Zeiten der Heuchelei - Petros Markaris - E-Book

Zeiten der Heuchelei E-Book

Petros Markaris

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Beschreibung

In der Nähe von Athen wird die Leiche eines Hotelbesitzers gefunden. »Das Heer der Nationalen Idioten« bezichtigt den Toten der Heuchelei. Es ist der erste Mord einer rätselhaften Serie, bei der die Anklage immer gleich lautet, die Opfer jedoch grundverschieden sind. Kostas Charitos – seit neuestem stolzer Großvater – ermittelt und versucht, den obskuren Fanatikern auf die Spur zu kommen.

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Petros Markaris

Zeiten der Heuchelei

Ein Fall für Kostas Charitos

Roman

Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger

Diogenes

Für Fotini

und wie immer für Josef‌ina

Den Haien entrann ich

Die Tiger erlegte ich

Aufgefressen wurde ich

Von den Wanzen.

Bertolt Brecht,

Epitaph für Majakowski

1

Der Abstand zwischen den beiden Türen beträgt circa zehn Meter. Dafür braucht sie genau zwanzig Schritte. Schon seit zwei Stunden macht sie dieselben zwanzig Schritte von hier nach da, während ihr Blick bei jeder Kehrtwendung zur Tür gegenüber springt.

Meine Augen folgen ganz fasziniert diesem Rhythmus. Ein Stück entfernt unterhalten sich leise Mania und Uli. Gern würde ich zu ihnen gehen, um meine Anspannung durch ein Schwätzchen zu lindern, nur traue ich mich nicht aus dem Sessel hoch. Meine Beine versagen mir bestimmt den Dienst. Das einzig Mobile an meinem Körper sind meine Augen, die wie gebannt Adrianis Schritten folgen. Sissis, der ebenfalls mitgekommen ist, ist nirgends zu sehen.

Plötzlich unterbricht sie ihr Hin- und Hergehen und steuert auf mich zu. »Das dauert aber lange! Schon über zwei Stunden«, äußert sie beunruhigt.

»Aber nein«, mischt sich Mania ein, die ihre Worte mitgehört hat. »Es sind genau eindreiviertel Stunden. Ich habe auf die Uhr geschaut, als wir sie in die Geburtsklinik gebracht haben.«

»Ob sie einen Kaiserschnitt machen?«, fragt sie besorgt.

»Warum sollten sie?«, wundere ich mich.

»Egal, was die Ärzte entscheiden, Fanis ist ja an ihrer Seite«, beruhigt uns Mania.

Das Gespräch wird unterbrochen, als Sissis mit einem Strauß roter Rosen erscheint.

»Bravo, Lambros! Keiner von uns ist auf die Idee gekommen, Blumen für die junge Mutter zu besorgen. Ein Glück, dass du daran gedacht hast«, lobe ich ihn.

»Sind die Rosen für den kleinen Lambros oder für Katerina?«, will Mania wissen.

»Für beide«, erwidert Sissis.

Er kommt nicht dazu weiterzureden, denn die Tür zu seiner Linken geht auf, und eine Krankenschwester erscheint: »Kommen Sie herein! Herzlichen Glückwunsch!«

Anscheinend haben meine Beine nur auf die frohe Botschaft gewartet, um ihre alte Spannkraft wiederzuerlangen, und ich schnelle sofort hoch. Alle eilen gemeinsam zur Tür – bis auf Uli, der sich diskret zurückhält. Ich weiß nicht, wo sich Adriani im Vordrängeln übt, aber sie ist immer die Erste. Die anderen respektieren das Vorrecht des Großvaters und lassen mich an zweiter Stelle eintreten.

Im Vorraum steht Fanis mit einem Baby im Arm. Es hat die Augen geschlossen und weint herzzerreißend. »Darf ich euch Lambros vorstellen?«, verkündet er heiter.

»Mein Junge, mein ganzer Stolz!«, ruft Adriani und nimmt Fanis das Kind aus dem Arm. Lambros weint immer noch. Adriani hebt ihn ein Stück in die Höhe, um ihn besser bewundern zu können.

»Komm schon, du musst doch nicht weinen. Du wirst von uns nach Strich und Faden verwöhnt, das garantiere ich dir«, besänftigt sie ihn und wendet sich an Fanis: »Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Von unserer Tochter hat er gar nichts.«

»Urteilen Sie nicht voreilig, Frau Adriani. Im Lauf der Zeit wird er sich noch x-mal verändern«, sagt Mania.

Adriani wirft noch einen letzten Blick auf ihren Enkel, bevor sie sich anschickt, ihn mir zu übergeben. Ich aber weiche, am ganzen Leib zitternd, einen Schritt zurück. So groß ist meine Angst, ihn fallen zu lassen. Dabei erinnere ich mich, dass ich bei Katerina genau die gleiche Panik hatte.

»Gebt ihn doch mal den beiden Paten«, greift Mania ein, um mir aus der Verlegenheit zu helfen, und nimmt das Baby auf den Arm.

»Welchen beiden Paten?«, fragt Fanis.

»Die Patentante bin ich, weil ich ihn bei der Taufe halten werde, und der Patenonkel ist Onkel Lambros als Namensgeber«, erläutert Mania.

Sissis drückt Uli den Rosenstrauß in die Hand und tritt auf Mania zu, um seinen Namensvetter voller Stolz zu betrachten.

»Wie geht es Katerina?«, frage ich Fanis.

Die anderen verstummen und blicken verlegen drein, da sich alle begeistert auf das Neugeborene gestürzt haben und keiner sich Gedanken um die Mutter machte.

»Es geht ihr prima, es war eine leichte Geburt«, antwortet Fanis. »Ihr könnt zu ihr, wenn ihr wollt«, fügt er hinzu und deutet mit dem Kopf zur Tür im Hintergrund.

»Dann kommt das Baby in sein Bettchen, bis die Mutter aufs Zimmer verlegt wird«, sagt die Krankenschwester und nimmt es aus Manias Arm.

Adriani öffnet die Tür. Katerina liegt im Bett und lächelt uns an. Sie wirkt zwar ein wenig erschöpft, aber guter Dinge.

»Wie gefällt euch euer Enkel?«, fragt sie, immer noch lächelnd.

»Ein hübsches Kerlchen!«, ruft Adriani. Sie läuft zum Bett und umarmt ihre Tochter. »Glückwunsch zu eurem Sohn, Katerina! Er wird uns bestimmt sehr stolz und froh machen.« Die Stimme versagt ihr vor Rührung, und sie bricht in Tränen aus.

»Komm schon, Mama. Heute ist ein Freudentag! Was haben da Tränen zu suchen?«

»Es sind Freudentränen, mein Schatz. Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich mir ein Enkelkind gewünscht habe.«

Sie tritt zur Seite, um sich die Tränen abzuwischen. Jetzt bin ich an der Reihe, Katerina zu umarmen. Doch ich komme gar nicht zum Süßholzraspeln, da uns die Krankenschwester unterbricht.

»Frau Ouzounidou wird jetzt auf ihr Zimmer verlegt. Sie können sie später dort besuchen«, erklärt sie uns.

»Der Nachname meiner Frau ist Charitou. Ouzounidis heißt nur mein Sohn«, korrigiert Fanis sie.

Die Krankenschwester wirft ihm einen schiefen Blick zu und presst ein »’tschuldigung« hervor.

Die ganze Gesellschaft plaudert im Vorraum weiter, alle im Flüsterton und mit demselben Lächeln im Gesicht.

»Wie geht es ihr?«, fragt Mania Adriani.

