Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt - Katja Diehl - E-Book
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Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt E-Book

Katja Diehl

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Beschreibung

Ein Plädoyer für eine inklusive und klimagerechte Verkehrswende – Mit Schwung, Know-how und Kreativität macht die Mobilitätsexpertin Katja Diehl Lust auf eine Gesellschaft, die gemeinsam eine attraktive und klimafreundliche Zukunft für alle baut. Eine Zukunft, die mehr Lebensqualität in Städten und auf dem Land bietet sowie moderne Formen von Arbeit berücksichtigt. »Jede:r sollte das Recht haben, ein Leben ohne ein eigenes Auto führen zu können.« »Autokorrektur« will Kick Off einer Gesellschaft sein, die gemeinsam eine attraktive Mobiltätszukunft baut – und zwar schon heute. In Katja Diehls Vorstellung der Zukunft können die Menschen Auto fahren, so sie es denn wollen. Sie müssen es aber nicht mehr – denn es gibt attraktive Alternativen. Momentan ist nicht alles in unserem Land fair und klimagerecht, inklusiv und bezahlbar aufgestellt. Die Bedürfnisse vieler Menschen werden nicht angemessen berücksichtigt. Das können wir ändern, davon ist Mobilitätsexpertin Katja Diehl überzeugt und läutet die Verkehrswende ein. Die Mobilitätsexpertin Katja Diehl weist den Weg zu einer gerechten und fairen Mobilität der Zukunft, die den Menschen ins Zentrum stellt und unsere Welt lebenswert macht.

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Katja Diehl

Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt

Doris Reich

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Unsere Gesellschaft tickt binär. [...]Bin ich der Wandel – oder warte ich auf ihn?MobilitätWas hat sich durch das Auto verändert?Das Fahrrad – Symbol feministischer MobilitätDer Siegeszug des AutosDer Umbau der Städte zu autogerechten Räumen#Autokorrektur-FaktenDer auto(im)mobile Mensch»Nicht-männliche« Mobilität1. Automobilität ist männlich ist dominierende Mobilität2. Kann eine Branche, die unter fünf Prozent weibliche Führungskräfte hat, »alle« mitdenken?3. Kennt männliche Mobilität die Bedeutung von »Sicherheit«?4. Kennt männliche Mobilität die »Behinderung« durch Kinderwagen und schlechte Gehwege?5. Sharing muss Caring werdenSicherheit im Auto ist männlichPrivilegienTempo unlimitedLobbyismusFür eine wahlfreie MobilitätRaumDie Entwicklung des Raums100 Quadratmeter für ein AutoDie autogerechte StadtAutogerechter Wiederaufbau von HannoverBauliche AbwehrLändlicher RaumÖffentlicher RaumÖffentlicher Raum für Kinder und JugendlicheÖffentlicher Raum im AlterFür einen lebenswerten Raum#Maximaleventualbedarfs-PKWMenschMenschen, die nicht Autofahren wollenMenschen in FamilienMenschen im ländlichen RaumMenschen in ArmutMenschen mit EinschränkungenBIPoC und TranspersonenMenschen, die alt oder krank sindSo geht Mobilität für alle!Die 15-Minuten-StadtDie Superblocks von BarcelonaVon Barcelona nach Hamburg-Eimsbüttel – Superbüttel!Siemensstadt in BerlinLändlicher und suburbaner RaumEine Liste von Projekten, [...]

Für meine Eltern.

Denen ich alles verdanke.

Ich liebe euch sehr.

Unsere Gesellschaft tickt binär. Sie kennt die Kategorie »Mann« und die Kategorie »Frau«. Dass unser Leben wunderschön und damit sehr viel mehr ist als diese beiden »Pole« – die meist auch noch diametral einander gegenübergestellt werden –, ist mir sehr bewusst und hat mich beim Schreiben meines Buches belastet. Das binäre System ist Teil des Problems, auf dem der große Bedarf an einer Transformation unserer Gesellschaft und damit auch der Mobilität fußt. Da meine Quellen leider sehr oft auf dem binären System fußen, werde ich Textstellen zitieren, die nicht meinem Denken entsprechen, die aber wichtig sind, um systematische Fehler im Mobilitätssystem zu erkennen und zu benennen. Viele wichtige Bücher und Studien gingen und gehen einfach noch immer nicht weit genug. Ich habe mich aber entschlossen, sie dennoch einzubeziehen. Wenn der erste Schritt zu mehr Gleichberechtigung aller Menschen den Weg über das binäre Denken braucht, dann akzeptiere ich das. Danach müssen jedoch dringend der zweite und dritte und alle weiteren Schritte erfolgen, die am Ende eine Gesellschaft gestalten, in der alle Bedürfnisse an Mobilität gesehen und berücksichtigt werden. Und nicht nur jene mit den lautesten Stimmen der weißen heteronormativen Mehrheitsgesellschaft.

Bin ich der Wandel – oder warte ich auf ihn?

Es ist nie nur die Klimakrise, die mich antreibt, Verkehrswende zu gestalten. Mich haben die blinden Flecken der Automobilität, das Unmenschliche und Ungerechte am bestehenden Verkehrssystem schon immer aufgeregt. Mit jedem Tag lerne ich mehr über Menschen, die sich kein Auto leisten können, es nicht mehr fahren dürfen oder wollen und – an der anderen Seite der Skala – über Menschen, die Auto fahren müssen. Vielleicht weil ich zwar Auto fahre, aber keines besitze, fällt es mir leichter, zum Auto eine pragmatischere Einstellung zu haben und Automobilität rigoroser zu hinterfragen sowie Bedürfnisse der Menschen kennenzulernen, die im Auto sitzen.

 

Mein Ziel?

»Jede:r sollte das Recht haben, ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können.«

Dieser Satz klingt simpel – trägt aber sehr viel politischen und gesellschaftlichen Zündstoff in sich. Das wird im Laufe des Buches noch deutlich werden.

Unser Land hat in Sachen Verkehrswende kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Das fängt in den Häusern gewisser Ministerien an und endet am Frühstückstisch privater Haushalte. Die größte Herausforderung liegt nicht in der Technik, die ist meiner Meinung nach vorhanden. Alles, was wir benötigen, liegt wie in einem bunten Kasten voller Bausteine vor uns, wir müssen uns nur die Mühe machen, diese zu sortieren und entsprechend den einzelnen Bedürfnissen neu zusammenzustecken, damit eine Mobilität entsteht, die wahlfrei, barrierefrei, inklusiv und klimaschonend ist.

