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Eine Stadt, drei Brüder, ein Traum. Halim, Najim und Deen leben zusammen im Ghetto von Baltimore. Halim verdingt sich als Kleinkrimineller, Najim strebt ein Studium an einer Elite-Uni an, Deen ist fast noch ein Kind. Auf unterschiedliche Weise versuchen sie, ihrem durch Herkunft und Milieu vorbestimmten Schicksal zu entrinnen. Sie wollen frei sein! Als Halim ein zweifelhaftes Angebot bekommt, tut sich ein unverhoffter Ausweg auf. Wird es den Brüdern gelingen, ihren Weg zwischen Selbstbestimmung und Schicksal, Ruhe und Risiko, Freiheit und Fremdbestimmung zu finden?
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Ismail El-Gharbi, geboren 1995, zog es mit seiner Familie von Tanger (Marokko) nach Essen. Als Student der Wirtschaftswissenschaften schlägt er mit Baltimore einen anderen Weg ein und widmet sich der Philosophie. Mit seinem ersten Roman begibt er sich auf die Suche nach der Freiheit eines Menschen und findet hier eine für ihn richtige Antwort. Diese soll den Lesern und Leserinnen dabei helfen, ihre eigene Freiheit zu finden. Auf dass wir alle jenes erlangen, nach dem wir uns sehnen.
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Kapitel I – Skyline
Kapitel II – Frei sein
Kapitel III – Ratschlag
Kapitel IV – Midas
Kapitel V – Mäuse und Ketten
Kapitel VI – Die Schöne
Kapitel VII – Rot
Kapitel VIII – Baltimore
Kapitel IX – Robin Hood
Kapitel X – Deen
Das Gähnen des müden Schülers, der die Nacht zuvor damit verbracht hatte, sein Lieblingsonlinespiel zu spielen. Das Kichern der Mädchen in den hinteren Reihen, die heimlich lautlose Unterhaltungen über ihre Smartphones führten. Die leeren Blicke der Schüler, welche nur auf das langersehnte Ende der Stunde warteten. All das, zusammen mit dem Laut der Kreide, die der Lehrer lustlos gegen die Tafel drückte, um den Schülern Dinge mit auf den Weg zu geben, die sie doch schon bald wieder vergessen würden, wirkten für Deen wie ein Déjà-vu. Und mit jedem Déjà-vu merkte er, wie eintönig sein Leben doch war.
Um halb drei war es endlich so weit und die Glocke läutete wie jeden Tag das Ende des Schultages ein. »Komisch, wie Schüler mit einem doch so unerträglichen Ton etwas Positives verbinden«, dachte sich Deen, während er mit leerem Blick auf die Glocke schielte. Binnen weniger Sekunden sprangen die Schüler gleichzeitig auf, schmissen ihre Schulsachen in die Taschen und stürmten aus dem Raum, um in die langersehnte Freiheit zu gehen. Für Deen hingegen war der Klang der Schulglocke derselbe wie der Wecker am Morgen: ein unerträglicher Ton, der nur dazu diente, die Träumenden zu wecken. Als wüsste sie, dass alle dem Lehrer zwar einen aufmerksamen Blick schenkten, aber nur ihre Hülle anwesend war. Deen verließ wie jeden Tag als Letzter den Klassenraum. Was sollte es ihm denn bringen, nach draußen zu eilen und sich durch die vollen Gänge zu zwängen? Er würde doch auch zu Hause ankommen, wie alle anderen Schüler auch. Warten musste er auch nicht lang, denn innerhalb eines Augenblickes waren die Gänge bereits wie leergefegt und so konnte auch er in die für andere so sehnlichst herbeigewünschte Freiheit gehen.
Anders als die meisten fuhr er nicht mit dem Bus heim, sondern stieg auf seinen neongelben E-Roller, den er und seine Brüder von Carlos zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten. Der Lack blätterte bereits an einigen Stellen ab. Auch brauchte er mehrere Versuche, den verklebten Einschaltknopf zu betätigen, um den Roller zu starten, aber dieser erfüllte dennoch seinen Zweck. Deen stieg auf den Roller, trat einige Male mit Schwung über den Boden und sein Gefährt begann trotz seiner abgenutzten Reifen sanft über die Straße zu gleiten. Eine lange Strecke musste er auch nicht fahren: Er fuhr die Straße hinunter und nahm die Abkürzung vorbei am alten Skatepark, in dem er und seine Brüder früher viel Zeit miteinander verbracht hatten.
