Das Spiel mit der Angst - Petros Markaris - E-Book

Das Spiel mit der Angst E-Book

Petros Markaris

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Beschreibung

In diesen Geschichten kämpft nicht nur Kommissar Charitos gegen das Verbrechen. Auch ein alter Maler, der schon Krieg und Hunger erlebt hat, wehrt sich gegen die neusten Finten des Schicksals und erfindet ein Spiel mit der Angst. Und schließlich sind da noch ein Grieche und ein Türke, zwei Restaurantbesitzer und Konkurrenten, die sich gegenseitig alles Böse an den Hals wünschen. Doch als sie zufällig an einem Tisch essen, entdecken sie köstliche Gemeinsamkeiten.

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Petros Markaris

Das Spiel mit der Angst

und andere Geschichten

Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger

Diogenes

Für Josefina, wie immer

Quarantäne

Es beginnt mit einem Anruf von Stella. »Es tut mir leid, Herr Charitos, ich habe schlechte Neuigkeiten.«

»Was heißt das?«, frage ich besorgt.

»Ich bin positiv auf Corona getestet worden. Ich muss vierzehn Tage in Quarantäne.« Sie pausiert und fügt bedrückt hinzu: »Da Sie erste Kontaktpersonen sind, müssen auch Sie in Quarantäne.«

»Schön«, sage ich mir. »Früher hatten wir Souvenirs im Gepäck, jetzt bringen wir das Coronavirus aus dem Urlaub mit.«

Es folgt ein Anruf des Katastrophenschutzes. »Kommissar Charitos?«

»Am Apparat.«

»Devletis hier, Herr Kommissar. Haben Sie mit Ihrer Assistentin gesprochen?«

»Ja, sie hat mich informiert, dass sie positiv auf Corona getestet wurde und dass ich ebenfalls in Quarantäne muss.«

»Genau. Mit welchen Familienmitgliedern wohnen Sie in einem Haushalt?«

»Nur mit meiner Frau.«

»Dann muss auch sie vorbeugend in Quarantäne. Für Sie beide gilt Maskenpflicht in der Wohnung.«

Sofort rufe ich Adriani an. Zum Glück erreiche ich sie, bevor sie zu unserer Tochter aufbricht. Als ich ihr die Lage schildere, bringt sie keinen Ton heraus.

»Das heißt, ich darf nicht zu Katerina, solange wir in Quarantäne sind?«, stammelt sie.

»Für die kommenden zwei Wochen leider nicht. Wenn alles glattgeht.«

Ihre Niedergeschlagenheit verwandelt sich in Verzweiflung. »Und wie soll das gehen? Wer kümmert sich um den kleinen Lambros, wenn Katerina arbeiten geht?«, ruft sie aus. »Wie rücksichtslos von deiner Assistentin!«

»Ich werde Sissis bitten, Melpo zu schicken, bis du das wieder übernehmen kannst.« Melpo ist die Frau aus dem Obdachlosenheim, die schon für Lambros sorgte, als er noch ein Baby war. »Mach dir keine Sorgen, im Obdachlosenheim gibt es keine Coronafälle, und Sissis lässt die Bewohner jede Woche testen. Rufst du Katerina an, oder soll ich?«

»Du gibst Sissis Bescheid, und ich spreche mit Katerina, um die Einzelheiten abzusprechen.«

Ich informiere erst noch meine Mitarbeiter, bevor ich bei Sissis anrufe. Er hört mir zu, ohne zu unterbrechen. »Irgendwie ahnte ich schon, dass es dich erwischt«, sagt er besorgt. »Hoffentlich geht alles gut. Ich schicke Melpo sofort los. Sag Adriani, sie soll sich keine Sorgen machen.«

Vor lauter Telefonaten und Gesprächen ist mir gar nicht bewusst geworden, dass ich mich ja tatsächlich angesteckt haben könnte. Die Angst überkommt mich erst, als ich in meinem Seat sitze und nach Hause fahre.

*

Quarantäne, die <aus fr. quarantaine, eigtl. Anzahl von 40 (Tagen), zu quarante, »vierzig«, dies aus vulgärlat. quarranta, lat. quadraginta; nach der vierzigtägigen Hafensperre, mit der man früher Schiffe belegte, die seuchenverdächtige Personen an Bord hatten>: räumliche Absonderung, Isolierung ansteckungsverdächtiger Personen, Tiere od. Absperrung eines Infektionsherdes (z.B. Wohnung, Ortsteil, Schiff) von der Umgebung als Schutzmaßnahme gegen Ausbreitung od. Verschleppung einer gefährlichen Infektionskrankheit.

