieler Menschen, die dafür jeden Tag hart arbeiteten und daraus ihren Stolz zogen.

Hätte ich damals schon Georg Kreislers bitterböse Ode Gelsenkirchen gekannt, hätte ich das alles vielleicht besser verstanden. Den Stolz. Den Trotz. Und auch den latenten Minderwertigkeitskomplex. Der Wiener Liedermacher dichtete schon 1958, als Schalke zum vorerst letzten Mal deutscher Fußballmeister wurde: »Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / Herrliche Stadt der großdeutschen Kohlenbergwerkindustrie / Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen! / In unserer einzigartigen Brennstoffdemokratie! / Lieblich schweben durch die Luft die schwarzen Dämpfe / Und mit heiterem Gesang / Nimmt man Kohlen in Empfang / Wer zu lang dort lebt, bekommt beim Atmen leichte Krämpfe / Aber wer lebt dort schon lang?«3 Der schwarze Humor des österreichischen Kulturbürgers ließ kein gutes Haar an der schmucklosen proletarischen Gegenwart des montanindustriellen Ruhrgebiets. Als Kreisler das Lied 1961 im Fernsehen sang, beschwerte sich die Gelsenkirchener Stadtspitze. So despektierlich wollte man sich nicht porträtiert sehen. Der Sender entschuldigte sich. Denn das gehörte schon damals dazu. Ganz wie mein Vater es uns später in den Ferien lehrte: Wenn dich jemand anmacht und deine Heimat angeht, dann drückst du das Kreuz durch und wehrst dich.

Der spätere langjährige Kulturdezernent von Gelsenkirchen Peter Rose, mit dem mein Vater viele Jahre lang jeden Samstag in einer Schulturnhalle Tennis spielte, hat dieses Lied und seinen Dichter einige Jahre später in Schutz genommen. »Hier hat die Kunst als die Substanz der Kultur ein Gemeinwesen erschlossen und in eine die Sinne und den Verstand anregende Form gebracht. Das nenne ich ›Kunstwirken‹«, sagte der Sozialdemokrat lange nach seiner Amtszeit in einem Interview.[16]

Und so weit entfernt von der Wahrheit war die aus Wien herüberwehende Satire ja auch nicht. Denn davon redete man in meiner Kindheit in den siebziger und achtziger Jahren tatsächlich noch: von der Wäsche, die beim Trocknen auf den Balkonen grau wurde. Von den Verwandten, die früh an der Staublunge und noch früher am Krebs starben. Von den Tagen, in denen unsere Fußgängerzone zwar auch schon hässlich, aber immerhin noch umsatzstärker als alle anderen in der ganzen Republik war. Vom schönen alten Rathaus und vom Bahnhof, die einem verwirrten Verständnis von Moderne weichen mussten und an deren Stelle hässliche gelbe und grüne Klötze gestellt wurden. Vom nachbarschaftlichen Kampf um die ebenfalls vom Abriss bedrohten Bergarbeitersiedlungen, die die Bewohner*innen in kleine Idyllen verwandelt hatten. Überall war da diese trotzige Mischung aus Stolz und Melancholie.

Und dann war da jemand wie Peter Rose. Er hat von 1975 bis 2000als Dezernent in Gelsenkirchen gewirkt, zuständig für Schulen und Kultur. Er hat gekämpft, als der Strukturwandel die Stadt so richtig hart traf, hinter dem sich ja kein Wandel zum Besseren, sondern vor allem der Verlust des Wohlstandes verbarg. Als er in der Stadt Mitte der siebziger Jahre ins Amt kam, hatte sie 60000 Einwohner weniger als noch zu Zeiten der Kreisler’schen Satire. Für mich wird es immer mit Peter Rose verbunden bleiben, dass meine Heimatstadt ihr Musiktheater behalten hat, dass sogar neue Kulturzentren eröffnet wurden, getragen von dem Bewusstsein, dass die Kultur das Fundament einer Gesellschaft und ihrer Politik ist – und dass es unsere Aufgabe ist, sie nicht bloß als nettes Ornament zu begreifen, sondern als das Wesentliche. Das hat Rose nicht in Sonntagsreden gepredigt, sondern in sehr praktischer Politik konkret umgesetzt.