Heute war es ihm verwehrt, seine freie Zeit im Park zu verbringen, da sich die Stadt nicht mehr darum kümmerte, die morschen und mitgenommenen Halfpipes zu erneuern, und der Park der Jugend sowie den Junkies nur noch dazu diente, ihre Drogen zu erwerben. Doch selbst wenn es anders wäre, hätten Halim und Najim ohnehin keine Zeit dafür. Außerdem machte ihm Skaten keinen Spaß mehr. Was ihm noch Vergnügen bereitete? Diese Frage stellte sich Deen immer häufiger, doch verschwand der Gedanke schnell durch den Anblick von Alfis Pizzeria am Ende der Straße.
Früher waren sie noch Dauergast bei Alfi, um kurz vor Ladenschluss die übrig gebliebenen Pizzabrötchen abzustauben. Obwohl er ihnen die Brötchen immer mit einem Augenrollen reichte, stand er jeden Abend pünktlich um kurz vor zehn vor seinem Laden und hielt die Tüte bereits in seiner riesigen, haarigen Pranke. Natürlich gab es auch mal Tage, an denen Alfi keine Reste mehr für sie hatte, aber das waren für die Brüder die besten. Dann wussten sie, dass Alfi ihnen daraufhin frische backen würde. Im Jetzt hingegen war Deen froh darüber, schnellstens an dem Laden vorbeizukommen, denn sie hatten in den vergangenen Jahren so viel angeschrieben und bis heute nicht gezahlt. Er wusste aber, dass, wenn sie das Geld hätten, sie Alfi nicht nur die Schulden zurückzahlen würden, sondern auch jedes einzelne Pizzabrötchen. In der Realität war es leider nicht so und mit jedem Cent, den sie anschrieben, wuchs auch die Scham – so groß, dass keiner der drei es mehr wagte, Alfis Pizzeria zu betreten.
Dies war eines von vielen Themen, die Deen Tag für Tag Kummer bereiteten, weil er nicht nur Alfi, sondern auch seine Tochter Bella gut leiden mochte. Er erinnerte sich zu gerne an die vielen Tage, die sie zusammen im Skatepark verbracht hatten. Täglich machte sich Deen damals auf den Weg dorthin, mit dem Wissen, Bella dort an der riesigen Halfpipe anzutreffen und über das Leben in all seinen Facetten zu reden. Obwohl sie sich nie verabredeten, wusste er, dass sie da sein würde. Mit der Zeit distanzierten sie sich immer mehr voneinander, bis zu dem Tag, an dem er Bella nicht mehr an der riesigen Halfpipe antraf. Gründe dafür hätte es viele geben können: seien es die Schulden bei Alfi, der Verfall des Skateparks oder auch einfach nur das Alter. Immer wieder musste Deen an Halims Worte zu seiner damaligen Freundin Maggie denken: »Je älter man wird, desto mehr distanziert man sich von alten Bekanntschaften, da Interessen und Werte in verschiedene Richtungen gehen. Und mit Menschen Zeit zu verbringen, bei denen man sich nicht wohlfühlt, bereitet nur Kummer.« Für Deen klangen diese Worte plausibel, schließlich verstanden Halims Ex-Freundinnen sie jedes Mal. Bella empfand bestimmt genauso.
Kurz bevor Deen zu Hause ankam, dachte er sich, dass dies das letzte Mal sein würde, dass er die Abkürzung nahm. Der Kummer, den es mit sich brachte, wog die Zeitersparnis nicht auf. Außerdem war es ihm doch eh egal, ob er schneller zu Hause ankam oder nicht. Mittlerweile war er auch vor seinem Haus, beziehungsweise vor dem Gebäude, welches hunderte von Menschen beherbergte, angekommen.
