Balkan Blues - Petros Markaris - E-Book

Balkan Blues E-Book

Petros Markaris

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Beschreibung

Go to Hellas! neun Geschichten über Athen. Die Fußballeuropameisterschaft ist gewonnen, die Olympiade steht an. Mit neuerwachtem Patriotismus feiern die Griechen ihre Feste, derweil die Einwanderer aus Albanien, Bulgarien und Russland sich durchs Leben schlagen, so gut es eben geht. Auch im Einsatz: Kommissar Charitos.

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Seitenzahl: 192

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Petros Markaris

Balkan Blues

Geschichten

Aus dem Neugriechischen vonMichaela Prinzinger

Titel der 2004 bei

Samuel Gavrielides Editions, Athen,

erschienenen Originalausgabe:

›Αθήνα, Πϱωτεύουσα των Βαλϰανίων‹

Copyright © 2004 by

Petros Markaris und Samuel Gavrielides Editions

Die Texte wurden für die 2005 im

Diogenes Verlag erschienene deutsche Erstausgabe

in Zusammenarbeit mit dem Autor

nochmals durchgesehen

Die Geschichte Ein Kindermärchen

ist neu in den Band aufgenommen worden

Umschlagfoto Pierre Couteau/

Apa Publications (HK) Ltd.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23625 5 (4.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60321 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Engländer, Franzosen, Portugiesen…  [7]

Ein Kindermärchen  [69]

Tatjanas Emanzipation  [92]

Kaffee Frappé  [107]

Suite für Violine und Flöte  [122]

Ohne Kulisse  [149]

Green Card  [168]

Im Vorbeigehen  [186]

Sonja und Varja  

[7] Engländer, Franzosen, Portugiesen…

Erster Abend: Frankreich – Griechenland 0:1

»Paß auf, Seitaridis, Henry büchst dir gleich aus!… Nur gut, daß du den Ball ins Aus gebracht hast. Großes Talent, aber keine Erfahrung… Dellas, das war göttlich! Du hast Zizou die Hosen ausgezogen!… Fyssas, du Trottel, mußt du jetzt rumdribbeln? Jetzt versteh ich, warum dich Panathinaikos als Gastarbeiter zu Benfica geschickt hat… Karagounis, gib ab an Basinas. Nicht doch, Vryssas, nicht doch! So spielt man doch nicht Fußball! Deshalb bist du bei Fiorentina gelandet!… Zagorakis, mein Alter, was für ein Haken, jetzt hast du Lizarazu stehenlassen… Flanke, mein Goldstück, Flanke, mein Süßer, Flanke… Ja… jaaaa… Auf Charisteas… Tor! Toor! Toooor! Tooooor!«

Wer hier schreit und brüllt, das ist Fanis Ousounidis, Kardiologe, Oberarzt an der Herzklinik des Allgemeinen Staatlichen Krankenhauses Athen, [8] mein behandelnder Arzt und inoffizieller Verlobter meiner Tochter. Den Arzt Fanis Ousounidis habe ich vor vier Jahren im Allgemeinen Krankenhaus kennengelernt, und ich schätze ihn sehr. Den Fußballfan lerne ich erst heute abend kennen, und den schätze ich gar nicht.

»Beruhige dich, am Ende muß ich dich mit einem Herzanfall in deine eigene Klinik einliefern«, sage ich zu ihm.

»Hier geht’s um das Halbfinale! Wer denkt da an einen Herzanfall?« Und wie zur Illustration schreit er: »Lizarazu, Basinas! Knöpf dir Lizarazu vor!«

»Und was ist mit euren Ratschlägen an uns Patienten, daß wir uns nicht aufregen sollen?«

»Genau der richtige Zeitpunkt für eine medizinische Fachdiskussion!« entgegnet er verärgert und ohne den Blick von der Mattscheibe zu lösen.