Dieses Buch will eines nicht: einzelne Techniken beleuchten, beginnend bei elektrischen Antrieben, über den Hyperloop bis hin zu Flugtaxis, denn diese werden nicht in der Lage sein, Lösungen zu schaffen, wenn das Verhalten dasselbe bleibt. Kein Mensch verlässt sein Auto nur für Alternativen, wenn Automobilität so privilegiert und durch milliardenschwere Subventionen zu billig bleibt. Kein Autoweg wird anders zurückgelegt ohne die positive Irritation durch neue Rahmenbedingungen. Einzelne Produkte müssen als System gedacht, der Stadtraum als Wert geschätzt und der ländliche Raum wieder mobil gemacht werden. Die Lust zu wecken auf die Gestaltung dieses Pfades hin zur kindgerechten Stadt, zum autofreieren, mobilen ländlichen Raum – das ist mein Ansinnen.

Dieses Buch will Kick-off einer Gesellschaft sein, die gemeinsam eine attraktive, lebenswerte und klimafreundliche Mobilitätszukunft für alle baut, die wir HEUTE anfangen zu gestalten. Viele Abhängigkeiten – auch die vom Auto – werden als solche gar nicht erkannt, geschweige denn hinterfragt. Mit Beobachtungen aus dem Alltag, Hinweisen auf die Zukunft und Sichtbarmachung von Vorbildern möchte ich das System Auto einordnen als das, was es ist: eines von vielen Transportmitteln, das, wenn es nicht gemeinschaftlich genutzt, sondern besessen wird, besonders ressourcen-, raum- und klimaintensiv ist. Auch wenn es hart klingt: Das beste Auto ist das, was nicht mehr gebaut werden muss.

Das beste Auto ist das, was durch Fuß-, Rad- oder öffentliche Mobilität überflüssig und abgeschafft wird. Denn – und das wird mein Buch zeigen – die aktuelle Autonutzung bringt einigen Menschen sicher die Mobilität, die sie ohne Auto nicht abbilden können. Zu vielen Menschen, die nicht im Auto sitzen, bringt sie jedoch enorme Nachteile.

Um die Verkehrswende voranzutreiben, ist eine neue innere Grundhaltung unabdingbar. Die den Menschen ins Zentrum stellt, nicht die Technik. Ich versuche, das Verkehrssystem weniger behindertenfeindlich, weniger sexistisch, weniger rassistisch und weniger patriarchal zu gestalten.

Das mag manch eine:n verwundern:

Was sollen Verkehr oder Mobilität mit Sexismus etc. zu tun haben?

Schauen wir näher hin, dann sehen wir, dass Menschen mit Einschränkungen nicht frei ihre Mobilität gestalten können. Dass bestimmte Personengruppen – z.B. Frauen, Transpersonen, BIPoC – Auto fahren, um sexistischen und rassistischen Übergriffen aus dem Weg zu gehen. Und nicht, weil sie Autofans sind. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Viele der Menschen würden sofort auf ein eigenes Auto verzichten, wenn sie ihre Mobilität frei gestalten könnten.

Unser gesamtes Verkehrssystem wurde in der Vergangenheit analog dem patriarchalen System, in dem wir leben, von einer Gruppe von Personen gestaltet: männlich, weiß, cis, heterosexuell und wohlhabend. Das so entstandene Muster besteht bis heute fort. Weil es auch in unserer Gesellschaft fortbesteht.

Das möchte ich ändern!

Der Titel meines Buches ist Programm meiner Arbeit. Gern wird dabei unterstellt, dass ich »das Auto hasse« – dabei ist mir ein Ding aus Blech ziemlich egal. Durch das Hinterfragen von Automobilität gehe ich aber an Privilegien heran, die als Recht missdeutet werden. Klar, es ist immer schwierig, Gewohnheiten zu hinterfragen und zu ändern. Aber überlegen Sie mal, wie schön unsere Welt sein könnte, wenn wir es anders machen! Das Gute: Wir können es anders machen – gemeinsam.

Mobilität

»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Grundgesetz, Artikel 1

In diesem Kapitel will ich beleuchten, welcher Weg uns in die heutige Mobilitätsmisere geführt hat, die so viele von uns gefühlt oder real abhängig von Autobesitz macht. Was ich nicht beleuchten werde, weil es an so vielen Stellen schon sehr viel besser gemacht wurde: Warum der Verkehrssektor seine Emissionen seit 1990 absolut nicht gesenkt hat. Ich glaube, dass auf sehr unterschiedlichen Ebenen unseres gesellschaftlichen Diskurses deutlich wird, wie groß der Bedarf einer echten Verkehrswende ist, die sich auf den Menschen und die Bedürfnisse an Mobilität fokussiert – und nicht an scheinbar phantastischen Geschäftsmodellen und dem Markt, der nie etwas zum Besseren für alle regelt.

 

Gute Nachricht:

Wir haben zwar viel falsch gemacht – oder zumindest die Menschen, die vor uns in der Vergangenheit Entscheidungen fällten, die das Verkehrssystem heute so autozentriert ausrichteten. Aber was wir falsch bzw. kaputt gemacht haben, das können wir auch reparieren. Das ist auch der Grund, warum ich optimistisch bin, dass sich die Verkehrswende zum Guten aller umsetzen lässt. Eines wird dabei an Bedeutung (zurück)gewinnen: der Faktor Mensch. Das Miteinander-Reden und vor allem auch Zuhören. Das Zulassen von Ängsten und Sorgen und die gemeinsame Suche nach Lösungen.

Ich sage aber auch deutlich: Sorgen dürfen nicht wichtiger sein als Chancen.

Sorgen lassen verharren, wenn sie nicht beseitigt werden. Sorgen sind in der Analyse des Status quo wichtig, ganz sicher aber nicht Basis der Transformation. Hier müssen die Chancen im Fokus stehen. Denn Sorgen betreffen einzelne Gruppen und haben auch oft genug mit der Angst zu tun, alte Wege verlassen zu müssen oder etwas zu verlieren. Chancen, wenn sie gut genutzt werden, kommen allen zugute.

Was hat sich durch das Auto verändert?

