Die Zerstörung - Carsten Brosda - E-Book

Die Zerstörung E-Book

Carsten Brosda

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Beschreibung

Klar wie kaum jemand zuvor analysiert Carsten Brosda die Ursachen für das aktuelle Abrutschen der großen Volksparteien in der Wählergunst. Er skizziert die neue, oft kompromisslose politische Landschaft zwischen rechter Fremdenfeindlichkeit und grünem Kampf gegen den Klimawandel, und den wachsenden Einfluss der sozialen Medien, in denen zur Zerstörung der Volksparteien aufgerufen wird. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahren einiges kaputt gegangen: Zerstörung bedeutet aber auch, dass der Blick frei wird auf die Fundamente unserer Demokratie. Kann demokratische Politik ohne Kompromisse und Ausgleich auf Dauer überhaupt erfolgreich sein? Wie können wir der Komplexität der Aufgaben, die vor uns liegen, gerecht werden? Gibt es doch noch einen Platz für die "Volksparteien" in Deutschland? Und wie kann die Zukunft der SPD erfolgreich gestaltet werden? "Wenn das 19. Jahrhundert im Zeichen des Kampfes um die Freiheit stand und das 20. Jahrhundert von Konflikten um die gerechte Verteilung von Teilhabe und Ressourcen geprägt war, wird das 21. Jahrhundert zunehmend von der Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt bestimmt werden."

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Carsten Brosda

Die Zerstörung

Warum wir für den gesellschaftlichen Zusammenhalt streiten müssen

Hoffmann und Campe

Das Vorwort

Kurz vor der Europawahl im Mai 2019 war viel von Zerstörung die Rede, nachdem der YouTuber Rezo ein 55-minütiges Video mit dem Titel »Die Zerstörung der CDU« ins Netz gestellt und damit binnen weniger Tage mehr als elf Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht hat. In dem rasant geschnittenen und gesprochenen Clip nimmt Rezo die Politik der regierenden Parteien auseinander und fordert seine Follower auf, ihnen bei der anstehenden Wahl die Stimme zu verweigern. CDU, CSU und zunächst auch die SPD schienen unfähig, dem Furor der Kritik und den ausgelösten Schockwellen etwas entgegenzusetzen. Die Union drehte (angeblich) ein Antwortvideo mit dem jungen Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor, um es dann lieber wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen und stattdessen ein elfseitiges PDF-Dokument ins Netz zu stellen. Angesichts der kleinen Kostprobe, die Amthor später in einer Talkshow nachlieferte (»Hey, Rezo, du alter Zerstörer …«[1]), war das vielleicht trotz der allzu offensichtlichen Inkongruenz des Formats nicht die schlechteste Wahl.

Für die SPD boten Generalsekretär Lars Klingbeil, Juso-Chef Kevin Kühnert und der Europaabgeordnete Tiemo Wölken in einem improvisierten Video ein Gespräch und eine konstruktive Auseinandersetzung an. Die öffentliche Debatte aber schien für ein paar Tage aus den Fugen, beschäftigte sich mit der Frage, ob ein YouTuber so Stellung beziehen dürfe, wie man darauf zu reagieren habe und welche Auswirkungen das Video und der Nachfolgeclip, in dem über 90 weitere bekannte YouTuber Rezos Aussagen unterstützten, auf die Wahl haben werden.

Die aufgeregten Diskussionen rund um Rezo und seinen Versuch der »Zerstörung der CDU« lassen sich ohne weiteres als stellvertretend für eine Entfremdung zwischen Politik und Teilen der Gesellschaft auffassen, die auch anderweitig zu beobachten ist. Ähnliche Debatten gab es kurz zuvor schon über die Rechte der Schülerinnen und Schüler auf den #fridaysforfuture-Demonstrationen oder über die vehement vorgetragene Kritik an der europäischen Urheberrechtsrichtlinie. In allen Fällen ist es augenscheinlich nicht gelungen, eine inhaltlich ernsthafte Debatte seitens der Politik zu führen. Vielmehr gab es die üblichen Reflexe auf der kommunikativen Metaebene, die zum inhaltlichen Kern der offensichtlichen Wut der zivilgesellschaftlichen Kritik nicht vorzudringen vermochten, sondern die Zerstörung eher als Störung des politisch-kommunikativen Routinemodus betrachteten.