»Laß den Mann doch in Ruhe das Spiel sehen!« mischt sich Adriani ein. »Gerade jetzt mußt du deinen Mund aufmachen? Wenn wir zwei allein sind, muß man dir jedes Wort aus der Nase ziehen.«

Es war Adrianis Idee gewesen, daß Fanis bei uns das Match gucken sollte. Sie hatte sogar angeboten zu kochen. Ich schlug ihr vor, Souflaki zu holen, da Souflaki, wie ich von meinen Assistenten wußte, zum Zeremoniell eines Fußballfernsehabends [9] gehören. »Heute abend gibt’s Souflaki zum Fußball«, freut sich Dermitsakis jeden Mittwoch zwischen September und Mai. Adriani jedoch wischte den Vorschlag schnell vom Tisch. »Wir werden Fanis doch nicht mit Souflaki abspeisen. Laß nur, ich bereite etwas ohne Bratfett zu. Das ist bekömmlicher und schlägt einem auch während der Aufregung des Spiels nicht auf den Magen.« Sie kochte Hackfleischbuletten und Zucchinipitta. Äußerst schmackhaft, aber Souflaki sind doch ein anderes Kaliber, da kann man sagen, was man will.

Fanis blickt alle naselang auf seine Uhr. »Fünf Minuten noch, meine Griechen! Fünf Minuten noch, dann stehen wir im Halbfinale!« ruft er.

Draußen ist ein ohrenbetäubendes Hupkonzert zu hören.

»Was feiern die denn? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, bemerkt Adriani, da der Ball auf dem Bildschirm immer noch hin- und hergekickt wird.

»Das ist wie bei der Ostersuppe, die fängt man auch schon vor der Auferstehung zu essen an!«

»Pfeif endlich ab, komm schon! Pfeif ab, mach!« fleht Fanis. »Mußt du die Nachspielzeit bis zur letzten Sekunde ausreizen? Aber was kann man von einem schwedischen Federfuchser anderes erwarten?« Scheinbar hat der Schwede ihn gehört, [10] denn trotzig quält er ihn noch eine Minute länger, bevor er abpfeift.

»Wir sind weiter! Wir sind im Halbfinale!« Fanis springt auf und hüpft mit hochgerissenen Armen und geballten Fäusten durch die Wohnung. Kaum zu glauben, daß dieser Mann am Morgen noch Kardiogramme gemacht und Rezepte ausgestellt hat. Er faßt mich am Arm und zieht mich mit sich fort. »Komm, gehen wir!«

»Wohin denn?«

»Zum Omonia-Platz, zum Syntagma-Platz, irgendwohin! Heute abend geht es in Athen hoch her, Kommissar!«

»Was du nicht sagst! Und überhaupt: Was haben wir denn damit zu tun?«

Er blickt mich an, als könne er seinen Ohren nicht trauen. »Du willst an so einem Abend zu Hause bleiben?«

»Recht hat er!« sekundiert Adriani. »Wann haben wir denn zum letzten Mal etwas zu feiern gehabt? Wenn ich da an die Rüffel denke, die wir uns wegen der Zypernfrage und wegen Mazedonien eingehandelt haben.«

Das sagt sie weniger, weil sie feiern möchte, sondern weil sie unsere eheliche Beziehung als Preference-Spiel auffaßt und stets mit dem Dritten gegen mich spielt, als wäre ich der Abzocker. Ich gebe [11] nach – es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als an der nationalen Feierlichkeit teilzunehmen. Ich lenke ein, vorwiegend, um Fanis nicht den Spaß zu verderben.

In der Protesilaou-Straße ist alles noch ruhig. Nur ein paar Autohupen skandieren den Rhythmus. Zwischen der Ifikratous- bis hin zur Filolaou-Straße steigert sich das Hupkonzert kontinuierlich. Zugleich nimmt auch die Anzahl der Leute zu, die johlend Fahnen schwenken. Mit Mühe gelingt es uns, bis zum Pallas-Kino vorzudringen, wo die Fußgänger und Fahrzeuge zum Stillstand kommen.

