Barbarisches Kreta - Nikola Vertidi - E-Book
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Barbarisches Kreta E-Book

Nikola Vertidi

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Beschreibung

Der verschrobene Kommissar Hyeronimos Galavakis ermittelt in seinem siebten Fall mit deutscher Gründlichkeit und kretischem »Siga-Siga«. Ein Griechenland-Krimi zum Wegträumen und eine Reise zu den schönsten Stränden und in die urigsten Tavernen Kretas  Im heißen kretischen Hochsommer wird ein junges Urlauberpaar bei Kommissar Galavakis vermisst gemeldet. Als kurz darauf ein zweites Paar verschwindet, macht sich Unruhe breit. Die Urlaubssaison ist in vollem Gange und man kann sich negative Publicity nicht leisten. Obwohl es noch keine Leiche gibt, beginnen Galavakis und das Team der Mordkommission zu ermitteln, denn die Familien der Vermissten und ein angeschwemmter Arm sorgen bereits für Aufsehen. Wer hat es auf die Liebenden abgesehen? In einer Apartmentanlage nahe Irakleio stoßen sie auf undurchsichtige Hinweise. Je mehr sie herausfinden, um so tiefer tauchen sie in die Abgründe der menschlichen Seele.  Treibt ein brutaler Entführerring sein Unwesen auf Kreta – oder steckt etwas Barbarischeres hinter den Vermisstenfällen?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Redaktion: Julia Feldbaum

Korrektur: Uwe Raum-Deinzer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR.

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Personenregister

Zitat

Abtauchen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Easy-going-Phase

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Struggle-Phase

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Blackout

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Auftauchen

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

Epilog

Danksagung

Kretische Rezepte für 4 Personen

Zacharis’ Kolokithokeftedes

Elenis Chaniotiko Boureki

Kalitsounia

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Personenregister

Hyeronimos Galavakis – Kommissar

Kassia Petridi – Hyeronimos’ heimliche Geliebte

Helena Makri – Hämatologin in Athen, Hyeronimos’ Ex-Freundin

Maria Chrisaki – Hyeronimos’ Chefin

Elonidas Spectros – Leiter der Cyber-Einheit, teilt sich den Chefposten mit Maria

Stelios Mentakis – Hyeronimos’ ehemaliger Chef (arbeitet nun als Privatermittler)

Zacharis Zentakis – Hyeronimos’ Mitarbeiter

Christos Papadakis – Hyeronimos’ Kollege

Dimitris Stefanakis – Leiter des Geheimdienstes (EYP) in Athen

Penelope Demostaki – leitende Pathologin der Insel

Giorgia – Penelopes Sektionsassistentin

Eleni Pentulaki – Influencerin, T-Shirt-Designerin und Penelopes Freundin

Andere Personen

Lisa Heinemann – Autorin aus Deutschland

Daniel Schütze – Fotograf aus Deutschland, Lisas Freund

Celeste Beauvais – Apnoetaucherin von Korsika

Raymond Beauvais – Tauchlehrer von Korsika, mit Celeste verheiratet

Amalia Tsimitaki – Goldschmiedin aus Thessaloniki, ihre Familie kommt von Kreta

Themis Markoutis – Journalist aus Thessaloniki, mit Amalia verlobt

Ioannis Giannoulis – Geschäftsmann

Zitat

Nimmer glaub’ ich es dir! Was zwingt dich, ehrlicher Alter,so in den Wind zu lügen? Ich weiß zu gut von der Heimkehrmeines Herren Bescheid! Er ist den Unsterblichen allen ganz verhasst!

Homer, Odyssee 14,364–367

Abtauchen

1. Kapitel

Der Blick auf die Graffiti, die das leer stehende, unfertige Gebäude verunzierten, machte ihm wie so oft klar, dass es auf Touristen gewiss sonderbar wirken musste, am Eingang zur Innenstadt einen solch hässlichen Bau vorzufinden. Ein Gerippe, umgeben vom Zauber der Insel … Man konnte auf das Meer schauen, und dürre Palmen säumten den Straßenrand der vierspurigen Nationalstraße.

»Und wo bist du gerade mit deinen Gedanken?«, wollte Penelope wissen.

Er drehte das Weinglas in den Fingern, spürte die Sorge vor dem nahenden Dreizehnten in seinen Eingeweiden und konzentrierte sich auf den Augenblick: Heute war heute und nicht morgen! »Ich nehme mir jedes Mal vor, herauszufinden, warum das da drüben nicht fertiggestellt wurde.« Er deutete auf den Betonklotz.

»Puh … das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich sollte es ein Hotel werden, und dann ging das Geld aus …«

»Oder es gab keine entsprechende Genehmigung«, fügte er ihrer Erklärung hinzu.

»Oder beides.« Sie nickte. »Das gehört leider viel zu oft zum Stadtbild, und mir fällt es nur noch selten auf, wenn etwas so unschön ist. So, als würde ich versuchen, diese Dinge auszublenden … um mich rein auf die Schönheit des Lebens zu fokussieren.«

»Jetzt bist du aber philosophisch, meine liebe Pen!« Er hob das Glas in ihre Richtung, und sie tat es ihm gleich.

Genüsslich tranken sie den kühlen Weißwein. Die Haussorte des Fagadiko war wirklich lecker und vor allem sauber. Er wusste kein anderes Wort dafür, dass der Wein absolut bekömmlich war, kein Sodbrennen und keine Kopfschmerzen verursachte, auch wenn man mehr als ein Glas konsumierte.

»Warum waren wir hier noch nie?«, wollte Penelope wissen.