»Sie ist gut drauf. Es war eine leichte Geburt, wie Fanis schon sagte, und sie wirkt überhaupt nicht erschöpft. Jetzt bringt man sie ins Zimmer hoch. Ich bleibe heute Abend bei ihr.«

»Keiner bleibt bei ihr, nicht mal ich«, nimmt ihr Fanis den Wind aus den Segeln. »Sie braucht Schlaf, um sich zu erholen. Wenn sie etwas benötigt, ist ja das Krankenhauspersonal dafür da. Wir gehen ein Glas auf Lambros trinken.«

Alle, selbst Adriani, sind von dem Vorschlag angetan. »Wo gehen wir hin?«, frage ich Fanis.

»In ein Lokal hier in der Nähe. Es muss ja nichts Besonderes sein. Hauptsache, wir können dort die Ankunft des neuen Erdenbürgers feiern. Ein richtig schönes Essen machen wir dann später bei uns zu Hause.«

Er führt uns zu einem Restaurant am oberen Ende des Kif‌issias-Boulevards, und tatsächlich misst keiner von uns dem Menü große Bedeutung bei. Lambros’ Geburt ist die Hauptsache. Erst einmal wünscht ihm jeder Glück und Gesundheit, bevor er seine Einschätzung zum Besten gibt, wie Lambros in der aktuellen gesellschaftlichen Situation aufwachsen und was er studieren wird. Kaum hat er die erste Muttermilch eingesogen, schicken sie ihn schon zum Masterstudium, denke ich mir.

Die Schlussfolgerung ist wenig originell: Wie schön die Kinder doch in der guten alten Zeit aufgewachsen sind und wie schrecklich es ihnen heutzutage ergeht.

»Ja seid ihr noch bei Trost?«, platzt Adriani irgendwann der Kragen. »Ich habt doch keine Ahnung, wie es damals war. Wisst ihr, was es heißt, von gekochten Wildkräutern, Linsen- und Bohnensuppe zu leben? Und barfuß zur Schule zu gehen, weil du nur ein Paar Schuhe hast und sie dir für Regentage und Schneefall aufheben musst?«

»Du hast ganz recht, Adriani«, stimmt Sissis zu. »Der einzige Unterschied zwischen uns war, dass ihr von den Parteiführern das Heil erwartet habt und wir von der Revolution. Weder die Parteiführer noch die Revolution waren Heilsbringer, aber wir haben trotzdem durchgehalten.«

Plötzlich nimmt Uli Mania in den Arm und drückt ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund. »Bekommen wir auch ein Kind?«, fragt er.

»Wie kommst du jetzt darauf?«, gibt Mania verdutzt zurück.

»Keine Ahnung. Vielleicht, weil hier so ganz anders darüber diskutiert wird als in deutschen Familien.«

»Nun, was sagt man denn in solchen Fällen bei euch?«, will Adriani wissen.

Uli denkt nach. »Keine Ahnung«, wiederholt er. »Kann sein, dass durch die unsichere Situation hier die Liebe in den Mittelpunkt rückt.« Erneut küsst er Mania und fragt sie noch einmal: »Also? Bekommen wir auch ein Kind?«

»Gern, lieber Uli, aber bitte nicht sofort. Noch ein Baby, und wir müssen die Kanzlei dichtmachen. Katerina ist uns da einfach zuvorgekommen.«

Alle lachen, und wir lassen den neuen Erdenbürger noch einmal hochleben.

»Heute Abend kann ich garantiert nicht einschlafen«, sagt Adriani, als wir zu Hause ankommen.

»Wieso?«

»Unser Enkelchen geht mir nicht aus dem Kopf.«

Doch kurz darauf ist sie schon ganz sanft eingeschlummert.

2

Auf der Fahrt zum Büro halte ich bei einer Konditorei an, um eine Schachtel Schokoladentrüffel zu holen. Das war Adrianis Idee. Als ich sie fragte, welche Süßigkeit ich meinen Kollegen auf der Dienststelle mitbringen sollte, war das ihr spontaner Rat.

»Warum kein Baklava?«, wunderte ich mich.

»Baklava ist etwas für Omas und Opas wie wir«, entgegnete sie. »Heutzutage versüßen sich alle mit Schokotrüffeln das Leben.«

Meinen üblichen Besuch in der Cafeteria überspringe ich diesmal und fahre direkt zu meinem Büro hoch. Dort öffne ich die Konfektschachtel und beginne meinen Rundgang im Büro meiner Assistenten.

»Zur Geburt unseres Enkels!«, erkläre ich beim Eintreten.

Alle springen auf, doch als Erste tritt Koula auf mich zu. Sie umarmt mich und küsst mich auf beide Wangen. »Wann ist er auf die Welt gekommen?«, fragt sie.

»Gestern Abend. Alles ist gutgelaufen.«

Dann folgen die Übrigen mit Glück- und Segenswünschen.

»Wie soll er heißen?«, fragt mich Askalidis.

»Lambros.«

Es folgt ratlose Stille, da keiner von ihnen etwas von meiner Freundschaft zu Sissis ahnt.

»Heißt denn der andere Opa Lambros?«, fragt Dervisoglou.

»Nein, der Name stammt nicht aus der Familie.«

»Warum wird er denn nicht nach Ihnen oder dem anderen Großvater benannt?«, fragt Dermitsakis mit einem Schokotrüffel im Mund.

Ich rufe mir die Argumente, die damals bei der Namensfindung angeführt wurden, wieder in Erinnerung. »Der andere Opa heißt Prodromos. Stellt euch mal vor, wie es für das Kind wäre, heutzutage Prodromos zu heißen! Kostas ist ein Allerweltsname, Lambros dagegen etwas Besonderes.«

»Jedenfalls ist es richtig, wenn die Kinder die Namen der Großväter und Großmütter weiterführen«, beharrt Dermitsakis.

»Sag mal, Nikos, bist du vielleicht Lambros’ Taufpate?«, hält ihm Koula entgegen.

»Natürlich nicht.«

»Was kümmert’s dich dann, wie die Eltern ihr Kind nennen?«

Dermitsakis wirft ihr einen schrägen Blick zu, hält aber den Mund.

»Mich hat man nach dem Großvater mütterlicherseits genannt. Und dieses ›Thanassis‹ geht mir total auf die Nerven«, erklärt Askalidis.

»Warum denn?«, will Dervisoglou wissen.

»Weil es mich an die Filme mit dem Komiker Thanassis Vengos erinnert, Nimm deine Waffe, Thanassis! und Was hast du im Krieg gemacht, Thanassis?. An der Polizeischule war ich für alle nur noch ›Vengos‹. Deshalb nenne ich mich jetzt Thanos, so lässt man mich in Ruhe.«

Alle reagieren amüsiert auf seine Geschichte, und die Anspannung von vorhin legt sich. Zum Abschied versieht man mich mit neuerlichen Glückwünschen, dann setze ich meine kleine Tour zur Feier des Tages fort. Jetzt sind Sonaras von der Abteilung für interne Ermittlungen, Vellidis von der Computerkriminalität und Karabetsos von der Antiterroreinheit an der Reihe. Doch statt mit der Schachtel Schokoladentrüffel von Büro zu Büro zu ziehen, rufe ich Stella an und bitte sie, alle in Gikas’ ehemaliges Büro zu rufen, das als Besprechungszimmer dient. Nun, als Raum für Festlichkeiten macht es sich auch ganz gut.

Zunächst lasse ich Stella von der Süßigkeit kosten, dann trete ich in Gikas’ Büro. Die drei Abteilungsleiter sitzen bereits erwartungsvoll auf ihren Stühlen.