»Vorsicht, wir dürfen uns nicht verlieren!« ruft Adriani und klammert sich an meinen Arm. Fünf Meter weiter winkt uns Fanis zu.

Einige junge Männer, welche die griechische Flagge wie einen Kaftan am Leib tragen, rufen im Vorübergehen: »Die Franzosen, die Franzosen, die verlieren ihre Hosen!« Einer klopft mir auf die Schulter. »Sieh mal einer an, sogar der Opa traut sich auf die Straße, um zu feiern! Bravo, bist noch gut beisammen, Opa!«

Ein Mann meines Alters, der einmal noch vorn geschubst, dann wieder nach hinten gedrängt wird, bemerkt gerührt: »Ein geeintes Volk ist ein freies Volk, mein Herr. Ein geeintes Volk ist ein freies Volk.«

[12] Ich weiß nicht, ob es der Grieche in mir ist, der selbst nach einem gewonnenen Tavlispiel ausflippt, oder der Bulle, der sich an einer friedlichen Kundgebung begeistert – jedenfalls finde auch ich langsam Gefallen an der ganzen Sache.

Mein Schicksal scheint es jedoch zu sein, daß in neun von zehn Fällen gerade dann, wenn ich Gefallen an etwas zu finden beginne, der Spaß auch schon zu Ende ist. Ich spüre, wie Adriani mich am Ärmel zupft.

»Dein Handy klingelt.«

Zum einen hatte mich Adrianis Beharrlichkeit dazu gebracht, mir ein Mobiltelefon zuzulegen, zum anderen die Beschwerden auf der Dienststelle und Gikas’ Geschimpfe, mit meinem Beeper bilde ich das Fossil der Abteilung. Ich kaufte mir eins, um meine Ruhe zu haben. Am Ende kaufe ich mir auch noch einen Hyundai, so wie jeder zweite Grieche, um mit meinem Mirafiori nicht mehr als Fossil der Abteilung dazustehen.

Ich führe das Gerät ans Ohr, während ich mir das andere zuhalte, um überhaupt etwas zu verstehen. Vlassopoulos’ Stimme klingt, als spräche er aus dem Jenseits.

»Herr Kommissar, Sie müssen sofort ins Olympiastadion. Es ist dringend!«

»Wieso? Ist das Dach von Calatrava eingestürzt?«

[13] »Vielleicht, keine Ahnung. Ich weiß nur, daß es sich um eine Anweisung vom Chef handelt. Er ist auch schon unterwegs.«

»Hol mich mit dem Streifenwagen ab. Ich warte an der Ecke Formionos- und Imittou-Straße, bei dem Verkehr komme ich sonst nie an.«

Adriani lasse ich unter Fanis’ Obhut zurück. Die Strecke vom Pallas-Kino zur Ecke Formionos-Straße beträgt fünf Häuserblocks, aber ich brauche dafür eine dreiviertel Stunde. Der Streifenwagen erwartet mich bereits.

»Wie kommst du denn so schnell hierher?« frage ich verwundert.

»Ich hab einen Streifenwagen von der Verkehrspolizei in Kessariani angefordert.«

Er grinst und erwartet vergeblich ein Lob für seinen Geistesblitz. Der Fahrer schlägt die Route nach Zografou ein, um auf den Kifissias-Boulevard zu gelangen und ab Maroussi die Spyros-Louis-Straße zu nehmen. Glücklicherweise kommen wir auf der ganzen Strecke zügig voran, und auf der Spyros-Louis-Straße herrscht das übliche Verkehrsaufkommen. So gelangen wir in einer Viertelstunde zum Olympiastadion.

Am Eingang erwartet mich ein großgewachsener Fünfzigjähriger mit einem sonnengebräunten Gesicht. Er ist so aufgeregt, daß er auf uns [14] zurennt und wie ein Hoteldiener den Wagenschlag aufreißt.

