Verschwörung - Petros Markaris - E-Book

Verschwörung E-Book

Petros Markaris

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Beschreibung

Athen in der Pandemie. Die Läden sind geschlossen, viele Menschen am Rande der Existenz. Da verwundert es nicht, dass sich auch alte Leute das Leben nehmen. Und doch horcht Kostas Charitos auf, als ein Neunzigjähriger in seinem Abschiedsbrief schreibt: Es lebe die Bewegung der Selbstmörder! Steckt hinter seinem Freitod mehr als die pure Verzweiflung? Charitos ermittelt – und lernt seine Stadt Athen und den Widerstandsgeist ihrer Bewohner neu kennen.

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Petros Markaris

Verschwörung

Ein Fall für Kostas Charitos

Roman

Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger

Diogenes

Zum Gedenken an Andrea Camilleri

Ich werde alt und lerne doch immer noch vieles dazu.

Solon

1

Morgendliche Besuche wecken in mir ein ungutes Gefühl, aber Stella ist ja eigentlich kein Besuch.

»Ein Herr Vlassopoulos hat angerufen und wollte Sie sprechen. Sie kennen ihn, hat er gesagt.« Sie bemerkt meinen überraschten Gesichtsausdruck und fragt lieber nach: »Stimmt das?«

»Ja, und Sie kennen ihn auch. Er war früher bei der Mordkommission. Vielleicht wissen Sie seinen Namen nicht mehr, aber bestimmt haben Sie ihn mit mir zusammen in Gikas’ Büro gesehen.« Als ich ihr Vlassopoulos beschreibe, erinnert sie sich sofort.

»Klar, jetzt weiß ich es wieder. Ich rufe ihn zurück und stelle ihn zu Ihnen durch.«

Zu behaupten, dass ich mich freue, wäre gelogen. Vlassopoulos arbeitete viele Jahre unter mir und machte dann eine hässliche Scheidung durch. Als mir der letzte Vizepolizeipräsident das Leben zur Hölle machte, schlug sich Vlassopoulos auf dessen Seite in der Hoffnung, sich dadurch eine Beförderung zu sichern. Als dieser Plan nicht aufging, suchte er notgedrungen um seine Versetzung an, da wir nicht mehr gemeinsam an einer Dienststelle bleiben konnten.

Das Klingeln des Telefons unterbricht meine Erinnerungen. »Guten Morgen, Herr Vizekriminaldirektor. Erinnern Sie sich noch an mich?« Seine Stimme klingt herzlich.

»Natürlich, Vlassopoulos. Wie sollte ich dich nach so vielen gemeinsamen Dienstjahren vergessen?«, antworte ich und versuche, genauso herzlich zu klingen.

Es folgen Höf‌lichkeitsfragen zu Gesundheit und Familie in Zeiten der Pandemie, bevor wir schließlich zur Sache kommen.

»Ich bin jetzt Revierleiter in Egaleo und möchte Ihre Meinung einholen. Gestern hat in unserem Stadtteil ein Dimosthenis Begleris Selbstmord begangen. Er war um die neunzig. Heute Morgen hat uns der Arzt, der den Tod festgestellt hat, den Abschiedsbrief weitergeleitet.«

»Ist daran etwas verdächtig?«

»Unter der Unterschrift steht der Satz: ›Es lebe die Bewegung der Selbstmörder!‹ Das hat mich aufmerken lassen, und ich dachte, ich informiere Sie lieber.«

»Gibt es ein weiteres Statement oder irgendeine Andeutung im Abschiedsbrief?«

»Nein. Er begründet seinen Entschluss mit der aktuellen schwierigen Situation. Weiter nichts.«

»Wie hat er es getan?«, frage ich.

»Als ihm seine Enkelin abends das Essen brachte, hat sie ihn im Bett vorgefunden, neben ihm ein Taschenmesser. Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.«

»Dann könnte doch der letzte Satz einfach ein Verzweif‌lungsschrei sein.«

»Ja, das ist möglich«, stimmt Vlassopoulos zu.

Jetzt, da wir in Kontakt sind, finde ich es besser, nicht gleich die Schotten dichtzumachen. »Schick mir doch den Abschiedsbrief des Selbstmörders. Wenn ich ihn durchgelesen habe, reden wir weiter.«

»Ja, mache ich«, erwidert er, bevor wir auf‌legen.

Aufgrund der Pandemie sind unsere Nerven gespannt wie Drahtseile. Und der harte Lockdown belastet uns zusätzlich. Auch das Familienleben ist gerade sehr nervenaufreibend. Mein Schwiegersohn Fanis ist dagegen, dass die Kinderfrau Melpo sich weiter um den kleinen Lambros kümmert, weil er befürchtet, sie könnte das Virus aus dem Obdachlosenheim einschleppen, auch wenn sie, wie alle noch nicht geimpf‌ten Bewohner, jede Woche getestet wird. Deshalb hat meine Frau Adriani die ganztägige Betreuung unseres Enkels übernommen.

Über Lambros ärgert sie sich allerdings weniger als über dessen Eltern. Katerina versucht, ihre Fälle digital oder telefonisch weiterzubetreuen, aber alle Gerichtsverfahren sind ausgesetzt, und sie kommt nicht voran. Und Fanis ist vom Druck im Krankenhaus psychisch und physisch ausgelaugt. Wenn er nach Hause kommt, hat er kaum Lust, den Mund zum Essen aufzumachen. Fast widerwillig nimmt er kurz seinen Sohn auf den Arm. Das Ehepaar steht unter Dauerstress.