Diese strategielosen Reflexe gipfelten in einer bemerkenswerten Sentenz der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die in einer Pressekonferenz begann, über neue Regeln zur Beschränkung der Meinungsfreiheit im Netz zu sinnieren. »Was wäre eigentlich in diesem Lande los, wenn eine Reihe von, sagen wir, 70 Zeitungsredaktionen zwei Tage vor der Wahl erklärt hätten, wir machen einen gemeinsamen Aufruf: Wählt bitte nicht CDU und SPD. Das wäre klare Meinungsmache vor der Wahl gewesen«, sagte Kramp-Karrenbauer kurz nach der Europawahl. »Und die Frage stellt sich schon mit Blick auf das Thema Meinungsmache, was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich, ja oder nein.« Dies sei eine fundamentale Frage, »über die wir uns unterhalten werden, und zwar nicht wir in der CDU, mit der CDU, sondern, ich bin mir ganz sicher, in der gesamten medienpolitischen und auch demokratietheoretischen Diskussion der nächsten Zeit wird das eine Rolle spielen«.[2]

In der Tat braucht es eine Diskussion – allerdings weniger darüber, wie man eine hergebrachte Vorstellung massenmedialer Öffentlichkeit sichert, sondern darüber, wie demokratische Kommunikation unter veränderten digitalen Bedingungen aussehen kann. Vor allem aber darüber, wie die Parteien politisch – und das heißt inhaltlich – auf die Leidenschaft der Kritik reagieren. Das gelingt nämlich nicht, indem sie den Diskurs auf das Nebengleis der Kommunikationsbedingungen im Land verschieben und dort mit den üblichen strategischen Erwägungen traktieren. Es braucht stattdessen Respekt und Ernsthaftigkeit in der Sache und den Willen, ebenso leidenschaftlich in das Gespräch darüber einzutreten, welche Rolle demokratische Politik, Parteien, Politikerinnen und Politiker künftig spielen sollen, welche Erwartungen sie zu erfüllen haben und wie echte gesellschaftliche Teilhabe aussehen kann.

Die Fragen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, sind nämlich in der Tat zu groß, um sich in formalem Geplänkel zu verlieren, und sie rechtfertigen erst recht nicht den Versuch, althergebrachte Machtstrukturen gesetzlich zu fixieren. Ebenso sollten wir aber kurz innehalten, bevor wir den Modus der Zerstörung zum Prinzip einer neuen Politik erklären, die sich über das Versagen der Verantwortungsträgerinnen und -träger so sehr aufregt, dass uns jegliche Legitimation demokratisch repräsentativer Politik abhanden zu kommen droht.

Dieser Text kann nicht mehr sein als ein erster, zwangsläufig unzureichender Versuch, sich diesen Fragen dezidiert aus der Politik heraus zuzuwenden. Ein Buch zu schreiben, um auf die aktuelle Entwicklung unserer demokratischen Kommunikation und die allenthalben spürbare Verschiebung der Machttektonik in unserer Republik zu reagieren, birgt schon in sich einen Widerspruch. Schließlich scheint es doch gerade die alte, lineare und räsonierend abwägende Logik zu sein, die mit den neuen Möglichkeiten digitaler Direktheit nicht mehr Schritt zu halten vermag. Andererseits zwingt ein Buch schon aufgrund seiner Produktionsbedingungen dazu, Gedanken zu ordnen und zu reflektieren. Dabei werden zwar auch wissenschaftliche Texte als Quellen herangezogen, aber dieser Essay kann nicht den Anspruch einer sozialwissenschaftlichen Analyse der Lage erheben, sondern muss sich damit begnügen, diskursive Schneisen zu schlagen und plausible Zusammenhänge aufzuzeigen, die für all jene politisch Interessierten aufschlussreich sein mögen, die sich über die Zukunft der demokratischen Debatte im Allgemeinen und der Volksparteien im Besonderen Gedanken machen. Denn schließlich richtet sich die Kritik ja an alle ehemals großen Parteien der Bundesrepublik – und oftmals sogar in erster Linie an die Unionsparteien.