Arbeitsteilung und Handel waren es, die vor Tausenden von Jahren unsere Mobilität ausgerichtet haben. Vorher waren wir zu Fuß unterwegs, um das Gejagte oder Gesammelte zu unserer Gruppe zu bringen, zuzubereiten und zu verzehren. Wir sind zudem noch gar nicht so lange sesshaft. Damit ist die heute am meisten vernachlässigte Verkehrsart zugleich die erste, die wir erlernen: das Zu-Fuß-Gehen.

Um Waren über größere Strecken transportieren zu lassen, domestizierten wir Kamele und Pferde und entwarfen Kutschen, um die Zugkraft verschiedener Tiere bestmöglich auszunutzen. Pferdestärken eben. PS. Personen- und Warenbeförderung etablierten wir als Geschäftsmodell und Mobilitätsart. Erste Straßennetze zu Lande und zu Wasser entstanden, um Geschwindigkeit und Bequemlichkeit zu steigern. Vor allem in Städten sorgte die Trennung von Fuß- und Pferdverkehr für eine größere Sicherheit der ungeschützten Fußgänger:innen, damit war die erste Hierarchie im Straßenraum etabliert, und der Fußweg wurde zum randseitigen und stark vernachlässigten Phänomen. Das hat sich bis heute nicht geändert, sondern eher noch verschlechtert.

Das Fahrrad – Symbol feministischer Mobilität

Wenn Sie sich das Deutschland in den 1890er Jahren vorstellen, was sehen Sie in den Straßen unseres Landes?

Sicher keine Autos, denn die gab es damals noch nicht.

Zwar hatte 1888 Bertha Benz (und damit eine Frau!) die erste längere Fahrt mit dem ersten Automobil unternommen,[1] Automobile waren aber noch lange nicht massentauglich, sehr wohlhabenden Menschen vorbehalten und standen damit noch ganz am Beginn ihrer Welteroberung.

Sie denken somit vielleicht eher an edle Kutschen und vornehme Damen und Herren, die angemessenen Schrittes die Gehwege herunterspazierten. Aber es gab damals auch schon ein anderes Verkehrsmittel, das sich großer Nachfrage erfreute: das Fahrrad.

Vor allem Arbeiter:innen wussten dieses günstige Verkehrsmittel, das den persönlichen Bewegungsradius deutlich erweiterte, sehr zu schätzen. Sie konnten es selbst reparieren und die ausgebauten Straßen damit nutzen. Frauen erhielten, sehr umstritten und heiß diskutiert, mit diesem Verkehrsmittel emanzipatorische Freiheit in ihrer Mobilität. Waren sie sonst auf das Gutdünken ihres Vaters oder Ehemannes angewiesen, der ihnen für längere Strecken entsprechende Mobilität bereitstellen musste, so bot das Fahrrad völlig unkompliziert zuvor nicht gekannte Freiheit. Und schon dieses Beispiel zeigt: Selbstbestimmte und wahlfreie Mobilität ist hochpolitisch, vor allem, wenn sie bestimmten Gruppen von Menschen exklusiv ermöglicht und anderen vorenthalten wird.

Bis heute ist die Art der Mobilität ein Zeichen von Klassenzugehörigkeit – wenn auch in Sachen Auto sicher enorm aufgeweicht durch irrational attraktive Finanzierungsangebote. Ein Nachbar meiner Eltern arbeitete in einer Bank und sagte immer: »Die dicksten Karren sind geleast.« Oder – um aus Fight Club zu zitieren: »Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.« In den 1920er Jahren war es deutlicher. Wer zu Fuß ging, gehörte zur Unterschicht, während die Frauen der Oberschicht als fragile Geschöpfe im Haus bleiben mussten und die Herren der Oberschicht ein Automobil besaßen. Somit war die kollektive Wirkung all dieser Aspekte des Fahrrads Symbol der »neuen Frau« des 20. Jahrhunderts – einer Frau, die nicht nur an die Traditionen von Klasse und Kinderkriegen gebunden war.

Radfahrende Frauen waren Ende des 19. Jahrhunderts ein politischer Akt gegen das Patriarchat. Frauenwahlrecht, Bildung, eigenständiges Leben – all das war noch in weiter Ferne. Umso revolutionärer mutete es an, sich auf dem Fahrrad sitzend weibliche Mobilität zu erobern. Für die Suffragetten war das Fahrrad das Mittel für ihre Kampagnen, sie fuhren in den 1910er Jahren mit Transparenten durch die Gegend. Zuvor – in den 1890er Jahren – erklärte die Frauenzeitschrift Godey’s: »Im Besitz ihres Fahrrads fühlt die Tochter des 19. Jahrhunderts, dass die Erklärung ihrer Unabhängigkeit verkündet worden ist.« Viele der Autobauer:innen begannen übrigens mit dem Fahrrad, ohne das die Technik, auf der das Auto heute basiert, nicht entwickelt worden wäre. Adam Opel baute erst Nähmaschinen und Fahrräder. Erst 1898, drei Jahre nach seinem Tod, startete Sophie Opel mit dem Bau von Autos. Auch Henry Ford hob sein erstes Auto auf vier Fahrradlaufräder und brachte die Kraft des Motors durch die Fahrradkette an die Räder. Auch die Dodge-Brüder und die Peugeots verdienten zunächst ihr Geld mit dem Fahrradbau, bevor sie Autos bauten.

Dennoch blieb das Fahrrad als Mobilitätsmittel eher ein Gegenstand der proletarischen Alltagsmobilität von subkulturellen Gruppen. Bürokraft und Verkäuferin waren Berufe, die Frauen ergreifen konnten. Der Krieg an sich brachte keine außergewöhnliche Zunahme der Frauenarbeit mit sich. Es gab aber Verlagerungen, so dass Frauen jetzt Berufe ergriffen, die bisher Männern vorbehalten waren. Die berufstätige Frau wurde damit in der Öffentlichkeit wahrnehmbar – als Arbeitskraft in der Schwerindustrie, an Maschinen und auch als Straßenbahnführerin. Gerade jungen Frauen bot sich die Möglichkeit, früh erwerbstätig zu werden, selbständiger zu leben. Was auch kein Problem war: Arbeit und Leben und Wohnen lagen zu dieser Zeit noch nahe beieinander, 60 Prozent der Wege wurden zu Fuß zurückgelegt. Heute sind es unter fünf Prozent.