Zumindest sind Adriani, Fanis und ich bereits geimpft, nur unsere Tochter Katerina wartet noch auf den Termin.

Ich bin der Entspannteste in der ganzen Familie. Auf der Dienststelle herrscht Flaute. Es ist wie im Hochsommer, wenn kein Blatt sich regt. Anscheinend bleiben selbst Mörder während des Lockdowns zu Hause. Wenn es so weitergeht, nehmen wir bald zu Tavlibrett und Spielkarten Zuflucht, um die Dienststunden totzuschlagen.

Jeden Abend mache ich mich in der Hoffnung, dass sich die Stimmung in der Familie aufgehellt hat, auf den Weg zu meiner Tochter. Als Erstes widme ich mich meinem Enkel, der mich sehnlich erwartet. Wir spielen miteinander, bis er gefüttert und ins Bett gebracht wird. Danach sind die Erwachsenen an der Reihe. Ich versuche, die Situation ein wenig aufzulockern, denn die Anspannung führt beim geringsten Anlass zu Streit und harschen Worten.

Dieses Programm wird jeden Tag durchgezogen. Adriani bringt mir außerdem immer frische Kleider von zu Hause mit, damit ich mich umziehen kann und in der Wohnung nicht in meiner Uniform herumlaufen muss.

Sissis kommt leider nie vorbei. Obwohl er geimpft ist, macht er nicht einen Schritt vors Haus. Er will im Obdachlosenheim durchgehend anwesend sein, da er befürchtet, dass die Bewohner in seiner Abwesenheit das Heim verlassen und dann das Virus einschleppen könnten. All das bringt Sissis dazu, in einer freiwilligen Quarantäne zu leben.

Stella, die mir den ausgedruckten handgeschriebenen Abschiedsbrief des Selbstmörders bringt, unterbricht meine Gedanken.

Ich bin neunzig Jahre alt. Begonnen habe ich als Tagelöhner. Ich stand morgens am Kotsia-Platz und hoff‌te, dass mich ein Unternehmer mit auf die Baustelle nehmen würde. Immerhin habe ich es schließlich zu einer Eigentumswohnung gebracht. Mein Leben lang war ich ein Kämpfer. Wenn ich mich heute so umschaue, dann ist der politische Kampf nur noch so etwas wie eine Halbzeit im Fußball. Den Preis für die Pandemie bezahlen die Geschäfte, Cafés und Tavernen. Alles ist geschlossen. Wir müssen uns den letzten Bissen vom Mund absparen, aber keiner geht aus Protest auf die Straße. Zu meiner Zeit hätten wir hundert Wege gefunden, Widerstand zu leisten. Man könnte sich zum Beispiel mit einem Schild, auf dem ›Wir haben Hunger‹ steht, vor seinen geschlossenen Laden stellen. Wir hatten damals keinen Groschen. Die Leute heute haben ihr Geld für überflüssigen Luxus hinausgeworfen. Im Fernsehen zeigen sie die dramatischen Folgen, und das geht mir an die Nieren. Zuerst habe ich meine Frau verloren, dann meine Tochter. Geblieben ist mir nur meine Enkelin Janna, die mir jeden Tag einen Teller Essen bringt und ein paar Worte mit mir spricht. Es ist besser, ich schließe meine Augen für immer und finde meine Ruhe. Indem ich meinem Leben ein Ende setze, rüttle ich vielleicht ein paar Leute auf, doch noch zu kämpfen.

Liebe Janna, es ist Zeit für mich zu gehen. Sei nicht traurig. Denk daran, dass es mir jetzt besser geht. Bis dann.

 

Dimos Begleris

Es lebe die Bewegung der Selbstmörder!

Ich lese den Brief zweimal durch, kann aber nichts Verdächtiges oder Seltsames darin finden. Ein neunzigjähriger alleinstehender Mann, der Frau und Tochter verloren hat, beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Mit seinem Aufruf zum Protest möchte er vermutlich den Ernst der Lage deutlich machen und seinen Entschluss bekräftigen.

Aus Angst, etwas zu übersehen, will ich mich jedoch nicht nur auf mein eigenes Urteil verlassen. Ich rufe meine Mitarbeiter zusammen und zeige ihnen Begleris’ Abschiedsbrief. Sie blicken mich verdutzt an.

»Wo sehen Sie hier ein Problem?«, fragt Dermitsakis verwundert.

Ich teile ihm Vlassopoulos’ Bedenken mit. Koula und Dermitsakis reagieren überrascht, als sie seinen Namen hören.

»Wo ist er jetzt?«, will Koula wissen.

»Er leitet das Revier in Egaleo.«

»Und was hat ihn hellhörig gemacht?«, wundert sich Dermitsakis.

»Der letzte Satz kam ihm verdächtig vor.«

»Kommen Sie, kann man von jemandem, der kurz davor ist, sich das Leben zu nehmen, rationales Verhalten erwarten?«, bemerkt Dervissoglou.

Im Anschluss an unsere Besprechung rufe ich Vlassopoulos an. »Alle Mitarbeiter der Mordkommission sind sich einig, dass es sich um einen letzten, verzweifelten Aufschrei von Begleris handelt, bevor er seinem Leben ein Ende gesetzt hat.«

»Na gut, dann kann ich ja sicher sein, dass ich nichts übersehen habe.«

Ich richte Vlassopoulos Grüße von Dermitsakis und Koula aus, und er verspricht, uns bei nächster Gelegenheit zu besuchen.