Der Eintrag im Dimitrakos-Lexikon öffnet mir die Augen und macht mir bewusst, was mir bevorsteht. In meinem Fall wenigstens wird die Quarantäne nur vierzehn Tage dauern und keine vierzig. Aber selbst dieser Zeitraum erfüllt mich mit Schrecken.

Seit unserer Eheschließung waren meine gemeinsamen Stunden mit Adriani auf den Abend und die Sonn- und Feiertage beschränkt. Die Geburt unseres Enkels veränderte unser Leben, und wir waren nur noch selten zu zweit. Unsere Abende verbrachten wir mit Katerina, unserem Schwiegersohn Fanis und vor allem mit Lambros, bis es Schlafenszeit für ihn war.

Schon am ersten Tag der Quarantäne wird mir klar, dass ich tagsüber in meinem eigenen Haus nur zu Gast bin. Sobald ich morgens das Wohnzimmer betrete, wo der Fernseher steht, stürzt Adriani herbei und scheucht mich fort.

»Nicht ins Wohnzimmer! Ich muss erst putzen und Staub wischen. Später!« Als ich sie dann in der Küche aufsuchen will, um mit ihr zu plaudern, hält sie mich an der Schwelle zurück. »Beim Kochen kann ich hier niemanden gebrauchen. Und setz bitte die Maske auf. Sie haben dir doch gesagt, dass du zu Hause eine Maske tragen sollst.«

Dass wir uns beide nicht damit abfinden können, nicht wie gewohnt unserer Arbeit nachgehen zu können, macht das Zusammenleben noch schwieriger. Adriani sehnt sich nach ihrem Enkel und ich mich nach der Dienststelle. Das zerrt an unseren Nerven und befeuert unsere Auseinandersetzungen. Langsam hege ich Fluchtgedanken. Am liebsten würde ich die Quarantäne abbrechen und hinaus auf die Straße rennen.

Am dritten Tag finden wir schließlich eine Form der Koexistenz. Ich habe mich ins Schlafzimmer zurückgezogen, als wäre ich ein Student, der zur Untermiete wohnt. Adriani hält die übrige Wohnung für sich besetzt wie eine Vermieterin, die so ihr Haushaltsbudget aufbessert.

*

Nachdem wir wie immer zusammen unseren Morgenkaffee getrunken haben, gehe ich ins Schlafzimmer, lege mich aufs Bett und stelle mir das Dimitrakos-Lexikon auf die Brust.

 

isolieren: (von etwas, jmdm.) streng trennen, um jede Berührung, jeden Kontakt auszuschließen: die mit dem Giftstoff infizierten Kranken wurden sofort isoliert; einen Gefangenen isolieren; den Gegner politisch isolieren; ihre Stellung isolierte sie von ihrer Umgebung.

sich isolieren: für sich bleiben; den Kontakt mit andern meiden; sich von den andern absondern. Syn.: sich abkapseln, sich abschließen, sich ausschließen, sich fernhalten, sich verkriechen.

 

Beide Aspekte des Wörterbucheintrags sind mir vertraut. Bei a) kommt mir die Isolierung von Gefangenen sehr bekannt vor, da sie Teil meines Jobs ist, auch wenn wir nur Verdächtige und keine verurteilten Gefangenen isolieren. Bei b) fällt mir der Begriff der erzwungenen Absonderung und der Kontaktvermeidung auf – in meinem Fall mit Adriani, um Zusammenstöße zu vermeiden.

Ich lasse das Dimitrakos-Lexikon auf dem Bett zurück und gehe in die Küche, um zu sehen, ob noch Mokka übrig ist. Das Schnabelkännchen ist halb voll, doch Adriani ist nicht da. Als ich ins Wohnzimmer trete, verschlägt es mir die Sprache. Sie sitzt mit Strickzeug in einem Sessel.

»Du strickst?«, frage ich. Ich traue meinen Augen nicht.