Das Musiktheater am Eingang zur Innenstadt war dafür das deutlichste Symbol. Dieses Haus war ganz anders als die meisten anderen in meiner Heimatstadt. Es war nicht bloß praktisch und funktional, sondern der Architekt Werner Ruhnau hatte hier in enger Zusammenarbeit mit Künstlern wie Yves Klein oder Jean Tinguely einen Raum entwickelt, der den Bewohner*innen meiner Heimat Luft zum Erleben, Denken und Träumen geben sollte. Schon als Kind war ich fasziniert von diesem großen gläsernen Bau aus den fünfziger Jahren. Die riesigen, unendlich blauen Schwammreliefs in den Foyers, die Yves Klein für das Theater entworfen hatte, haben mich beim ersten Besuch so sehr überwältigt, dass ich bis heute zwar dieses Gefühl aus den Foyers noch spüre, wenn ich mich zurückerinnere, aber keine Ahnung mehr habe, welches Stück wir danach auf dem Schulausflug gesehen haben. Die blauen Foyerflächen haben auch den Komponisten Bernd Alois Zimmermann so sehr beeindruckt, dass er sie in seiner Komposition Photopsis verarbeitet hat, die in Auszügen viele Jahre später zur Eröffnung der Elbphilharmonie in Hamburg erklang. So schloss sich für mich ein Kreis.

Die Kultur des Ruhrgebiets hat ihr ganz eigenes Gepräge. Sie hat nichts gemein mit dem Repräsentationsgestus der alten Bürger- oder Residenzstädte, sondern ist viel tiefer im Alltag verwurzelt. Entsprechend begeistert können die Menschen sein, wenn sie das Gefühl haben, dass jemand versucht, zu verstehen was den besonderen Reiz dieser Gegend ausmacht.

So war das immer im Ruhrgebiet. Lauwarm gibt es nicht. Entweder man ist empört oder begeistert, dafür oder dagegen. »Die Mentalität der Menschen im Ruhrgebiet, die über Generationen von harter Arbeit und weichen Gefühlen geprägt zu sein scheint, lässt ganz offensichtlich ihre Stimmungen immer wieder plötzlich wechseln zwischen ›himmelhoch jauchzend‹ und ›zu Tode betrübt‹«, sagt Peter Rose. »Dafür ist der FC Schalke 04 nach wie vor beispielhaft.«[17]

In der Tat ließe sich eine Mentalitätsgeschichte meiner Heimat wohl entlangschreiben an der verworrenen Geschichte des großen Fußballklubs aus Gelsenkirchen. In meiner Jugend dümpelte der Verein im Niemandsland der Bundesliga, stieg auch mal in die 2. Liga ab, kam zurück und kämpfte. Am Spieltag hingen die blau-weißen Fahnen von den Balkonen und Fensterbänken. Lange habe ich geglaubt, dass die blaue Kunst auf den weißen Wänden unseres Theaters auch ein Bekenntnis zum Verein war. Wohl und Wehe des Vereins bestimmten die Emotionen der ganzen Stadt: Kaum waren drei Spiele gewonnen, träumten alle von der Meisterschaft, gingen mal mehr als zwei verloren, flossen die Tränen. Lauwarm gab’s auch hier nicht.

Die SPD war überall

Mit starken Emotionen ist auch die SPD als Partei in meinem Leben verbunden. Sie war in meiner Jugend im Ruhrgebiet quasi überall. In ihr fand der Stolz auf die Region eine Form. Und auch die Genoss*innen selbst waren omnipräsent: Sie waren Vorsitzende im Taubenzüchterverein, kassierten die Mitgliedsbeiträge der Gewerkschaft, organisierten Kurse im deutsch-türkischen Freundeskreis und waren Elternsprecher*innen an der Schule. Sie übernahmen Verantwortung, kümmerten sich, sorgten dafür, dass der Laden lief. Im Kleinen und im Großen. Sie wussten zu arbeiten – in der Fabrik und für die Gesellschaft.