»Na ja, oft habe ich eher das Bedürfnis, direkt am Wasser zu sitzen, wenn wir essen gehen, und hier kann man den Ozean zwar sehen, aber die Hauptstraße dazwischen ist irgendwie ein Manko. Gleichzeitig hat mir Maria Xylouri aus Agia Pelagia mehrfach geraten herzukommen. Also sind wir hier, und ich finde es wirklich lecker.«

Auf dem Tisch standen mehrere Teller mit Köstlichkeiten: Die Leber war kross gebraten und mit Rosmarin aromatisiert, der grüne Salat üppig – auch wenn er die Deko mit jeder Menge Balsamicocreme nicht so gern mochte. Die Tintenfischtuben waren knusprig frittiert und zergingen zart auf der Zunge. Er dippte ein Stück Pita in das Taramas und seufzte zufrieden, weil die Masse fluffig, cremig und doch so geschmackvoll war.

»Ja, es ist gewiss nicht der schönste Platz in der Stadt und auch nicht recht influencertauglich, aber mir ist gutes Essen lieber als lauter Fotoschönheiten.«

»Wo ist eigentlich deine Influencerin?«, hakte er ein, denn seit die beiden Frauen die Entscheidung getroffen hatten, wirklich ein Paar zu sein, war Eleni sehr oft auf Kreta.

»Irgendein Termin. Sei mir nicht böse, Hyeronimo, aber ich merke mir, dass sie zu tun hat, und der Rest …« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Bin ich deshalb eine miese Freundin?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß aber trotzdem, welches Datum wir heute haben und dass du mich brauchst.« Sie lächelte ihn an, und er spürte Dankbarkeit in sich aufsteigen.

Er hatte Glück, denn die Frauen in seinem Leben waren großartig und bereicherten ihn auf vielfältige Weise.

Der dürre Wirt kam mit einer großen Platte auf sie zu und stellte die Auswahl frischer Fische zwischen sie: kleine marinierte Sardinen, die man mit Stumpf und Stiel essen konnte – sogenannte Marides –, ein mittelgroßer Weißbarsch und ein paar Stücke Bakalarios, panierter und frittierter Kabeljau.

Dazu gab es gebackene Kartoffeln und jede Menge Zitrone. Er liebte die kretischen Zitronen schon von Kindesbeinen an. Seine Yaya hatte sie immer geschält und ihm die Filets in den Mund gesteckt – so, wie man das in Deutschland mit den Orangen machte.

Es war für ihn stets der Inbegriff von Kreta und Nach-Hause-Kommen gewesen! Immer wieder spannend, wie sehr sich Geschmäcker in Körperempfindungen festsetzten und dazu in der Lage waren, Emotionen hervorzurufen: Aß er eine Zitrone, machte sich Geborgenheit in ihm breit. Jenes Gefühl, das seine Yaya ihm seit Jahrzehnten vermittelte. Er liebte seine Eltern – keine Frage –, doch er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Ja, sie telefonierten regelmäßig, und seine Mutter lud ihm seine geheime Lieblingslektüre auf den E-Book-Reader, aber 2000 Kilometer waren eine bemerkbare Distanz. Zudem stellte er immer häufiger fest, dass er es seiner Mutter Athina übel nahm, dass sie sich nicht um ihre eigene Mutter kümmerte. Auch sein Onkel – der in Athen lebte – glänzte durch Abwesenheit.

Jede Familie hatte ihre Probleme. Das war ihm klar, denn die furchtbarsten Auswüchse landeten auf seinem Schreibtisch: Häusliche Gewalt, die mit dem Tod endete, gab es auch auf Kreta. Doch er hatte nie begriffen, was seine Großmutter, die alle liebevoll Titika nannten, getan hatte, um diese offenkundige Ablehnung ihrer Kinder zu verdienen.

Er war da!

In den mehr als vierzig Jahren, die er sie durch seine Ferienaufenthalte kannte, hatte sie nie ein böses Wort gegen ihn gerichtet, und ihre lilafarbene Aura war über die Jahrzehnte stabil geblieben. Es war eine Mischung aus dem Streben nach Durchsetzung und Einfluss sowie Ordnung und Stabilität. Es waren die Hauptanteile ihres Naturells, die sich aus dem Rot der Macherin und dem Blau der Denkerin mischten. So erklärte er es sich immer, und sie gab ihm genau die Beständigkeit, die jemand wie er brauchte. Die Leute nannten ihn gern skurril – dabei war er einfach nur etwas anders als die meisten lauten, feierwütigen Griechen.

Es gab insgesamt vier dieser Grundausrichtungen der Persönlichkeit. Zu denen von Titika kam noch das Grün des Bewahrers mit dem Bestreben nach Harmonie und Geborgenheit und das Gelb des Entertainers, der nach Inspiration und Leichtigkeit strebte.

Er sah die Auren der Menschen als Farbschimmer um den Körper und konnte einfach mehr wahrnehmen als andere. Was ihm einst wie ein irrer Fluch erschienen war, bot ihm heute eine sehr gute Möglichkeit, Personen auf den ersten Blick einzuschätzen. Er konnte sich bei der Polizeiarbeit dadurch auf Gespräche einstellen und so seinem unterentwickelten Einfühlungsvermögen entgegenwirken. Wobei er sich dank seiner Freundschaft zu Penelope tatsächlich verbessert hatte. Ihre Aura war ebenfalls lila – wie die seiner Yaya. Natürlich war es auch Kassia zu verdanken, dass er mehr fühlte und sich dadurch besser in andere Menschen hineinversetzen konnte. Sie war sein Engel! Golden strahlend erleuchtete sie seine Seele, und obwohl auch sie ihm die Kraft gab, seine dunklen Stunden zu überleben, war es ebenfalls sie, die seine Angst befütterte. Er hatte zu sehr um sie gebangt und würde wohl niemals mehr vergessen können, wie wenig lebenswert ihm eine Welt ohne sie erschienen war. Er war machtlos gegen die Panik, die ihn an jedem Dreizehnten vierundzwanzig Stunden in ihrem Klammergriff hielt. Sie ließ sich nicht kontrollieren.