2

Um hervorzuheben, dass alles beim Alten war, sagten wir früher »Im Westen nichts Neues«. Das änderte sich mit dem Coronavirus. Heute ist nichts, wie es mal war, und die Dinge verschlechtern sich von Tag zu Tag. Wir sagen daher auch nicht mehr »Letztes Jahr war alles besser«, sondern nur noch »Gestern war alles besser«.

Bloß bei meiner Tochter zu Hause, da ist jeden Tag »alles beim Alten«. Abend für Abend hoffe ich, dass sich etwas ändert, begegne aber nur demselben reizbaren Fanis, der erschöpft aus dem Krankenhaus kommt, und meiner angespannten Tochter, die in ihrer Kanzlei eine wahre Sisyphusarbeit leistet.

Unter dieser Situation leidet vor allem ihr Sohn. Bei der kleinsten Unartigkeit werden die beiden laut und weisen Lambros zurecht, der in Tränen ausbricht. Seine Oma bringt ihn dann ins Kinderzimmer und versucht ihn zu beruhigen.

Mit diesen Gedanken klingle ich bei Katerina. Adriani öffnet mir die Tür mit Lambros auf dem Arm.

»Der Opa ist da!«, sagt sie fröhlich zu unserem Enkel und wippt mit ihm auf und ab. Zu mir sagt sie knapp: »Zieh dich um, und komm ins Kinderzimmer.«

An ihrer Miene ist abzulesen, dass auch heute wieder »alles beim Alten« ist. Ich ziehe mich um, gehe ins Kinderzimmer und nehme ihr Lambros ab, der sich darüber sichtbar freut.

Ich setze mich mit ihm auf den Boden, um die Teile seiner Spielzeugeisenbahn zusammenzufügen, die er auseinandergenommen hat. Er liebt diese Eisenbahn. Sobald sie über die Schienen fährt, lacht er und klatscht in die Hände. Genau das tut er auch jetzt, während ich das Pfeifen der Dampf‌lok nachahme.

»Haben sie sich wieder gestritten?«, frage ich Adriani, als sich Lambros seinem Spielzeug zuwendet.

Sie hebt verzweifelt die Hände. »Wie kann es sein, dass ein so verliebtes, harmonisch zusammenlebendes Paar ständig aufeinander herumhackt? Es ist mir ein Rätsel!«

Als die Eisenbahn stehen bleibt, beschwert sich Lambros lauthals. Während ich sie aufziehe, damit sie weiterfahren kann, kommt Katerina ins Kinderzimmer.

»Guten Abend, Papa«, sagt sie und wendet sich dann an ihre Mutter. »Lambros’ Essen ist fertig. Willst du ihn füttern oder soll ich?«

»Mach du das. Ich übernehme das Abendessen.«

Wir gehen gemeinsam ins Wohnzimmer. Das Essen für Lambros steht bereits auf dem Tisch. Katerina setzt ihn in seinen Stuhl und beginnt ihn zu füttern.

Als Fanis hereinkommt, gibt er seinem Sohn einen Kuss und lässt sich danach in einen Sessel fallen. Er sieht fertig aus. Ob seine Erschöpfung körperlich oder seelisch ist, kann ich nicht sagen, wahrscheinlich beides.

Während Lambros isst, will ich kein Gespräch anfangen. Ich habe Angst, dass ihm bei einem lauten Wortwechsel der Appetit vergeht. Zum Glück beginnt Adriani den Tisch für uns zu decken.

»Komm, wünsch uns gute Nacht, und dann ab ins Bettchen«, sagt Katerina zu Lambros, während sie ihn hochhebt. Lambros lässt sich von uns drücken und küssen, bevor ihn seine Mutter wegbringt.

Wir drei schweigen uns an. Fanis hat keine Lust auf ein Gespräch, und Adriani und ich, das alte Ehepaar, wissen auch nicht, was wir miteinander reden sollen. Adriani deckt den Tisch fertig und bringt das Lammfrikassee, das sie zubereitet hat. Wir warten auf Katerina, bevor wir uns an den Tisch setzen.

Adriani serviert das Gericht und sagt dann plötzlich: »Jetzt, da Kostas auch dabei ist, will ich eine Sache klarstellen: Wenn ihr vorhabt, euch weiter täglich zu streiten, dann nehmen wir den Kleinen besser zu uns. Er ist schon ganz durcheinander. Dieses eigentlich doch ausgeglichene Kind bricht ständig in Geschrei und Tränen aus. Wenn das so weitergeht, befürchte ich, dass er psychische Probleme bekommt, wenn er älter ist.«

Die beiden starren auf ihre Teller. Adriani wirft mir einen Blick zu, als wollte sie mich auf‌fordern, zu übernehmen.

»Ihr seid doch sonst ein so besonnenes Paar. Was ist nur plötzlich mit euch los, dass ihr dermaßen aufeinander losgeht?«, frage ich.

Fanis hebt seinen Kopf und sieht mich an. »Du bist doch Kommissar. Kennst du den Begriff ›Grenzüberschreitung‹?«

»Ob ich den Begriff kenne? Sie ist das Motiv für mindestens die Hälfte aller Morde, mit denen ich zu tun hatte!«

»Etwas Ähnliches passiert gerade mit Katerina und mir. Wir stoßen an unsere Grenzen. Das Krankenhaus bricht unter dem Zustrom zusammen. Wir konzentrieren uns ganz auf die Coronapatienten, doch es gibt auch noch andere sehr ernste Krankheiten. Jeden Tag wird es schlimmer, und wir wissen nicht, ob und wann wir zur Normalität zurückkehren. Wenn ich nach Hause komme, muss ich mich abreagieren.«

»Und du, warum bist du so genervt?«, frage ich meine Tochter.

