Backstage - Peter-Lukas Graf - E-Book

Backstage E-Book

Peter-Lukas Graf

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Beschreibung

Aus seiner großartigen Karriere weiß Konzertflötist und Dirigent Peter-Lukas Graf Informatives, Spannendes und Unterhaltsames zu berichten. Das Buch entstand aus einem Schriftwechsel mit dem japanischen Flötisten Saito Kan. Es liefert Informationen rund um die Flöte und ihrer Musik und bietet Einblicke in ein weltgewandtes Leben.

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PETER-LUKAS GRAF

BACKSTAGE

ÜBER MUSIK, DIE FLÖTEUND DAS LEBEN

Liebe Leserinnen und Leser,

im Vorwort der japanischen Lizenzausgabe gibt der Initiator dieser Publikation, Kan Saito, Aufschluss über die besondere Entstehungsgeschichte der vorliegenden zweiundfünfzig Texte. Er schreibt:

»Es war mein Traum, ein Buch über Peter-Lukas Graf herauszubringen. Dieser Meister ist zwar für uns als eminenter Musiker und durch seine vier Studienwerke präsent: Check-up, Interpretation, The Singing Flute und Study with Style. Seine Persönlichkeit wird jedoch durch kleine Interviews nur unbefriedigend charakterisiert. Als ich im August 2018 Peter-Lukas Graf in Tokyo begegnete, versuchte ich vergeblich, ihn für eine Biografie zu gewinnen. Hingegen akzeptierte er die Idee, wöchentlich Fragen und Antworten per E-Mail auszutauschen. So hatte ich während eines Jahres (zweiundfünfzig Wochen!) die Möglichkeit, zu Vielem, was mich beschäftigte und interessierte, die persönlichen Ansichten und Standpunkte des Künstlers zu erfahren. Ich hoffe, das so entstandene kleine Buch werfe ein authentisches Streiflicht auf eine über siebzigjährige Musikerlaufbahn und sei für viele Flötisten, Musiker und Musikliebhaber eine Anregung beim eigenen Musizieren.«

Gerne schließe ich mich diesem Wunsche an, und würde mich freuen, Ihr Interesse für meine musikalischen Ausblicke auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geweckt zu haben.

Peter Lukas Graf

Aus inhaltlichen und Gründen besserer Lesbarkeit wird in diesem Buch stellenweise auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet.

Layout und Coverdesign: Elke Dörr, Schott Music

Cover-Foto: Aline Kundig

Bestellnummer der Printausgabe: ED 23424

Bestellnummer des E-Books: SDP 161

ISBN: 978-3-7957-2155-8

eISBN: 978-3-7957-8773-8

© 2020 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

INHALT

1. FLÖTE

Repertoire

Transkriptionen

Ein neues Stück?

Solfège

Die französische Schule

Traversflöte

Neue Techniken

Flötistinnen und Goldflöten

Metall oder Holz?

»Großer Ton«

Körperbewegungen

Vibrato

Transponieren

Etüden

Meine Flötenbücher

Als Flötist »in Form«

Meine Beziehung zur Flöte

2. MUSIK

Konzert und Wettbewerb

Faszination Konzert

Musikaufnahmen

Persönliche Interpretation

Meinungsverschiedenheiten

Melodie und Harmonie

Kadenzen

Rubato

Metronom, Tempo, Groove

Barockmusik

Stimmton (Kammerton)

Temperierte Stimmung

Klang

Unterricht

Fremde Musik

Kultur-Import

Schicksal von Kompositionen

Programmgestaltung

Zeitgeist

Krieg und Musik

Musik heute

3. AUS MEINEM LEBEN

Erste musikalische Erfahrungen

Eigene Aufnahmen

Joplin und Piazzolla

Allgemein »in Form«

Karriere – Zufall oder Schicksal?

Befindlichkeiten

Zusammenspiel

Spielen und Dirigieren

Genie und Talent

Dirigenten von einst

Begegnungen

Zwei peinliche Momente

1939-1945

»Guter Rat«

1. FLÖTE

Repertoire

Der Katalog von Bernard Pierreuse weist mehrere tausend Komponisten und eine Unzahl für Flöte geschriebener oder für Flöte transkribierter Werke auf. Trotzdem beklagen wir Flötisten und Flötistinnen uns gerne über die beschränkte Literatur für unser Instrument. Denn was wir vergeblich suchen, sind Original-Kompositionen unter den größten Namen der klassischen und romantischen Periode. Wir sind zwar dankbar für die zufällig entstandenen Auftragswerke Mozarts, für die Beethoven-Serenade, für die Trocknen Blumen von Schubert und für die spät-romantischen Stücke von Carl Reinecke. Aber Mendelssohn, Brahms und Schumann existieren überhaupt nicht im Flöten-Repertoire.

Warum?

Mozart schrieb einmal in einem Brief an seinen Vater, er habe keine Lust, für Flöte zu komponieren. Und Schumann soll auf die Frage, was schlimmer sei als eine Flöte, geantwortet haben: »Zwei Flöten«! Hieraus zu schließen, dass die Komponisten das Instrument nicht mochten, halte ich für falsch. Immerhin haben sie die Flöte im Orchester gerne und wirkungsvoll eingesetzt.