Sein Herz schlug schneller, und er warf einen Blick auf die Uhr.

»Du hast noch Zeit«, sagte seine aufmerksame Freundin und lächelte ihm zu.

Mit Penelopes Hilfe hatte er Plakate gestaltet, die er am Abend des Zwölften stets gut sichtbar in seiner Wohnung aufhängte. Gemeinsam hatten sie die kraftvollen Sätze gebildet:

Ich atme, also lebe ich!

Auf jeden Dreizehnten folgte auch ein Vierzehnter.

Ich kann die Furcht besiegen – ich atme weiter!

Er wusste, dass die Panik, die sich wie eine steinerne Schwärze in ihm ausbreitete und sich auf ihn legte wie ein unerträgliches Gewicht, irrational war. Das war ihm am Tag zuvor vollkommen bewusst und auch wieder an dem Tag danach, doch am Dreizehnten selbst setzte sein brillanter Verstand aus. Früher hatte er nur selten und mit wenigen Menschen darüber gesprochen, denn man hatte ihn zu oft verurteilt und ausgelacht:

Was für ein Blödsinn, dass dich das jeden Monat einholt … Hab dich nicht so, und reiß dich zusammen … Dein Verhalten ist vollkommen überzogen, und du willst dich damit nur wichtig machen …

Und noch viele weitere gute Tipps und Beleidigungen, die man ihm über die Jahre an den Kopf geworfen hatte. Was glaubten die Menschen nur? Dass ihm das Spaß machte oder dass er ihnen gar Theater vorspielte? Das konnten nur Leute sagen, die noch nie Angst verspürt hatten. Diese Panik wünschte er niemandem! Mittlerweile hatte er das Glück, echte Freunde zu haben: Penelope, Eleni, Stelios – und natürlich die Frau seines Herzens. Zudem waren da seine Yaya und seine Eltern. Sie gaben ihm Kraft. Genau wie der Ort, den er vor einigen Jahren auf der Nida-Hochebene gefunden hatte: den Andartis – das Monument des Friedens! Anfangs war er dauernd dort hinaufgefahren, hatte versucht zu ergründen, woher die Panik kam und in der Epigenetik auch einige Antworten gefunden. Es hatte die vierundzwanzigstündige Qual ein wenig gemildert … aber nicht wie gehofft eliminiert.

»Hyeronimo! Wir sind JETZT und HIER.« Penelope klang nun nachdrücklicher.

Sie hatte recht! Vor ihnen standen verschiedene Köstlichkeiten – und genau deshalb war er mit Penelope hier: Sie wollten den Abend genießen, bevor die Dunkelheit ihn mit ihren klammen Fingern in die schreckerfüllte Tiefe zerrte.

2. Kapitel

»Ach komm schon, Schatz.« Daniel beugte sich vor und griff nach Lisas Arm. »Du siehst klasse aus, und außerdem gehen wir nicht zum Galaabend beim Präsidenten, sondern in eine Taverne an der Promenade.«

»Man weiß nie, wen man trifft!« Lisa entwand sich seinem Griff und drückte eine walnussgroße Menge Gel auf ihre Handfläche, um ihre kurzen schwarzen Haare in Form zu bringen. Sie trug sie oft zu einer Art Irokese, ohne dabei grotesk zu wirken – eher stylish! Ihre geschwungenen Lippen betonte sie mit einem kirschroten Lippenstift, und schwarze Wimperntusche und ein dunkler Lidstrich vervollständigten den Look. Sie war ein echter Hingucker.

Sicher gab es am Strand genügend Mädels, die im Fitnessstudio zu leben schienen, aber er mochte Lisas prallen Po und die vollen Brüste, stand darauf, wenn sie auf ihm saß und diese im Takt seiner Stöße schaukelten.

Gott, er musste sich sofort auf andere Gedanken bringen, schließlich war er es, der hungrig darauf drängte, endlich loszugehen, und das wollte er dann doch nicht mit einem Ständer in der Hose tun. Er packte seine Kamera, drehte sich um und ging auf den Balkon hinaus. Der Himmel begann, sich in einen tiefen Blauton zu färben, und die Silhouetten der Häuser malten sich dunkel davor ab. Eigentlich war es traumhaft schön auf der Insel, aber sein Blick war geübt, und er sah auch die weniger schönen Dinge: den sich stapelnden Müll in Einfahrten, rostige Skelette alter Autos, die mit zerschlagenen Scheiben am Straßenrand standen, als hätte die nahende Apokalypse die Besitzer zur Flucht angetrieben. Nie fertiggestellte Gebäudegerippe, in denen Schrott herumlag und sich Katzen kreischend balgten. Alles reihte sich nahtlos an hübsche Läden, sommerlich geschmückte Tavernen und Hotelanlagen mit vielen Sternen am Eingangstor. Der Kontrast war auffallend.

Die Luft roch nach Salz und Sommerabend: wenn sich nach einem heißen, sonnigen Tag die Dunkelheit wie ein sanfter Schleier auf die aufgeheizten Mauern legte.