Den Fuß dieses Riesen zierte Graffiti aller Art: von einfachen Tags und Namen bis hin zu regelrechten Kunstwerken war alles zu erblicken. Das Besondere war aber keines der einzelnen Graffiti, sondern das Gesamtbild, welches ein unglaubliches Farbenspektakel kreierte. Blickte man zum Kopf des Riesen hinauf, verschwanden nach und nach die warmen und betörenden Farben: Das kalte Grau des Betons löste innerhalb weniger Sekunden die zuvor geschaffene Atmosphäre auf und brachte ein unbehagliches Gefühl mit sich. Zudem fiel es einem mehr als nur schwer, das Kunstwerk zu betrachten. Man wurde von den unbehaglichen Stimmen des Riesen verwirrt – sei es das Schreien eines Neugeborenen, das Meckern eines Mannes über ein Footballspiel oder das Streitgespräch eines Pärchens. So konnte der Riese nur klagen. Aber was machte sich Deen eigentlich vor? Graffiti waren doch nichts weiter als Vandalismus und Zeitvertreib der Menschen im Ghetto. Wollte er sich an Kunst erfreuen, müsste er in ein Museum gehen und sich die Werke reicher und bedeutender Menschen ansehen.
Er bewegte sich in Richtung des Eingangs, an dem er Ego und ihre Mädels Candy und Cream wie jeden Tag vorfand. Die drei kannte er bereits seit Jahren und erinnerte sich an keinen Tag, an dem sie nicht vor dem Block standen, um ihr täglich Brot zu verdienen. Die meisten Leute im Haus mieden sie oder beleidigten sie sogar, aber Deen selbst hatte kein Problem mit ihnen. Warum sollte er auch? Schließlich waren sie immer gut zu ihm und gingen nur ihrer Tätigkeit nach. Sie machten das, was alle tun mussten: arbeiten, um zu überleben. Zwar hatte ihr Job einen niedrigen Stellenwert in der Gesellschaft, aber für Deen war es immer wieder faszinierend zu sehen, wie viele Männer mit guten Autos tagein, tagaus in der Straße hielten, um Egos Zeit in Anspruch zu nehmen.
Deen vermutete, dass es vielleicht auch ihr Auftreten war, welches den Menschen im Block nicht passte. Wer trug denn schon weiße Lederstiefel, die bis zu den Hüften ragten, und einen langen, gelben Fellmantel, unter dem die Frau nichts anhatte außer einen anscheinend durchsichtigen BH. Zudem wirkten ihre Stiefel viel zu schmal für ihre langen, stämmigen Beine und der Mantel zu kurz – so kurz, dass er gerade mal das Nötigste verdeckte. Ihr BH bot nicht mal im Ansatz genug Platz für ihre gigantische Oberweite. Paarte man die Kleidung mit ihrem dezenten Make-up, das ihr markantes Gesicht zierte, und ihren Haaren, die einer Afro-Perücke glichen, sah man auf Anhieb, dass Ego anders war. Trotz all ihrer Mühen konnte auch ihr lila Seidenschal den Adamsapfel nicht verstecken und der gebleichte Flaum in ihrem Gesicht zog sich gerade im Licht dezent über ihre Lippen. Das unnatürliche Grün ihrer Kontaktlinsen fiel einem sofort ins Auge. »Aber jedem das Seine«, dachte sich Deen und grüßte sie mit einem zarten und leisen »Hey Ego«. Dies tat er in der Hoffnung, ein ruhiges »Hallo« zurückzubekommen, denn er wusste, wie laut und polarisierend sie normalerweise war.