Katerina versucht ruhig zu bleiben. »Papa, du hast eine Anstellung im Polizeidienst mit einem festen Einkommen. Aber versetz dich mal in meine Lage. Derzeit werden keine Gerichtsverhandlungen angesetzt, und die meisten meiner Mandanten mussten ihre Tätigkeit entweder einstellen oder können sich keinen Anwalt mehr leisten. Obwohl ich mir das Büro mit Mania teile, fallen jeden Monat Miete und Gehalt der Sekretärin an, ganz abgesehen davon, dass ich zu unserem Haushalt keinen einzigen Euro beitrage. Ich habe keine Ahnung, wann meine Kanzlei die Arbeit wieder aufnimmt und ich meinen beruf‌lichen und familiären Verpflichtungen wieder nachkommen kann. Also frage ich dich: Wie soll ich da nicht an meine Grenzen kommen?«

»Und was war der Grund für euren Streit heute? Das Krankenhaus oder die Kanzlei?« Fanis und Katerina blicken sich an, dann müssen sie plötzlich lachen.

»Der Selbstmord«, sagt Fanis und lacht immer noch.

»Der Selbstmord?«, frage ich und bin mir nicht sicher, ob ich richtig gehört habe.

»Katerina wird es dir erklären.«

»Als ich heute mein Facebook-Profil geöffnet habe, bin ich zufällig auf den Abschiedsbrief eines alten Mannes gestoßen, der sich umgebracht hat.« In mir steigt eine böse Ahnung auf, aber ich halte mich zurück und unterbreche sie nicht. »Der Selbstmörder schrieb, er habe sein Leben lang gekämpft, und es tue ihm weh, dass sich heutzutage keiner mehr auf‌lehne oder protestiere. Am Ende stand, er hoffe, dass durch seinen Tod vielleicht ein paar Leute aus dieser Lethargie erwachen.« Sie macht eine Pause, in der sie tief Luft holt. »Als ich das Fanis erzählt habe, hat er sich furchtbar aufgeregt und meinte, die Tage eines Neunzigjährigen seien sowieso gezählt. Doch wenn sich Leute durch seinen Brief zum Widerstand ermuntern ließen, würden die Coronazahlen mit Sicherheit weitersteigen, und das Gesundheitssystem würde zusammenbrechen. Ich habe ihm daraufhin Gefühllosigkeit vorgeworfen.« Sie stützt den Kopf in beide Hände und lächelt.

»Hieß der Selbstmörder vielleicht Dimos?«, frage ich.

»Ich glaube, ja«, erwidert Katerina. Sie holt ihr Handy aus ihrer Jackentasche und beginnt zu suchen. »Dimos Begleris«, sagt sie kurz darauf.

»Und der Brief endet mit dem Satz ›Es lebe die Bewegung der Selbstmörder‹?«

»Ja, stimmt, hast du ihn auch gelesen?«, will sie von mir wissen.

»Ein früherer Mitarbeiter hat mir den Brief geschickt. Der letzte Satz hat ihn stutzig gemacht.«

»Und, was meinst du?«

»Nichts weiter. Wir kamen in der Mordkommission zum Schluss, dass es sich wohl um ein letztes verzweifeltes Aufbäumen handelt.«

»Selbstmord ist doch auch nur eine weitere Grenzüberschreitung«, fügt Fanis hinzu.

Adriani bekreuzigt sich. »Gott behüte! Da kommt ja noch Schreckliches auf uns zu«, bemerkt sie.

»Adriani hat recht. Und genau deshalb müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und uns gegenseitig unterstützen«, sage ich.

Das weitere Essen verläuft in geregelten Bahnen, und wir unterhalten uns gelöst. Doch mich lässt die Frage nicht los, wie der Brief seinen Weg in die sozialen Medien gefunden hat. Es könnte natürlich sein, dass seine Enkelin ihn gepostet hat.

»Die Stimmung hat sich anscheinend beruhigt«, sage ich auf dem Nachhauseweg zu Adriani.

»Na hoffentlich bleibt es so. Du kannst dir nicht vorstellen, wie nervenaufreibend es ist, wenn du förmlich darauf wartest, dass gleich nach Fanis’ Ankunft die Streiterei losgeht. Und wenn da bei mir schon die Nerven blank liegen, wie soll dann ein zweijähriges Kind damit umgehen?«

Als wir zu Hause sind, blicke ich auf die Uhr. In einer Viertelstunde beginnen die Abendnachrichten. Die Verbreitung von Begleris’ Abschiedsbrief hat eine unerklärliche Unruhe in mir ausgelöst, und falls sich in der Zwischenzeit doch etwas Neues ergeben hat, muss ich das unbedingt wissen.

»Ich schaue mir noch die Nachrichten an«, sage ich.

»Ich habe meine Dosis Corona-Elend für heute Abend gehabt. Eine zweite kann ich nicht gebrauchen«, antwortet Adriani und geht ins Schlafzimmer.

Der Abschiedsbrief wird unmittelbar nach den Coronanews eingeblendet, und ich beglückwünsche mich zu meinem guten Instinkt.