Das klang selbst in seinem Kopf poetisch, dabei war nicht er der Schriftsteller, sondern Lisa. Sie war diejenige, die mit Worten jonglierte. Er machte das mit seinen Bildern!

Die studierte Germanistin und Historikerin hatte es drauf, lyrisch anmutende Sätze zu formulieren. Ihre Bücher erschienen bei einem guten Berliner Verlag, aber noch fehlte der große Durchbruch und damit auch das Geld, um rein vom Schreiben leben zu können. Also hielt sie Vorlesungen an einer Akademie, und er arbeitete in einem Fotostudio und machte Bewerbungsbilder oder Hochzeitsshootings. Irgendwie musste die Miete ja gezahlt werden … Sie erledigten ihre Jobs ohne große Leidenschaft und steckten all ihre Energie in ihre wahre Bestimmung.

Er drückte ein paarmal auf den Auslöser und löschte gleich drei der so entstandenen Shots wieder. Aber zwei waren wirklich gut. Sie erfassten die Stimmung des Abends durch das unverglaste Fenster eines leer stehenden Gebäudes nebenan. Die Apartmentanlage in Stalis war einfach und wirkte bei Licht ein klein wenig schmuddelig, aber das Zimmer war vollkommen in Ordnung, und der Gastgeber machte einen netten Eindruck: Ein bauchiger Mann mit löchrigem Gebiss … aber er war immer freundlich, und es gab jede Menge Stammgäste.

Mit diesem Aufenthalt auf Kreta würde sich alles ändern!

»Ich verhungere!« Er verstaute seine Kamera in dem dafür vorgesehenen Fach des Rucksacks und lehnte sich an den Rahmen der Badezimmertür. Lisa lächelte ihn an – ihre Zähne waren so weiß, dass sie leuchteten. Sie hatte sie erst neulich bleachen lassen, und für seinen Geschmack waren sie eine Nuance zu hell, doch das strahlende Weiß ließ ihre Lippen noch roter erscheinen. Weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz und rot wie Blut, schoss es ihm durch den Sinn: ein modernes Schneewittchen. Sie war in einen schwarzen Jumpsuit mit tiefem Ausschnitt geschlüpft, und er warf einen begehrlichen Blick auf die glatte Haut des Dekolletés, aus dem die schwarze Spitze eines BHs hervorblitzte.

»Sexy«, sagte er anerkennend und pfiff leicht durch die Zähne.

Sie kam auf ihn zu, zauste ihm durch die weißblonden Haare, schlüpfte in spitze Pumps mit einem kleinen geschwungenen Absatz, schnappte ihre Handtasche und sagte: »Ich bin fertig und warte nur auf dich.« Ein kleines Spiel, das sie oft spielten, denn sie waren selten gleichzeitig aufbruchbereit. Er legte seine Hand lässig auf ihren Po, kniff sanft in das feste Fleisch. »Mal sehen, wer nachher auf wen wartet …«

Dann verließen sie lachend das Zimmer, um an der Promenade griechische Spezialitäten zu genießen, Wein und Cocktails zu trinken und ihre Körper zum Rhythmus der Musik zu wiegen.

»Lisa«, er zog sie rasch zu sich heran, und sie stolperte ein wenig dank der unerwarteten Bewegung, »wir machen das Richtige, oder?«

Sie presste sich an ihn, und er roch den Duft der Sonne auf ihrer Haut. »Ja, Schatz«, hauchte sie in sein Ohr und ließ ihre Zunge dabei rasch über die Muschel gleiten. Dann zog sie ihn weiter in Richtung Promenade, und er ließ sich von ihrem Schwung mitreißen. Wie immer.

3. Kapitel

»Ich hasse es, mit dem Bus zu fahren!« Celeste lehnte ihren Kopf an die Scheibe des Fahrzeugs. Gott sei Dank war das Ding klimatisiert. Der Flughafen in Irakleio hatte sich als desaströs herausgestellt, und obwohl sie wirklich einiges gewohnt war, hatte sie sich nach einem kurzen Blick in die Toiletten dafür entschieden, bis zum Hotel zu warten. Das war sicher nicht superklug gewesen, denn sie hatten recht lange in der überfüllten, drückend heißen Halle auf ihr Gepäck warten müssen. Sie wäre ja mit Handgepäck gereist, aber Raymond brauchte immer einen Schrankkoffer mit Sondermaßen, um seine Ausrüstung zu transportieren. Er war extrem pedantisch, wenn es um die Maske, das Mundstück und den Anzug ging. Also hatten sie eine halbe Ewigkeit auf das Monstrum gewartet, und einige der hier anwesenden Idioten hatten sogar geklatscht, als sie endlich als Letzte in den Bus gestiegen waren.

Sie hatten einen zweitägigen Aufenthalt in Agia Pelagia gebucht, um dort den Großen Anker und die Blaue Grotte zu erkunden. Beide Tauchattraktionen befanden sich unweit der Küste in einem Radius von ungefähr zwei Seemeilen.

Warum hatten sie keinen Wagen gemietet, sondern tuckerten von einem Hotel zum nächsten, um Gäste abzuliefern? Ihr war übel, und sie war genervt – kein guter Auftakt für die gemeinsamen Tage.