Doch Deen hätte sich auch denken können, dass Ego nicht auf eine ruhige Konversation eingehen würde: »Uh! Wer ist denn dieser sexy junge Mann? Bei so einem schönen Hasen gibt es meine Dienste gleich zum halben Preis!« Egos Freundinnen kicherten daraufhin laut und rekelten sich hinter ihr, als ständen sie auf einer Bühne. Auch Candy und Cream wirkten wie Paradiesvögel, welche schon fast bunter wirkten als die Graffiti an den Wänden. Ihm verschwand ruckartig die Stimme in seinem Hals, denn er fragte sich, warum sie es jeden Tag aufs Neue tat, wusste sie doch, wie unangenehm es ihm war. Zu seinem Glück ertönte beinahe gleichzeitig eine laute, jedoch freundliche Stimme aus einem der vielen Augen des Riesen: »Lass die Scheiße, Ego! Mein Bruder ist fünfzehn und du weißt, wir hatten das Ganze schon mal. Oder willst du, dass Carlos dir Handschellen anlegt?!« Egos Gesicht zierte ein Grinsen, welches wohl verführerisch sein sollte. Sie blickte nach oben und rief: »Ach Halim, mein Süßer, wenn ich könnte, würde ich euch alle auffressen und du weißt doch, Deen spare ich mir auf. Ein guter Wein ist ein reifer und ich bin mir sicher, mit ihm haben wir bald einen edlen Jahrgang.«
Während Ego und Halim im Gespräch waren, nutzte Deen die Gelegenheit, so schnell wie möglich aus dieser Situation zu fliehen und unbemerkt in den Flur zu gelangen. Zwar bemerkten Candy und Cream ihn bei seiner Flucht, griffen aber nicht ein.
Wie immer nahm er das Treppenhaus, um in den vierten Stock zu gelangen, in dem er und seine zwei Brüder vegetierten. Den Aufzug mied er bewusst, denn er verweilte nur ungern mit anderen Bewohnern in ihm. Auch wenn es nur einige Sekunden waren, fühlte er sich nicht gut dabei, in die tristen und mit Sorgen gefüllten Gesichter zu blicken. Zudem quälte ihn der penetrante Atem des Riesen, welcher nach Kummer, Misserfolg und Trauer stank. Zu seinem Vorteil wohnten sie nicht so weit oben und er konnte noch ohne Probleme das Treppenhaus nutzen. Doch selbst wenn er im zwanzigsten Stock wohnen würde, käme für ihn nur das Treppenhaus in Frage.
Hier war er nun angekommen, im vierten Stock des Riesen, genau eine Etage über den vermeintlichen Kunstwerken. Diese Etage teilten sich die Brüder mit drei anderen Parteien. Bis auf Carlos kannten sie keinen gut, doch war es ihnen möglich, durch die großen Ohren des Riesen alles über die Leben ihrer Nachbarn in Erfahrung zu bringen. Sie wohnten zwischen einem alleinerziehenden Mann, der den jahrelangen Frust einer gescheiterten Ehe an dem letzten Überbleibsel dieser Bindung ausließ, einer jungen Frau, welche ihr Geld durch das Unterhalten einer überwiegend männlichen Kundschaft über Webcam verdiente, und zu guter Letzt Carlos.
Ihn kannten die Brüder seit dem Tag, an dem sie das Licht der Welt erblickt hatten. Er war nicht nur der beste Freund ihres Vaters, sondern auch sein Partner im Polizeidienst.
Früher unternahmen sie viel mit ihm und Halim rechnete ihm die Unterstützung nach dem Wahnsinn ihrer Mutter hoch an. Er setzte sich auch nach dem Tod ihres Vaters dafür ein, dass Halim das Sorgerecht für die Brüder erhielt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt gerade mal neunzehn Jahre alt war. Fünf Jahre später sah es doch, wie der Skatepark, ganz anders aus. Aus dem einst gesunden und väterlichen Verhältnis war im Laufe der vergangenen fünf Jahre eine Form von Unsicherheit und Zwang geworden. Carlos konnte den Jungs weder finanziell noch sozial helfen. Wie sollte er auch? Er hatte selbst nie Kinder oder private Verantwortung. Aus diesem Grund distanzierte sich Carlos immer mehr von ihnen. Als die Brüder dies merkten, begannen auch sie, Carlos zu meiden. Nicht, weil sie Groll gegen ihn hegten, sondern aus Dank und Respekt. Seine Arbeit war getan.