In letzter Zeit ist es in Mode gekommen, für jedes Thema einen Experten einzuladen, der den Zuschauern eine tiefschürfende Analyse liefert. In Begleris’ Fall kommt ein Psychiater zu Wort, der eine Menge Erklärungen parat hat und schließlich eine Diagnose stellt, die schon am Esstisch gefallen ist: Verzweif‌lung.

Die eigentliche Überraschung kommt jedoch zum Schluss. Die Handelsverbände haben angekündigt, dass sie morgen gegen den Lockdown protestieren wollen. Unglaublich, aber wahr: Begleris hat es tatsächlich geschaff‌t, die Menschen mit seinem Selbstmord zu mobilisieren.

Ich schalte den Fernseher aus und gehe ins Bad, um mich auszuziehen. Als ich ins Schlafzimmer komme, schläft Adriani bereits tief und fest.

3

Es kommt nicht selten vor, dass mein Kaffee kalt wird, weil eine dringende Besprechung oder Befragung dazwischenkommt. Aber dass ich beim ersten Schluck schon unterbrochen werde, da sich ein Greis das Leben genommen hat, passiert mir zum ersten Mal.

Mit der Tasse in der Hand betrete ich Stellas Büro, wo Alamanos, der Leiter der MAT-Sondereinheit, auf mich wartet.

»Ich wollte Sie über die Protestveranstaltung informieren, die für heute angekündigt ist«, teilt er mir mit einem entspannten Lächeln mit, während wir zurück in mein Büro gehen.

»Ich habs gestern in den Nachrichten gehört. Weiß man, wo sie stattfindet?«

Alamanos schaut mich an. »Das ist genau das Problem.«

»Was heißt das?«

»Derzeit kennen wir weder Ort noch Zeitpunkt der Veranstaltung. Klar, wenn es wie jetzt ein Versammlungsverbot gibt, sind die Veranstalter nicht sehr interessiert daran, uns zu informieren, sonst haben wir die Demo ja schon aufgelöst, bevor alle Teilnehmer eingetroffen sind.«

»Und, was machen wir?«

»Wir haben beschlossen, Einheiten auf den beiden Plätzen zu stationieren, die traditionell für Demos genutzt werden: Am Syntagma- und Omonia-Platz. Darüber hinaus stehen Streifenwagen zur Beobachtung am Victoria- und Kotsia-Platz. Mehr können wir derzeit nicht tun.«

Seine Überlegungen sind richtig, ich habe nichts hinzuzufügen. »Ich möchte fortlaufend informiert werden«, sage ich.

»Keine Sorge, ich melde mich regelmäßig.«

Gleich danach rufe ich Vlassopoulos an. »Bist du auf dem letzten Stand, oder willst du das Neueste hören?«, frage ich.

»Ich bin im Bilde.«

»Schön, dann solltest du mit Begleris’ Enkelin Kontakt aufnehmen und nachprüfen, ob sie den Abschiedsbrief ihres Großvaters im Netz gepostet hat oder ob sie ihn jemandem gegeben hat und wem.«

»Ich weiß, wo sie wohnt. Ich fahre zu ihr nach Hause, um sie persönlich zu befragen. Ich melde mich danach.«

Würde mich jemand fragen, was mich an Begleris’ Selbstmord so beunruhigt, könnte ich es nicht genau sagen. Die naheliegende Antwort wäre: der Aufruhr in den sozialen Medien und die heutige Protestveranstaltung. Es ist eine diffuse Besorgnis, als würde ich insgeheim das Schlimmste erwarten, obwohl ich diese Angst nicht begründen kann.

Da Untätigkeit meine schlechte Laune nur verstärkt, bitte ich Koula, sich im Internet umzusehen. Vielleicht ist etwas Neues aufgetaucht, oder sie stößt auf etwas, das uns zuvor entgangen ist.

Außerdem rufe ich den Vizepolizeipräsidenten an, damit er mir nicht vorwirft, ich würde ihn im Ungewissen lassen. Doch mein Briefing erweist sich als überflüssig, er ist über den Selbstmord und sein digitales Echo bestens informiert. Die Menschen sind durch die Ausgangssperre und das Versammlungsverbot mehr im Internet unterwegs als draußen. Aber ich gehöre glücklicherweise zu denjenigen, die davon nichts mitbekommen. Der tägliche Besuch bei unserem Enkel bewahrt mich vor allen Pseudo-Aktivitäten im Internet.

»Bereiten Ihnen diese neuen Entwicklungen Sorgen?«, fragt der Vizepolizeipräsident, als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Mich sorgt eher, dass diese Demonstration in Ausschreitungen enden könnte. Ich habe Alamanos gebeten, mich auf dem Laufenden zu halten.«

Mit dem Satz »Wir halten Kontakt« beendet der Vizepräsident unser Gespräch. Ich beschließe, eine Pause einzulegen, und bestelle bei Stella einen frischen Kaffee. Von Koula erfahre ich, dass im Netz nichts Bemerkenswertes aufgetaucht ist.

Beim letzten Schluck meines Mokkas klingelt das Telefon. Es ist Alamanos. »Das hier sollten Sie sehen«, sagt er.

»Gibt es Krawalle?«, frage ich beunruhigt.

»Dann würde ich Sie nicht hierherlotsen. Aber die Lage vor Ort könnte Sie interessieren.«

»Gut, ich komme.«

»Ich bin in der Eolou-Straße, vor der Ajias-Irinis-Kirche.«

Ich bitte Askalidis, einen Streifenwagen zu besorgen und am Eingang des Präsidiums auf mich zu warten. Lieber habe ich einen meiner Assistenten dabei, für alle Fälle.