»Ich habe dich gefragt«, sagte ihr Mann mit angespannter Stimme, »aber du warst der Ansicht, der Transfer sei im Buchungsumfang inbegriffen, und du wolltest nicht doppelt zahlen.«

Wie immer hatte er sich ihre Worte natürlich eingeprägt, um sie dann im passenden Moment gegen sie zu verwenden. Das machte er immer so, und im Regelfall setzte er dabei diesen überheblichen Blick auf, der sie binnen weniger Sekunden wütend machte. Jetzt war es zu dunkel, aber sie kannte ihn schon zu lange, um nicht zu wissen, was seine Mimik ausdrückte. »Ja, kann sein«, erwiderte sie schnippisch und kam sich albern dabei vor, aber alles zwischen ihnen war festgefahren, und aus ihrer Sicht gab es auch kaum eine Möglichkeit, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. Raymond war es, der sich daran klammerte, dass der Urlaub und alles, was mit dem Aufenthalt auf Kreta zusammenhing, ihrer Ehe eine Wendung geben würde. Sie wollten gemeinsam tauchen, und Celeste hatte sich sogar überreden lassen, mit ihm in voller Montur zu den Unterwasser-Sehenswürdigkeiten aufzubrechen.

Normalerweise liebte sie es, frei zu tauchen, und sie konnte es auch. Ihr persönlicher Rekord lag immerhin bei knapp neun Minuten mit einem Atemzug und einer Tiefe von etwas mehr als hundert Metern. Die Wettkämpfer tauchten teilweise bis zweihundert Meter tief. Das hatte sie bisher noch nicht ausgereizt, aber es war unglaublich, den eigenen Körper so zu beherrschen. Raymond hingegen war konservativ mit Atemgerät unterwegs und verdiente sein Geld als Tauchlehrer für die Touristen zu Hause auf Korsika.

Ihre Art zu tauchen wollten die Urlaubenden relativ selten erlernen. Apnoetauchen machte den meisten Menschen eher Angst, als dass es sie reizte.

Raymond war bei nahezu allem klassisch … oder sollte sie lieber sagen borniert: heiraten, Kinder bekommen, Nest bauen und so weiter. Doch bisher hatte ihnen das Schicksal keine Schwangerschaft beschert, und sie weigerte sich standhaft gegen eine Untersuchung ihrer Fruchtbarkeit. War sie ehrlich zu sich selbst, dann entsprach es auch nicht ihrem Wunsch, ein Kind auszutragen. Sie wollte nicht für immer an Nachwuchs gebunden sein. Nicht mehr tun und lassen können, was sie wollte, rief das Abenteuer nach ihr. Er würde sich weiter in die Tiefe stürzen, und für sie wäre der Spaß für eine lange Zeit vorbei. Vielerlei Vergnügungen würden für sie mit einem Kind entfallen … Sie hatte echt keine Lust auf dieses kleinbürgerliche Leben und konnte sich mittlerweile die Frage nicht mehr beantworten, warum sie überhaupt Ja gesagt hatte. Sie kannten sich schon seit der Schule, und er war … zuverlässig. Bei dem, was sie von Kindesbeinen an im Elternhaus hatte ertragen müssen, war das eine der wichtigsten Eigenschaften für sie gewesen, die ein Freund aufweisen musste. Er war nicht einer von den supergut aussehenden Herzensbrechern, keiner von den Cool Guys, wie man sie aus amerikanischen Highschool-Serien kannte. Er war eher optisch unauffällig, aber er war eben immer da gewesen, wenn sie sich vollkommen haltlos gefühlt hatte: Raymond hatte sie dann stabilisiert, und sie hatte wohl mit Liebe verwechselt, was sie für ihn empfand.

Nun war sie gefangen in einem Käfig, der den Eindruck machte, eine offene Tür zu haben. Doch sie war finanziell von ihm abhängig, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser … wie er immer so schön sagte: Weil du dir zu gut für normale Tauchgänge mit Laien bist, musst du Tabletts schleppen und Teller spülen. Er hatte dabei keine Gehässigkeit im Ton, sondern die Neutralität eines Nachrichtensprechers.

Sie konnte sich einfach nicht überwinden, mit unzulänglichen Touris in die zauberhafte Unterwasserwelt zu gleiten. Wer wie sie frei tauchte, war im Regelfall auf sich gestellt. Ging sie wirklich tief hinab, hatte sie entweder jemanden zur Sicherung dabei, oder sie tauchte mit Boje und Gewichten. Auch wenn ihr bewusst war, dass das ein waghalsiges Unterfangen war – sollte sie ohnmächtig werden bei einem Blackout, würde sie ertrinken –, waren es doch die Momente, in denen sie sich vollkommen lebendig wähnte. Das Gefühl hatte sie sonst nur noch bei tabulosem Sex. Ein Schauer glitt ihr über den Rücken und die Unterarme, wenn sie daran dachte, was ihr im Bett guttat – schon allein der Gedanke daran hatte die Macht, sie zu erregen!

Raymond war jedoch wie immer in seinem engen Lebenskorridor unterwegs. »Ist dir kalt? Die Klimaanlage ist wirklich heftig. Soll ich etwas sagen? Oder hast du eine Jacke im Rucksack?« Er hatte wohl gesehen, dass sich ihre Haare an den Armen aufgestellt und sich eine Gänsehaut gebildet hatte.

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, beherrschter zu antworten: »Es ist schon okay. Ich will nur raus aus diesem Bus.«

Nachdem dieser gefühlt hundertmal angehalten hatte, sah sie das Schild der Abfahrt nach Agia Pelagia – doch der Bus fuhr vorbei! »Hat der Typ da vorn vergessen, dass wir hier aussteigen müssen … also in diesem Dorf?«, verlieh sie ihrer Empörung Ausdruck.