Während Deen im Flur seine Gedanken Carlos widmete, öffnete Halim bereits die Tür. Dann umarmte er ihn wie jeden Tag mit einem festen, jedoch herzlichen Griff. Halim umklammerte ihn und fragte wie jeden Tag: »Wie geht’s dir, kleiner Mann? Hast bestimmt Hunger, oder? Geh dich erstmal waschen, dann essen wir. Najim ist in seinem Zimmer und wie immer am Lernen. Lass uns ihn lieber nicht stören, sonst heult er wieder rum.«
Auf Halims Begrüßung achtete Deen gar nicht mehr, war sie doch jeden Tag dieselbe und einstudiert wie die Rede eines Politikers. Er blickte viel lieber in das Gesicht seines ältesten Bruders und dachte an seinen Vater. Halim und sein Vater glichen einem Reim. Sie klangen gleich, waren aber nicht gleich. Halims volle, lange Locken wirkten wie das schwarz gefärbte Fell eines Schafes; seine dunkelbraunen Augen wurden von seiner schmalen Nase nur noch mehr betont und seine volle Unterlippe stach aus seinem undichten Bart hervor. All die Merkmale, zusammen mit seiner sportlichen Statur, hatte Halim von seinem Vater mitbekommen. Sein Charakter und seine Werte hingegen entsprachen dem Gegenteil: Halim war eine starke Persönlichkeit, welche mit Rückschlägen umzugehen wusste. Sein Ego war so groß wie sein Optimismus. Er besaß das rare Talent, einfach Taten sprechen zu lassen. Betrachtete er seinen Bruder, wünschte sich Deen, so zu sein wie er. Jeden Tag aufs Neue dachte er sich: »Hätte ich nur Halims Herz, dann wäre ich jetzt bestimmt mit Bella im Park und hätte endlich keine Schmerzen mehr.«
Versunken in seine Gedanken betrat Deen die Wohnung. Wie sonst auch, ertönte über die brüchigen Boxen, die Halim mal vom Kroaten Petneast aus dem fünfzehnten Stock gekauft hatte, die Musik der Straße. Der raue und undeutliche Klang der Musik verschmolz mit den lauten Geräuschen des Röhrenfernsehers und erzeugte ein verzerrtes Tonbild. Normalerweise würde man einen solchen Klang als störend empfinden. Deen hingegen entspannte sich beim Lauschen sichtlich. Zum ersten Mal an diesem Tag zierte ein Grinsen sein müdes Gesicht. Auch die rissige Ledercouch hatte bereits ihre besten Tage hinter sich, gab aber alles, den Brüdern einen Platz der Erholung zu spenden. Der braune Esstisch inmitten des Raumes wirkte zwar massiv, war aber nur noch ein Gerippe, welches von Halim notdürftig zusammengeschustert worden war. Doch er wurde geschont und musste bis auf Unmengen von Verpackungen nicht mehr viel tragen. An den Wänden hingen einige Poster von Deens liebstem Musiker, Kobo. Als er das erste Mal Kobos Stimme gelauscht hatte, war er gerade dreizehn geworden. Zwar verstand er kein Wort Französisch, aber genau das machte den Reiz der Musik aus. Die Melodie sorgte zusammen mit Kobos einzigartiger Stimme dafür, dass Deen sich ein eigenes Bild zur Musik kreieren konnte. Keine Texte oder Worte zwangen ihm eine Stimmung auf, die er nicht wollte. Er erinnerte sich, wie glücklich er zu seinem Geburtstag war, als seine Brüder ihm die Poster schenkten. Hätte er nur gewusst, dass Halim und Najim sich noch mehr darüber freuten, den Schimmel an den Wänden überkleben und ihm zugleich eine Freude machen zu können.