Es ist wenig Verkehr, in zehn Minuten sind wir vom Alexandras-Boulevard bei der Ajias-Irinis-Kirche. Alamanos wartet am Treffpunkt.

»Was genau wollten Sie uns zeigen?«, will ich von ihm wissen.

»Schauen Sie sich die Geschäfte ringsherum an.«

Als Askalidis und ich die andere Straßenseite erreichen, verschlägt es uns die Sprache. Die Organisatoren der Protestveranstaltung haben Begleris’ Vorschlag offenbar aufs Wort befolgt.

Ein Mann um die fünfzig steht reglos im Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts. Um seinen Hals hängt ein Pappschild mit der Aufschrift ›Ich bin ruiniert‹. Im Fenster eines Schuhgeschäfts zwei Läden weiter hat ein älterer Herr seinen Blick starr auf die Passanten gerichtet, auf seinem Pappschild steht: ›Uns bringt der Weihnachtsmann nur Hunger‹.

Entlang der Eolou-Straße bietet sich alle paar Läden dasselbe Bild. Eine Frau hat in einem Herrenausstatter Familienfotos mit Mann und Kindern ins Schaufenster geklebt, darunter steht ›Es gibt nicht nur einen Hungerleider, sondern viele‹.

»Lassen Sie sich davon nicht zu sehr runterziehen«, meint Alamanos zu mir, der uns begleitet hat. »Überall bietet sich dasselbe Bild. In der Mitropoleos und um den Monastiraki-Platz sieht es genauso aus.«

»Wie reagieren wir darauf?«, frage ich.

»Gar nicht. Bis jetzt liegt keine Ordnungswidrigkeit vor. Der Lockdown gilt zwar für Geschäfte, aber niemand kann den Inhabern oder dem Personal verbieten, sich dort aufzuhalten. Wenn der Protest so bleibt und sich nicht auf der Straße entlädt, dann haben wir es mit der originellsten Demo aller Zeiten zu tun.«

»Und schon wieder schreiben die Griechen Geschichte«, sage ich.

»Nur schade, dass aufgrund der Ausgangssperre keiner was davon mitbekommt«, bemerkt Askalidis.

»Keine Sorge, alle werden es mitkriegen«, hält ihm Alamanos entgegen. »In den sozialen Medien und Nachrichten werden sie uns mit Bildern bombardieren.«

An unserem ursprünglichen Treffpunkt trennen Askalidis und ich uns von Alamanos und steigen in den Streifenwagen.

»Der Anblick geht einem ganz schön nah«, sagt Askalidis.

Ich bin sprachlos. Begleris hat mit seinem Selbstmord etwas erreicht, was keine politische Partei oder Gewerkschaft sich hätte ausdenken und auf die Beine stellen können.

»Vlassopoulos wollte Sie sprechen«, gibt mir Stella Bescheid, als ich ins Büro komme.

»Stellen Sie ihn durch.«

»Die Enkelin schwört, dass sie Begleris’ Brief nicht gepostet und auch niemandem mitgegeben hat, nicht einmal dem Arzt«, teilt Vlassopoulos mir mit, sobald ich ihn in der Leitung habe. »Sie hat extra das Original rausgesucht und es mir gezeigt.«

»Wie ist der Brief dann in die Hände des Arztes gekommen?«

»Sie meinte, der Arzt habe mit dem Handy ein Foto gemacht. Das hat er uns dann zugeschickt.«

»Also müssen wir den Arzt fragen, ob er den Brief veröffentlicht hat.«

»Schon erledigt. Er hat mir versichert, er habe das Bild sofort danach gelöscht.«

»Wohnt die Enkelin allein?«

»Nein, bei ihrem Vater, einem Bahntechniker.«

Langsam verstehe ich das ungute Gefühl, das mich quält. Wie ist der Abschiedsbrief in die Hände derjenigen Person gelangt, die ihn gepostet hat? Es ist unwahrscheinlich, dass er von Begleris selbst verschickt wurde, denn wer organisiert schon den Versand seines eigenen Abschiedsbriefes, bevor er sich die Pulsadern aufschneidet? Es gibt nur eine einzige andere Erklärung, und sei sie noch so an den Haaren herbeigezogen: Begleris hat den Abschiedsbrief jemandem diktiert, der den Inhalt dann in Umlauf gebracht hat.

Ich versuche mich zu beruhigen, indem ich mir sage, dass ich mich grundlos in die Sache hineinsteigere. Ich habe es ja nicht mit einem Mord, sondern mit einem Selbstmord zu tun. Was mich jedoch noch viel mehr beunruhigt, ist der Erfolg der Protestaktion. Wenn sie im Internet und im Fernsehen promotet wird, könnte es Nachahmungstäter geben, Verzweifelte, die versuchen, durch einen Selbstmord aufsehenerregende Aktionen anzustacheln.

Ich bitte Stella, Vellidis von der Abteilung für Internetkriminalität zu kontaktieren. Wir müssen unbedingt die Person ausfindig machen, die den Brief in Umlauf gebracht hat, und herauskriegen, wie er in ihre Hände gelangt ist.

»Schon wieder ein Mord?«, erkundigt sich Vellidis, als er mein Büro betritt. »Tote gibts doch durch die Pandemie schon genug.«

Ich berichte ihm von Begleris’ Selbstmord und der Protestaktion.