Die städtische Mobilität trug mit dazu bei, sich von den sehr kasteienden Reifröcken und der Schichtkleidung zu verabschieden. Wie sollte eine Frau sonst die Stufen einer Straßenbahn hinaufkommen? Wie sollte eine Frau gepresst in ihr Korsett einen langen Arbeitstag hinter Schreibmaschinen oder in Fabriken schaffen? Es gab sogar einen deutschen Verband zur Verbesserung der Frauenkleidung. Inspiriert von Kleidung, die zuvor zum Wandern, Turnen, Fahrradfahren oder Schwimmen entwickelt worden war.

Der Siegeszug des Autos

Um 1900 waren in den USA die wenigen Automobile zu 40 Prozent mit Dampfkraft, zu 38 Prozent elektrisch und nur zu 22 Prozent fossil betrieben. Es benötigte nur etwas mehr als zwei Jahrzehnte, bis sich der Ottomotor und dann ab den 1930er Jahren der Diesel, zunächst mit Schwerpunkt auf Nutzfahrzeugen, durchsetzte.

Und wie war es in Deutschland? Anfang des 20. Jahrhunderts verdrängten Automobile die Pferdefuhrwerke – was für Aufruhr sorgte. Der Grund kommt uns bekannt vor: Die um Esel, Pferde, Pferdenahrung, Fuhrwerkbau und -wartung herum entstandene Industrie brach zusammen. Die Präsenz des Autos provozierte aber weitere Konflikte. »Die frühen Autobesitzer dominierten mit Lärm und Geschwindigkeit die Straße, sie galten als arrogant und neureich. Zahlreiche Gesetze gingen – international unterschiedlich – mit diesen Konflikten um und regulierten unter anderem die Reisegeschwindigkeit sowie die Erhaltung der Straßenqualität, wie sie die Autofahrer forderten: So mussten die Fuhrwerksbetreiber die Straße von Pferdedung freihalten, damit die Automobile nicht ausrutschten.«[2]

1910 trat das deutsche Kraftfahrgesetz in Kraft und damit erstmals eine rechtliche Regelung zum Verhalten mit Autos im öffentlichen Raum.[3] Kurz danach, 1913, begann die Fließbandproduktion von Autos. Angeregt übrigens von der Fließbandarbeit in einem Schlachthof, den Henry Ford 1910 besichtigte.[4]

Letztlich sorgte das Auto für die Abschaffung der »Shared Spaces« – öffentlicher Räume ohne Unterteilung in Verkehrszonen. Weil die Verletzungsgefahr für Fußgänger:innen zu hoch wurde. Der gemeinsam genutzte Raum in Städten wurde zugunsten eines einzigen Verkehrsmittels aufgegeben, damit endete auch die Demokratie auf der Straße. Es wurde stattdessen eine Hierarchie eingeführt, die das Auto priorisierte.

Mit den Nazis wurde das Ziel der Volksmotorisierung ausgerufen. In Wolfsburg hatte Ferdinand Porsche in den 1930er Jahren die Ford’schen Produktionsmethoden übernommen. Im Auftrag von Hitler baute er das VW-Werk auf und entwarf den »KdF-Wagen« (benannt nach der Organisation »Kraft durch Freude«).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann der Volkswagen in Masse produziert und entwickelte sich zum Symbol für die wirtschaftliche Entwicklung und das Wiedererstarken der Bundesrepublik.[5]

Wie eine Klammer legt sich die Automotorisierung um die Jahre nach dem Kriegsende. Das Auto war ein anfassbares und sehr reales Symbol für Erfolg, sowohl für die Industrie als auch für den Mann, der in jener Zeit der Ernährer der Familie war und mit dem Auto zur Arbeit fuhr. Während die Frau ihre Wege eher »unsichtbar« und zudem unbezahlt zurücklegte. Oftmals zu Fuß, mit dem Rad oder im Bus. Vom demotorisierten und demoralisierten Land schwungvoll hinein in das sogenannte Wirtschaftswunder – ohne Auto undenkbar, oder?

Was ich bei meiner Recherche spannend fand: Im Dezember 1945 startete das Volkswagenwerk unter der britischen Militärregierung die Herstellung von Limousinen. In Produktionszahlen und Stadtbild waren es jedoch von ihnen hergestellte Fahrräder mit Motor, Mopeds, Motorräder und Roller, die die Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg prägten – bis in die Mitte der fünfziger Jahre hinein waren sie DAS Massenmotorisierungsmittel. Kein Wunder: Sie waren billiger, leichter zu reparieren und brauchten weniger Sprit. Damit herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg noch etwa ein Jahrzehnt Gleichberechtigung auf deutschen Straßen, denn auch manche Frauen konnten sich diese günstigeren Verkehrsmittel leisten.

Der Umbau der Städte zu autogerechten Räumen

1951 fand in Frankfurt am Main die erste Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) statt; mit einer halben Million Besucher:innen der erste Meilenstein für das Autoland Deutschland. Der Traum vom eigenen Pkw wurde gesät, die Umtriebigkeit einer riesigen Werbemaschinerie setzte ein und übertrug diese Wünsche auch auf neue Formen von Reisen und Tourismus. Natürlich diente diese Ausstellung erst mal nur dem Träumen, leisten konnten sich damals nur wenige ein Auto. Aber mit dieser IAA war gesetzt: Wer erfolgreich ist, fährt Auto, wer es zu etwas gebracht hat, kann sich ein Auto leisten. Das Auto wurde in Westdeutschland zu dem Statussymbol schlechthin.

Das Straßennetz entwickelte sich und damit auch ein System von Tankstellen und Raststätten. Man bahnte dem vermeintlichen Fortschritt, der mit der massenhaften Automobilisierung einherzugehen schien, mit immer neuen Straßen den Weg. Gerade im nachkriegszerstörten Deutschland wurden Städte völlig neu wiederaufgebaut, und der Platz wurde für große Autostraßen mitten durch die alten Stadtkerne genutzt. Der autogerechte Umbau von Städten stellte eine Zäsur der Städteplanung und des Straßenbaus dar. Erstmalig bestimmte ein Verkehrsmittel die Stadt. Schnelle und komplikationslose Durchfahrt wurde wichtiger als die Lebensqualität der vor Ort lebenden Menschen. Aus dem Stillstand der Nachkriegsjahre geriet das Land nahezu in einen Rausch des Umbruchs, des Wirtschaftserfolges und der gesteigerten Mobilität. Den Kater dieses Rausches haben wir heute, weil wir alle Anzeichen seit den 1960er Jahren ignorierten, dass Automobilität Grenzen des Wachstums braucht. Wie alle anderen fossil basierten Konsumprozesse haben wir dieses unbegrenzte Wachstum nicht eingedämmt.