»Wie du siehst.«

»Das hast du doch seit Jahren nicht mehr getan. Kannst du das überhaupt noch?«

»Stricken vergisst man nicht.«

»Und was wird daraus?«

Zum ersten Mal seit Tagen strahlt sie mich an. »Ein Pullover für unseren Enkel. Gestern habe ich aus lauter Frust die Schränke aufgeräumt und drei Wollknäuel entdeckt. Mein erster Gedanke war, ihm etwas zu stricken.«

Sie wirkt richtig glücklich. Als ich – dadurch ermuntert – mit der Mokkatasse in der Hand ihr gegenüber Platz nehme, lässt sie mich gewähren.

»Weißt du, wenn ich beim Stricken die Wolle anfasse, fühlt es sich an, als würde ich ihn streicheln«, gesteht sie mir. »Ich bete, dass auf die Quarantäne keine weiteren Probleme folgen, damit ich ihm den Pullover bringen kann.« Auch diesen Satz beendet sie mit einem Lächeln.

Ihr Stimmungswandel lockt mich aus der Reserve. Ich gehe ins Schlafzimmer und kehre mit dem Dimitrakos-Wörterbuch zurück. »Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?«, frage ich.

»Machst du Witze? Warum sollte es mich stören? Du kannst auch die Maske ablegen.«

»Aber du wolltest doch, dass ich sie in der Wohnung trage!«

»Stimmt, aber Fanis hat mir erklärt, dass es nicht nötig ist, wenn wir Abstand halten. Als Arzt kennt er sich aus.«

Ich setze die Maske ab und atme auf. ›Endlich raus aus dem Schlafzimmer-Gefängnis‹, denke ich, während ich mich in den Sessel fallen lasse. Adriani unterbricht das Stricken und blickt mich belustigt an.

»Warum schaust du so?«, wundere ich mich.

»Weil wir so enden wie unsere eigenen Eltern: Der Mann liest, und die Frau strickt. Nur dass damals die Männer Zeitung gelesen haben und keine Wörterbücher.«

*

Es ist der erste Tag friedlicher Koexistenz unter Quarantänebedingungen. Wir sind mit dem Abendessen fertig und schauen uns einen Film an. Die Quarantäne hat richtige Kinoliebhaber aus uns gemacht. Es ist eine alte Komödie mit bekannten Schauspielern, die selbst in finsteren Zeiten gute Laune verbreitet.

Nach kaum zehn Minuten klingelt mein Handy. Der Anruf kommt von Dermitsakis. Wenn man um diese Uhrzeit von der Dienststelle gesucht wird, verheißt das nichts Gutes.

»Herr Kommissar, tut mir leid, dass ich Ihnen die Stimmung verderben muss. Aber wir haben einen Mord.«

Ich seufze aus tiefstem Herzen. »Wissen wir schon, wer das Opfer ist?«

»Nicht nur wir, sondern ganz Griechenland. Die Nachrichtenmoderatorin Charis Velakou ist ermordet worden. Ich bin schon vor Ort.«

»Große Wunder dauern drei Tage«, sagte meine Mutter immer. Mein kleines Wunder dauerte keine zwölf Stunden. Kaum sind wir zu Hause endlich in ruhigem Fahrwasser, wirbeln uns die Nachrichten von der Dienststelle durcheinander.

»Wie ist es passiert?«

»Sie wurde erschossen, als sie vor ihrem Wohnhaus aus dem Auto gestiegen ist, in der Vassiliou-Straße in Filothei. Der Täter könnte aus einem Wagen geschossen haben. Hausbewohner haben gleich nach den Schüssen das Aufheulen eines Motors gehört.«

»Wer ist jetzt bei dir?«

»Askalidis und Dervissoglou. Dimitriou ist auch schon mit der Spurensicherung da. Wir warten noch auf die Gerichtsmedizin.«

»Schick mir ein Foto vom Tatort.«

»Haben Sie WhatsApp?«, fragt er.

»WhatsApp? Was ist das schon wieder?«, wundere ich mich.

»Was, du kennst WhatsApp nicht? Guter Gott, wo lebst du eigentlich?«, ruft Adriani. »Gib mir das Handy.« Sie nimmt es mir aus der Hand und drückt ein paar Tasten. »Bitte sehr!«, sagt sie, als sie es mir zurückgibt.

Auf dem Bildschirm taucht Dermitsakis’ Gesicht auf. »Okay, sehen Sie mich jetzt?«, fragt er.

»Ja.«

Er tritt zur Seite und gibt den Blick auf den Wagen hinter ihm frei. Die Fahrertür steht offen. Die Velakou liegt bäuchlings auf der Straße. Vor ihrem Kopf ist eine Blutlache zu erkennen.