Es darf die Leserin oder den Leser aber nicht verwundern, dass dieses Buch neben den grundsätzlichen und allgemeinen Betrachtungen im weiteren Verlauf insbesondere auch ein Ansporn für all diejenigen sein soll, die derzeit daran arbeiten, die Zukunft der SPD als sozialer und demokratischer Volkspartei der linken Mitte zu sichern. Denn darum geht es in diesem Essay in letzter Konsequenz auch: auf der Basis einer halbwegs gründlichen Analyse der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation Wege aufzuzeigen, auf denen sich nicht nur der abstrakte Typus der Volkspartei, sondern auch ganz konkret die SPD erneuern kann, um ihre Zukunft als gestaltende politische Kraft der Bundesrepublik zu sichern. Ich bin fest davon überzeugt: Sie wird gebraucht – nicht nur weil sie unermessliche historische Verdienste hat, sondern weil sie als solidarische und programmatische Volkspartei alle Qualitäten in sich trägt, die es braucht, um unter den komplexen Bedingungen moderner Gesellschaften leidenschaftlich vernünftige Politik zu machen.

Aber was ist da eigentlich passiert, im Mai 2019? Glaubt man dem Grimm’schen Wörterbuch, bedeutet der Begriff Zerstörung »etwas durch stochern mit einem werkzeug aus seinem zusammenhang bringen, also etwa […] ein feuer, indem man die holzscheite auseinanderstöszt […], während ein feuer stören es durch stochern in hellen brand bringen bedeutet«.[3] Diese metaphorische Ebene ist nahe dran an dem, was seit jenen späten Maitagen im Lande los ist. Die demokratische Öffentlichkeit, die Tektonik des Parteiensystems und die Vorstellungen von ordentlicher demokratischer Politik und ihrer Legitimation sind vielleicht nicht in »hellen brand« geraten, aber sehr wohl aus ihrem Zusammenhang und damit aus ihrem etablierten Gefüge gebracht worden. Darin liegt eine außerordentliche Chance, die Fundamente unserer Demokratie zu besichtigen, zu bewerten, wo nötig zu erneuern und wo möglich zu festigen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Debatte annehmen und ins Konstruktive wenden. Dass etwas aus dem Zusammenhang gebracht wurde, bietet die Chance, den Routinemodus zu verlassen, den zerstörten Zusammenhang auf seine Plausibilität zu prüfen und eine neue Fügung zu vereinbaren. Es geht also aktuell nicht bloß darum, wissenschaftliche Erkenntnis in politisches Handeln zu übersetzen, wie jene Kritik nahelegt, die der Politik zu Recht vorwirft, die Augen vor manch offensichtlicher Entwicklung zu lange verschlossen zu haben. Sondern es geht auch darum, politisch und gesellschaftlich die Fähigkeit wiederzuerlangen, sich über die Herausforderungen der Zeit und die richtigen Lösungsstrategien konstruktiv zu streiten, um am Ende in einem demokratischen Verfahren einen gemeinsamen Handlungspfad zu vereinbaren, der Geltung beanspruchen kann.

Nach jeder Zerstörung folgt der Wiederaufbau. Und wir haben aktuell einiges mehr wieder aufzubauen als bloß das Vertrauen in die Politik der großen Parteien. Es geht auch um die Grundfeste des öffentlichen Gesprächs unserer Demokratie, um die großen Konflikte über den Umgang mit kultureller Vielfalt und globalen Bedrohungen, um die Bewältigung der ökologischen Krise und um die Sicherung der Freiheit als der Grundlage des vernünftigen Gemeinsinns unserer Gesellschaft. Diese grundlegenden Fragen gemeinsam zu klären, schafft die Voraussetzung dafür, über die Mechanismen des Politischen, der Parteien und ihrer unterschiedlichen Angebote nachdenken zu können.