»Ingenieur Kalavrytis.«

»Kommissar Charitos. Sie haben uns verständigt?«

»Ja. Kommen Sie, ich muß Ihnen etwas zeigen.«

Er schreitet voran und führt mich zu den olympischen Wettkampfstätten. Im Dunkeln kann ich den Umriß des Stadions und darüber die Dachkonstruktion von Calatrava erkennen. Zu unserer Linken erstrecken sich ein paar provisorische, schießbudenartige Bauten.

»Das sollen Kantinen werden«, erläutert Kalavrytis. Dann deutet er auf etwas, das wie eine riesige Trennwand aussieht. »Das ist die Wand der Nationen. Darauf werden Bilder projiziert, und es wird aussehen, als schwebe sie durch die Luft.«

»Verschieben wir die Führung nicht lieber auf später?« meine ich.

Sogleich kommt er zur Besinnung und unterbricht sein Fachsimpeln.

»Sie haben recht. Hier, bitte sehr.«

Vor mir liegt ein riesiges Bassin mit einem Springbrunnen in der Mitte. Es ist noch leer und rundherum liegt Erde aufgeschüttet. Plötzlich gehen die Scheinwerfer am Grund des Bassins an, und der ganze Raum wird erhellt.

[15] »Sehen Sie«, meint Kalavrytis und deutet auf einen Punkt außerhalb des Bassins.

Aus der aufgeschütteten Erde ragt eine menschliche Hand, die sich uns entgegenstreckt, als hätte sie uns gerade mit Dreck beworfen – die klassische, beleidigende Handbewegung, die sogenannte Moutsa.

»Ruf die Spurensicherung«, sage ich zu Vlassopoulos neben mir. »Und die Gerichtsmedizin.« Vlassopoulos entfernt sich im Laufschritt, und ich wende mich Kalavrytis zu. »Wer hat das entdeckt?«

»Die albanischen Arbeiter, die Pflanzgruben für die Bäume ausheben.« Und er deutet auf einige verhungerte Bäumchen inmitten kreisrunder Beete. »Sie haben die Hand aus dem Schutt ragen sehen, da haben sie mich sofort gerufen. Morgen wollten wir den umliegenden Platz betonieren, gegenüber der Wand der Nationen, von der ich Ihnen erzählt habe. Ich habe auf der Stelle die Arbeiten einstellen lassen und sie in einem Container eingeschlossen, damit sie es nicht rumerzählen. Dann habe ich Sie verständigt.«

»Gut gemacht. Holen Sie jetzt zwei Arbeiter zum Ausbuddeln her.«

»Wollen Sie nicht auf Ihren Vorgesetzten warten? Er soll gleich hier sein.«

[16] »Wieso sollte ich auf ihn warten? Hat er gesagt, daß er selbst schaufeln will?«

»Nein, aber… Vielleicht will er beim Fund der Leiche dabei sein…«

»Woher wissen Sie, daß wir eine Leiche finden werden?«

Er blickt mich überrascht an.

»Kann sein, daß man nur die Hand eingegraben hat und nichts weiter«, erläutere ich.

Der Gedanke scheint ihn zu erleichtern, und sein »Hoffentlich!« klingt wie ein tiefer Seufzer. Er geht los, um die Arbeiter zu holen, aber ich halte ihn zurück.

»Mir sind Arbeiter lieber, die kein Griechisch sprechen.«

Er lacht auf. »Keiner von denen spricht Griechisch. Wir setzen sie nachts in Albanien in einen Reisebus, und am Morgen gehen sie gleich an die Arbeit, um die Olympiabauten rechtzeitig fertigzustellen. Wann sollten sie da Griechisch lernen?«