In Bonn war damals der Hamburger Helmut Schmidt Kanzler und hielt das Staatsschiff in kabbeligem Wasser auf Kurs. Sein Vorgänger Willy Brandt war längst zum lebenden Mythos geworden, seine Ziele lagen jenseits der bekannten politischen Gestade. Und damit auch die der Partei, deren Vorsitzender er auch nach seinem Rücktritt als Kanzler blieb. Selbst später, während der bleiernen Zeit der Kohl-Jahre, war im Ruhrgebiet immer klar: Wer eine gerechtere Gesellschaft wollte, der musste zur SPD gehen. Die sozialdemokratische Landesregierung unter Johannes Rau in Düsseldorf war so etwas wie die gute Reserve, sollte es mit CDU/CSU und FDP dann (hoffentlich!) doch nicht weitergehen können. Nachdem Genscher und die FDP Anfang der achtziger Jahre zu Helmut Kohl und der CDU rübergemacht hatten, standen sich in meiner Wahrnehmung zwei klare Alternativen gegenüber: hier Schwarz-Gelb mit wirtschaftsliberalen, unsozialen Phantasien und einem miefigen Gesellschaftsbild. Und da Rot (gegebenenfalls mit ein bisschen Grün) mit einem klaren Plan zum sozial-ökologischen Umbau der Bundesrepublik und freiheitlichen Ideen von Vielfalt und Teilhabe. Dass die anderen regierten, lag in meiner jugendlichen Analyse daran, dass unsere Gesellschaft lieber zurück als nach vorn schauen wollte. Daran, dass sich viele nach einer biedermeierlichen Gemütlichkeit sehnten. Und daran, dass Helmut Kohl 1989 die Chance der deutschen Einheit schneller begriffen hatte als diejenigen, die sie mit jahrzehntelanger Entspannungspolitik überhaupt erst möglich gemacht hatten.

Auch wenn es unter der Oberfläche längst viel komplizierter war, die politische Aufstellung schien klar. Und natürlich ging es hier nicht bloß um das Schicksal einer Partei, sondern um eine Vorstellung von Gesellschaft, um eine kulturelle Alternative. Die SPD war eine Chiffre für den besseren Zustand der Gesellschaft, und entsprechend breit war das Bündnis derer, die für sie (und teilweise auch in sie) eintraten.

Das musste in meinem Alltag nicht groß hergeleitet werden, sondern wurde in Gelsenkirchen einfach gelebt. Theoriediskussionen – so was machten vielleicht »die jungen Leute«, wie hier jede*r unter dreißig genannt wurde. Aber von denen verschwanden die Ambitionierteren nach dem Abitur in Städte, die eine eigene Uni hatten. Hier in der Gelsenkirchener Politik ging es handfester zu. Ob das Versprochene auch gehalten wurde, konnte man im Alltag nachprüfen. Als in den achtziger und neunziger Jahren dann immer mehr Zechen und Hochöfen und Arbeitsplätze verschwanden, als die industriellen Dämme um meine Jugendwiese weggeschwemmt wurden, geriet auch die Sozialdemokratie in Schwierigkeiten. Denn ihre Geschichte war eng mit dieser Industrie verwoben. Und doch dauerte es noch bis 1999, bis die SPD in Gelsenkirchen erstmals eine Wahl verlor. Ein paar Monate danach bin ich weggezogen.

Die beiden Ereignisse hatten nichts miteinander zu tun. Berlin und ein Job-Angebot der Bundes-SPD waren einfach zu verlockend. Aber irgendwie merkte ich schon, dass meine Heimatstadt mir fremd wurde, noch während ich dort lebte. Mittlerweile kann ich mir das anhand der vielen klugen Studien, die über den Niedergang der Industriegesellschaft und ihrer Milieus geschrieben wurden, gut erklären. Damals war das noch eher diffus und intuitiv.