Am Ende des Raumes war neben der kleinen Küche, die mittlerweile nur noch für den schmalen Deen ohne Probleme zu betreten war, sein Zimmer. Wenn er überlegte, war es erst ab halb vier sein Reich, besetzte Najim das Zimmer, um jede freie Sekunde zu lernen. Deen konnte seinen Tatendrang durch die gesamte Wohnung spüren. Tag und Nacht, jede freie Minute – jede Sekunde – widmete sich Najim nur seinen Büchern und eignete sich ein für sein Alter beachtliches Wissen an. So war es sicher, dass er die Schule als Jahrgangsbester beenden würde. Ein Stipendium auf einer Elite-Uni stand schon in Aussicht. Und all das mehr als nur verdient. Carlos’ Worte nach dem Tod ihres Vaters prägten ihn besonders: »Auch wenn es das Leben jetzt nicht gut mit euch meint, müsst ihr arbeiten. Während eine Person mit einem Schritt einen halben Meter geht, braucht ihr drei, vier, vielleicht auch fünfzig, aber das bedeutet nicht, dass ihr nicht auch am Ende den Meter schafft. Gerade ihr werdet wegen eures Hintergrundes und eurer Herkunft immer härter arbeiten müssen als andere. Aber jeder noch so kleine Erfolg wird euch viel glücklicher machen als der einer Person, die nur einen Schritt für den Meter brauchte.« Niemals würde Deen Najims Blick vergessen, nachdem er Carlos’ Worte hörte.
All die Trauer und all die Wut wurden zu einem festen und sicheren Blick, als hätte Najim schon damals gewusst, dass dies womöglich der letzte Tag sein sollte, an dem er zweifeln würde.
Bei Deen hingegen kamen Carlos’ Worte nicht an. Wie sollten sie auch? Er hatte nur Angst, ohne seine Brüder leben zu müssen.
»Trödel nicht so rum, kleiner Mann, und geh dich waschen! Ich hab was mit euch zu feiern – und Hunger!«, rief Halim mit enthusiastischer Stimme, welche nicht nur Deen gewidmet war. Dieser nickte, schmiss seinen Rucksack in die Ecke und betrat das Bad. Er stellte wie immer zuerst den Wasserhahn an und trank große Schlucke aus ihm. Das tat er in der Hoffnung, seinen Magen vor dem Essen beruhigen zu können, denn es plagte ihn seit Jahren ein stechender Schmerz in seinem Magen: »Es fühlt sich so an, als würde in meinem Bauch eine Herdplatte die Magensäure zum Kochen bringen.« Diesen Satz konnte Deen genauso souverän vortragen wie Halim seine Begrüßung. Die drei liefen verzweifelt von Arzt zu Arzt, in der Hoffnung, das lodernde Feuer in seinem Magen endlich zu löschen – leider vergeblich. Viele Ärzte warfen Deen sogar vor zu markieren, um sich vor der Schule zu drücken, was das Feuer in ihm nur noch mehr entfachte. Andere hingegen sagten ihm, er solle den Stress reduzieren und zur Ruhe kommen, aber auch diese Worte schmerzten ihn. Er wusste nicht, was den Stress verursachte oder ob er überhaupt Stress hatte. Aus der Schule machte er sich nicht viel und bei seinen Brüdern war er zufrieden. Deen dachte sich, dass er nun mal nicht normal war und während Halim und Najim die Stärken ihrer Eltern bekamen, erbte er ihre Fehler. Damit fand er sich auch ab. Was hätte er denn auch ändern können? Manche Dinge sind nun mal so, wie sie sind: Der Riese klagte, die Stadt stank und in ihm loderte ein griechisches Feuer.
Nach einigen Schlucken hob Deen seinen Kopf und blickte das erste und letzte Mal an diesem Tag in den Spiegel. Seine Haare standen wie jeden Tag wild in alle Richtungen verteilt, aber durch seine Locken wirkte das Chaos auf seinem Kopf schon fast gewollt. Die braunen Augen verstärkten seinen tristen Blick und seine zarten, nach unten gekehrten Augenbrauen ließen ihn immerzu müde erscheinen. Die vollen rosa Lippen zierte ein dezentes Muttermal. Er schlug sich einige Male Wasser in sein Gesicht, trocknete es mit dem klammen Handtuch ab und blickte noch einige Sekunden in den Spiegel. Obwohl er sich nicht viel aus seinem Aussehen machte, schien er jedes Mal unzufriedener, wenn er sich im Spiegel sah. Es kam ihm so vor, als würde er immer schmaler werden und langsam eingehen.