Erst als ich allein zurückgeblieben bin, untersuche ich die Hand genauer. Mein erster Gedanke scheint sich nicht zu bestätigen. Rundherum wurde ziemlich viel Erde ausgehoben, und wäre nur der Arm eingegraben worden, dann wäre er vermutlich ganz zur Seite gesunken oder zumindest etwas in Schieflage geraten. Ich fürchte sehr, daß wir, [17] wenn wir weitergraben, auch den Körper finden werden, der dem Arm den nötigen Halt bietet. Ich gehe um das Bassin herum. Auf der anderen Seite erheben sich Arkaden aus Metall, die parallel zum Calatrava-Dach verlaufen und an einen langen, überdachten Wandelgang erinnern. Die Arbeiten dort drüben scheinen abgeschlossen zu sein. Plötzlich kommt mir der Gedanke, daß diejenigen, welche die Hand eingegraben haben, sie nicht irrtümlich, sondern mit voller Absicht in die Höhe ragen ließen. Wieso aber? Wieso sollte man die Aufmerksamkeit auf jemanden lenken, den man aller Wahrscheinlichkeit nach getötet und mit hundertprozentiger Sicherheit illegal beigesetzt hat? Vielleicht kriege ich mehr heraus, wenn wir den Toten ausgraben.

Kalavrytis taucht plötzlich unter der Arkade auf, gefolgt von zwei Albanern, die mit Hacke und Schaufel ausgerüstet sind. Ich zeige ihnen, wie sie rund um den Arm graben sollen, damit sie mir nicht unabsichtlich den Körper zerhacken. Kurze Zeit später kommt allmählich ein männlicher Leichnam zum Vorschein.

»Pech gehabt!« meint Kalavrytis enttäuscht. »Da liegt doch eine Leiche.«

Ich gebe keine Antwort, da ich in der Zwischenzeit meine Meinung geändert und nichts [18] anderes erwartet habe. Ich packe eine Schaufel und zeige den beiden Albanern, wie man die Erde von der Leiche entfernt, ohne Schaden anzurichten. Somit kommt langsam der Körper eines splitternackten Mannes ans Licht – Mitte dreißig und mit dunklen Locken. Seine Augen sind geschlossen, und der linke Arm liegt eng an den Schenkel gepreßt. Die Hand, die uns die Moutsa gezeigt hat, war die rechte.

Auf dem nackten Bauch des Toten steht mit schwarzer Schrift geschrieben: AL-QAIDA.

»Oh, nein!« zischt Kalavrytis neben mir. »Mein Gott, nur das nicht!«

Ich sage nichts und starre auf ein nacktes Opfer der al-Qaida, dessen ausgestreckte Hand uns mit der Moutsa beleidigt.

Zweiter Abend: Griechenland – Tschechien 1:0

Der amerikanische Agent steht hinter Kriminaldirektor Gikas, meinem Vorgesetzten, und blickt einmal auf uns und dann wieder aus dem Fenster auf den Verkehr des Alexandras-Boulevards. Gikas paßt es überhaupt nicht, daß er ihn im Nacken hat, doch er kann nichts dagegen tun. In einem der beiden Sessel vor Gikas’ Schreibtisch sitzt [19] Gerichtsmediziner Stavropoulos, der das Opfer der al-Qaida obduziert hat, im anderen sitze ich.

Der amerikanische Agent heißt Soundso Parker. Den Vornamen habe ich nicht behalten. Er ist Mitte dreißig, groß und hat kurzes glänzendes Haar. Er trägt einen hellen Leinenanzug über einem dunkelblauen Hemd mit Krawatte. Er würde besser in eine Filiale der National Bank passen als in Gikas’ Büro.

Parker wendet sich hinter Gikas’ Rücken um und fixiert Stavropoulos.

»So, tell me again«, meint er zu ihm.

»Wie ich schon gesagt habe«, entgegnet Stavropoulos auf englisch. »Dieser Mann ist eines natürlichen Todes gestorben.«

»I don’t believe it. There must be some mistake.«

Stavropoulos’ Irritation wächst mit jedem neuen verbalen Angriff.

»Hier liegt kein Irrtum vor. Der Mann ist an einem Herzinfarkt gestorben.«

Das ganze Gespräch findet auf englisch statt. Mein Englisch kommt auf Krücken daher, das von Gikas und Stavropoulos geht am Stock, und das von Parker fährt Skateboard. Wie soll man da mit ihm mithalten!