Und es besteht auch kein Grund, die Zeit davor zu verklären: Auch in meiner Jugend war nicht alles gut, ganz und gar nicht. Ausländerhass, Frauenfeindlichkeit und Schwulenverachtung begegneten mir viel zu regelmäßig. Etliche meiner Freund*innen waren eben keine Mitbürger*innen, weil ihnen der Zugang zur vollständigen Teilhabe verwehrt war. Eine Kampagne wie Mach meinen Kumpel nicht an war unbedingt notwendig. Noch Jahre später hat die CDU auch in der Gelsenkirchener Fußgängerzone erfolgreich Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gesammelt. Und die Idee der Gesamtschule, an der alle Kinder gemeinsam lernen sollten, löste wahre Glaubenskämpfe aus. Die gesellschaftlichen Herausforderungen waren groß – und sie umfassten sowohl Fragen der materiellen Verteilung als auch der kulturellen Anerkennung. Aber es gab damals bei vielen, auch bei mir, noch das Vertrauen, dass Politik daran etwas ändern, die Verhältnisse verbessern könne. Im Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen, genoss die Sozialdemokratie bei vielen genau dieses Vertrauen.

Als ich 2019 versucht habe, die aktuellen Probleme in einem kleinen Buch zu ordnen,[18] um sie selber besser zu verstehen, meldete sich Peter Rose nach vielen Jahren bei mir, längst im Ruhestand, aber erkennbar bewegt von den Ereignissen und dem Schicksal seiner Partei. Seine Überlegungen gipfelten in einem Plädoyer für die praktische Politik vor Ort. Er schrieb mir neben einigen freundlichen Worten auch eine deutliche Mahnung ins Stammbuch: »So war etwa die Kommunalpolitik für die ›alte SPD‹ immer so etwas wie eine ›Schule der Demokratie‹ und der praktischen politischen Bildung, die unter dem Label ›Staatspartei‹ zunehmend dem Oktroi der Landes- und Bundespolitik unterworfen wurde und seitdem kaum noch eigene Spielräume hat, um anstehende Probleme ›vor Ort‹ anpacken und lösen zu können, weil die staatliche Gewalt, in Form einer immer perfekteren Bürokratie, nicht nur überall ›den Finger drin‹ hat, sondern auch ›den Daumen drauf‹ hält.« Lokale Politikvermittlung und Politikgestaltung – das war für Rose das Entscheidende. Und das sei zunehmend verloren gegangen.

Vielleicht ist da etwas dran. Vielleicht hat sich die SPD in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr zur Staatspartei entwickelt und ihren Kern als kulturell verankerte Bewegungspartei vergessen. Vielleicht hat sie sich zu sehr auf das Funktionieren der staatlichen Systeme konzentriert und zu wenig auf die Begründung des lebensweltlichen Sinns. Vielleicht hat sie darüber auch den Kontakt zum Alltag der Menschen verloren, wenn sie nicht mehr von einer Wiese und ihren Geschichten erzählen kann, sondern bloß noch von den rechtlichen Rahmenbedingungen der Genehmigung einer Grünfläche.

Der heiße Scheiß von gestern

Seit meinen Jugendjahren im Ruhrgebiet ist vieles passiert. So einiges ist kaputtgegangen. Dass die SPD im September 2021 bei der Bundestagswahl wieder zur stärksten Partei des Landes wurde, hat auch mit der Schwäche der übrigen Parteien zu tun. Und mit der Stärke ihres Kandidaten. Aber das Fundament der Partei, die ehedem für 40 Prozent der Stimmen bei einer Bundestagswahl und sogar für bis zu 60 Prozent in meiner Heimatstadt gut gewesen ist, ist schmaler und dünner geworden.