 

Im Gegenteil:

Fast schicksalsergeben ordnete sich der Mensch von nun an seinem Fahrzeug unter. Der Begriff der »autogerechten Stadt« stammt vom Titel des 1959 erschienenen Buches Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos des Architekten Hans Bernhard Reichow. Städte, die einst als Begegnungs- und Handelsräume von Menschen entstanden, wurden brachial einem völlig neuen Zweck untergeordnet: dem motorisierten Individualverkehr. Stadtplanung wurde zur Verkehrsplanung, ein Dominoeffekt setzte ein, der den Städten immer mehr Lebensqualität raubte und auch auf dem Land dafür Sorge trug, dass einstmals gesunde Räume dysfunktional wurden. (Mehr dazu im Kapitel Raum.)

Die Monopolisierung von Straßen und Flächen für die Belange des Autos verbannte das Gesellige aus diesen. Nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer wurden an den Rand gedrängt. Die automobile Prägung von Stadt und Land wurde zur neuen Normalität. Es wurde selbstverständlich, dass Kinder nicht auf der Straße spielen, weil Autos sie dort gefährden und weiterer Raum parkenden Pkw vorbehalten ist. Radfahrer:innen und Fußgänger:innen schickt die autogerechte Stadt offen in Konflikte und überlässt ihnen die Lösung derselben selbst. Der Dauerslalom von Fußgänger:innen und Rollstuhlfahrer:innen ist eingeübt, weil es normal ist, dass Dinge auf dem Geh- und nicht dem Fahrsteig abgestellt werden.

Der bis heute nicht durchbrochene Kreislauf aus mehr Straßen für mehr Autos, die wiederum für mehr Autos sorgen, setzte ein. Viele Studien haben es bewiesen: Wer Autostraßen baut, erntet mehr Autos – wer gute Gehwege baut, mehr Fußgänger:innen. Gleiches gilt für Radwege, das haben wir in der Corona-Pandemie gelernt. Dennoch scheint es uns unmöglich, diese Entwicklung zugunsten der Autos zu stoppen. Bis 2030 sollen in Deutschland noch 850 Kilometer Autobahn neu gebaut werden. Dass wir diese neuen Straßen trotz eines der dichtesten Verkehrsnetze der Welt in Deutschland brauchen würden, ist ein zum Teil auf jahrzehntealter Planung beruhender Trugschluss, der von vielen lokalen Bündnissen und dem übergreifenden Bündnis »Wald statt Asphalt«[6] nicht mehr unwidersprochen bleibt.

Das Leben vieler Menschen ist mittlerweile eine AUTObiographie, weil dieses Verkehrsmittel ihnen Zugang zu Arbeit, Kultur, Hobbys, Bildung und Reisen bietet. Andersherum könnte ich die Geschichte so erzählen, dass Autobesitz und ein Führerschein mittlerweile die Eintrittskarte zu einem abwechslungsreichen Leben sind. Und damit Menschen von diesem ausschließen, die keinen Führerschein oder kein Auto haben. Oder aber auch Menschen in das Auto drängen, die dieses als Belastung empfinden, mental und/oder finanziell. Wie konnte es dazu kommen, dass sich alles ums Auto dreht und wir das zudem viel zu selten hinterfragen? Letztlich hat das System Pkw uns Zufußgehende sehr gut an die Rahmenbedingungen gewöhnt, die für einen fließenden Autoverkehr sorgen. Kein Wunder, dass wir, wenn wir Eltern werden, große Sorge um unsere Kinder haben. Denn, das müssen wir festhalten: Verletzungen, die durch Kollisionen mit dem Auto sehr viel schwerwiegender ausfallen als mit nicht-motorisierten Verkehrsformen, können wir auch durch maximale Aufmerksamkeit nicht zu 100 Prozent vermeiden. Wenn wir das Auto nutzen, sind wir die »Stärkeren« und die Geschützten in einer Fahrgastzelle.

Es heißt »Verkehrsunfall« – das klingt wie ein unausweichlicher Schicksalsschlag. Ist er wirklich unvermeidbar? Oder darin begründet, dass Infrastruktur und Recht auf das Auto ausgerichtet sind? Jährlich sterben Tausende Menschen im Straßenverkehr, täglich werden an die acht Leben in Deutschland genommen, jeder einzelne Tod traumatisch für über hundert Personen, von Ersthelfer:innen über Klinikpersonal hin zu Angehörigen und Freund:innen. Unser Wertesystem, das ansonsten ganz gut funktioniert, setzt beim Auto aus. Die tödlichen und anderen belastenden Folgen dieser Verkehrsform werden hingenommen – wenn wir das nicht täten, müssten wir viel zu viel ändern. Wir müssten die Gleichberechtigung auf der Straße wiederherstellen – und das ginge zu Lasten der umfassenden Privilegien des Autos. Menschen fahren Menschen tot, aber wir schreiben lieber Sätze wie: »Beim Linksabbiegen übersah der Lkw die Radfahrerin.« Wussten Sie, dass Menschen, die 30 Tage nach einem Verkehrsunfall sterben, nicht mehr als Verkehrsopfer gelistet werden? Bereits ein toter Mensch durch falsch justierte Kühlschränke erhielte wohl mehr Aufmerksamkeit als all diese vielen ausgelöschten Leben. Wir legen lieber Wert auf eine frühe Verkehrserziehung von Kindern (mal über das Wort nachgedacht?), damit diese sich möglichst lückenlos und entgegen ihrem eigenen Bewegungsdrang in das System Auto einfügen. Natürlich machen wir das nicht, weil wir das gut finden, sondern weil es uns sinnvoll erscheint. Die Dominanz des Autos über Kinder beginnt sehr früh, sehr weit vor einem eigenen Führerschein.