Übrigens hat der Amerikaner nicht ganz unrecht. Es ist ja wirklich kaum zu glauben, daß [20] jemand eines natürlichen Todes gestorben sein soll, den man nackt aus der Erde gezogen hat, mit zur Moutsa erhobenen Rechten und mit der Parole »al-Qaida« auf dem Bauch? Derselbe Zweifel nagt auch an Gikas.

»Sind Sie sicher, daß wir alle anderen Möglichkeiten ausschließen können, Herr Stavropoulos?« fragt er auf griechisch.

»Vollkommen, Herr Kriminaldirektor.«

»Erklären Sie ihm das mal ausführlich auf englisch, vielleicht läßt er sich überzeugen.«

»Wir haben keinerlei Spuren von Strophantin oder Strychnin im Organismus gefunden. Wir haben den Brustkorb mit Wasser gefüllt, aber keine Bläschenbildung nachweisen können. Das heißt, es ist ausgeschlossen, daß man ihm eine Luftinjektion verabreicht hat, um eine Embolie zu bewirken.«

»Das ist alles gar nicht notwendig«, mischt sich Parker ein. »Vielleicht hat man ihn mit einem Nadelstich ins Herz getötet. Ich hatte einmal einen Fall in Richmond, wo eine Frau ihren Mann auf diese Weise umgebracht hat.«

»Dann hätten wir ein Hämatom gefunden«, entgegnet Stavropoulos schlagfertig. »Wir haben danach gesucht, aber ohne Erfolg.«

»Die DNA-Analyse weist ihn jedenfalls als Araber aus«, beharrt Parker.

[21] »Auch Araber erleiden Herzinfarkte«, kontert Stavropoulos.

»Jedenfalls… Ein Terroranschlag, dessen Opfer eines natürlichen Todes gestorben ist, kommt hier meines Wissens zum ersten Mal vor!« bemerke ich in meinem holprigen Englisch.

Parker läßt mich eiskalt links liegen, als hätte ich den größten Unsinn auf Gottes Erdboden verzapft, und wendet sich wieder Gikas zu: »Ich möchte, daß auch einer unserer Gerichtsmediziner die Leiche untersucht.«

Gikas gerät in größte Verlegenheit. Er wirft Stavropoulos einen Blick zu. Der zuckt nur mit den Schultern.

»Soll er ruhig. Er wird nichts anderes finden.«

Gikas ist noch nicht ganz überzeugt.

»Ich werde den Minister informieren müssen, Fred.« Somit habe ich auch den Vornamen des Amerikaners erfahren.

»Listen, Nick, wir wollen doch einfach nur vermeiden, daß der Präsident aufgrund der Sicherheitslage von Reisen nach Athen abrät. Können Sie sich vorstellen, was sonst passieren würde? Die ersten, die wegbleiben würden, wären unsere Sportler. Keiner von uns will die Olympiade torpedieren. Auch der Präsident nicht, glauben Sie mir.«

Gikas schluckt das »Nick« genau so hinunter [22] wie die Erpressung und ruft den Minister an. Er erklärt ihm kurz, was der Amerikaner will, und wartet auf Anweisungen. Schließlich sagt er: »Vielen Dank, ich habe verstanden« und hängt ein. Dann wendet er sich mir zu.

»Er hat gesagt, ich soll tun, was er von uns will, um negative Schlagzeilen über mangelnde Sicherheit bei den Olympischen Spielen in der ausländischen Presse zu vermeiden.« Anschließend meint er zu Parker gewendet und mit saurer Miene: »Okay, ich habe die Genehmigung.«

Parker lächelt Stavropoulos breit an.