An die Stelle des damaligen Vertrauens sind lange Zeit offene Ablehnung und – noch schlimmer – Gleichgültigkeit getreten. SPD? Die war – so schien es – früher mal wichtig, aber das ist vorbei. Diese Kämpfe sind gefochten. Heute geht es um anderes. Der Blick auf die Sozialdemokratie ist oftmals nicht mal mehr nostalgisch, sondern manchmal nur noch ironisch. »Mach mal wie früher, das war so schön«, singt Jan Delay 2020 in seinem Song Gestern und fährt fort: »Maggi-Würze, SPD, Halogen / Ey, sorry ne, nicht für mich / Ich guck nach vorn, Baby, und nicht zurück / Tut mir leid, liebe Brüder und Schwestern / Nichts ist so kalt, wie der heiße Scheiß von gestern.«4 Eingezwängt zwischen wirtschaftswunderlichem Liebstöckel und dem kühlen Licht der Achtziger erscheint die Sozialdemokratie dem Sänger nicht mehr wie die Verheißung einer besseren Zukunft, sondern allenfalls wie eine zerkratzte Greatest-Hits-Platte, die man nur in sehr melancholischen Momenten noch mal auflegt. Und Jan Delay ist damit nicht allein. Der Abgesang auf die SPD ist zu einem eigenen Genre geworden.

In den Siebzigern hatte Rudi Carrell gefragt, wann es denn mal wieder richtig Sommer werde, und der Verantwortliche für den Dauerregen war schnell ausgemacht: »Mein Milchmann sagt: Dies Klima hier, wen wundert’s / Denn schuld daran ist nur die SPD«.5 Das war immerhin noch Ausdruck von Stärke und durchaus so etwas wie eine Ehrenbezeugung. Denn selbst das Wetter, das damals noch umstandslos mit »Klima« gemeint war, bestimmte zu jener Zeit offensichtlich die SPD. Aber schon 1981 – Helmut Schmidt war noch Kanzler – klang Heinz Rudolf Kunzes Bestandsaufnahme eher resignativ als kämpferisch: »Wir sind jetzt mündig und wir haben nichts zu sagen. / Wir wählen selbstverständlich weiter S.P.D. / Wir haben keinen Grund, uns wirklich zu beklagen. / Der Sozialismus täte uns ein bisschen weh. / Wir kommen langsam in das glatzenwunde Alter, / das zwecks Karriere ein Bekenntnis nötig macht.«6 Wer den Song hört, spürt schnell: Ein leidenschaftliches politisches Bekenntnis klingt anders. Live setzte Kunze schon damals oft ein »Na ja« hinter diese Zeilen. Und als er den Song achtundzwanzig Jahre später erneut aufnahm, wählten die von ihm Besungenen »mittlerweile locker FDP«.

Für Tom Liwa und seine Band Flowerpornoes wiederum war es mit der Partei »schon in Godesberg vorbei«, und 2016 singt er: »Ein Interview auf Tele 4 mit Sigmar Satan Gabriel / Reicht, um mich neu zu radikalisieren«.7 Der Sänger will »mit Schatzi« zur KP, zur kommunistischen Partei. Ob es den beiden da besser ergeht, verrät uns der Sänger nicht. Glauben mag ich es nicht. Aber sollte sein Protagonist von der SPD mehr Klassenkampf erwarten, dann dürften Hopfen und Malz tatsächlich verloren sein.

Auch die Antilopen Gang greift eine uralte Denunziation wieder auf und fragt im Herbst 2021: Wer hat uns verraten? Darauf reimt sich natürlich »Sozialdemokraten«, und so schallte es in den zwanziger Jahren von den Kommunisten herüber zur SPD, als sich die junge Weimarer Republik zwischen den Extremen zerrieb. Hundert Jahre später schildern die rheinischen Rapper Schicksale, die in einem Engagement bei der SPD enden. So zum Beispiel die Geschichte von Wolfgang G. aus Marburg-Weidenhausen, der sich als RAF-Terrorist versucht, dann gefasst wird und im Knast zu Sinnen kommt: »Als er wieder draußen war, lief es gar nicht schlecht / Er wurde Gastronom und verdiente so sein Geld / Blieb politisch interessiert und hat in seinem Stadtbezirk / Erfolgreich bei der Kommunalwahl kandidiert / Jetzt ist er bei der SPD, jetzt ist er bei der SPD / Jetzt ist er bei der SPD, das tut doch im Herzen weh«,8 heißt es in dem Spottgesang, der die Partei als Ort verlorener Träume und halbherziger Kompromisse brandmarkt. In einer weiteren Geschichte endet ein schlechter Drogentrip beim Fusion Festival ebenfalls in der SPD.