Für das Fehlen von Solo-Literatur gibt es andere Gründe. Im 19. Jahrhundert gab es einschneidende Entwicklungen: Die Konzertsäle und die Orchester wurden größer, aus dem Hammerklavier wurde der moderne Flügel, auch alle anderen Instrumente wurden lauter, und mehrere Versuche wurden unternommen, die Flöte den veränderten Anforderungen anzupassen. Bei diesem Wettbewerb im Flötenbau hat Theobald Böhm den Sieg davongetragen. Den neuen musikalischen Bedürfnissen – größeres Volumen, klangliche Ausgeglichenheit, genauere Intonation – wurde die Böhmflöte am besten gerecht. Sie setzte sich allerdings nur allmählich durch, und die erweiterten Möglichkeiten waren vielleicht damals noch nicht bekannt genug, um Komponisten zum Schreiben für das neue Instrument anzuregen.

Viel maßgeblicher für das Repertoire-Manko scheint mir jedoch der Charakter des Instruments zu sein. In seiner Orchestrationslehre beschreibt Rimskij-Korsakow den Klang der Flöte als »matt und kühl« und empfiehlt sie für Melodien lieblichen oder leichten Charakters, allenfalls in Moll für den Ausdruck von »oberflächlicher Melancholie«. Er hält sie für nicht imstande, Leiden und tiefe Traurigkeit zu charakterisieren. Romantisches Empfinden betont aber genau dies: starke, subjektive, leidenschaftliche Gefühle. In solchem Zusammenhang dachte im 19. Jahrhundert niemand an Flötenspiel. »Flöte« hieß: süße Melancholie (Reigen seliger Geister), Magie (Zauberflöte), Vogelgezwitscher (Cardellino) und virtuose Beweglichkeit (Sommernachtstraum).

Ich wurde neulich gefragt, welche Flötenkonzerte mir die liebsten seien. Während barocke und klassische Stücke für alte Instrumente komponiert wurden, setzen die Konzerte von Reinecke, Ibert und Nielsen die Möglichkeiten der Böhmflöte voraus, das heißt, erweiterte dynamische Skala und Farbigkeit oder musikalisch ausgedrückt: kantables, flexibles Espressivo. Deshalb sind für mich als Flötisten diese neueren Werke die interessanteren, die »dankbareren«.

Transkriptionen

Die Vorstellung von »Flöte« ist von jeher verbunden mit sanfter Lyrik einerseits und vogelgesangartiger Agilität andererseits. Diese für unser Instrument typischen Ausdrucksbereiche manifestierten sich in musikalischen Werken von Gluck bis Debussy, von Vivaldi bis Saint-Saëns und Berio. Niemand möchte den Reigen seliger Geister oder Syrinx von einem anderen Instrument gespielt hören, ebenso wenig wie Il cardellino, Volière und Sequenza 1. Diese Stücke sind von der Flöte inspiriert und für die Flöte komponiert, gleichsam »Flöte pur«.

Im Barock-Zeitalter war Transkription eine gängige Praxis. Manche Kompositionen waren von der Idee und vom Charakter her wenig auf bestimmte Instrumente ausgerichtet und ließen sich ohne musikalischen Verlust in verändertem Klang darbieten. Beispielsweise ist die Allemande der Bachschen Solosonate für Flöte kein typisches Flötenstück und kann ebenso gut, vielleicht sogar besser, auf der Geige gespielt werden.

Je mehr Klangvorstellung und instrumentale Charaktereigenschaften wesentliche Aspekte einer Komposition sind, desto fragwürdiger wird die Transkription. Ein Traversflöten-Spieler wird sich auf Grund der instrumentalen Eigenschaften kaum mit Pagaganinis Capricen beschäftigen. Auf der Böhmflöte ist dies hingegen möglich geworden. Zunehmend erlaubt der hohe spieltechnische Standard der Flötisten, auch Werke zu spielen, die für Violine komponiert wurden, zum Beispiel die Sonate von Franck und die Konzerte von Mendelssohn und Chatschaturjan. Bei solchen Transkriptionen frage ich mich immer: Ist auf der Flöte ein dem originalen Instrument entsprechender Ausdruck möglich? Wenn nicht, ist eine für die Flöte umgestaltete Version musikalisch vertretbar?

Mein Sohn Florian Graf ist bildender Künstler. In einer seiner Ausstellungen zeigte er diverse Skulpturen, die trotz exakt gleichbleibender Form und identischer Proportionen, jedoch dank unterschiedlichem Material, unterschiedlicher Größe und unterschiedlicher Farbe eine jeweils neue, interessante Wahrnehmung eröffneten. Unwillkürlich zog ich den Vergleich zur musikalischen Transkription, bei der wir durch das Erlebnis von typischen Klang- und Charaktereigenschaften eines anderen Instrumentes eine ähnliche Erfahrung machen und einen neuen Bezug zum gleichen Werk gewinnen.

Ein neues Stück?