Zu lange haben insbesondere die großen etablierten Volksparteien gezögert oder Alternativen erwogen, sind vor nicht absehbaren oder auch imaginierten Folgen ihres Handelns zurückgeschreckt. Zu routiniert und technokratisch wirkte ihre Herangehensweise an die immer drängenderen großen Aufgaben der Zeit und der Zukunft, zu lange waren sie dem bundesrepublikanischen Pathos der Nüchternheit verbunden, als dass sie mit den neuen emotionalen Bedürfnissen einer aufgewühlten Gesellschaft Schritt hätten halten können. In der Folge hat sich die politische Landschaft schleichend, aber radikal gewandelt. War die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg geprägt von der Mitte-rechts-Politik der Union und der Mitte-links-Politik der SPD, um die herum sich jeweils kleinere Koalitionspartner gruppierten, scheint es eine neue Konfliktlinie zwischen der rechtspopulistischen nationalistischen Alternative für Deutschland und den klimapolitisch universalistischen Grünen zu geben. Dies ist auch das Ergebnis einer nunmehr gefühlt seit 2005 regierenden Großen Koalition (wer erinnert sich schon an das schwarz-gelbe Intermezzo 2009–2013?), in deren Folge die strukturierende Differenz zwischen den Mitte-rechts-Angeboten der Union und den Mitte-links-Angeboten der SPD zunehmend nivelliert und so die für eine Demokratie notwendige Unterscheidbarkeit politischer Alternativen zumindest entlang dieser klassischen Konfliktebene im Regierungshandeln zu sehr eingeebnet wurde.

Die alten Pole des Parteiensystems und der politischen Debatte haben dadurch spürbar an Integrationskraft verloren und werden – zunehmend weniger schleichend – abgelöst von neuen politisch-ideologischen Kraftzentren, die imstande sind, emotionale Identifikationsangebote in zunehmend unübersichtlichen Zeiten zu formulieren: Pegida und AfD versprechen eine heimelig homogene nationale Gemeinschaft, in der sich die Bürgerinnen und Bürger nicht mit den Spannungen und Konflikten kultureller und sozialer Vielfalt auseinandersetzen müssen. Die Aktivistinnen und Aktivisten von #fridaysforfuture und die Grünen schaffen ein globales Gefühl für die gemeinsame Betroffenheit im Kampf gegen die menschheitsbedrohende Katastrophe des Klimawandels. Diese beiden politischen Angebote sind in allen ihren politischen und ethischen Aspekten diametral kontrovers: Während die Rechten die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern gegen andere Menschen instrumentalisieren, um eine vielfältige Gesellschaft zu spalten, engagieren sich die Klima-Aktivistinnen und Aktivisten dafür, möglichst globalen Zusammenhalt zur Bewältigung einer enormen Menschheitsaufgabe zu mobilisieren.

Aber in einer spezifischen Dimension wirken sie auf bestimmte Milieus vergleichbar: Auf ganz unterschiedliche Weise bieten beide Parteien ihren Anhängerinnen und Anhängern die Möglichkeit, sich hinter konkreten politischen Zielen und Vorhaben zu versammeln. Anders als die klassischen Volksparteien geht es hier nicht nur um die wertegebundene Akzentuierung eigentlich formal zu gewährleistender Freiheiten, sondern um die Möglichkeit eines konkreten Bekenntnisses. Zugespitzt formuliert: Wer die AfD wählt, ist gegen Ausländer und Homosexuelle und für eine homogene deutsche Kultur. Wer die Grünen wählt, bekennt sich zum Kampf gegen die Ursachen des Klimawandels und ist gegen rechts. Klare und vor allem auch konträre Botschaften, die einen neuen gesellschaftlichen Grundkonflikt markieren – zwischen denen, die eine vergangene Heimat suchen, und denen, die die Zukunft des Planeten sichern wollen. Klare Angebote, Geborgenheit und Zusammenhalt in einer Gemeinschaft zu finden, die sich in einem gemeinsamen Anliegen findet.