Er erinnerte sich daran, wie ihr Vater mal zu Halim sagte, dass man nicht so häufig in den Spiegel schauen solle und es einen nur verrückt mache, da man mit jedem Blick nur mehr Fehler an sich finde. Aus diesem Grund mied Deen den Spiegel, so gut er konnte, fand er doch bereits durch so wenige Blicke unzählige Fehler.
Als Deens Blick sich gerade vom Spiegel abwandte, ertönte Najims Stimme laut durch die gesamte Wohnung: »Verdammte Scheiße, Halim! Was ist das für ein Müll hier? Du weißt doch, der Arzt hat gesagt, Deen darf so einen Dreck nicht essen, das macht sein Magen nicht mit!« Halim entgegnete ihm daraufhin zornig: »Man beißt nicht in die Hand, die einen füttert, also spiel dich nicht so auf. Stell dich in die Küche und koch was anderes, wenn es dir nicht passt!« Deen wusste, das Zeichen war gekommen, das Wohnzimmer zu betreten und die Situation zu entschärfen, schließlich stritten Halim und Najim ungern in seiner Gegenwart und es bereitete ihm nur Kummer, sie so zu sehen. Er verließ das Bad, setzte sich ohne Worte auf die alte Couch und nahm ein Stück Pizza aus dem Karton: »Danke für das Essen, Jungs«, sagte er mit einem leisen, jedoch dankbaren Ton und nahm einen großen Bissen. Der Druck im Raum verschwand mit Deens Bissen in die Pizza. Es formte sich eine dichte und sogar warme Atmosphäre in der Wohnung. Halim und Najim setzten sich zu ihm, schwiegen zunächst und nahmen wie Deen zuvor ein Stück der Pizza. »Lasst es euch schmecken, meine kleinen Männer«, sagte Halim mit liebevollem Ton und begann zu essen. Najim schmunzelte nur, doch tat es ihm gleich.
Zum gemeinsamen Essen fielen jeden Tag dieselben Phrasen – was hatte man sich denn großartig zu erzählen, erlebte man doch immerzu das Gleiche. Für Deen war es alles andere als schlimm, denn liebte er es, Najim dabei zuzuhören, wie er von seinen Zukunftsplänen erzählte, oder Halims Geschichten von seiner Arbeit im Supermarkt zu lauschen. Auch wenn er wusste, dass dieser wieder mal nur seine einstudierten Geschichten erzählte.
Über seinen richtigen Job sprachen die Brüder nicht, war die Angst vor dem Konflikt mit Halim zu groß. Deen wusste, dass Halim sich rund um die Uhr um ihn und Najim kümmern musste und ihm daher sein eigener Weg verwehrt blieb. Er schmiss die Schule und jobbte mal hier und mal da, um sie gerade so über die Runden zu bringen. Leider blieben auch diese Jobs irgendwann aus. Nun war er erwachsen und hatte laut der Gesellschaft nichts vorzuweisen. Doch eigentlich konnte er ziemlich viel. »In der Not frisst der Teufel Fliegen« war ein Satz, der Halims Lage perfekt beschrieb, und so blieb ihm nur die Möglichkeit, einen Weg zu gehen, der in der Gesellschaft so verrufen war wie der Weg Egos. Halims Arbeitgeber kannte jeder auf den Straßen Baltimores. Ob arm oder reich, Mojo war jedem ein gängiger und beunruhigender Begriff. Er regierte mit seiner Gang die Straßen und war zuständig dafür, verlorenen Seelen dabei zu helfen, ihre eigenen Welten und Träume zu erschaffen. Und Mojo war auch bereit dazu, jedem einen Job zu geben.
»Watcher« – dies war der Begriff für Halims eigentlichen Job, welcher darin bestand, für Dealer Schmiere zu stehen und auf verdächtiges Verhalten zu achten. Es reichte, um die Brüder über die Runden zu bringen. Deen wusste, dass es alles war, was Halim wollte – für ihn und Najim sorgen. Genau deshalb sprachen sie ihn nie darauf an, fühlten sie sich doch schuldig für Halims Weg.