»Wurde sie in den Kopf geschossen?«, frage ich.

»In die Stirn und ins Herz. Sie war auf der Stelle tot. Als die Anwohner auf die Straße herausgelaufen kamen, lebte sie schon nicht mehr.«

»Ich möchte mit Stavropoulos sprechen, sobald er das Opfer fertig untersucht hat. Ihr hört euch unter den Nachbarn im Wohnhaus um. Ich bin mobil erreichbar und möchte fortlaufend informiert werden.«

»Wer ist umgebracht worden?«, will Adriani wissen, als ich aufgelegt habe.

»Charis Velakou, die TV-Moderatorin.«

»Wirklich? Die haben wir doch gerade erst in der Nachrichtensendung gesehen.«

»Sie wurde auf dem Nachhauseweg getötet.«

Adriani bekreuzigt sich und hebt die Augen zur Decke.

Schlimmer geht’s nimmer, wie wir früher immer sagten. Nicht genug damit, dass wir während meiner Quarantäne mit einem Mord konfrontiert sind, jetzt haben wir auch noch ein prominentes Opfer, das landauf, landab bekannt ist.

»Woher kennst du dich denn mit dem Whats Dingsbums aus?«, frage ich Adriani.

»Katerina hat es mir gezeigt, damit ich Lambros sehen kann. Es ist nicht schwierig. Gib noch mal dein Handy her.«

Als ich es ihr reiche, zeigt sie mir, welche Tasten ich drücken muss, um jemanden zu sehen. »Probier es aus.« Als ich sie anrufe, blickt mir ihr Gesicht gleich zweimal entgegen, einmal real und einmal virtuell. »Gut, das kriegst du hin«, meint sie. »Aber schreib dir zur Sicherheit auf, welche Tasten du drücken musst, denn du hast es bestimmt gleich wieder vergessen.«

In der Küche reiße ich ein Blatt von Adrianis Einkaufsblock ab und notiere mir die Tastenkombination für WhatsApp. Kurz darauf wünscht mir Adriani eine gute Nacht, doch ich weiß schon, dass ich nicht schlafen werde.

Ein Mord mitten in meiner Quarantänezeit, noch dazu mit einem prominenten Opfer, ist das Schlimmste, was passieren konnte. Die Nachforschungen kann ich von zu Hause nicht vorantreiben. Die Quarantäne müsste also aufgehoben werden, aber das wird man nicht zulassen. Oder ich ersuche den Vizepolizeipräsidenten, die Ermittlungen vor Ort zu leiten und mich zu informieren. Die zweite Lösung ist wohl realistischer.

Das Klingeln des Handys holt mich aus meinen Gedanken. »Einen Augenblick, ich gebe Ihnen Doktor Stavropoulos«, kündigt mir Dermitsakis an.

»Guten Abend! Ich hoffe, es geht Ihnen gut und Sie überstehen die Quarantäne wohlbehalten«, lautet Stavropoulos’ Einleitung.

»Das hoffe ich auch, aber mit dem Velakou-Mord wird alles komplizierter. Also, was haben Sie herausgefunden?«

»Es wurden insgesamt drei Schüsse abgefeuert. Die Kugel, die sie in die Stirn getroffen hat, und die ins Herz waren beide tödlich. Die dritte traf sie vermutlich in die Schulter, als sie zu Boden stürzte. Ich glaube nicht, dass der Täter aus einem fahrenden Auto gefeuert hat. Er muss ausgestiegen sein und sie aus nächster Nähe erschossen haben. Alles Weitere hören Sie nach der Autopsie.«

»Habt ihr von den Hausbewohnern etwas herausgekriegt?«, frage ich Dermitsakis.