»Gerichtsmediziner Dr.Garner wird in einer Stunde bei Ihnen sein.« Er sieht unsere Verblüffung und lächelt weiter. »Wir waren sicher, daß Sie kooperieren würden, daher haben wir ihn schon gestern eingeflogen, um Zeit zu gewinnen.« Dann klopft er Gikas auf die Schulter: »Thanks, Nick.«

Einerseits tut mir Gikas leid, andererseits kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, daß er nach einem sechsmonatigen Seminar beim FBI in den höchsten Tönen von dessen Systemen und Methoden geschwärmt hat. Jetzt steht er da wie ein begossener Pudel.

»Was haben Sie bislang erreicht?« fragt Parker unbestimmt in die Runde.

Gikas nickt mir aufmunternd zu.

[23] »Wir sind sicher, daß der Tote nicht auf der Baustelle gearbeitet hat. Keiner hat ihn erkannt. Von daher müssen wir jetzt herausfinden, wer er war, wo er wohnte und arbeitete, falls er Arbeit hatte. Und das kann dauern.« Und all das in einem Englisch, das mehr einem Kauderwelsch gleicht.

»Das reicht aber nicht, und es ist auch nicht vorrangig«, meint Parker. »Uns interessiert nicht, wer er war. Was uns unmittelbar interessiert, ist, wer in Griechenland Kontakt zu al-Qaida hat und sich mit deren Inhalten identifiziert. Das hätte man mittlerweile schon feststellen müssen.« Danach wendet er sich zum ersten Mal mir zu: »Sie sind nicht schnell genug«, sagt er. »You are not fast enough.«

»Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen und machen Sie Ihre Arbeit«, schaltet sich Gikas ein. Nicht auf englisch, um mir Schützenhilfe zu geben, sondern auf griechisch, um mich zu trösten.

Ich erhebe mich wortlos und verlasse das Büro. Wenn ich die anderen beiden gegrüßt und Parker übergangen hätte, wäre das ein Fauxpas gewesen. Da verabschiede ich mich lieber von niemandem.

Meine beiden Assistenten, Vlassopoulos und Dermitsakis, sind in der Ausländerbehörde und versuchen, die Identität des Toten festzustellen. Eine Polizeibrigade durchkämmt die Stammplätze [24] der illegalen Einwanderer in der irrationalen Hoffnung, doppeltes Glück zu haben – in dem Sinn, daß ihn einer erstens erkennt und es zweitens auch zugibt.

Parkers Tadel steckt mir in den Knochen, und ich verlasse das Büro lieber, um mein Mütchen nicht an irgendeinem Unschuldigen zu kühlen. Ich fordere einen Streifenwagen an und fahre zum Olympiastadion. Vielleicht ist mir an dem Abend, als wir die Leiche fanden, irgend etwas entgangen. Selbst wenn der Typ eines natürlichen Todes gestorben ist, muß es jemandem gelungen sein, ihn durch die Sicherheitskontrollen zu schmuggeln und ihn vor dem Bassin einzugraben. Und derjenige, der ihn hereingeschmuggelt hat, muß zum akkreditierten Personal der Baustelle gehören.

»Können Sie mir eine Liste der akkreditierten Fahrer der Baustelle geben?« frage ich Ingenieur Kalavrytis, der mich am ersten Abend empfangen hat und zu meinem Dauerbegleiter mutiert.

»Aber sicher, doch was bringt das?«

»Jemand hat den Toten auf die Baustelle gebracht. Wahrscheinlich ist dieser Jemand ein Fahrer. Er hat ihn auf den Lastwagen geladen und hier hereingebracht, weil er sicher war, daß ihn keiner kontrolliert. Und ich will alle Arbeiter sprechen, die um das Bassin herum beschäftigt sind, mit [25] Ausnahme derer, die die Leiche gefunden haben. Die haben wir schon befragt.«

»Da werden Sie einen Dolmetscher brauchen!« meint er lachend. »Das sind alles Albaner. Ich schicke Ihnen Sotiris, den Bauführer, der spricht Albanisch.«

Er läßt mich in einem Bürocontainer Platz nehmen und bringt mir die Liste. Beim Durchblättern wird mir bewußt, daß ich eine heimliche Hoffnung hegte: nämlich, auf den Namen eines arabischen Fahrers zu stoßen. Doch ich werde enttäuscht, denn es gibt keinen einzigen. Alle Fahrer sind Griechen.