»Das hier wird keine Dienstbesprechung, sondern ich möchte euch gern etwas ausgeben«, sage ich und hebe die Schachtel hoch. »Zur Geburt meines Enkels!«

»Hoch soll er leben! Viel Freude mit dem Kleinen!«, wünschen mir alle wie aus einem Mund.

»Jetzt als Opa, Kostas, brauchst du nur noch auf die Rente zu warten, um die Zeit mit deinem Enkelsohn zu genießen«, meint Vellidis.

»Mach mal halblang. Ich habe zwei Enkelkinder und denke nicht im Traum an die Rente«, hält ihm Sonaras entgegen. »Ich habe nicht vor, den beiden Hosenscheißern mein restliches Leben zu widmen.«

Da keine weiteren Themen anstehen, bringen wir die Segenswünsche und das Verspeisen der Schokotrüffel rasch hinter uns. Als ich ins Büro zurückkehre, ist die halbe Schachtel noch voll. Kurz überlege ich, sie wieder mit nach Hause zu nehmen, aber das kommt mir knickerig vor. Erneut gehe ich mit der Schachtel zum Büro meiner Assistenten.

»Das ist für euch«, sage ich.

»Wir waren doch schon dran mit Glückwünschen«, erwidert Koula.

»Macht nichts, dann gratuliert ihr mir eben zweimal. Der neugeborene Lambros kann viele gute Wünsche vertragen.«

»Na, dann wollen wir mal nicht so sein«, sagt Dervisoglou und greift in die Schachtel, während Askalidis auf‌lacht.

»Was ist so lustig?«, will ich wissen.

»Fotis ist ganz verrückt nach Schokotrüffeln. Schon allein bei ihrem Anblick bekommt er glänzende Augen.«

Ich lasse sie weiter das Konfekt genießen und kehre in mein Büro zurück. Dann blättere ich in meinen Unterlagen, um die Zeit totzuschlagen. Auf der Dienststelle ist absolut nichts los. Zum Glück tritt Koula herein und erlöst mich von der Langeweile.

»Dreitausendachthundert, holla, was für ein Wonneproppen!«, sagt sie.

»Woher kennen Sie sein Gewicht?«, frage ich verwundert, da nicht mal ich es weiß.

»Ich habe Ihre Frau angerufen, um zu gratulieren, und sie hat es mir gesagt.«

Sieh mal einer an, mir selber war es überhaupt nicht eingefallen, nach dem Gewicht meines Enkels zu fragen. »Na, dann auf Ihren baldigen Nachwuchs!«, sage ich und versuche damit, von meinem Versäumnis abzulenken.

»Danke, aber sagen Sie das lieber meinem Mann. Jedes Mal, wenn ich das Thema anspreche, will er nichts davon hören.«

»Wieso denn nicht?«

»Er fragt dann, wer das Kind aufziehen soll. Seine Eltern leben auf dem Dorf, meine Mutter ist schon verstorben …« Nach einer kurzen Pause spricht sie weiter. »Er hat recht, aber ich wünsche mir so sehr ein Kind.«

In diesem Moment schrillt das Telefon, und ich höre die Stimme des Vizepolizeipräsidenten. »Kapsidis hier, Herr Kommissar. Ich habe die gute Nachricht erfahren und wollte dem frischgebackenen Großvater gratulieren.«

»Vielen Dank, Herr Vizepolizeipräsident.«

»Sie haben Glück, dass der Enkel in einer ruhigen Phase auf die Welt kommt. So haben Sie Zeit für ihn.«

Wir beenden das Gespräch mit den neuerlichen Segenswünschen des Vizepolizeipräsidenten und meinen Danksagungen. Koula hat sich diskret zurückgezogen. Ich beschließe, Kapsidis’ Rat zu befolgen und den Weg zur Geburtsklinik einzuschlagen.

Ich hole den Seat aus der Garage und stoße auf dem Kif‌issias-Boulevard auf einen Stau, der schon beim Theater Anesis beginnt, und fahre eine Ewigkeit im Schritttempo. Hinter der Ajias-Varvaras-Straße löst sich der Stau auf, und ich erreiche ohne weitere Verzögerung die Geburtsklinik.

Als ich die Zimmertür öffne, legt Adriani den Finger an den Mund.

»Sie schläft«, erklärt sie, als sie auf den Korridor hinaustritt.

»Wie geht es ihr?«

»Mutter und Sohn sind wohlauf.« Sie unterbricht sich, da eine Krankenschwester in Katerinas Zimmer treten will. »Sie schläft«, wiederholt sie ihr gegenüber.

»Wir müssen sie aufwecken. Wir bringen ihr den Kleinen zum Stillen.«

»Du hast Glück. Kaum bist du hier, bekommst du gleich deinen Enkel zu sehen.«

Katerina hat sich im Bett aufgesetzt und lächelt uns zu. Ich gehe zu ihr hin und küsse sie.

»Wie geht es dir, mein Schatz?«

»Gut, aber die Geburt hat mich anscheinend ermüdet. Ich will nur noch schlafen.«

Adriani hat ihre Diagnose noch vor den Ärzten parat. »Eine Geburt ist in jedem Fall anstrengend. Außerdem hast du bis kurz davor gearbeitet und zu wenig geschlafen.«

Das Gespräch wird durch das Eintreffen der Säuglingsschwester unterbrochen, die den Kleinen bringt. Er sieht anders aus als gestern Abend, da er gewickelt wurde. Die Säuglingsschwester überreicht ihn Katerina, und Lambros beginnt gierig an der Mutterbrust zu saugen.

»Ich will es ja nicht beschreien, aber er hat einen gesunden Appetit!«, meint Adriani.

»Wenn er so weitermacht, wiegt er bei unserer Entlassung fünf Kilo.«

»Ja freust du dich denn nicht darüber?«, hält ihr Adriani entgegen.

»Mama, ich will keinen dicken Sohn.«

»Bist du noch bei Trost? Vorrang hat jetzt, dass er groß und stark wird. An alles andere denken wir später.«

»Wenn er nach dir gerät, dann wird er sich noch gehörig verändern«, sage ich zu Katerina.

»Warum?«

»Weil du früher auch ein rundliches Mädchen warst, und jetzt bist du eine zarte Elfe.«

»Na toll, Papa, du baust mich auf!«, entgegnet sie amüsiert.

Da geht die Tür auf, und Sissis tritt herein.

»Du kommst genau richtig!«, lacht Adriani.

Sissis misst uns keinerlei Bedeutung bei. Schnurstracks geht er auf Lambros zu und mustert ihn.

»Wie geht’s, Namensvetter?«, fragt er, aber der Namensvetter ist mit seiner Nahrungsaufnahme beschäftigt und beachtet ihn nicht.

»Siehst du das, Kommissar?«, meint Sissis zu mir. »Nicht mal Babys messen den Linken noch irgendeine Bedeutung zu.«

Katerina bricht in Lachen aus. »Onkel Lambros, wenn du ihn spazieren führst und ihm Eis oder Lollis kaufst, dann wird er dich bestimmt beachten.«

»Du hast recht, Katerina. Aber siehst du, ich versuche eben zu vergessen, dass die Revolution für mich auch eine Art Lolli war.«

Das Klingeln meines Handys unterbricht das Gespräch. »Wo sind Sie gerade, Herr Kommissar?«, höre ich die Stimme des Vizepolizeipräsidenten.

»In einem Termin … mit meinem Enkel.«

»Tut mir leid, dass ich Sie ausgerechnet jetzt stören muss, aber Sie müssen sofort nach Anavyssos fahren. Paris Fokidis wurde ermordet.«

»Der Hotelmagnat?«

»Genau, sein Auto wurde in der Hotelgarage in die Luft gesprengt.«

»Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Alle sehen mir an, dass etwas passiert sein muss.