»Die Velakou ist seit ein paar Jahren geschieden. Sie wohnte zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden Kindern. Zum Glück haben die Kinder geschlafen und nichts mitbekommen. Ihre Mutter ist nicht zu beruhigen. Es war unmöglich, mit ihr ein Gespräch zu führen, wir haben es auf morgen verschoben. Den Nachbarn zufolge lebt ihr Ex-Mann im Ausland. Ansonsten hielt sie die Leute auf Abstand und hatte mit keinem aus dem Wohnhaus näheren Kontakt.«

Als Letzter ist Dimitriou von der Spurensicherung an der Reihe. »Wir prüfen die Fahrbahn, aber sie ist trocken. Ich glaube nicht, dass wir Spuren finden. Jedenfalls glaube ich nicht, dass ihr der Täter den ganzen Nachhauseweg gefolgt ist, das wäre ihr aufgefallen. Höchstwahrscheinlich wusste er, wann sie nach Hause kommt, hat ihr aufgelauert und ist ihr nur das letzte Stück hinterhergefahren.«

Hier enden die ersten Ermittlungen, und ich lege mich schlafen. Vorsichtshalber lasse ich mein Handy an, falls sich doch noch etwas ergibt. Zum Glück meldet sich niemand, und ich schlafe ungestört bis zum Morgen.

*

Nach dem ersten Kaffee rufe ich den Vizepolizeipräsidenten an. Ich erläutere ihm den Stand der Dinge und dass wir es mit der Ermordung einer prominenten TV-Moderatorin zu tun haben.

»Ich möchte die Verantwortung für die Ermittlungen nicht vollständig den Kollegen von der Dienststelle überlassen, bin zurzeit aber auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen. Ich habe absolutes Vertrauen zu meinen Leuten, aber wenn etwas schiefläuft, müssen sie den Kopf dafür hinhalten. Daher wollte ich vorschlagen, dass Sie die Oberaufsicht übernehmen und wir zusammen die Lage besprechen, wann immer Sie es für richtig halten.«

»Ja, aber ich sitze nicht am Alexandras-Boulevard und bin nicht ständig präsent für Ihre Leute«, lautet sein erster Einwand. »Außerdem haben wir im Polizeikorps unterschiedliche Karrieren durchlaufen, Herr Kommissar«, fügt er hinzu. »Ich habe bei der Bereitschaftspolizei und bei der Ausländerbehörde gedient. Kapitalverbrechen sind für mich unbekanntes Terrain.« Er verfällt wieder in Schweigen. Kurz darauf meint er: »Ich hätte da einen anderen Vorschlag.«

»Ich höre.«

»Wir verschaffen Ihnen für Ihre Wohnung einen Computer, den Sie für Videokonferenzen nutzen können, und auf der Dienststelle richten wir das genauso ein. So können Sie jederzeit mit Ihren Mitarbeitern Besprechungen abhalten. Sie können sogar an Vernehmungen teilnehmen. Was halten Sie von meiner Idee?«

Natürlich ist das eine gute Idee, aber sie zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Mein Verhältnis zu Computern und Videokonferenzen ist wie das eines Wüstenbewohners zum Schwimmen. Andererseits kann ich schlecht als Vizekriminaldirektor den Vorschlag meines Vorgesetzten ablehnen, nur weil ich in technischen Fragen eine Null bin.

Als wir auflegen, ist der Vizepolizeipräsident froh, dass er eine Lösung gefunden hat. Mich jedoch quält die Angst, total zu versagen.

Ich versuche mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich meine Tage vor dem Computerbildschirm mit wechselnden Gesprächspartnern verbringen werde. Doch ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll. Wie stelle ich den digitalen Kontakt bloß her, ohne dass er gleich wieder abbricht?

Zum Glück zieht mich ein Anruf von Dermitsakis aus dem Gedankensumpf. »Herr Kommissar, wir sind beim Fernsehsender und sprechen gerade mit Herrn Liakakis, dem Nachrichtenchef. Er hat uns einige interessante Auskünfte gegeben, die Sie auch hören sollten.«

»Guten Tag, Herr Kommissar. Ich habe Ihren Kollegen erzählt, dass sich Charis im Verlauf der Pandemie sehr viele Feinde gemacht hat.«

»Was für Feinde? Journalisten von Konkurrenzsendern? Ärzte? Oder Politiker?«

»Bekannte Politiker, die sich entweder nicht an die Maßnahmen gehalten oder die Quarantäneregeln gebrochen haben. Wenn wir davon Wind bekamen, hat sie die Sache jedes Mal öffentlich gemacht, ob es nun Politiker oder Unternehmer, Künstler oder Fußballer waren. Mit dem einleuchtenden Argument, dass Prominente, die sich nicht an die Regeln halten, dem einfachen Bürger mit schlechtem Beispiel vorangehen. Bei jeder Gelegenheit hat sie mit dem Finger auf sie gezeigt. Dadurch hat sie, das muss ich zugeben, die Quote in die Höhe getrieben. Zum Schluss haben wir sogar gezielt nach solchen Fällen gesucht. Charis war das Gesicht des Senders – und deshalb auch die Zielscheibe der Wut.«

Jetzt, da es Liakakis erwähnt, fällt es mir auch wieder ein. Alle paar Tage wurde in der Nachrichtensendung ein neuer Skandal ans Licht gezerrt. Vielleicht wollte einer, der von der Velakou angegriffen worden war, es ihr heimzahlen, das wäre naheliegend.