Vergleichbare Angebote versuchen auch die ehemals großen Volksparteien zu formulieren, mit offensichtlich derzeit abnehmendem Erfolg. Zwischen intoleranter rechter Fremdenangst und berechtigter grüner Klimasorge rutscht vieles hindurch, das dringend ebenfalls der politischen und gesellschaftlichen Betrachtung lohnen würde, weil es zur Lösung der anstehenden Probleme durchaus beitragen könnte. Das sind die klassischen Anliegen der Volksparteien: Es geht schließlich auch um die Bewahrung unserer Demokratie und damit um die Zukunft eines Prinzips unseres Zusammenlebens, das die Vernunft und die Fähigkeit zur Verständigung ins Zentrum rückt. Das erreichen Volksparteien nicht, indem sie – wie aktuell vielfach propagiert – in ihren Programmatiken ebenfalls radikaler oder extravaganter werden, sondern indem sie sich um eine präzisere Begründung und Kontextualisierung – und damit Erkennbarkeit – ihrer jeweils auf die Mitte gerichteten politischen Vorschläge kümmern.

Bereits 1982 stellte der SPD-Vordenker Peter Glotz besorgt fest: »Das Land gerät in eine Stimmung, in der der Kompromiß immer fragwürdiger zu werden scheint. […] Mein Eindruck ist, daß in vielen Gruppen der deutschen Gesellschaft die Bereitschaft zum geduldigen Aufdröseln der Probleme schwindet.«[4] Kaum auszudenken, was er 37 Jahre später schreiben würde, wenn er die heutigen Verhältnisse sehen und den Antagonismus zwischen einem technizistisch erscheinenden Regierungshandeln in einer beinahe dauerhaften Großen Koalition von CDU/CSU und SPD auf der einen und einer neuen Unversöhnlichkeit in der politischen Debatte zwischen neurechten kulturellen Vielfaltskritikern und jugendlichen Klimaschützern auf der anderen Seite analysieren müsste.

Es geht angesichts dieser Konfrontation zwischen pathetisch ernüchterter Verfahrenspolitik und neuen, hoch emotionalisierten Angstszenarien darum, dass wir uns wieder gemeinsam in die Lage versetzen, radikal verständigungsbereit zu sein. Darum, dass wir leidenschaftlich vernünftig sind. Und darum, neue demokratische Solidarität auszuprägen. Denn anders als frühere gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die sich um die Freiheit des Einzelnen und die durch den Staat zu gewährleistende Gerechtigkeit organisierten, stehen unter den Bedingungen von Globalisierung, Digitalisierung und demographischem Wandel – mittelbar und unmittelbar – zunehmend Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Zentrum der politischen Debatte. Diese Herausforderung anzunehmen, ist die entscheidende Voraussetzung dafür, die Zukunft unserer freien, offenen, vielfältigen und demokratischen Gesellschaft gemeinsam politisch gestalten zu können.

Die Zerstörung des öffentlichen Gesprächs

Es hat sich etwas verändert in der Art und Weise, wie wir miteinander öffentlich – und damit politisch – sprechen. Dieser Befund ist keineswegs neu. Seit mindestens zwei Jahrzehnten stellen immer neue digitale Informations-, Kommunikations- und Vernetzungsangebote unsere hergebrachten Vorstellungen öffentlicher Kommunikation radikal auf den Kopf. Das offene Internet bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten der direkten Information auch unter Umgehung klassischer journalistischer Vermittler. Suchmaschinen strukturieren das Wissen der Welt und machen es in einer Art und Weise zugänglich, von der seit der Aufklärung allenfalls geträumt werden konnte. Und soziale Netzwerke bieten die Möglichkeit des direkten Austauschs und der politischen Mobilisierung aus eigener Kraft.

Vordergründig bedeuten diese technologischen Innovationen zunächst eine Demokratisierung des Wissens und die Erfüllung des alten Brecht’schen Traums, von den Distributions- zu den Kommunikationsapparaten zu gelangen. Aber damit verbunden ist auch der Abschied von jenen Vorstellungen von Massenmedien, die nicht nur viele – und abstrakt alle! – erreichen können, sondern die damit auch einer Gemeinschaft dazu verhelfen, im Gespräch über die anliegenden Themen zur Gesellschaft zu werden.