»Was ist los?«, fragt mich Adriani.

»Die einen werden geboren, die anderen sterben. Nur ist leider, wenn man mich informiert, jemand nicht einfach so gestorben, sondern einem Verbrechen zum Opfer gefallen«, entgegne ich und trete auf den Korridor, um den Einsatz zu organisieren.

Ich rufe Dermitsakis an, damit er meine Assistenten und die Einsatzfahrzeuge koordiniert. Außerdem soll er Dimitriou von der Spurensicherung anweisen, einen Sprengstoffexperten mitzunehmen.

3

Gemeinsam mit dem Transporter der Spurensicherung und dem Sprengstoff‌techniker fahren wir los. Kurz ging mir durch den Kopf, auch den Gerichtsmediziner zu benachrichtigen, aber ich ließ es bleiben. Das Opfer ist zwar ein bekannter Unternehmer, und es würde einen guten Eindruck machen, wenn unser Stab – als Signal, wie ernst wir den Fall nehmen – komplett anträte. Doch ich weiß, dass Stavropoulos, ein Neinsager aus Überzeugung, es bestimmt ablehnt. Doch selbst ich muss zugeben: Was sollte ein Gerichtsmediziner bei einem Sprengstoffattentat auch ausrichten? Es ist unwahrscheinlich, dass er am Tatort irgendwelche handfesten Aussagen machen kann.

Wir sind zu viert – Dermitsakis, Dervisoglou, Askalidis und ich – und starten vorneweg, um mit der Sirene den Weg freizumachen. Koula ist als Einsatzkoordinatorin im Büro zurückgeblieben.

Dervisoglou, der am Steuer sitzt, schlägt vor, die Straße nach Spata zu nehmen, um von Koropi über Vouliagmeni auf den Souniou-Boulevard zu fahren. Und tatsächlich: Abgesehen von der Strecke zwischen Koropi nach Vouliagmeni, auf der einige Wagen fast im Straßengraben landeten, um uns den Weg freizumachen, kommen wir ohne weitere Überraschungen oder Staus durch.

Auf meinen Knien liegt der Ausdruck von Paris Fokidis’ Lebenslauf und beruf‌lichem Werdegang. Den Lebenslauf lasse ich zunächst beiseite und wende mich den beruf‌lichen Aktivitäten zu.

Er fing mit einem kleinen Hotel auf der Halbinsel Chalkidike an, von der er auch stammt, und brachte es zu einer ganzen Hotelkette, der Fokea SR Hotels. Eins davon, das Noufaro, liegt in Anavyssos in Attika, wo der Mord passierte. Die anderen drei liegen auf Sifnos und Kreta und in Xylokastro auf dem Peloponnes. Außerdem besaß er ein Reisebüro in London, vermutlich weil er seinen Hotels Gruppenreisen zuschanzen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte.

Das Noufaro liegt genau genommen nicht in Anavyssos, sondern in Palea Fokea. Am Eingang wartet der Streifenwagen des Polizeireviers Anavyssos bereits auf uns.

»Als Erstes hätte ich gern einen kurzen Bericht über den Stand der Dinge. Dann schauen wir weiter«, sage ich zu dem Polizeibeamten.

»Also, Herr Kommissar, zum Glück ist Nebensaison und das Hotel halb leer, sonst hätten wir zahlreiche Opfer zu beklagen gehabt.«

»Wann genau hat man Sie benachrichtigt?«

Er blickt auf die Uhr. »So gegen zwölf. Wir sind direkt zur Hotelgarage gefahren. Das Opfer, das werden Sie gleich sehen, ist völlig verstümmelt. Die anderen Wagen wurden nicht so schlimm getroffen, da Fokidis sein Auto an seinem eigenen Stellplatz weit entfernt von den anderen geparkt hat.«

Man muss unseren Streifenwagen von der Rezeption aus entdeckt und den Direktor informiert haben, denn er steht schon am Hoteleingang bereit.

»Stratos Elef‌theriou, Hoteldirektor«, stellt er sich vor. »Ich kann’s überhaupt nicht fassen«, fügt er ganz aufgelöst hinzu.

»Gehen wir zuerst zum Tatort, alles Übrige besprechen wir danach«, sage ich zu ihm.

»Wir nehmen die Treppe. Den Fahrstuhl haben wir abgestellt, bis der Techniker uns bestätigt, dass alles sicher ist.«

Hinter der Garageneinfahrt stoßen wir links auf die Überreste eines BMW. Der Kofferraum wurde in die Luft gesprengt, die Windschutzscheibe ist zersplittert, und vom Fahrer ist nur noch eine unförmige Masse übrig.

Dimitrious Truppe und der Sprengstoff‌techniker umringen das Fahrzeug. Ich werfe derweil einen Blick auf die übrigen Wagen. Es sind nur ganz wenige, und sie stehen, wie der Kollege bemerkte, recht weit entfernt. Auf den ersten Blick scheinen sie nicht ernstlich in Mitleidenschaft gezogen zu sein.

»Die Garage nutzen wir mehr im Sommer, wenn viele Gäste mit eigenen oder gemieteten Fahrzeugen anreisen«, erläutert Elef‌theriou.

»Wer hat ihn gefunden?«, frage ich.

»Es waren mehrere«, erwidert er. »Als man die Detonation hörte, sind die meisten Gäste aufgescheucht nach draußen gelaufen, während ich und das Personal zur Garage rannten, wo sich uns dann dieser Anblick bot.«

»Gehen wir in Ihr Büro, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.«

Wir lassen Dimitriou mit seinem Team in der Garage zurück und gehen ins Erdgeschoss hoch.

»Um welche Uhrzeit ist Fokidis ins Hotel gekommen?«, frage ich Elef‌theriou, als wir Platz genommen haben.

»Um zehn. Wir haben uns etwa eine Stunde lang über die Sommerplanung unterhalten. Danach hat er seinen Kontrollgang durch die Küche und die Zimmer gemacht. Er muss gegen zwölf gegangen sein, da das Frühstück schon abserviert war.«

»Kam er regelmäßig?«

»Je nach Jahreszeit. Normalerweise kam Herr Kornaros, der Leiter der Hotelkette, oder Herr Kelessidis, der Geschäftsführer. Aber jetzt liefen die Vorbereitungen für die Sommersaison, und das hat Herr Fokidis immer persönlich übernommen. Er war ständig in Griechenland und im Ausland auf Reisen. Er wollte im Bild sein über den Zustand der Hotels, über eventuelle Personalmängel und die Funktionstüchtigkeit der Küche. Das hat er nicht nur bei uns, sondern in allen Hotels so gehandhabt.«

»Hat er seinen Besuch vorab angekündigt?«

»Ja, gestern hat mich seine Sekretärin benachrichtigt.«

»Wo kann ich den Garagenleiter finden?«, frage ich Elef‌theriou.

»Zu dieser Jahreszeit haben wir keinen Garagenleiter, Herr Kommissar. Den stellen wir immer nur zwischen Juni und September ein, wenn das Hotel voll belegt ist. In den übrigen Monaten bekommen unsere Gäste eine Karte für das Garagentor. Aber die meisten parken draußen, weil es genügend freie Plätze gibt. Ein Hotelmitarbeiter reinigt die Garage jeden Morgen, das ist alles.«

Der Täter muss bei seinen Recherchen herausgefunden haben, dass es keinen Garagenleiter gab. Alles andere war dann simpel. Er musste nur den geeigneten Augenblick abwarten, bis die Garage leer war. Den Sprengstoff und die zugehörigen Utensilien hatte er wohl in einem Rucksack dabei.