»Haben Sie vielleicht eine Liste von Betroffenen, die in der letzten Zeit von Ihrem Sender bloßgestellt wurden?«

Schweigen in der Leitung. »Ja, die gibt es, aber ich möchte Sie bitten, diese Aufstellung mit absoluter Diskretion zu behandeln«, meint er.

»Keine Sorge, die Polizei legt ihre Quellen gewöhnlich nicht offen. Außerdem werden wir auch nicht alle befragen.«

»Schön, dann gebe ich sie Ihren Mitarbeitern mit.«

Ich bedanke mich bei ihm und gebe dann meine Anweisungen an Dermitsakis. »Ruf mich an, wenn ihr Liakakis’ Liste durchgesehen habt, dann können wir unser Vorgehen besprechen.«

Nach dem Telefonat gehe ich in die Küche, um meinen zweiten Mokka zu trinken und Adriani auf den neusten Stand zu bringen. Der Kaffee wartet schon auf mich, doch nicht so Adriani. Sie ist in der Zwischenzeit ins Wohnzimmer umgezogen, um zu stricken.

»Ah, da bist du ja endlich!«, meint sie. »Ich will dir unbedingt etwas zeigen. Komm, setz dich zu mir.« Sie macht mir auf dem Sofa Platz und wählt eine Nummer auf ihrem Handy. »Melpo, hast du einen Moment? – Schön!«

Sie drückt auf eine Taste, und auf dem Bildschirm erscheint Melpo mit unserem Enkel. Ich habe ihn seit fünf Tagen nicht mehr gesehen, und es kommt mir vor, als ob er schon wieder gewachsen wäre.

»Wie geht’s dir, Lambros, mein Liebling?«, fragt Adriani.

»Hallo, Großer«, füge ich hinzu.

»Sag Hallo zu Opa und Oma«, meint Melpo zu ihm, und Lambros winkt uns zu.

»So sehe ich ihn jeden Tag, mit WhatsApp!«, erklärt mir Adriani. »Und jetzt schau mal her.« Sie wendet sich an Melpo. »Kannst du bitte Maß nehmen vom Hals bis zum Bauch?«

Melpo entrollt ein Messband in ihrer Hand und setzt es wie geheißen an, aber Lambros wehrt sich und dreht sich weg.

»Sei ein lieber Junge«, sagt Melpo zu ihm und hält ihn fest. »Nicht bewegen, damit ich messen und Oma dir einen wunderschönen Pulli stricken kann.«

Keine Ahnung, ob sie ihn geschickt festgehalten oder mit ihren Worten überzeugt hat, jedenfalls sitzt Lambros still, und Melpo kann in Ruhe das Massband anlegen.

»Schön, kannst du mir jetzt auch noch die Breite angeben? Plus etwas Spielraum, damit er reinwachsen kann.«

Melpo will erneut Maß nehmen, aber Lambros beginnt zu quengeln. »Schon gut, schon gut, ist ja vorbei!«, besänftigt ihn Melpo.

»Siehst du, wozu WhatsApp alles gut ist?«, triumphiert Adriani. »Damit kannst auch du unseren Enkel bewundern.«

Die Türklingel hindert mich daran, ihr meine Dankbarkeit zu bezeigen.

»Wer kann das sein?«, wundert sich Adriani, zieht die Maske an und steht auf, um nachzusehen.

Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihr von der Einrichtung des Computers zu erzählen. Nachdem auch ich die Maske hervorgekramt habe, öffnet sie die Tür. Zwei Techniker mit Pappkartons stehen vor uns.

»Eigentlich dürften wir gar nicht hier sein«, sagt der eine. »Deshalb beeilen wir uns. Wo sollen wir das Gerät hinstellen?«

»Auf den Esstisch«, erwidert Adriani und sagt dann zu mir: »Den brauchen wir zurzeit nicht, und da hast du deine Ruhe.« Sie scheint begriffen zu haben, worum es geht.