Die Sicherheit für Fahrzeuginsass:innen wurde kontinuierlich gesteigert, doch die angestrebte »Vision Zero«, also null Tote im Verkehr, ist bis heute trotz aller Technik nicht erreicht. Und sie wird es meiner Meinung nach auch nicht, solange die Straßen dem Auto gehören und alle anderen sich diesem unterzuordnen haben. Solange Autos immer größer werden, Sichtbeziehungen zerstören, Raum okkupieren – obwohl in ihnen immer weniger Menschen sitzen –, so lange bleibt die Vision Zero eine unerreichbare Vision. Eine Studie aus Michigan hat ergeben, dass SUVs bei Geschwindigkeiten von mehr als 19 Meilen pro Stunde sieben Prozent mehr schwere Verletzungen bei Fußgänger:innen verursachen als normale Pkw. Bei Kollisionen mit SUVs bei Geschwindigkeiten von 40 Meilen pro Stunde oder mehr starben hundert Prozent der Fußgänger:innen, bei Kollisionen mit normalen Autos waren es 54 Prozent.[7]

Der zu verteilende Raum gerade auch in der Stadt ist zu klein, um neben dem dominierenden Pkw auch noch allen anderen Sicherheit zu gewährleisten. Die Privilegien, die das Transportmittel Auto über die Jahrzehnte erhalten hat, werden heute als »Recht« missdeutet, vor allem natürlich von jenen, die ein Auto besitzen oder fahren.

Städte wie Helsinki, wo 2019 weder Fußgänger:innen noch Radfahrende getötet worden sind,[8] zeigen auf, dass die Verwirklichung der »Vision Zero« – also die ganz klare Zielsetzung, Verkehrspolitik an der Eindämmung des menschlichen Todes im Straßenverkehr bis hin zu einer erfreulich lebendigen Null anzustreben – kein technisches Thema ist. Sondern eines, das Stadt- und Verkehrsplanung braucht, die verletzliche Gruppen außerhalb von motorisierten Fahrzeugen priorisiert. Schon Anfang der 1990er Jahre startete Helsinki mit dieser menschenzentrierten Planung. Kreuzungen wurden durch Kreisverkehre ersetzt, und Bodenwellen bremsten Autos und Lastwagen aus. Die Verlangsamung des motorisierten Verkehrs war ein Fokus, der 1992 mit einer ersten Senkung der Höchstgeschwindigkeit begann und mit einer deutlichen Abnahme der innerstädtischen Unfälle belohnt wurde. 2018 wurde – ähnlich wie in Paris 2021 – 30 Stundenkilometer als Geschwindigkeit festgelegt. Schneller als Tempo 40 fährt mensch lediglich auf Schnellstraßen, auf denen keine Radfahrer:innen und Fußgänger:innen unterwegs sind. Belohnung: 80 Prozent der Wege werden mit dem ÖPNV, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt, was die Zahl der schweren Unfälle enorm reduziert hat. Seit 2015 ist kein Kind mehr im Verkehr der finnischen Hauptstadt getötet worden.

In Deutschland wird sich darüber gefreut, dass die Gesamtzahl der Getöteten und Verletzten langsam zurückgeht (2020 übrigens hauptsächlich infolge des durch die Corona-Pandemie reduzierten Gesamtverkehrsaufkommens), die Zahl der Radfahrer:innen, die ums Leben kamen, stieg jedoch zuletzt um elf Prozent.[9]

#Autokorrektur-Fakten

»Das gesamte Straßennetz in Deutschland ist in Summe mehr als doppelt so lang wie der Abstand zwischen der Erde und dem Mond.«[10]

Wichtige Aufschlüsse und Datengrundlagen liefert die umfassende Studie Mobilität in Deutschland,[11] die letzte Erhebung fand für das Jahr 2017 statt. Dabei wurde ein Wert erstmalig durchbrochen: Es gibt mittlerweile mehr als einen Pkw je Haushalt. 2020 gab es 2,9 Millionen Personen mit 3 oder mehr Pkw im Haushalt. Die meisten Befragten (etwa 36,56 Millionen) besaßen einen Pkw, circa 13,49 Millionen Haushalte waren komplett autofrei.[12] Es gibt 2021 knapp 49 Millionen Autos in Deutschland – bei ca. 83 Millionen Einwohner:innen insgesamt und 13 Millionen Erwachsenen ohne Führerschein. Haushalte gibt es 41 Millionen.

Der durchschnittliche deutsche Pkw wird drei Prozent am Tag bewegt, das sind noch nicht mal 45 Minuten! Den Rest des Tages steht das Auto – und verdient somit eher den Namen (Im-Weg-)Stehzeug als Fahrzeug. Laut Umweltbundesamt liegt der durchschnittliche Pkw-Besetzungsgrad bei 1,2 Personen. Umso absurder ist das riesige Größenwachstum der Pkw, von denen manche nur noch mit Lkw-Führerschein gefahren werden dürfen. Wären Autos mit vier Personen besetzt, würde das Verkehrsaufkommen theoretisch auf ein Viertel reduziert.

Ob Sie es glauben oder nicht: Es sind immer nur zehn Prozent aller Autos gleichzeitig unterwegs. Wenn Sie im Stau stehen und nicht vorankommen, wenn Sie vor und hinter sich nur das Blech auf der Straße sehen, dann denken Sie daran: Es sind nur zehn Prozent, die vorwärts kommen wollen. Die anderen 90 Prozent stehen gerade irgendwo herum.

Im Handbuch über die externen Kosten des Verkehrs der Europäischen Union (2019) wurden die wirtschaftlichen Kosten einer 20000 Kilometer langen Autofahrt berechnet. Das Ergebnis:

900 Euro an Unfallkosten,

142 Euro für die Kosten der Luftverschmutzung,

236 Euro für die Kosten des Klimawandels,

236 Euro für die Auswirkungen der Lärmbelästigung,

76 Euro für die Produktionskosten und

110 Euro für den Verlust von Lebensraum.

Allein die Gesundheitsausgaben und der Zusammenhang mit dem Verkehr kosten jeden Europäer rechnerisch 1276 Euro pro Jahr, hinzu kommen Verkehrsstaus, Wasser- und Bodenverschmutzung, Kraftstoffbeschaffung usw. Das Schlimmste daran ist, dass es sich um externe Faktoren handelt und dass kein Land seine Autofahrer:innen für die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft zur Kasse bittet.