Ich habe keine weiteren Fragen an Elef‌theriou. Den Rest werde ich aus den Vernehmungen in der Firmenzentrale erfahren.

»Informieren Sie Ihre Zentrale, dass man auf uns warten soll. Ich möchte alle heute noch befragen«, sage ich, bevor wir aufbrechen.

Dann gehe ich noch einmal in die Garage hinunter. Dimitriou und der Sprengstoff‌techniker sind immer noch mit dem Fahrzeug beschäftigt. Meine Assistenten drehen in der Zwischenzeit Däumchen, da sie auf Anweisungen warten. Inzwischen ist zu meinem Erstaunen auch Stavropoulos eingetroffen. Ich gehe direkt auf ihn zu, obwohl ich weiß, dass er mir nichts Weltbewegendes zu sagen haben wird.

»Ich bin ganz umsonst hergekommen. Aber ich bin selber schuld«, beginnt er. »Als mir Dimitriou von der Bombe erzählte, hätte ich mir ja denken können, dass ich nur noch Brei vorfinde. Wie Sie sich vorstellen können, kann ich nichts dazu sagen. Ich nehme ihn zwar mit zur Obduktion, aber das ist reine Formsache. Der Sprengstoff‌techniker wird Ihnen mehr sagen können.«

Ich lasse ihn das, was von Fokidis übrig geblieben ist, zum Krankenwagen bringen. Dimitriou und der Sprengstoff‌techniker warten ab, bis die Sanitäter fertig sind, um ihre Untersuchungen am BMW fortzusetzen.

»Wie wurde der Wagen in die Luft gesprengt?«, frage ich sie.

»Mit Dynamit«, antwortet der Sprengstoff‌techniker.

»Der Täter versteht etwas von seinem Handwerk«, ergänzt Dimitriou. »Er hat die Kabel so verbunden, dass die Sprengkraft der Bombe möglichst groß war. Mehr dazu kann ich erst sagen, wenn wir den Wagen im Labor untersucht haben, aber ich glaube nicht, dass wir dann zu einem anderen Ergebnis kommen.«

Nun wende ich mich meinen Leuten zu. »Einer von euch befragt das Personal an der Rezeption. Fragt nach, ob ihnen neben den üblichen Gästen eine oder mehrere unbekannte Personen aufgefallen sind, die das Hotel betreten haben, und ob sie nach dem Grund ihres Besuchs gefragt haben. Ebenso möchte ich eine Liste der Gäste des Hotels.«

»Das übernehme ich«, meldet sich Dermitsakis.

»Dann klappern die anderen beiden die oberen Etagen ab und befragen die Reinigungsfrauen. Uns interessiert, ob sie einen Unbekannten gesehen haben und ob er Erkundigungen eingezogen hat. Treffpunkt ist wieder hier, dann sehen wir weiter.«

Als sich die drei auf den Weg gemacht haben, schicke ich mich an, wieder ins Erdgeschoss hochzusteigen, um zur Bar zu gehen, die ich mir selbst vorbehalten habe. Kaum bin ich am Ende der Treppe angelangt, klingelt mein Handy.

»Wie stehen die Dinge, Herr Kommissar?«, höre ich die Stimme des Vizepolizeipräsidenten.

Ich gebe ihm anhand der wenigen Hinweise, die wir bis jetzt haben, eine erste Einschätzung der Lage, muss aber bald feststellen, dass er mich aus einem anderen Grund angerufen hat.

»Der Minister will uns sehen«, kündigt er mir an.

»Gern, aber ich brauche noch eine Weile. Wir sollten zuerst die Ermittlungen am Tatort zu Ende führen und dann die leitenden Angestellten in Fokidis’ Firmenzentrale vernehmen. Nur so können wir uns ein klareres Bild verschaffen.«

»Verstehe. Ich werde das dem Polizeipräsidenten erklären, und er soll dann morgen früh ein Treffen mit dem Minister arrangieren«, sagt er abschließend.

Die Bar befindet sich am rechten Ende des Korridors. Davor liegt eine große Veranda mit Tischchen und Sonnenschirmen. Ich wundere mich, dass die Schirme aufgespannt sind. Es sind die ersten milden Sonnentage im Jahr, und man könnte sie eigentlich genießen, ohne dass man sich vor der Gluthitze schützen muss, aber es gehört wohl einfach zur Einrichtung.

Die Bar ist leer. Ich gehe auf den jungen Mann zu, der hinter dem Tresen steht. Er wirft mir einen Blick zu, setzt seine Arbeit jedoch unbeirrt fort und räumt weiter Tassen weg. Ich schicke mich an, meinen Ausweis hervorzuziehen, doch er winkt ab.

»Nicht nötig. Schon klar, dass Sie Polizist sind«, meint er.

»Ich werde Sie nicht lange von Ihrer Arbeit abhalten. Ist Ihnen vielleicht am Morgen jemand aufgefallen, der zum Kaffeetrinken hier war und kein Dauergast ist?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich kann nicht behaupten, dass ich alle Gäste kenne. Da müsste ich lügen. Der Einzige jedenfalls, der an der Bar Kaffee getrunken hat, war ein junger Mann in meinem Alter.«

»Hatte er etwas bei sich? Ich meine, eine Tasche oder einen Rucksack?«

»Nein. Er trug eine blaue Jacke, in der Hand hatte er nichts. Das Geld, mit dem er den Espresso bezahlt hat, hat er aus der Hosentasche gefischt. Ob jetzt ein fremder Gast auf die Veranda kam, kann Ihnen nur die Kellnerin sagen. Vor hier aus sehe ich nicht, was dort vorgeht.«

Die Kellnerin bedient auf der Terrasse gerade ein Ehepaar mit Kind. Ich warte, bis sie zurückkommt, und stelle mich vor.

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«, sage ich.

»Jetzt? Geht das nicht nach Dienstschluss?«

»Sprich ruhig mit dem Kommissar, Jota«, greift der junge Mann ein. »Ich übernehme in der Zwischenzeit die Bedienung.«

Ich gehe mit ihr zu einem Tischchen an der Bar. »Ich würde gern wissen, ob Sie heute jemanden bedient haben, der kein Hotelgast ist, sondern ein Außenstehender.«

»Die Einzigen, die ich heute bedient habe und die keine Stammgäste waren, waren ein Pärchen«, antwortet sie.

»Wie alt ungefähr?«

»Der Mann um die fünfzig, die Frau jünger.«

»Wie waren sie gekleidet?«

»Der Mann trug einen Anzug, aber ohne Krawatte. Die Frau hatte eine Hose an und eine Lederjacke. Sie wirkten beide wohlhabend.«

»Ist Ihnen aufgefallen, ob sie etwas bei sich hatten? Eine Tasche oder einen Rucksack?«

»Die Frau trug eine Tasche, der Mann einen Rucksack. Ich habe gesehen, wie er ihn beim Weggehen auf den Rücken genommen hat.«

»Wissen Sie vielleicht noch, um welche Uhrzeit sie kamen und wann sie gegangen sind?«

»Sie sind gegen elf gekommen und ungefähr eine Stunde geblieben.«

»Vielen Dank. Das war’s auch schon«, sage ich zu ihr, und sie kehrt an ihre Arbeit zurück.

Wenn das der Mann war, der den Sprengstoff angebracht hat, dann kam er nicht allein, sondern in weiblicher Begleitung, vielleicht um weniger Aufmerksamkeit zu erregen.

Ich verlasse die Bar und kehre zur Rezeption zurück. »Ist Ihnen vielleicht ein Pärchen aufgefallen, das nicht im Hotel wohnt?«, frage ich die junge Rezeptionistin und gebe ihr eine Beschreibung der beiden.