Spötteleien dieser Art gibt es nicht nur im Pop, man hört sie auch im täglichen Diskurs. Und es fällt vielen nicht schwer einzustimmen: Die Kritik kostet schließlich nichts. Eine abfällige Bemerkung über die Sozialdemokratie scheint in progressiven Kreisen als Ausweis besonders kritischer Haltung zu gelten. Mühelos lassen sich Dutzende Beispiele aus Leitartikeln, wissenschaftlichen Studien oder zeitgeistigen Kommentaren zitieren. Die Energie, die aufgewendet wird, um die Enttäuschung über die Partei greifbar zu machen, würde ausreichen, die ökologische Transformation unseres Energiesektors zu organisieren.

Doch wenn man genauer hinsieht, erscheint diese Kritik erstaunlich denkfaul. Sie konstruiert eine Radikalität gesellschaftlicher Veränderung, die niemals sozialdemokratischer Politik entsprach. Der SPD geht es um die behutsame und gemeinschaftliche Verbesserung der Verhältnisse, nicht um den von einer kleinen aufgeklärten Gruppe für alle organisierten Umbau. Daran, dass es nur die eine richtige Wahrheit gibt und den einen richtigen Weg, den zu begehen man die Menschen notfalls zwingen müsste – daran haben Sozialdemokrat*innen nie geglaubt. Sie haben versucht zu überzeugen, Mehrheiten zu gewinnen und beharrlich mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität zu leben.

Es verwundert nicht, dass dieser bewusste Verzicht auf extreme und radikale Positionen und Strategien bei ungeduldigeren Zeitgenoss*innen für Kritik und Häme sorgt. Zugleich aber hat sich diese moderate Strategie immer wieder als erstaunlich erfolgreich erwiesen. Teilweise in den unwahrscheinlichsten Situationen. So auch im Herbst 2021, als die SPD aus der Bundestagswahl als stärkste Kraft und Olaf Scholz als Kanzler hervorging. Lange Zeit hatte kaum jemand in der Öffentlichkeit mit einer Koalition gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen und der FDP gerechnet. Dabei lag dieses Wahlergebnis programmatisch durchaus in der Luft.

Denn die Fragen, derentwegen sich bereits im 19. Jahrhundert Arbeiter*innen und Handwerker*innen in einer Partei zusammenfanden, sind auch heute noch aktuell. Ganz zu schweigen von der bestechenden Idee, die Solidarität und die Vernunft gesellschaftlicher Vielfalt in den Debatten einer Partei zu organisieren. Auf der Grundlage zwischenmenschlichen Respekts, gemeinsamer Werte und einer Vorstellung von einer besseren Gesellschaft. Gerade jetzt, wo uns der Laden, den wir Gesellschaft nennen, auseinanderzufliegen droht, brauchen wir das.

Gegen die Nostalgie

Meine Eltern, insbesondere mein Vater, hatten etwas von Beppo Straßenkehrer. Er besaß jenen stoischen Glauben, dass sich die Dinge schon irgendwie bewegen und bewältigen ließen, wenn man sich nur nicht beirren ließe. Wie schön das gewesen sein muss. Und wie schade, dass ich ihn nicht mehr fragen kann, wie er sich diesen Glauben bewahrt hatte. Wenn ich jetzt an die Wiese meiner Kindheit zurückdenke, dann fällt mir auf, wie sehr meine Zuversicht sich seit damals verändert hat. Ich merke, dass ich aktiv gegen die Nostalgie angehen muss, die sich breitzumachen droht. Dabei will ich ja gar nicht zurück, sondern nach vorne – hin zu einer Zeit, in der andere Kinder unbeschwert auf einer Wiese stehen können.