»Die Straßenführung ist hier etwas kompliziert«, erklärte ihr ein Mann mit Sandalen und Tennissocken in der Reihe neben ihnen. »Es gibt noch eine weitere Abfahrt, und die nimmt der Bus, damit er dann durchs Dorf kann und wieder auf die Nationalstraße zurück Richtung Stadt kommt. Ich mache hier schon seit fünfzehn Jahren Urlaub und kenne mich aus.« Sein Französisch hatte einen Akzent – wahrscheinlich war er kein Franzose, aber immerhin sprach er ihre Sprache. Für sie beide war es kein Problem, Englisch zu sprechen, aber viele Landsleute verweigerten sich der Weltsprache konsequent.

»Danke, das ist sehr nett«, wandte sich Raymond an den Mann, und Celeste versuchte, ein freundliches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Sie hoffte, der Kerl würde sie nun nicht bis zu ihrer Unterkunft vollquatschen – doch genau das tat er. Er stieg immer in derselben Pension ab, lieh sich stets im Dorf ein Auto und kurvte über die Insel von Taverne zu Taverne … Kein Wunder, dass er so beleibt war! Sie ließ das Servicelächeln in ihrem Gesicht gefrieren – so, wie sie es tat, wenn sie Getränke und Essen an die Tische brachte –, nickte, ohne jedoch zuzuhören. Das war Raymonds Aufgabe. Er war der nette, zugängliche Typ in ihrer Beziehung, sie hingegen bezeichnete man nicht selten als hochnäsig. Sie sah gut aus. Wenigstens das hatten ihre Eltern ihr mitgegeben. Die blonden Locken fielen ihr weich bis auf die Schultern, ihre Augen waren von katzenhaftem Grün und ihre Gesichtszüge fein gezeichnet und symmetrisch. Sie war groß für eine Französin – immerhin eins vierundsiebzig –, und ihr durchtrainierter Körper zog immer wieder Blicke auf sich: bewundernde und neidvolle! Das Tattoo mit dem Delfinschwarm wanderte vom kleinen Finger der linken Hand über den Arm hinauf bis über die Schulter. Es hatte echt wehgetan, die wundervollen Meereswesen auf ihren Körper zu bannen, doch es hatte sich gelohnt. Jeder einzelne Delfin war perfekt gestochen. Wann immer es ihr möglich war, einen Schwarm zu treffen, ging sie ins Wasser, denn es war wahrlich ein unglaublich schönes Gefühl, zwischen den pfeifenden Leibern dahinzugleiten.

»Wir müssen hier raus.«

Raymonds Stimme und seine Hand auf ihrem Arm holten sie aus ihren Gedanken. Sie zerrte ihren Rucksack aus dem Fußraum und glitt hinter ihm aus der Sitzreihe. Ihr kurzes T-Shirt rutschte dabei ein Stück nach oben, und sie spürte den Blick des Sockenmanns auf ihrem muskulösen Bauch. Er schien ihm zu gefallen, denn er glotzte sie mit geöffnetem Mund an, dann fasste er sich wieder und rief: »Viel Spaß auf der Insel! Es war nett, euch kennenzulernen. Vielleicht treffen wir uns mal im Ort …«

Raymond lächelte zurück, während sie zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte: »Hoffentlich nicht!«

Entnervt stolperte sie hinter ihrem Mann her, der seinen Riesenkoffer entgegennahm und dem ausgestreckten Finger des Busfahrers mit seinem Blick folgte. »Das scheint wohl unsere Unterkunft zu sein«, sagte er mehr zu sich als zu ihr und zog sein Gepäckstück rumpelnd über die holprige Straße. Unter Ächzen bekam er ihn zum Eingang hinauf. »Der Schlüssel liegt an der Rezeption. Die ist nachts nämlich nicht besetzt«, erklärte er ihr. »Kannst du ihn bitte holen?«

Sie nickte und trabte los. Im Dunkel der Nacht sah die Anlage ganz gut aus – es war ein preiswertes Dreisternehotel –, da durfte man seine Erwartungen wohl kaum zu hoch ansetzen, aber die Lage war gut, denn bis zum Strand waren es zu Fuß kaum fünf Minuten.

Das Zimmer schien ein Affe auf LSD eingerichtet zu haben, und der Duschvorhang im Bad hatte bessere Zeiten gesehen, aber die Matratze war überraschend gut.

Kurze Zeit später rollte sie sich zusammen, und in ihren Träumen rieben glitzernd geschmückte Hände über ihren willigen Körper …

4. Kapitel

Sie hatte ihn noch nach Hause begleitet, obwohl er ihr mehrfach versichert hatte, allein zurechtzukommen. Nachdem sie eine Zeit lang ihre ganz eigenen Kämpfe in der Abgeschiedenheit der Halbinsel Pilion ausgefochten hatte und regelmäßig von Traurigkeit und Furcht überrollt worden war, verstand sie ihn jedoch viel besser. Man konnte sich noch so viel Mühe geben, nachzuempfinden, wie sich jemand fühlte, den die Panik im Klammergriff hielt – man begriff es erst dann wirklich, wenn man es am eigenen Leib erlebte. Sie hatte jede Menge gelesen über diese Erkrankung, hatte aber trotzdem keine Erklärung, wie es sein konnte, dass der Auslöser ein Datum war.

Ja, es gab auch andere belastende Situationen in seinem Leben – wie zum Beispiel seine Ordnung durcheinanderzubringen –, aber diese vierundzwanzig Stunden Martyrium waren schlimmer, und er tat ihr so unendlich leid. Oft berichtete er, dass es gar nicht mehr so schrecklich sei wie früher. Und doch war er viele Stunden gefangen in der angstbesetzten Starre und fürchtete noch immer, zu sterben, weil die Schwere, die seinen Brustkorb dann erdrückte, ihn kaum atmen ließ.