»Mir ist eine Frau aufgefallen, die vor dem Fahrstuhl stand und sich am Handy unterhielt. Danach habe ich gesehen, wie sie mit einem Mann hinausging.«

»Wie lange danach?«

Sie hebt die Schultern. »Weiß nicht, ich hatte zu tun und habe sie nicht ständig beobachtet.«

»Trug der Mann einen Rucksack?«

Sie denkt nach. »Jetzt, da Sie es erwähnen … Ja, er hatte einen Rucksack dabei.«

Die Frau stand am Telefon Schmiere, um den Täter zu warnen, falls es nötig gewesen wäre. Vermutlich hatte jemand anderer die Örtlichkeiten in der Garage erkundet und ihnen die Informationen weitergereicht. Durchaus denkbar, dass es jemand war, der ein Zimmer gebucht und eine Garagenkarte erhalten hatte. Wir werden die Liste der Gäste durchsehen, aber ich bezweif‌le, dass wir damit auf einen grünen Zweig kommen. Wer auch immer der Mittäter war, er hat bestimmt kein Vorstrafenregister und wird uns eine glaubhafte Erklärung auf‌tischen. Mit so vielen Tatbeteiligten riecht die Sache nach organisiertem Verbrechen.

»Das Personal in den anderen Stockwerken, die ich übernommen habe, hat nichts Auf‌fälliges bemerkt«, berichtet Askalidis, der gerade bei mir eingetroffen ist.

»Auch Dervisoglou wird nichts finden«, antworte ich und erkläre ihm den Grund. »Sagen Sie Dermitsakis, er soll kommen. Wir müssen in der Firmenzentrale weitermachen.«

Aber das ist gar nicht nötig, denn er tritt gerade aus dem Fahrstuhl. »Der ist jetzt wieder in Betrieb«, erläutert er.

»Hast du die Liste der Gäste?«, frage ich ihn, worauf er sie aus der Jackentasche zieht. »Gib sie Thanos. Du und Fotis fahrt ins Präsidium zurück und versucht, mit Koulas Hilfe die Leute auf der Liste ausfindig zu machen«, erkläre ich Askalidis. »Gebt der örtlichen Polizeistation Bescheid, sie sollen euch einen Streifenwagen zur Verfügung stellen, damit ihr zurückfahren könnt. Dermitsakis und ich fahren in die Firmenzentrale weiter.«

Unterwegs informiere ich Dermitsakis über das Pärchen, die beide als Täter in Frage kommen.

4

Fokidis’ Firmenzentrale liegt in einem der imposanten Geschäftssitze des Kif‌issias-Boulevards auf der Höhe des Psychiko-Viertels. Wir folgen derselben Route wie vorhin, ersparen uns aber die Sirene, damit ich Dermitsakis in Ruhe auf dem Laufenden halten kann.

Als ich fertig bin, schweigt er erst, um seine Gedanken zu ordnen. »Die Sache stinkt«, meint er dann. »Er war in irgendetwas verwickelt, und man hat ihn kaltgemacht. Hinrichtungen durch Autobomben werden nur von Profis durchgeführt.«

»Ja, aber worin könnte er verwickelt gewesen sein?«

»Geldwäsche«, antwortet er prompt. »Bei Verbrechen dieser Art ist das fast immer die Regel.«

Falls das stimmt, müssen wir die Abteilung für Wirtschaftskriminalität einschalten. Der Gedanke begeistert mich wenig, da ihr Leiter Koulakos ein eitler Besserwisser ist, der mir auf die Nerven geht.

»Warten wir ab, wie sich die Ermittlungen entwickeln. Dann sehen wir weiter«, erwidere ich vage.

Der Verkehr in Richtung Athen wird immer dichter, und Dermitsakis schaltet nun doch die Sirene ein. Das verurteilt uns zum Schweigen, da man mit einem heulenden Einsatzhorn auf dem Autodach nicht diskutieren kann.

Ich schließe die Augen und versuche, alle Gedanken aus meinem Kopf zu bannen. Dermitsakis’ simple Theorie ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber es ist noch zu früh, um daraus Schlüsse zu ziehen.

Die Büros der Fokea SR Hotels erstrecken sich über zwei Etagen. In der Annahme, dass dort der Empfang liegt, fahren wir in die zweite hoch. In der Tat, da sind wir richtig, nur finden wir ihn leer vor. Die ganze Firma macht einen chaotischen Eindruck. Die Angestellten haben sich in Grüppchen zusammengerottet und unterhalten sich mit gesenkter Stimme.

Schließlich bemerkt eine junge Frau unsere Anwesenheit und stößt ihre Nachbarin an, die zur Rezeption kommt und uns ohne ein Wort forschend anblickt. Als wir uns vorstellen, beginnt sie herumzutelefonieren. Kurz darauf schickt sie uns zum Büro des Geschäftsführers in der dritten Etage. Ich weise Dermitsakis an, das Personal in der zweiten Etage zu übernehmen, und mache mich auf den Weg zum Geschäftsführer.

Pavlos Kelessidis ist in den Fünfzigern und empfängt mich mit Trauermiene im Stehen. Vielleicht ist er aufgrund einer Vorahnung passend zur Gelegenheit gekleidet – dunkler Nadelstreif, weißes Hemd und dunkelblaue Krawatte.

»Wir kommen gewiss ungelegen, doch wir möchten die Ermittlungen zügig vorantreiben«, sage ich einleitend. »Ich versuche mich so kurz wie möglich zu fassen.«

»Wir sind alle tief geschockt«, erwidert er. »Ich verstehe, dass die Ermittlungen aufgenommen werden müssen. Das wollen wir ja alle. Fragen Sie, und ich probiere, mich auf die Antworten zu konzentrieren.«

»Fangen wir mit dem Naheliegendsten an. Wissen Sie, ob Paris Fokidis in der letzten Zeit oder auch früher schon bedroht wurde?«

Kelessidis überlegt, bevor er antwortet. »Paris Fokidis war ein zurückhaltender Mensch«, sagt er nach einer kleinen Weile. »Alle Gespräche mit seinen Angestellten – ja selbst mit mir – drehten sich ausschließlich um das Unternehmen. Und ich war einer seiner ältesten Mitarbeiter. Er hat weder über seine Familie noch über sein Privatleben geredet. Selbst wenn er Drohungen erhalten hätte, hätte er sie höchstwahrscheinlich für sich behalten.«

»Hat er bei Ihnen einen besorgten oder verwirrten Eindruck hinterlassen?«

»Ganz und gar nicht, Fokidis war genau so wie immer.« Er hält kurz inne und fügt dann hinzu: »Außerdem sehe ich nicht ein, aus welchem Grund man einen Unternehmer wie Paris Fokidis bedrohen sollte.«

»Liefen seine Firmen gut?«, frage ich, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden.

»Hervorragend. Bisher hatten wir nur Hotels am Meer, jetzt wollten wir auch in den Skitourismus einsteigen. Wir planten einen Hotelbau im Wintersportzentrum am Pilion-Gebirge.«

»Können Sie mir etwas zu Fokidis’ Familienstand sagen?«, frage ich, um das Thema zu wechseln.

»Er war geschieden und hatte zwei Kinder. Seine Exfrau ist Britin. Nach der Scheidung blieben sie nicht nur freundschaftlich verbunden, sondern auch Geschäftspartner. Julie leitet immer noch das Londoner Reisebüro des Unternehmens. Seine Söhne studieren in England. Im Winter leben sie bei ihrer Mutter, im Sommer machen sie bei ihrem Vater Ferien. Manchmal kam auch seine Exfrau mit und verbrachte ihren Urlaub in einem der Hotels.« Nach einer kurzen Pause spricht er weiter. »Wie Sie sehen, führte Fokidis das Leben eines normalen, erfolgreichen Geschäftsmannes.«

Dem kann ich vorerst nicht widersprechen. Kelessidis’ Aussage zumindest lässt mich keinen Makel, kein dunkles Geheimnis in seinem Privat- und Berufsleben erkennen.