Kurz darauf kommen die ersten Albaner mit Sotiris, dem noch sehr jungen Bauführer. Die Fotografie des Toten sagt ihnen nichts, und sie haben auch nichts Verdächtiges beobachtet. Die einzigen Fahrzeuge, die sich ihrer Baustelle genähert hatten, waren die Lieferwagen mit den Bäumchen und Betonmischer.

Ein Albaner folgt auf den anderen, und Sotiris übersetzt jeweils ihre Aussagen. Doch etwas Neues bringe ich dadurch nicht in Erfahrung.

»Kommen Sie aus Albanien?« frage ich ihn.

»Nein, aus Larissa.«

»Und wie haben Sie albanisch gelernt?«

»Von einem Albaner! Ich habe Unterricht [26] genommen.« Er merkt, wie verdattert ich ihn ansehe, und fährt lachend fort: »Ich habe den Sprachunterricht begonnen, als ich noch Student an der technischen Fachhochschule war, denn mir war klar, daß die Albaner mit den Olympiabauten betraut würden. Als ich mit der Ausbildung fertig war, hatte ich ein Diplom als Bauführer, und ich konnte Albanisch. Damit habe ich seit vier Jahren mein Glück gemacht. Das führe ich auch in meinem Lebenslauf an: Fremdsprachenkenntnisse: Englisch, Albanisch.«

Als ich zwei Stunden später ganz sicher bin, daß nichts mehr herauszukriegen ist, läutet mein Handy, und Gikas ist dran.

»Kommen Sie her, der Amerikaner will uns sprechen.«

Der Streifenwagen ist weggefahren, und so bin ich gezwungen, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nehmen. Bis zu Gikas’ Büro brauche ich eine dreiviertel Stunde. Der einzige Neue in der Runde ist ein weiterer Amerikaner, an die Fünfzig, mit Vollbart und T-Shirt, der einen Stuhl vom Konferenztisch herangeholt und sich neben Stavropoulos gesetzt hat. Ich nehme an, daß es sich um Garner handelt, den amerikanischen Gerichtsmediziner. Stavropoulos wirft mir einen zutiefst befriedigten Blick zu.

[27] Garner ergreift die Initiative.

»Ich bin derselben Meinung wie mein Kollege«, sagt er auf englisch. »Dieser Mann ist an einem Herzinfarkt gestorben.«

Drei Augenpaare richten sich gleichzeitig auf Parker, als hätten wir alle auf diesen Moment gewartet. Unsere Blicke und seine ausweglose Lage bringen den Amerikaner in Rage, und außer sich meint er zu Gikas: »This is foul play, Nikos. Mir wäre wohler, wenn wir es mit einem Selbstmordattentäter oder mit einer Enthauptung zu tun hätten. Weil es das Erwartbare ist. It’s standard terrorist procedure. Aber ein Terroropfer, das eines natürlichen Todes gestorben ist? Something big is going on. Da steckt eine große Sache dahinter.«

»Wie groß auch immer sie sein mag, es gibt kein Verbrechen«, mische ich mich ein.

Er dreht sich um und wirft mir einen Blick zu, der sagt, daß er gerade eben erst meine Anwesenheit bemerkt hat und sie ihm unerträglich ist.

»So?« fragt er.

»So, in Griechenland kann man kein Verbrechen untersuchen, wenn es keine Straftat gibt.«

»Aber wir können die Sicherheitsmaßnahmen erhöhen.« Die Antwort richtet sich an Gikas, nicht an mich. »Es müssen weitere Kameras auf den [28] Straßen installiert werden. Wie viele sind es bis jetzt?«

»An die zweihundertfünfzig.«