Da etliche das Ende dieser massenmedialen Formierung gesellschaftlicher Kommunikation aktuell als Risiko für unsere Demokratie beklagen, lohnt es, sich noch einmal die jahrzehntelange Kritik an der massenmedial geprägten Demokratie ins Gedächtnis zu rufen. In Strukturwandel der Öffentlichkeit, seiner scharfen Abrechnung mit der Medienöffentlichkeit moderner Demokratien, hat Jürgen Habermas vor mehr als einem halben Jahrhundert eindringlich beschrieben, welche Kollateralschäden die für eine Demokratie notwendige Institutionalisierung öffentlicher Information und Kommunikation mit sich bringen kann.[5] Es entstehen neue Machtstrukturen, die eng verbunden sind mit der Möglichkeit der Medien, den Zugang zum gesellschaftlichen Gespräch zu regulieren und zu kontrollieren. Einzelne Bürgerinnen und Bürger kamen nur zufällig oder als Beiwerk erlittener Katastrophen in den Genuss öffentlicher Wahrnehmung. Das Prinzip der Repräsentanz war die Grundlage der Teilhabe und letztlich der parlamentarischen Staatsform als Ganzes. Wenige herausgehobene Protagonisten sprachen als korporatistisch legitimierte Vertreter großer Interessengruppen. Das Staatsvolk trat meist nur als Masse in Erscheinung, deren Willen sich in aggregierter Form bei Wahlen äußerte.

In einer solcherart vorstrukturierten Öffentlichkeit drohten wenige Überraschungen. Im Normalfall informierten die politischen Spitzenakteure über ihre politischen Vorhaben und diskutierten dann mit Vertretern der zivilgesellschaftlichen Organisationen das Für und Wider einzelner Aspekte, um letztlich zu einer parlamentarischen Entscheidung zu gelangen. Diese war Ausdruck der Kompromisse, die erforderlich waren, um eine Mehrheit der Bevölkerung bzw. der Abgeordneten hinter einem Vorschlag zu vereinen. Die Massenmedien berichteten über die Auseinandersetzungen im politischen Raum anhand starker, wahrnehmbarer Akteure, die bestimmte politische Positionen verkörperten. Auf diese Weise entstand eine erzählbare Akteurskonstellation.

Natürlich gab es auch in diesen massenmedial geprägten Zeiten regelmäßig Störungen, auch Zerstörungen des Routinemodus – und zwar immer dann, wenn zivilgesellschaftliche Akteure das Gefühl hatten, dass sich Regierung, Parlament oder Parteien, mithin das politische Zentrum, nicht ausreichend um eine Angelegenheit von Bedeutung kümmerten, und deshalb in die Top-down-Vermittlung eingriffen.[6] Aber diese Störungen bezogen sich auf die klassischen Institutionen der Öffentlichkeit. Um ein neues Thema zu setzen oder mit mehr Dringlichkeit zu versehen, musste es über die massenmediale Wahrnehmungsschwelle gehoben werden – durch weithin sichtbar mobilisierenden Protest wie die Demonstrationen gegen atomare Aufrüstung oder durch gezielt auf mediale Wahrnehmung hin inszenierte Protestaktionen wie die spektakulären David-gegen-Goliath-Kämpfe von Greenpeace oder den kalkulierten zivilen Ungehorsam im Kampf gegen geplante Atommüllendlager oder Wiederaufbereitungsanlagen. Adressat dieser Aktionen war natürlich die allgemeine Öffentlichkeit – allerdings nur mittelbar, während sich die unmittelbare Aktion an journalistische Medien, ihre Auswahlmechanismen und Bildlogiken richtete.