Als ich im Frühjahr 2020 mitten in einem Corona-Lockdown mit meiner Schwester zum letzten Mal auf dem Balkon der Wohnung stand, in der wenige Wochen zuvor meine Mutter einsam gestorben war, da sprang mich die Trostlosigkeit der Szenerie plötzlich mit aller Macht an. Hinter der Backstube brummte ein Generator, auf der Wiese standen viel zu viele Spielsachen herum, und wo einst die große Schwarzpappel am Bahndamm wuchs, klaffte ein Loch. Gar nicht leicht, in solch einer Umgebung zu entscheiden, welche Gegenstände der Vergangenheit man festhalten möchte. Private Trauer und gesellschaftlicher Verlust kamen sich in diesem Moment viel zu nahe. Und dabei wusste ich damals noch gar nicht, was Gelsenkirchen in diesem Jahr noch für mich in petto haben würde. Nur wenige Monate später würde ich wieder in die Stadt kommen müssen, um meine Schwester zu beerdigen, für die dieser Schock einfach zu viel gewesen war. Der viel zu frühe Krebs kam zurück und beendete ein Leben, an dessen Feuer noch so viele sich hätten wärmen können.

Das nicht ahnend, regte sich schon in diesem Moment großer Leere tief in mir ein bislang ungekannter, prinzipieller Widerstand. Dagegen müssen wir doch etwas tun, ging es mir durch den Kopf. So darf es doch nicht weitergehen! Wir müssen doch die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft nähren, auf ein vernünftigeres Miteinander, auf eine Zeit, in der niemand voller Angst allein zu Hause sterben muss. Wir müssen doch einen Rahmen setzen, in dem wir beieinanderbleiben, weil wir nur gemeinsam die großen Aufgaben der Zukunft bewältigen können. Und dafür brauchen wir ein politisches Gefäß.

Meine Eltern wären zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches gerade einmal achtzig Jahre alt, meine Schwester sogar nur fünfundvierzig. Doch sie sind nicht mehr da. Das ist ein Umstand, der mich immer wieder hart daran erinnert, dass die Dinge eben nicht so planbar sind, wie ich mir manchmal einrede, und dass ich immer damit rechnen sollte, dass etwas dazwischenkommt. »Jeder Tag ist ein Geschenk, er ist nur scheiße verpackt« – diese Songzeile von Kid Kopphausen aus dem Jahr 2013 hat heute einen tieferen Klang als zu dem Zeitpunkt, zu dem ich sie das erste Mal gehört hatte.9 Ich habe mittlerweile lernen müssen, dass ich den nächsten Tag tatsächlich nicht als einen selbstverständlich guten Tag, ja nicht einmal überhaupt erwarten darf. Auch Nils Koppruch, einer der beiden Köpfe hinter Kid Kopphausen ist, kurz nachdem die Platte erschienen ist, plötzlich und viel zu früh gestorben.

Ich war damals 2020 nach dem Tod meiner Mutter, mitten in der Corona-Zeit, so angefasst, wie man es nur sein kann, wenn eine plötzliche Erkenntnis nicht aus abstrakter Erörterung, sondern aus unmittelbarer Emotion wächst. Und diese leise Wut auf die Verhältnisse hat auch der folgenden Analyse standgehalten. Sie brennt noch immer. Eine gute Freundin hat mich bestärkt, an diesem Schmerz entlang zu erzählen, um Zuversicht und Perspektive zu finden. Und ich sehe tatsächlich keinen anderen Weg – persönlich nicht, aber vor allem auch politisch nicht. Es hat keinen Sinn, das Vergangene zu ignorieren, wenn man in die Zukunft möchte. Ganz egal, ob einen die Vergangenheit einschüchtert oder deprimiert. Diese Gefühle gehören ebenso dazu wie der Stolz auf das, was die Vorangegangenen erreicht haben. An diese Gefühle müssen politische Geschichten heran, wenn sie heute motivieren und begeistern sollen.