Ich verabschiede mich von ihm und mache mich auf zum nächsten Termin, diesmal mit dem Leiter der Hotelkette. Ich erinnere mich, dass Elef‌theriou den Namen Kornaros fallenließ. Auf meine Nachfrage zeigt mir Kelessidis’ Sekretärin sein Büro am Ende des Korridors.

Der Vorraum ist leer. Ich klopfe an die Tür an seinem Ende und öffne sie. »Herr Kornaros?«, erkundige ich mich.

Der Mann unterbricht die Suche in seinem Büroschrank, wendet sich zu mir um und blickt mich an. »Ja?«

»Kommissar Charitos«, stelle ich mich vor.

»Kommen Sie herein, Herr Kommissar.«

Er deutet auf einen Stuhl und nimmt an seinem Schreibtisch Platz. »Es ist mir klar, weshalb Sie hier sind.« Er scheint gefasst und trägt keine betretene Miene wie Kelessidis zur Schau.

»Gerade habe ich mit Herrn Kelessidis gesprochen, aber ich wollte auch Ihnen ein paar Fragen stellen«, beginne ich.

»Gern«, antwortet er.

»Würden Sie mir ein Bild des Hotelbetriebs vermitteln? Herr Kelessidis hat mir natürlich gesagt, dass die Firma hervorragend läuft, aber Sie als Leiter der Hotelkette könnten mir bestimmt noch mehr Informationen geben.«

»Zunächst einmal stimmt Herrn Kelessidis’ Aussage. Die Fokea-Hotels sind sehr beliebt. Im Sommer, von Mitte Juni bis Ende September, sind sie restlos ausgebucht. Den Löwenanteil der Gäste bilden Briten und Deutsche. In den letzten drei Jahren hatten wir auch ziemlich viele russische Gäste, vor allem auf Kreta. Aber es kommen auch Touristen aus Frankreich und Skandinavien zu uns.«

»Haben Sie auch Besucher aus afrikanischen oder asiatischen Ländern?«, will ich wissen.

»Nur sporadisch, die meisten davon besitzen die britische Staatsbürgerschaft. Reiche Araber oder Scheichs zählen nicht zu unseren Kunden.«

»Wir hätten gern eine Übersicht der Gäste aller Hotels vom Sommer bis jetzt.«

Er blickt mich neugierig an. »Glauben Sie, dass der Mörder unter den Gästen zu suchen ist?«

»Vorläufig glauben wir gar nichts. Es ist noch zu früh, um uns festzulegen. Aber im weiteren Verlauf müssen wir eventuell einige der Gäste befragen.«

Er bleibt stumm und blickt mich an. »Ich versuche, mir möglichst wenig anmerken zu lassen und einfach weiterzuarbeiten, Herr Kommissar. Aber ich kann nicht begreifen, wer einen Grund und ein Interesse haben könnte, Paris Fokidis umzubringen.«

»Wir vorläufig auch nicht. Wir hoffen, dass wir noch dahinterkommen. Dann werden Sie es auch erfahren.«

Er fährt fort, als hätte er mich gar nicht gehört. »Paris Fokidis war ein guter Mensch, Herr Kommissar. Das einzig Schwierige an ihm war, dass er alles an sich gezogen hat. Er wollte alles kontrollieren, und das hat uns manchmal genervt. Ohne seine Zustimmung lief gar nichts. Wenn er auf Reisen war, hat er jeden Tag über Skype mit uns kommuniziert. Stellen Sie sich vor, die Firma hatte keinen Finanzdirektor, weil er persönlich die Aufsicht über die finanziellen Angelegenheiten behalten wollte.«

Er macht eine kurze Pause und fährt dann fort. »Aber er war ein großzügiger Mensch, und das nicht nur seinen Angestellten gegenüber. Seine Großzügigkeit beschränkte sich nicht auf Bonuszahlungen, die dem Führungspersonal ausgeschüttet wurden, wenn wir Gewinne machten. Denken Sie nur, er hat eine bestimmte Kapitalsumme für Stipendien an mittellose junge Menschen zur Verfügung gestellt, die eine Hotelfachschule absolvieren wollen. Die Stipendien wurden nach ausführlicher Prüfung der finanziellen Situation der Familien vergeben. Sie mussten tatsächlich mittellos sein. Die Begabtesten ließ er in den Hotels ausbilden und hat dann alle übernommen, die einen erfolgreichen Abschluss erreichten.« Er verstummt und blickt mich an. »Wer bringt so einen Mann um?«, lautet seine abschließende Frage.

»Es ist noch zu früh, um darauf zu antworten«, sage ich. »Wir tun, was in unserer Macht steht, um den Mörder zu finden.«

»Ich hoffe sehr, dass es Ihnen gelingt«, antwortet er und erhebt sich, um mir das Ende des Gesprächs anzudeuten.

Als ich in die zweite Etage hinuntergehe, stehen immer noch Grüppchen herum. So läuft es immer, sage ich mir: Die führenden Köpfe sitzen einsam in ihren Büros, da sie wissen, dass man sie nur schwer von ihrer Position verdrängen kann. Die kleinen Angestellten tummeln sich in Schwärmen wie die Fische und diskutieren, als könnten sie so die Angst vor dem Morgen verscheuchen.

Ich frage nach, wo sich Dermitsakis aufhält, und man antwortet mir, dass er sich von Büro zu Büro vorarbeitet. So nehme ich auf einem der leeren Stühle Platz, um auf ihn zu warten. Zum Glück taucht er auf, bevor ich Wurzeln schlage.

»Ich bin fertig«, verkündet er.

»Ich auch, dann nichts wie los!«

Wir steigen in den Streifenwagen. Als Dermitsakis starten will, halte ich ihn zurück. »Erzähl mir zuerst von deiner Ausbeute«, sage ich.

»Nichts Besonderes. Alle lobten ihn über den grünen Klee. Ob er jetzt tatsächlich ein so toller Mensch war oder ob sie dem Toten nichts Übles nachsagen wollen, wird sich noch zeigen.«

Wir haben es mit einem Mord zu tun, der eigentlich nicht hätte passieren dürfen. Wer hatte einen Grund, einen so perfekten Unternehmer zu töten? Und noch dazu mit einer Autobombe? Ich habe denselben Eindruck wie Dermitsakis. Keiner sagt etwas Schlechtes über Fokidis. Immerhin kam bei unseren Befragungen heraus, dass er es verstand, seine unterschiedlichen Aktivitäten sorgfältig zu verbergen. Deshalb behielt er auch persönlich die Firmenfinanzen in der Hand. Er duldete keinen neben sich, der hätte mitbekommen können, woher der Wind wehte.

Morgen muss ich, so überlege ich, mit leeren Händen zur Besprechung beim Minister gehen, und das passt mir ganz und gar nicht. Ich sollte mich mit Koulakos von der Abteilung für Wirtschaftskriminalität zusammensetzen, in der Hoffnung, dass er ein wenig Licht ins Dunkel bringt. Der Gedanke begeistert mich wenig, aber mir bleibt keine andere Wahl.

5

Ich beauf‌trage Stella, Koulakos in Gikas’ ehemaliges Büro und unser derzeitiges Besprechungszimmer zu bestellen. Fünf Minuten später gibt sie mir Bescheid, dass Koulakos bei einem Termin sei und erst in einer halben Stunde zur Verfügung stehe.