»Jetzt ist alles hergerichtet, Pen. Danke sehr. Du … du musst nicht länger bleiben. Es ist schon spät.«

»Ach, Hyeronimo, ich will dir kein schlechtes Gewissen machen, aber glaubst du wirklich, dass ich den Dreizehnten entspannt zu Hause verbringen kann, während du leidest?«

»Ich will euch da nicht mit hineinziehen. Das wollte ich nie.«

»So ist das nun mal, wenn man Freunde hat – und Menschen, die einem nahestehen. Daran kannst du nichts ändern, und wir, die wir dich lieben, lassen es uns auch nicht verbieten, an dich zu denken und dir Kraft zu senden.«

»Ich weiß«, sagte er leise und strich mehrfach mit den Fingern seiner rechten Hand über einen der Klebestreifen, mit denen sie eines der Plakate an seiner Tür befestigt hatten – ganz so, als kompensierte er damit den Tick, sich dauernd durch die Haare zu fahren. Das hatte er bis zu Kassias verunglücktem Besuch auf der Insel an sich ganz gut im Griff gehabt. Nun ja – sie waren alle irgendwie beschädigte Ware.

Wahrscheinlich gab es grundsätzlich keine heilen Menschen, und sie trugen alle genetische Vorbelastungen und erlebte Traumata mit sich herum, die es ihnen erschwerten, im Alltag zu bestehen. Nach der Pandemie war sowieso alles irgendwie verrückter geworden. Die Leute erschienen ihr aggressiver, unzufriedener und gleichzeitig besorgter als vorher – und eben irgendwie … verrückter. Nicht im Sinne von lustig und wagemutig, sondern von irre!

Sie war bestrebt, ihren Job sehr gut zu machen, um die Schädigung, die Elenis Indiskretion an ihrem Ruf verursacht hatte, wieder aus der Welt zu schaffen und ansonsten ihre Freizeit nur mit Leuten, die ihr wohlgesonnen waren und ihr guttaten, zu verbringen. Hyeronimos war ihr bester Freund, aber auch Stelios Mentakis war nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken. Seine Ex-Frau Kostoula und er hatten wieder zusammengefunden, und der ehemalige Leiter der Mordkommission schien wirklich glücklich zu sein, obwohl er der Polizeiarbeit doch nicht ganz so entkommen war wie ursprünglich geplant. Seine Nachfolger Maria und Elonidas hatten ihn ganz einfach zum Berater gemacht. So konnten sie bei wichtigeren Fällen wieder alle zusammenarbeiten.

Interessanterweise war ihr auch Zacharis Zentakis – Hyeronimos’ Assistent – ein Freund geworden. Sie hatten alle gemeinsam an dem Entführungsfall gearbeitet und dabei Grenzen überschritten – das hatte sie zusammengeschweißt. Zudem hatte es Eleni zurückgebracht. Penelope und die bekannte Influencerin hatten es geschafft, ihre Beziehung neu zu definieren.

»Wir haben so viel miteinander durchgestanden – das verbindet uns. Ihr seid viel mehr meine Familie, als es die Personen meiner Blutlinie sind«, sinnierte Penelope und zählte alle auf. »Du, Eleni, Stelios, Maria, Elonidas, Zacharis und sogar deine Kassia … das ist meine Wahlfamilie, und wir sind es auch für dich! Zudem hast du noch deine Yaya und deine Eltern. Du bist gesegnet, Hyeronimo«, fügte sie leise hinzu und meinte es vollkommen ernst.

»Ich nehme das nie als selbstverständlich«, erwiderte er, »aber deine Aufzählung macht mir gerade jetzt deutlich, dass ich reich bin – obwohl ich das Schicksal dafür hasse, dass es mir diese psychische Störung ans Bein gebunden hat.«

»Vielleicht musst du aufhören, sie zu hassen. Ja, ich weiß, wie das klingt, aber ich habe eine Idee davon bekommen, wie es dir stets ergeht, und plappere daher nicht dumm daher. Ich sage nicht, hör auf damit, Panikattacken zu bekommen. Ich sage nur, es könnte Sinn machen, die Situation nicht mehr zu hassen. Aber … Ach es tut mir leid, Hyeronimo, ich will nur …«

»… helfen«, beendete er ihren Satz und kam zu ihr herüber. »Lass uns noch ein bisschen nach draußen gehen«, forderte er sie auf und trat auf die große Terrasse über den Dächern Irakleios.

»Ich habe noch was für dich … für uns.« Sie griff in ihre große Handtasche und zauberte eine kleine Schachtel hervor. »Macarons von Emmanouil …« Sie war am Nachmittag extra noch in ihre Lieblingspatisserie gefahren, um ihm eine kleine Freude zu bereiten.

»Meine Henkersmahlzeit«, sagte er lächelnd und zog ein mit heller Creme gefülltes Gebäckstück heraus. »Köstlich«, murmelte er kauend, lehnte sich an die Balustrade und ließ seinen Blick zum Meer gleiten. Das Display seiner Smartwatch wurde hell, und sie konnte genau wie er deutlich sehen, dass ihm nur noch eine Stunde blieb.

»Sehr lecker«, bestätigte sie und hielt ihm die Schachtel erneut hin.