Politisches Routinehandeln und zivilgesellschaftlicher Protest begegneten sich so letzten Endes stets in der gleichen Arena massenmedial vermittelter Öffentlichkeit. Schon damals sah die Politik dabei oft nicht gut aus, wenn sie von einem Thema oder dem Furor der Kritik überrascht wurde. Und dennoch hatte sie Zeit, Gelegenheit und ein Forum, darauf wahrnehmbar zu reagieren. Das wird in den aktuell fragmentierten Öffentlichkeiten zunehmend schwieriger und trägt zu der seltsam wortreichen Sprachlosigkeit bei, die wir in vielen Debatten erleben. Ein wesentlicher Grund liegt in einer fundamental veränderten Vermittlungslogik des Öffentlichen, die verstehen muss, wer sich künftig wirksam am gesellschaftlichen Gespräch beteiligen will.

In der klassischen massenmedialen Öffentlichkeit gab es einen ökonomisch wie publizistisch rationalen Mechanismus der Auswahl und Aufbereitung von Themen, der sicherstellen sollte, dass eine möglichst große Reichweite erzielt werden konnte. Da die Zielgruppenansprache technisch kaum zu differenzieren war und eine Zeitung oder Zeitschrift ebenso wie eine Fernsehsendung immer auf eine möglichst große Verbreitung hin konzipiert wurde, orientierten sich auch Themenauswahl und Darstellung in der Regel auf den größten gemeinsamen Nenner und damit auf eine gesellschaftlich wirksame Vorstellung öffentlicher und allgemeiner Relevanz. Diese konfigurierte zugleich den Vorrat an Themen und Meinungen, der politisch und gesellschaftlich mit demokratischen Mitteln zu strukturieren und zu bearbeiten war.

Digitale Öffentlichkeit funktioniert verglichen mit dieser »One-to-Many«-Logik vollständig anders. Dies hat vor allem etwas zu tun mit dem Hinzutreten neuer digitaler Mittler, die zwischen den klassischen Medienanbietern und den Bürgerinnen und Bürgern mediale Angebote entbündeln, mit weiteren Informationen vermengen, neu zusammensetzen und erfahrbar machen. Dies geschieht nicht mehr regelhaft in einem redaktionellen Gesamtangebot, das diskursiv verhandelt und gemeinsam erarbeitet wird, sondern ist algorithmisch gesteuert. Auf den digitalen Plattformen existiert deshalb auch keine fakultative Themenauswahl mehr. Das präsentierte Informationsbukett ist stattdessen in der Regel personalisiert und orientiert sich jeweils individuell auf der Grundlage des bisherigen Surf- und Suchverhaltens am unterstellten singulären Interesse des jeweiligen Nutzers. Ausschlaggebend ist also heute weniger eine Idee öffentlicher Relevanz als vielmehr eine ausrechenbare individuelle Relevanz, die auf die Bedürfnisse des jeweils Einzelnen gerichtet ist.

Auch auf der Kommunikatorseite differenzieren sich die Zugänge erheblich aus: Während der Weg in die allgemeine öffentliche Verbreitung früher durch redaktionelle Medien gesteuert wurde und durch die hohen institutionellen Kosten für die Verbreitung von Inhalten – sei es gedruckt oder gesendet – beschränkt war, steht es heute jedem Besitzer eines Smartphones frei, sich beinahe ohne jegliche zusätzliche Kosten an eine weltweit unbegrenzte Öffentlichkeit zu richten. Die massenmedial vermittelte Öffentlichkeit wird inzwischen ergänzt durch zahlreiche Plattformen und Foren, in denen eine neue digitale Direktheit die Kommunikation prägt und in denen sich beinahe jeder zu beinahe jedem Thema äußern kann. Oder wie der Songwriter Danny Dziuk in seinem Lied »Ja, man darf (Demokratie)« singt: »Man darf in diesem Land beinah alles sagen/nur muss man dann auch das Echo vertragen.« Damit zielt er auf die rechtspopulistische Formel »Das wird man doch noch sagen dürfen« und weist trocken darauf hin, dass die Gegenrede ebenfalls möglich bleiben muss. »So geht halt Demokratie. Punkt.«