Und um das zu verdeutlichen, wühle ich »im heißen Scheiß von gestern« und versuche, die Bruchstücke jener Vision wieder zusammenzufügen, die Helmut Schmidt am liebsten im Mülleimer einer Augenarztpraxis zurückgelassen hätte. Aber nur weil es sich vielleicht kurzfristig besser ohne sie regiert, heißt das noch lange nicht, dass man ohne sie erfolgreich eine Gesellschaft in eine bessere Zukunft führen kann. Und ohne diesen Anspruch hat es die Sozialdemokratie bei allem Realismus und Pragmatismus noch nie gemacht. Treffend hat das mal ein alter Gewerkschafter zusammengefasst, dessen Weisheit mein späterer Chef Franz Müntefering oft zitierte: »Du musst das Leben nehmen, wie es ist, aber du darfst es nicht so lassen.«

Den Schuss hören

Wenn man meine Auslassungen zur SPD der siebziger und achtziger Jahre in Nordrhein-Westfalen liest, könnte man denken, dass ich seit der Schulzeit Mitglied der Partei bin. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Eingetreten bin ich nämlich erst im Jahr 2004, kurz vor meinem 30. Geburtstag, als ich schon beinahe keiner von »den jungen Leuten« mehr war. Damals hatte ich allerdings schon vier Jahre im Willy-Brandt-Haus, in der Berliner Parteizentrale der SPD, gearbeitet, war während des Studiums Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und hatte niemals etwas anderes gewählt, na ja, zumindest fast niemals.

Als ich Mitglied wurde, war ich Pressesprecher von Gesine Schwan, die sich damals um das Amt der Bundespräsidentin bewarb und mit solch einer Energie, solch einem intellektuellen Furor und solch einer menschlichen Leidenschaft durch die Berliner Politikszene fegte, dass sich alle fragten, was denn da gerade passierte. Mein Job war einfach: Ich musste die wohlwollende Verwunderung der Menschen nur befeuern. Und da ich selbst wie angezündet davon war, dass Intellekt und Politik doch zusammengehen können, fiel mir das nicht schwer.

Etwas anderes war es, Gesine Schwans Blick auszuhalten, als sie mich fragte, warum ich denn nicht in der Partei sei. Ich sagte ihr mein Sprüchlein auf, das ich mir in den zurückliegenden Jahren zurechtgelegt hatte und das in der Pointe endete, dass zumindest einer die professionelle Distanz zur Arbeit wahren sollte. Ihre Augenbraue hob sich. Und zum ersten Mal habe ich mir das selbst nicht mehr geglaubt. Gesagt hat sie meiner Erinnerung nach nichts. Aber das musste sie auch nicht. Diese Frau, die immer wieder mit der Parteilinie über Kreuz lag, wusste, dass Distanz in einer Volkspartei nicht nur möglich sein muss, sondern auch möglich ist. Und ich wusste es eigentlich auch. Meine Pose war schon lange hohl. Aber plötzlich fühlte ich es auch. Noch am selben Abend bin ich zum Leiter der Abteilung Organisation gegangen, habe mir einen Aufnahmeantrag abgeholt und ihn ausgefüllt.

Dass es aber so lange dauerte, bis ich dieses politische Bekenntnis abgelegt habe (und so feierlich, wie das Wort klingt, war es für mich tatsächlich), hat eine ganze Reihe von guten und weniger guten Gründen. In erster Linie hatte es etwas damit zu tun, dass es immer mein Traum war, Journalist zu werden. Ich fand, dass es nicht gut zusammenpasst, wenn man einerseits unabhängig berichten will, sich aber andererseits parteipolitisch festgelegt hat. Erst recht nicht in einer Stadt wie Gelsenkirchen, in der damals die Presse nach fast einem halben Jahrhundert absoluter SPD-Mehrheiten das einzige Korrektiv hätte sein können.