Zuerst stelle ich fest, um welche Art von Komposition es sich handelt: Ist es ein Solostück? Ist es mehrstimmige Kammermusik? Ist es ein Stück mit Klavier? Ist es ein barockes Stück mit Basso Continuo? Ist es ein Stück mit Orchester? So banal dies klingt – meine Erfahrung mit Studierenden zeigt, dass eine solche Klarstellung nicht immer selbstverständlich ist. Denn Bläser und Streicher neigen dazu, sich sofort und primär für die eigene Stimme zu interessieren und den Blick auf die Gesamtpartitur zu vernachlässigen. Dies ist verständlich und sogar logisch, denn in erster Linie haben sie ihre Einzelstimme zu realisieren. Zum Beispiel müssen sie herausfinden, was prima vista nicht zu bewältigen ist und was technische Arbeit und Zeit erfordert. Dabei besteht Gefahr, die eigene Stimme isoliert, das heißt aus dem musikalischen Zusammenhang gelöst zu betrachten.

Um dies zu vermeiden habe ich mir ein doppeltes Notenpult angeschafft, das eigentlich für Duo-Spieler gedacht und konstruiert ist. Auf der einen Seite liegt meine Flötenstimme, auf der anderen die Partitur. Dies erlaubt mir jederzeit, mittels einer einfachen Drehung des Pultes, die Bedeutung und Funktion meiner Stimme im Gesamtwerk zu erkennen. Ich empfehle dringend ein solches Doppelpult!

Solfège

Im Jahr 1947 kam ich als Achtzehnjähriger nach Paris. Damals bestand am Conservatoire National die Ausbildung eines Berufsflötisten nur aus zwei Fächern: Flöte und Solfège. Denn was musste ein Orchestermusiker können? Gut spielen und gut prima vista spielen!

Zum Solfège-Unterricht (das heißt zum Entziffern und Erlernen eines musikalischen Textes) gehört die in Frankreich und Italien, nicht aber in Deutschland und der Schweiz übliche Methode der Solmisation, nämlich singend gleichzeitig die Töne (mit do-re-mifa-sol-la-si) zu benennen. So kam es, dass zu Beginn meines Pariser Studiums nicht die Flöte, sondern Solfège meine Hauptsorge war. Als Anfänger fand ich mich Kindern gegenüber, die mühelos schwierige, sogar in verschiedenen Schlüsseln notierte Melodien prima vista singen konnten. Nur durch stundenlanges Training erreichte ich eine akzeptable Fertigkeit, ohne aber mit der Virtuosität der meisten französischen Musiker wetteifern zu können.

So sehr ich vom Nutzen und den Vorteilen dieser Art von Solfège überzeugt bin, so sehr muss man sich bewusst sein, dass sie ein Hilfsmittel, nicht aber ein Ziel sein kann. Wozu hat ein Oboist gelernt, seine Orchesterstimme bewundernswert korrekt zu solmisieren, wenn es mit dem Dirigenten, ich erzähle ein persönliches Erlebnis, zu folgendem Dialog kommt? Es ging um zwei halbe Noten in einer Mozart-Sinfonie, die ich, weil vom Oboisten unnatürlich tenuto gespielt, besser artikuliert, das heißt leicht verkürzt verlangte. Mit gezücktem Bleistift hielt der Angesprochene fest, dass ich offenbar Mozart ändern, das heißt anstatt der halben Noten punktierte Viertel mit Achtelpause wolle. Auf diese Weise »korrigierte« er seine Stimme …

Damit will ich sagen: Mit Solfège lernt man Musik lesen, aber nicht Musik verstehen!

Die französische Schule

Mein Lehrer André Jaunet war Franzose und meines Wissens der erste Bläser französischer Tradition im deutschsprachigen Raum. Als Soloflötist des Zürcher Tonhalle-Orchesters gelangte er schnell zu lokaler Berühmtheit. Auf die Frage, was dabei neu, besser und bewundernswert war, würde ich antworten: Es war sein klanglich bestimmtes Espressivo-Spiel. Denn während sich Flötisten deutscher oder englischer Schule eher durch Solidität, kräftigen Ton und gute Intonation definierten, lag in der französischen Schule der Fokus erstrangig auf der Klangästhetik und der sauberen, nebengeräuscharmen Artikulation. Ein etwas bösartiges Bonmot sagte damals: »Die Franzosen spielen Flöte, die Deutschen blasen Flöte«.

Ich durfte am Pariser Conservatoire National studieren und erlebte es als Selbstverständlichkeit, dass in jedem dortigen Orchester ein hervorragender Flötist saß, der – dies entdeckte ich erst später – den Flötisten in ausländischen Orchestern überlegen war. Ich selbst konnte von der damals wirkungsvollsten aller Referenzen profitieren: Mit einem Premier prix des Pariser Instituts standen einem viele Türen offen.

Heute gibt es keine »Schulen« mehr. Während ich vor ein paar Jahrzehnten bei internationalen Wettbewerben die Herkunft von Kandidaten leicht und oft sehr genau bestimmen konnte, gelingt es mir jetzt kaum mehr, Europäer von Japanern und Amerikaner von Chinesen oder Russen zu unterscheiden.

Was ist geschehen?