»Und wie geht es deinem Magen, kleiner Mann?«, fragte Halim Deen mit ernstem Ton. »Weißt du doch, alles im Lot«, antwortete Deen daraufhin mit schiefer, aber enthusiastischer Stimme. Er hasste es, wenn ihm diese Frage gestellt wurde, denn es war klar, dass die Schmerzen nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden würden. Wenn Deen so nachdachte, entfachte diese Frage Unruhe in ihm, da auf sie immer eine Lüge folgte und er nichts mehr hasste, als unehrlich zu sein. »Hast du dich echt mal wieder in Alfis Pizzeria getraut?«, fragte Najim mit skeptischem Blick. »Natürlich nicht. Bella hat für mich angeschrieben und mir die Pizza in den Skatepark gebracht«, sagte Halim und lachte dabei. Deen war zwar froh darüber, nicht mehr Anteil am Gespräch zu haben, zerfiel jedoch innerlich bei Bellas Namen. »Du hast bei Bella angeschrieben?«, fragte Deen zaghaft. Halim und Najim blickten sich in die Augen und begannen beide, laut zu lachen. »Aha, da wird mein stiller kleiner Mann aber sofort hellhörig. Ich soll dir vielleicht auch schöne Grüße bestellen; aber nur vielleicht«, sagte Halim und zwinkerte Najim dabei hämisch zu. Najim klopfte Deen mit seinen fettigen Pizzahänden auf die Schulter und sagte: »Du kannst Bella also immer noch gut leiden. Ich kann dir gerne den Wingman machen.« Während Deens blasser Hautton von Sekunde zu Sekunde röter wurde, entgegnete Halim: »Du hast doch selbst nie was geküsst außer den Bildschirm deines Handys in der Nacht, du Perverser!« Halim war so laut, als hätte er gewollt, dass alle Bewohner des Riesen es über seine Ohren mitbekommen. Najim erhob sich, griff mit seinen schmalen Händen auf den brüchigen Tisch und warf den leeren Pizzakarton mit einer unvorstellbaren Wucht auf Halim. Während die beiden Brüder einen Kampf auf Leben und Tod austrugen, fragte Deen sich nur, ob Bella wirklich nach ihm gefragt hatte und er vielleicht mal wieder in den Skatepark gehen sollte. Nach einigen Minuten des wilden Gerangels schubste Halim den deutlich unsportlicheren Najim auf die Couch und sagte mit atemloser Stimme: »Okay, okay, genug Sport für heute, ich habe noch etwas Wichtiges zu verkünden, aber dafür müssen wir aufs Dach.«
Deen und Najim nickten nur mit verblüfftem Blick und machten sich mit Halim zusammen auf den Weg nach oben. Beim letzten Mal, als Deen mit seinen Brüdern aufs Dach gegangen war, hatte Najim von seiner Chance auf ein Stipendium erzählt. Sie nutzten den Ort immer nur, um eine wichtige Nachricht zu verkünden. Deen freute sich schon darauf, etwas Neues und Gutes aus Halims Leben zu hören – war es doch auch seins.
Der Weg auf den Kopf des Riesen war für Deen und seine Brüder mehr als nur lästig, mieden sie doch alle drei den Aufzug. Nach mehr Pausen als Stockwerken erreichten sie schließlich auch den Schädel. Blickte man vom Dach in die Ferne, erstreckte sich die gesamte Skyline Baltimores vor den Augen der Brüder. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, erstrahlte die Stadt durch die verschiedensten Lichter. Seien es die vielen funkelnden Augen anderer Riesen, das weiße grelle Licht der Laternen oder die Scheinwerfer der unzähligen Autos auf den Straßen. So wusste man: Baltimore leuchtete, ob Tag oder Nacht. Die vielen Menschen wirkten von oben wie eine verwirrte Ameisenherde und liefen ineinander durch die vollen Straßen. Von oben waren die einzigen Klänge, die die Brüder erhaschen konnten, das Hupen der ungeduldigen Autofahrer, die verzweifelt versuchten, schnellstens nach Hause zu kommen, um dort ihre verbleibende »freie« Zeit zu verbringen.