»Und was beunruhigt dich daran so sehr?«, fragt er verwundert. »Falls kein Mord vorliegt und auch kein Internetbetrug, ist die Kriminalpolizei doch gar nicht zuständig.«

»Es könnte Nachahmungstäter geben, oder schlimmer, das Ganze könnte geplant gewesen sein. Ich würde gern die Person, die Begleris’ Abschiedsbrief ins Internet gestellt hat, aufspüren und befragen, und seis nur fürs Protokoll.«

»Das kann dauern, wie du weißt, und das Ergebnis ist keinesfalls sicher«, erklärt er mir. »Viele Urheber solcher Postings arbeiten mit Pseudonymen. Es kann einige Zeit kosten, bis wir den Inhaber des Facebook-Profils identifizieren können.«

»Kann schon sein, dass ich dich damit umsonst nerve, aber lass es uns trotzdem versuchen«, erwidere ich.

Ich erwäge, den Vizepolizeipräsidenten zu informieren, entscheide mich jedoch dagegen. Es gibt keinen Grund, meine Vorgesetzten aufzuscheuchen. Wenn sich meine Befürchtungen als unbegründet herausstellen, fallen sie hinter meinem Rücken über mich her.

4

Die Erklärung des Regierungssprechers am Nachmittag setzt der Diskussion über die Protestaktion ein Ende. »Demonstrationen, die unter Einhaltung der Coronamaßnahmen durchgeführt werden, sind nicht zu beanstanden. Die Regierung hat Verständnis für die schwierige Situation, in der sich der Einzelhandel in der Pandemie befindet. Sie erachtet den Protest der Ladenbesitzer als rechtens und dankt ihnen, dass sie sich an die Lockdown-Regeln gehalten haben.«

Die of‌fizielle Stellungnahme erleichtert mich. Es war richtig, sich nicht übereilt an den Vizepolizeipräsidenten zu wenden. Ich rufe Vellidis an und sage ihm, dass er die Ermittlungen einstellen kann. Es gibt keinen Grund mehr, ihm unnötige Arbeit aufzuhalsen.

Da nichts weiter zu tun bleibt, packe ich meine Sachen und mache mich auf den Heimweg, das heißt, zur Wohnung meiner Tochter.

Zu meiner großen Freude herrscht eine friedliche Stimmung. Fanis ist zu Hause und plaudert mit seiner Frau. Die beiden scheinen sich einig zu sein. Katerina befürwortet die Protestaktion, und Fanis stimmt ihr zu. Er habe nichts gegen Proteste, solange sie die Coronafälle nicht in die Höhe treiben. Doch vor allem Lambros wirkt entspannt.

»Wer hätte gedacht, dass eine Demonstration Ruhe und Frieden herstellen kann«, meint Adriani zu mir, während ich mich umziehe.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer klingelt es an der Tür, und ich höre Adrianis Stimme. »Schön, dass ihr da seid! Endlich sehen wir uns wieder!«

Ich bin neugierig und gehe in den Flur, wo Mania und Uli gerade eintreten. »Was für eine Überraschung!«, rufe ich erfreut.

»Katerina hat uns eingeladen«, sagt Mania.

»Ich habe sie zwar eingeladen, aber es war Mamas Idee«, erwidert Katerina, die jetzt auch im Flur steht.

»Ich dachte, ein Abend mit Ulis gesundem Menschenverstand und mit einer Psychologin würde uns guttun«, erklärt Adriani.

Ihre pragmatische Art beeindruckt mich immer wieder.

»Wie habt ihr es geschaff‌t herzukommen? Haben euch meine Kollegen auf dem Weg nicht aufgehalten?«, frage ich.

Mania zieht zwei of‌fiziell aussehende Papiere aus ihrer Handtasche. »Ist Fanis schon da?«, fragt sie Katerina.

»Ja, er ist im Wohnzimmer. Kommt.«

Mania drückt Uli eins der Papiere in die Hand. Als sie das Wohnzimmer betreten, springt Fanis auf. »Endlich! Willkommen!«, sagt er freudig. Uli und Mania zeigen ihm die beiden Schreiben.

»Was ist das?«, wundert er sich.

»Wir haben einen Corona-Schnelltest gemacht. Das sind die Bescheinigungen, dass wir negativ getestet sind.«

Katerina, Adriani und ich brechen in Gelächter aus, nur Fanis bleibt ernst. »Ihr habt einen Schnelltest gemacht, um uns zu besuchen?«

»Lieber Fanis, du kannst der Verkehrspolizei entwischen, der Steuerprüfung und der Polizeistreife, aber einem korrekten Deutschen nicht!«

Schließlich muss auch Fanis lachen, während er sich die Bescheinigungen genauer ansieht. »Schön, dann ist der Kontakt mit Lambros genehmigt«, sagt er.

Auch der Kleine freut sich über den Besuch, da er sich aussuchen kann, von wem er auf den Arm genommen wird. Mania übergibt ihn mir.

»Und, wie geht es dir?«, frage ich Uli.

»Ich habe Mania gesagt, dass es so etwas gibt wie … Wie heißt es noch mal?«, wendet er sich an Mania.

»Göttliche Gerechtigkeit.«

»Aha. Wieso?«

»Als vor zehn Jahren die Finanzkrise ausbrach, waren die Griechen in den Augen der Deutschen Faulpelze, die fremdes Geld verprassen. Heute, in der Pandemie, teilen sie mit den Griechen dasselbe Schicksal.« Er blickt zu Fanis. »Würdest du in einem deutschen Krankenhaus arbeiten, wärst du mit derselben Situation konfrontiert.«

»Diese Erkenntnis baut mich wirklich auf«, antwortet Fanis.