Wenn wir den Autoverkehr von unseren Straßen verbannen, verringern wir Krankheiten, die mit Emissionen und Lärm verbunden sind, steigern den lokalen Einzelhandelsumsatz und ermöglichen es den Menschen, öffentliche Flächen als Grünflächen, für Parkbänke, Fahrradstellplätze, Spielplätze oder für die Außengastronomie zu nutzen, die zuvor nur für Autos reserviert waren.

»Ohne Parkplätze können wir dichtmachen« – so oder ähnlich verschaffen sich Einzelhändler:innen oft erfolgreich Gehör in Politik und Interessenverbänden, wenn Autoplätze für mehr als nur die Abstellung von Stehzeugen genutzt werden sollen. Aber stimmt das auch? Oder ist es vielleicht der Umweltverbund,[13] der die Kassen der Einzelhändler häufiger klingeln lassen würde? Könnte der Ausbau von Bus und Bahn die Konjunktur im stationären Einzelhandel beleben? Dieser Fragestellung hat sich der VDV Ost[14] gewidmet und festgestellt, dass 80 Prozent des Umsatzes des lokalen Einzelhandels von Fußgänger:innen und Radfahrer:innen, von Bus- und Bahnnutzer:innen stammt. Und eben nicht von Autofahrer:innen. Das klingt vielleicht erst mal irritierend, macht aber Sinn: Zunächst ist klar, dass Nicht-Autofahrende mehr verfügbares Einkommen in den Geschäften ausgeben können, denn sie müssen ja kein Auto unterhalten. Wer langsam an Geschäften vorbeikommt, bleibt eher mal stehen, wenn er:sie etwas Kaufenswertes sieht. Autofahrer:innen erzeugen zwar einen höheren »Einmalumsatz«, in Summe entspricht dieser jedoch nur einem Fünftel der Ausgaben der Nicht-Autofahrer:innen, da diese öfter einkaufen. Ich empfehle einen Artikel der FAZ, ein Porträt von Prof. Hermann Knoflacher[15] – oder auch meinen Talk mit ihm.[16]

Alle Fakten führen jedoch bis heute nicht dazu, Automobilität radikal (also an die Wurzel gehend) zu durchleuchten. 80 Prozent unserer Personenmobilität beruhen mittlerweile auf dem Auto – eine Zahl, die oft missbraucht wird als Beweis, dass es ohne Auto nun mal nicht geht. Würden alle Bewohner:innen Deutschlands gleichzeitig in die vorhandenen Autos steigen, blieben alle Rückbänke leer. Nur die vorderen beiden Plätze würden benötigt. Ist das wirklich Mobilität? Oder vielmehr Folge aus vielen falschen Entscheidungen, in allererster Linie politischen, aber durchaus auch privaten?

Zudem fördern die aktuellen Subventionen im Verkehr nicht den Klimaschutz, sondern das Gegenteil, zugunsten wohlhabender Menschen – zu Lasten von weniger einkommensstarken Gruppen. Hier gibt es unter anderem Dieselsteuerprivileg, Entfernungspauschale, Dienstwagen-Privileg, die Befreiung von Kerosin von der Steuer und das Mehrwertsteuer-Privileg auf Langstreckenflügen. Die obersten 20 Prozent der erwerbstätigen Menschen erhalten davon bis zu 50 Prozent Anteil. Prekär Verdienende hingegen noch nicht mal zehn Prozent.

Der auto(im)mobile Mensch

Heute legt ein Mensch etwas unter 40 Kilometer zurück, statistisch auf drei Wegen je Tag. Geändert hat sich nicht die Anzahl der Wege, sondern ihre Länge. Die Zeitersparnis, die wir uns vom Auto erhofften, ist oftmals durch die größeren Distanzen, auf denen wir uns wegen des Autos bewegen, aufgefressen worden.[17]

Das muss mensch sich mal ganz langsam durch das Gehirn führen: Der subjektive Vorteil des Autos, schneller an das Ziel zu gelangen, ist objektiv betrachtet nicht vorhanden, da wir durch längere Wegestrecken und immer mehr Staufrequenz auf dem Weg zu unseren Zielen mehr Zeit im Auto sitzend verbringend. Jede:r Deutsche steht pro Jahr durchschnittlich 46 Stunden im Stau.[18] Und wer mir sagen möchte, dass Zeit im Auto gute Zeit ist, der Person werde ich leicht zweifelnd in die Augen blicken. Denn wenn wir ehrlich sind, kommt es nicht von ungefähr, dass immer mehr Unfälle durch Spielereien an Handys geschehen. Autostehen ist furchtbar langweilig, eintönig und damit gefährlich für uns und andere.

Studien zeigen: Ist das Auto erst mal angeschafft, erhöht sich meist auch die Zahl der Wege und Wegelängen, die mit diesem zurückgelegt werden. Denn das Auto ist ja »eh schon da«. Seine Betriebs- und Unterhaltungskosten werden deutlich niedriger eingeschätzt, als sie real sind.[19],‌[20] Eine Studie[21] bewies 2020: Während die tatsächlichen monatlichen Ausgaben durchschnittlich 425 Euro betragen, schätzen die Deutschen diese auf nur 204 Euro. Beim Benzin liegen sie noch gut mit ihrer Schätzung, weil sie den Preis beim Tanken sehen und bezahlen, bei allen anderen Kosten aber gab es große Wissenslücken.

Und auch das führt völlig irrational dazu, dass das Auto nicht hinterfragt, sondern sogar noch mehr genutzt wird. Und es wird noch schlimmer. Obwohl der Nutzen eines Autos hoch individuell ist, zahlen die Folgekosten alle Steuerzahler:innen mit. Immer wieder angeführt als vermeintliches Gegenargument: die KfZ-Steuer, die aber nicht mal ansatzweise die Kosten dessen abdeckt, was der Autoverkehr mit sich bringt: Verkehrstote, instand zu haltende Infrastruktur und Klima- sowie Umweltbelastungen. Das sind Folgekosten in Höhe von 141 Milliarden Euro pro Jahr.[22]

Immer mehr Menschen nutzen das Auto. In den letzten 25 Jahren legte das Auto als Fortbewegungsmittel um fast 20 Prozent zu, während die ÖPNV-Nutzung um 20 Prozent zurückging.[23] Liegt das an der hochattraktiven Automobilität – oder vielmehr daran, dass wir diese priorisiert und alle Alternativen zusammengeschrumpft und nicht gepflegt haben? Durch unseren unbändigen Glauben an das Auto, das sich nicht jeder Mensch leisten kann, durch den Zwang zum Führerschein, den unsere Gesellschaft ausübt, haben wir versäumt, immer auch an jene zu denken, die nicht automobil sein können oder wollen. Das zeigen nackte Zahlen.