In diesen Veränderungen sowohl auf der Empfänger- als auch auf der Senderseite liegt zunächst einmal eine unglaubliche Chance auf einen demokratischen Freiheitsgewinn. Wenn beinahe jede Information uneingeschränkt verfügbar ist und beinahe jede Meinung uneingeschränkt wahrnehmbar geäußert werden kann, dann bedeutet das eine Aufweichung genau jener vermachteten Strukturen der Massenkommunikation, die über Jahrzehnte hinweg an den klassischen Medien kritisiert worden sind. Zugleich aber stellt sich immer brennender die Frage, wie es gelingen kann, in der drohenden Kakophonie einzelner Aussagen und in der unübersichtlich differenzierten technischen Aufbereitung von Information noch einen gemeinsamen Kristallisationspunkt öffentlicher Meinung zu gewährleisten.

In dem Buch Wie Demokratien sterben beschreiben die Harvard-Politologen Steven Levitsky und David Ziblatt, dass die Fähigkeit, den jeweils anderen in seiner Position anzuerkennen, eine der »Leitplanken der Demokratie« sei.[7] Wenn sie verloren ginge, dann sei auch die Demokratie in Gefahr. In der aktuellen Netzkommunikation scheint genau das regelmäßig zu passieren. Das zeigte sich zum Beispiel Anfang des Jahres 2019, als in Deutschland erbittert über eine europäische Urheberrechtsreform gestritten wurde. Die überaus hitzig geführte öffentliche Debatte war geprägt von Diskreditierungen, Diffamierungen, Anfeindungen und Verleumdungen. Vielfach wurden die damaligen Entgleisungen als ein weiteres Beispiel einer sich zum Negativen verändernden Diskussionskultur in unseren aufgeklärten Gesellschaften interpretiert.

Es ging um eine komplexe Frage und eine diffizile Abwägungsnotwendigkeit zwischen Meinungsfreiheit und Urheberrecht. Doch die Rollen, die sich die Konfliktbeteiligten gegenseitig zuschrieben, waren radikal vereinfacht und verzerrt: Junge »Digital Natives«, die den völligen Freiheitsverlust und den Zusammenbruch des Internets, wie sie es kennen, befürchteten, kritisierten »alte Männer«, die sich an der Vergangenheit festklammerten und ein vordigitalzeitliches Weltbild retten wollten. Künstlerinnen und Kreative, die um ihre Freiheit und ihre Existenz fürchteten, kritisierten Big-Tech-gesteuerte Piraten, die der vollständigen Vermarktung durch globale Plattformen Vorschub leisten wollten. Beides war und ist in dieser Zuspitzung falsch! Aber eine differenzierende Vermittlung zwischen den beiden Maximalpositionen war kaum möglich. Vielmehr vertieften sich bereits existierende Gräben nur – #niewiederCDU, #niewiederCSU und #niewiederSPD lauteten die unversöhnlichen Hashtags der Stunde. Hier wurde bereits der Boden bereitet für jene Nichtwahlaufrufe, mit denen Rezo und seine Freundinnen und Freunde kurze Zeit später zur Zerstörung bliesen.

Auch weil die in Rede stehende Urheberrichtlinie ganz maßgeblich die Bedingungen im digitalen Zeitalter betraf, war die Diskussion gewissermaßen die Ouvertüre für die weiteren Verwerfungen dieses Jahres. Diese haben ihre Ursache auch in der Funktionsweise digitaler Kommunikationsplattformen: Sie erzeugen einen Turboeffekt, der Gedanken blitzschnell in die Öffentlichkeit schleudert, auch wenn sie nicht durchdacht sind. Der US-Digitalexperte Jeff Jarvis warnte kürzlich vor einer Situation, in der alle sprechen, aber niemand mehr zuhört. Bisweilen erinnert unsere öffentliche Kommunikation an genau solch ein Durcheinander. Es ist bislang weder technisch noch kommunikativ gelungen, aus den vielfältig gestiegenen Äußerungsmöglichkeiten digitaler Öffentlichkeiten wieder ein gesellschaftliches Gespräch zu entwickeln.