Der Mord an Fokidis, der uns sowohl von Regierungsseite als auch durch die Medien gewaltig unter Druck setzen wird, plus mein Verdruss, dass ich heute Abend meinen Enkel nicht sehen kann, bringen das Fass zum Überlaufen.

»Sagen Sie ihm, ich will ihn innerhalb von fünf Minuten sprechen, die Angelegenheit duldet keinen Aufschub«, sage ich zu ihr.

Ich bin schon drauf und dran, in die fünf‌te Etage hochzufahren, als Koula mich zurückhält.

»Ich habe etwas gefunden, das Sie interessieren könnte«, erklärt sie.

»Schießen Sie los.«

»Fokidis hatte im Stadtteil Bachrami ein Studentenheim für Hotelfachschüler gegründet, deren Eltern sich die Ausbildung in Athen nicht leisten können.«

»Bravo, Koula. Gut, dass Sie mich darauf hinweisen. Suchen Sie weiter, Sie landen bestimmt noch den einen oder anderen Treffer.«

Als ich in den Fahrstuhl trete, kreisen meine Gedanken nur um Fokidis. Wer sollte einen Geschäftsmann töten, der so großzügig war, jungen Leuten ein Studium zu ermöglichen und zu finanzieren und sogar für ihre Unterkunft zu sorgen? Aus welchem Grund? Seine Konkurrenten können es nicht gewesen sein. Selbst ich weiß, dass man seine geschäftlichen Gegenspieler nicht körperlich, sondern durch Wettbewerb vernichtet. Daher müssen wir das Mordmotiv anderswo suchen.

»Er wartet drinnen schon auf Sie«, sagt Stella, als ich in den Vorraum betrete.

Koulakos sitzt am Konferenztisch. »Hast du vor, Kalif zu werden anstelle des Kalifen?«, fragt er gleich als Erstes.

»Was willst du damit sagen?« Ich wundere mich über seine Aussage, da ich die Anspielung nicht verstehe.

»Ich frage, ob du vorhast, Kriminaldirektor zu werden anstelle des Kriminaldirektors, weil ich unverzüglich antraben musste.«

Koulakos hat das seltene Talent, einem auf den Wecker zu gehen, sobald er den Mund aufmacht. Gegen ihn ist Stavropoulos der reinste Waisenknabe.

»Ich habe dich nicht herbestellt, weil ich den Vorgesetzten spielen möchte«, erkläre ich ihm ruhig. »Wir haben es mit einem verwickelten und gefährlichen Mordfall zu tun.«

»Ich weiß, Paris Fokidis.«

»Genau. Ich wollte deine fachliche Meinung einholen und fragen, ob du Informationen über Fokidis’ Firmen und Aktivitäten besitzt, die uns nützlich sein könnten.«

Sogleich setzt er seine dienstliche Miene auf. »Wie du weißt, beginnen wir erst zu ermitteln, wenn eine Straf‌tat vorliegt, die mit bestimmten Geldflüssen zu tun hat, oder eine Anzeige. Bis jetzt gibt es da absolut nichts. Zu ihm kann ich einzig und allein sagen, dass er ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann war und nie irgendetwas Belastendes gegen ihn auf‌tauchte. Aber auf dein Ersuchen hin werde ich Ermittlungen einleiten und dich auf dem Laufenden halten.« Er verstummt und blickt mich an. »Ich will ja nicht schwarzmalen, aber ich fürchte, du steckst ganz schön im Schlamassel. Der Minister und die Aasgeier vom Fernsehen werden dir keine ruhige Minute gönnen.«

»Schon klar, den Minister treffe ich morgen früh.«

»Na dann, halt die Ohren steif!«, sagt er und steht auf.

Im Anschluss gehe ich wieder in mein Büro hinunter. Da alle meine Mitarbeiter zurückgekehrt sind, rufe ich sie zum Gedankenaustausch zusammen.

»Wir haben etwas Eigenartiges gehört«, erzählt Dervisoglou.

»Was denn?«

»Nachdem Sie gegangen waren, trat ein junger Mann seinen Dienst an der Rezeption an und berichtete uns, dass vor ein paar Tagen ein Mann persönlich vorbeikam, um ein Doppelzimmer zu reservieren. Doch zuerst wollte er die Zimmer sehen. Danach wollte er sich auch noch die Garage anschauen, weil er wissen wollte, so sagte er, ob sie auch sicher sei. Man führte ihn in die Garage hinunter, und er hat alles gründlich inspiziert. Er fragte, ob es einen Garagenleiter gebe, und als man verneinte, fragte er, wie die Autos dann rein- und rauskämen. Man erklärte ihm die Sache mit der Karte. Er bedankte sich und ging.«

»Hat er seine Personalien hinterlassen?«

»Nein, er wollte es sich überlegen«, antwortet Askalidis.

»Gibt es eine Personenbeschreibung?«

»Der Rezeptionist hat uns erzählt, dass er um die fünfzig war, mittelgroß und einfach gekleidet.«

»Hat er vielleicht seinen Wagen gesehen?«

»Nein, er ist zu Fuß weggegangen«, sagt Dervisoglou.

»Habt ihr die anderen gefragt, ob irgendjemandem der Wagen zufällig aufgefallen ist?«, hake ich nach.

»Ja, es hat aber keiner was gesehen, auch nicht der Gärtner.«

»Unter dem Vorwand, ein Zimmer zu mieten, hat er die Garage ausgeforscht, das steht fest«, schlussfolgert Dermitsakis. »Und er hat sein Auto weit entfernt abgestellt, damit es sich keiner vom Personal einprägt.«

Diese Erklärung klingt logisch, aber damit können wir weder den Wagen noch den Fahrer ausfindig machen.

Ich löse die Besprechung auf und beschließe, einen vorläufigen Schlusspunkt unter die Ermittlungen zu setzen. Es hat keinen Sinn, heute noch weiterzumachen. Ich blicke auf meine Uhr, es ist schon acht. Um diese Uhrzeit kann ich Katerina in der Geburtsklinik nicht mehr stören. Die Vernunft gebietet, direkt nach Hause zu fahren.

Unterwegs versuche ich mir zurechtzulegen, was ich dem Minister und meinen Vorgesetzten morgen früh sagen möchte. Über den puren Sachverhalt hinaus komme ich mit leeren Händen. Es gibt keinerlei Hinweis noch irgendeine Spur, der wir nachgehen könnten. Nach allem, was wir bisher erfahren haben, war das Opfer ein Geschäftsmann ohne Fehl und Tadel und darüber hinaus ein »Wohltäter«, wie man solche Leute in früheren Zeiten nannte. Traurig, aber wahr: Untadelige Opfer machen der Polizei das Leben schwer.

Als ich die Tür öffne, höre ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. Adriani sitzt mit Fanis und Sissis zusammen.

»Augenscheinlich bist du in bester Gesellschaft, Adriani«, scherze ich.

»Was soll ich denn machen? Mit zwei Junggesellen im Familienkreis – wenn auch der eine nur vorübergehend. Soll ich sie verhungern lassen?« Dann hakt sie nach: »Und, warst du in der Geburtsklinik?«

»Nein, es war schon zu spät, und ich wollte Katerina nicht stören.«

»Dein Enkel wird mal ein ganz schlaues Kerlchen«, verkündet sie. »Ich war dabei, als er die Augen aufgeschlagen und seine Mutter angesehen hat. Den Blick hättest du sehen sollen!«

Sissis schickt seinen eigenen Kommentar hinterher. »Jedenfalls wirkt er stark und kräftig. Er wird ein athletischer Typ.«