Wir geleiten die beiden Männer zum Esstisch. Sie stellen den Laptop auf und schließen Kopfhörer an. Danach montieren sie ein Gerät oben am Bildschirm.

»Fertig!«, verkündet der eine Techniker. »Kommen Sie, damit wir Ihnen zeigen können, wie Sie sich verbinden und wie Sie an Konferenzen teilnehmen können.«

Ich fühle mich total überfordert, nehme aber brav auf dem Stuhl vor dem Bildschirm Platz. Adriani ist immer noch da und schaut uns zu. Der zweite Techniker zeigt mir, wie man sich einloggt. »Wenn Sie mit der Maustaste auf den ersten Link drücken, verbinden Sie sich mit der Dienststelle. Wenn Sie auf den zweiten Link drücken, mit dem Büro des Vizepolizeipräsidenten.« Dann fordert er mich auf, den Kopfhörer aufzusetzen.

»Hier sprechen Sie rein«, erläutert er und deutet auf ein Stäbchen, das aus dem Kopfhörer ragt. »Das ist das Mikrofon. Drücken Sie jetzt mit der Maustaste auf den ersten Link.«

Auf dem Bildschirm erscheint Koula mit Maske.

»Guten Tag, Herr Kommissar. Wie geht’s? Alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Hören Sie sie?«, will der Techniker wissen.

»Klar und deutlich.«

»Dann klappt es mit dem Hören. Sprechen Sie jetzt, um sicherzugehen, dass Sie gut zu verstehen sind.«

»Gesundheitlich geht es uns gut«, sage ich zu Koula und sehe, wie sie den Daumen hebt zum Zeichen, dass sie mich hört.

»Tadellos«, sagt der Techniker zufrieden. »Also, das dort oben ist die Kamera. Sehen Sie dieses Symbol auf dem Computerbildschirm? Wenn Sie mit der Maustaste darauf drücken, geht die Webcam an und aus. Ganz rechts sehen Sie Ihr eigenes Gesicht, so wie es von der Kamera aufgenommen wird. Wenn Sie sich selbst nicht sehen können, müssen Sie die Position der Kamera korrigieren.« Und er zeigt mir, was ich tun muss. »Lassen Sie uns alles noch einmal durchgehen, damit Sie alles auch sicher verstanden haben.«

Er klappt den Laptop zu, und ich führe jeden Schritt allein durch. Der Techniker ist zufrieden mit mir. Ich habe die Prüfung mit Auszeichnung bestanden.

»Hier sind mein Name und meine Handynummer. Rufen Sie mich einfach an, wenn es irgendwo hapert.« Er drückt mir einen Zettel mit seinen Kontaktdaten in die Hand.

Ich bin ganz erleichtert, dass ich mich so gut geschlagen habe, doch das Gefühl der Überforderung verlässt mich nicht.

»Ich hoffe, dass ich mich bei den Besprechungen an alles erinnere«, sage ich zu Adriani, als die Techniker gegangen sind.

»Deshalb bin ich bis zum Schluss geblieben: für den Fall, dass etwas schiefläuft. Vier Augen sehen mehr als zwei«, erklärt sie und kehrt zu ihrem Strickzeug zurück.

*

Als Erstes nehme ich mit der Dienststelle Kontakt auf. Der Fortgang der Ermittlungen hat Vorrang. Am liebsten würde ich der Pensionskasse der Polizei eine Geldspende überweisen, weil ich die Verbindung auf Anhieb herstellen konnte. Auf dem Bildschirm erscheint Koulas Gesicht.

»Ach, Sie sind das?«, wundere ich mich, da ich Dermitsakis erwartet habe.

»Bis die IT allen einen Zugang zum Konferenzsystem verschafft hat, landen Sie zuerst bei mir«, erläutert sie. »Askalidis und Dervissoglou ermitteln gerade, und Dermitsakis hat die Koordination übernommen. Ich bin für den Kontakt mit Ihnen zuständig.« Gleich danach fügt sie hinzu: »Ach, da ist Panos ja.«

Sie steht auf und überlässt Dermitsakis ihren Platz. »Guten Tag, Herr Kommissar. Schön, dass wir uns sehen und alles besprechen können«, bemerkt er.

»Lieber wäre mir, wir täten das in meinem Büro, aber es ist besser als nichts. Also, wie steht’s?«