Die folgenden Zahlen entstammen der Längenstatistik der Straßen des überörtlichen Verkehrs des Bundesverkehrsministeriums mit dem Stand 1. Januar 2020.

Deutschland hat rund 830000 Kilometer Straßen, davon sind knapp 230000 Kilometer überörtlich. 13200 Kilometer sind Autobahnen. Zum Vergleich die Bahnstrecken in Deutschland: 38600 Kilometer, davon 21000 Kilometer elektrifiziert.[24]

Eine gute Bahn gibt es nicht zum Nulltarif. Zwischen 2016 und 2020 stiegen die jährlichen Schieneninvestitionen von 64 Euro auf 88 Euro pro Kopf und damit um knapp 38 Prozent. Immerhin. Doch wir sind die Eingleisigen unter den Schienensträngen. Zum Vergleich: Luxemburg investierte 2020567 Euro, die Schweiz 440 Euro und Österreich 249 Euro pro Kopf ins jeweilige Schienensystem.[25] Die Politik ist bei uns bis heute nicht bereit, genug in das deutsche Schienensystem zu investieren. Während Österreich 67 Prozent aller Infrastrukturinvestitionen im Bahnbereich tätigte, waren es in Deutschland nur 48 Prozent.

Zudem hat die Schiene immer noch keinen Vorrang in der deutschen Verkehrspolitik. Es wird mehr Geld für Fernstraßen ausgegeben als für Gleise. Und das, obwohl Deutschland bereits eines der dichtesten Verkehrsnetze in Europa hat und es keinen objektiven verkehrlichen Bedarf mehr an neuen Fernstraßen gibt.

Das führt unter anderem auch dazu, dass immer mehr Druck auf Arbeitnehmer:innen lastet, eine längere Anreise mit dem Auto in Kauf zu nehmen. Auch eine Entwicklung, die Menschen mit Vorbelastungen ausschließt, denen solche Wege zur Arbeit unmöglich sind.[26] Zudem: Vor allem Gutsituierte und Menschen in höheren Hierarchieebenen pendeln lange Wege zwischen Wohnort und Arbeitsort. Der Anspruch an Arbeitnehmer:innen, die Präsenzpflicht in immer entfernteren Orten wahrzunehmen, stieg in den vergangenen Jahren an.

2020 waren 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nicht an ihrem Wohnort tätig. Jeden Tag machen sich 20 Millionen Menschen auf den Weg zur Arbeit, manche von ihnen über Hunderte von Kilometern am Tag.[27] Städte mit teuren Mieten trifft das Phänomen doppelt, weil neben der innerstädtischen Automobilität auch die der Pendler:innen von außen die Gesundheit und Psyche der Stadtbewohner:innen belasten.[28]

Zahlreiche Untersuchungen belegen inzwischen, dass Pendler:innen im Verlauf der Zeit häufiger unter Rücken- und Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden und anderen funktionellen Beschwerden leiden. Zudem gibt es Hinweise auf ein erhöhtes Herzinfarkt- und Adipositas-Risiko.

Der Druck auf den arbeitenden Menschen, sich möglichst flexibel und anpassungsfähig zu zeigen, hat seltsamerweise trotz wachsender Möglichkeiten von Onlinearbeit zugenommen. Auch meine Interviews im Kapitel Mensch zeigen, dass weiterhin viele Arbeitgeber:innen auf Präsenz im Büro bestehen, obwohl während der Pandemie anderthalb Jahre erfolgreich von zu Hause aus gearbeitet wurde. Nicht wenige der von mir interviewten Personen sind daher auf Jobsuche, weil sie es nicht akzeptieren, viel Lebenszeit mit dem Pendeln zum Job zu verbringen. Am 1. Juli 2021 endete das Recht auf Homeoffice, das zuvor für Arbeitnehmer:innen in entsprechend geeigneten Berufen gegolten hatte. Um Pendler:innen zu schützen, aber auch, um öffentliche Verkehrsmittel zu entlasten, war diese Maßnahme im Rahmen der Corona-Arbeitsschutzverordnung angeordnet worden, die manche Chef:in erstmalig dazu zwang, ihren Mitarbeiter:innen diesen Freiraum zu schaffen. Nicht wenige, so auch Exchefs von mir (Gendern an dieser Stelle nicht notwendig), hatten sich zuvor gegen jegliche Flexibilisierung der Arbeit gestemmt. Kontrolle first, Vertrauen second. Der Erfolg von Arbeit misst sich in meiner Welt an den Ergebnissen, nicht an der Anwesenheit an einem ganz bestimmten Schreibtisch. Wie sehen Sie das? Das Soziale sollte der treibende Faktor sein, der die Zusammenkunft im Büro steuert, nicht die Kontrolle der Angestellten.

Nicht jede:r Chef:in aber ist willens, dieses Vertrauen zu geben. Und so entsteht eine Abhängigkeit vom guten Willen der Vorgesetzten – und damit auch eine vom Auto, das mensch vielleicht aufrichtig hasst, aber fahren muss. Anders die Niederlande: Hier gibt es seit 2015 das Recht auf Homeoffice für alle, die länger als 26 Wochen in einem Unternehmen mit mehr als zehn Arbeitnehmer:innen tätig sind. Bereits vor der Pandemie wurde so ein Anteil von 37 Prozent (2019) Arbeitnehmer:innen verzeichnet, die nicht am Arbeitsort tätig waren. Nicht auszudenken, wie wir Verkehre, Städte, Unternehmen, das Klima und die Menschen entlasten könnten, hätten wir in Deutschland einen Anteil von 30 Prozent der Beschäftigten, die nicht am Arbeitsort tätig sind. Dabei bitte beachten: Homeoffice und mobiles Arbeiten/Telependeln sind nicht dasselbe. Mir sind die Schwierigkeiten der räumlichen Vereinbarung von Wohn-, Familien- und Schlafort bewusst. Da der aktuelle Status quo Autobesitz voraussetzt, sind viele Wege zwischen diesen verschiedenen Orten im Alltag ohne Auto schwer zu organisieren. Das ist furchtbar, weil es von