Auch Katerina ist nicht überzeugt. »Gerechtigkeit hin oder her, das löst unser Problem nicht. Wir sind psychisch am Ende.«

»Wenn Fanis das Krankenhaus verlässt und du deine Kanzlei, solltet ihr versuchen, eure Sorgen und den Frust nicht mit nach Hause zu nehmen«, empfiehlt Mania.

»Und was sollen wir dann zu Hause machen?«, will Fanis von ihr wissen.

»Was für eine Frage! Ihr habt doch Lambros, und wenn er im Bett ist, habt ihr Adriani und Kostas. Was soll Uli sagen, der allein zu Hause arbeitet? Er kann nicht mal zu den Betrieben, mit denen er zusammenarbeitet.«

»Wie geht es dir damit, Uli?«, fragt Adriani.

»Wenn ich nicht mehr kann, mache ich eine Pause und höre Musik.«

»Er hört alles Mögliche, von Rembetiko bis Mozart«, erläutert Mania. »Ich habe Uli Rembetiko nähergebracht und er mir Mozart.« Die beiden kichern, doch dann wird Mania wieder ernst. »Wenn ihr euren Ärger nicht in den Griff bekommt, dann empfehle ich euch, gemeinsam einen Film zu schauen. Wir tun das fast jeden Abend nach dem Essen. Aber nur Komödien und Krimis, keine Dramen. Komödien bringen einen zum Lachen, und Krimis sind so spannend, dass man dabei seine Sorgen vergisst.«

»Also ich bin den ganzen Tag mit Verbrechen beschäftigt und brauche das nicht abends auch noch.«

»Das stimmt natürlich, daran habe ich nicht gedacht«, sagt Mania verlegen.

Wir werden von Lambros’ plötzlichem Weinen unterbrochen. »Oh, der Arme hat wahrscheinlich Hunger bekommen! Ich mache ihm schnell was zu essen«, sagt Katerina und geht in die Küche.

»Und ich bereite uns etwas vor«, meint Adriani.

Ich nehme Lambros auf den Arm, um ihn abzulenken. Die anderen drei unterhalten sich über Leute, die ich nicht kenne, und ich verliere das Interesse.

Katerina kommt mit dem Essen zurück, auf das Lambros sich sofort stürzt. Uli berichtet derweil über die Coronalage in Deutschland.

»Jedes Mal, wenn ich meine Eltern anrufe, zittere ich vor Angst. Zum Glück geht es ihnen bis jetzt gut. Die Krankenhäuser sind voll, und man hört nur schlimme Nachrichten. Und zu allem Überfluss finden regelmäßig Demonstrationen von Coronaleugnern statt.«

»Bei diesen Protesten hinken wir noch hinterher«, sagt Fanis und wendet sich an mich. »Wie erklärst du dir das, Herr Kommissar?«

»Warts ab. Wir Griechen sind wie Elefanten. Wir kommen langsam in Gang, aber sind wir erst mal losgelaufen, kann uns nichts mehr aufhalten.«

Lambros ist mit dem Essen fertig und nimmt bereitwillig unsere Gute-Nacht-Küsschen entgegen. Als Katerina und er das Wohnzimmer verlassen, beginnt Adriani den Tisch zu decken.

»Heute Abend gibts eine Überraschung«, verkündet sie.

»Was für eine Überraschung?«, fragt Uli.

»Uli, Vorschuss gibts nur beim Honorar, bei Überraschungen nicht«, witzele ich.

Sobald Katerina zurückkommt, präsentiert Adriani die Überraschung: gefüllte Tomaten und Paprika. Alle geben verzückte Laute von sich.

»Zu Ehren von Uli und Mania, weil sie unserer Einladung gefolgt sind«, sagt sie.

»Sie dürfen uns gerne wieder einladen«, lacht Uli.

»Ja, aber gefüllte Tomaten gibts nicht jedes Mal«, warnt ihn Adriani.

»Egal, was Sie kochen, es ist immer köstlich!«, sagt Mania.

Am Tisch wird es still; alle genießen die gefüllten Tomaten. Auch ich habe sie eine Weile nicht mehr serviert bekommen, da Lambros seiner Oma keine Zeit für aufwendige Gerichte lässt.

Wir verbringen einen gemütlichen Abend ohne Reibereien, was die allgemeine Stimmung und die Moral hebt.

Als wir aufbrechen, gibt Fanis Mania die Bescheinigungen zurück. »Die könnt ihr behalten, wir haben Kopien«, lehnt sie ab.

»Endlich wieder ein angenehmer Abend mit unserer Tochter und unserem Schwiegersohn«, sage ich zu Adriani im Seat auf dem Weg nach Hause.

Sie antwortet, wie so oft, mit einem Spruch. »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.«

Kann sein. Jedenfalls schlafe ich sehr ruhig in dieser Nacht.

5

Am Morgen trete ich gut gelaunt in mein Büro und bin sicher, dass ein entspannter Tag auf mich wartet. Doch kaum habe ich meinen Mokka ausgetrunken, erscheint Stella im Türrahmen.

»Der Vizepolizeipräsident hat angerufen. Es ist dringend. Ich wollte Sie aber bei Ihrem morgendlichen Kaffee nicht stören.«

»Der Polizeipräsident hatte gestern Abend ein Treffen mit dem Minister und möchte darüber berichten«, sagt der Vizepolizeipräsident, als ich ihn in der Leitung habe.

»Was für ein Treffen?«

»Ich habe keine Ahnung. Wir werden es aber gleich erfahren.«