Schweigend genossen sie die knusprig-süßen Köstlichkeiten. Bald würde sie gehen müssen, und es fühlte sich schrecklich an, ihn mit seinem Leid allein zu lassen. Doch das war seine Entscheidung, und die galt es zu respektieren.

5. Kapitel

Er rieb sich mehrfach über den Nasenrücken und zog die Karte mit Zeigefinger und Daumen auf dem Display größer. Hatte er wirklich die richtigen Leute ausgewählt? Es barg ein großes Risiko, mit Laien zu arbeiten. Andererseits wollte er auch kein Aufsehen erregen, denn das würde die gesamte Aktion nur gefährden.

Genau das hatte ihn doch dazu bewogen, sich darauf zu besinnen, dass er Themis’ Eltern von früher kannte und auch den Burschen noch mit Babyspeck in Erinnerung hatte. Gleichzeitig war es seltsam, darauf zu vertrauen, dass ein Käfig voller Narren das Unmögliche möglich machen konnte, und doch … Da war etwas in ihm, das ihm von Anfang an dazu geraten hatte, genau so vorzugehen. Sein Bauchgefühl trog ihn selten, deshalb hatte er all das erreicht.

Er hob seinen Blick von dem Display des Tablets und ließ ihn über sein Anwesen schweifen. Er lebte in direkter Nachbarschaft zu jeder Menge Berühmtheiten, und Geld spielte für ihn keine Rolle mehr. So war das, hatte man alles, was das Herz begehrte … Man verzehrte sich dann nach anderen Dingen – jenen, die unmöglich und unerreichbar erschienen. Seine Frau – er hatte vor einigen Jahren zum dritten Mal geheiratet – lag auf dem großen Sunbed am Pool, und er konnte nicht umhin, ihre makellose Figur zu bewundern, die sie trotz der Kinder bewahrt hatte. Vielleicht war das tatsächlich das Einzige, was ihn dazu bewogen hatte, ihr den Ring an den Finger zu stecken: ihre Schönheit und ihre Jugend. Sie hatte ein bisschen gemodelt und in ein oder zwei Filmen unbedeutende Rollen gefüllt, aber sie war kein Dummchen und hatte sogar Manieren!

Das war bei den jungen Leuten heutzutage nicht üblich. Viele von ihnen schienen mit Überschallgeschwindigkeit durch die Kinderstube gerast zu sein, und man konnte sich zu keinem offiziellen Anlass mit ihnen blicken lassen. Er hatte Nachwuchs mit ihr gezeugt, denn es war wichtig, viele Kinder zu haben. Diese Einstellung konnte er nicht abstreifen, und er hatte schon mit Ehefrau eins und zwei drei Söhne und zwei Töchter in die Welt gesetzt. Ein Teil der jungen Leute war im Alter seiner neuen Frau, und sein erster Sohn war sogar zwei Jahre älter. Sie hatten es ohne Murren hingenommen, denn sie wussten, er würde ihnen, ohne zu zögern, den Geldhahn abdrehen, benahmen sie sich wie eifersüchtige Biester. Am Ende war genug für alle da! Die zwei hübschen Kleinkinder würden seine Gene fortbestehen lassen. Er war nicht zu alt für die Vaterschaft, denn ein Mann war das doch nie. Außerdem waren es sowieso die Nannys, die die unliebsamen Aufzuchtaufgaben übernahmen.

Er konzentrierte sich wieder auf die Karte und rief dann die mehrfach gesicherten Dokumente auf, die immensen historischen Wert hatten. Es hatte ihn Jahre und jede Menge Bares gekostet, sie in die Finger zu bekommen, denn im Regelfall lagen alte Schriften wie diese in Museen oder Archiven. Spannend war jedoch, dass so viele Spuren im Sande verlaufen waren und es mittlerweile so aussah, als glaubte nur er daran, dass sich eine Aktion wie die, die er so lange geplant hatte, auch lohnte. Dass sie ihm den ersehnten Erfolg bringen würde. Doch er würde triumphieren. Und das Verrückteste an der Sache war, dass er diesen Sieg nicht würde herausposaunen können. Es ging einerseits um den Nervenkitzel und andererseits um den Besitz. Ihm gehörte so einiges, wovon die Welt nichts wusste – auch seine Familie nicht. Ein Mann wie er brauchte Geheimnisse, und er war nicht der Typ für Rotwein, der pro Flasche 5000 Dollar kostete, obwohl er das problemlos zahlen konnte. Man sagte gern, er sei steinreich – aber genau das war er nicht … noch nicht. Es würde sich hoffentlich bald ändern. Interessanterweise vertraute er Themis, und hoffentlich enttäuschte ihn der Junge nicht!

6. Kapitel

Hyeronimos saß an seinem Schreibtisch und klickte sich durch die E-Mails. Er hatte wieder einen Dreizehnten überlebt, und sonderbarerweise hatte ihn bei der Nachbetrachtung das Gefühl beschlichen, dass es anders gewesen war. Nicht leichter oder schwerer – einfach anders. Das machte ihm nun schon seit einer guten Woche zu schaffen.

Er hatte eigentlich mit Penelope über diesen qualitativen Unterschied reden wollen, aber seine Freundin war nach ihrem gemeinsamen Abend am Zwölften komplett durch den Wind. Nicht etwa, weil etwas Schlimmes vorgefallen war, sondern weil – das hatte sie ihm am Vierzehnten aufgeregt berichtet – Eleni keinen beruflichen Termin gehabt hatte, sondern sich mit einem Makler Wohnungen rund um Irakleio angesehen und sich spontan für ein Apartment in Agia Marina, einem Vorort von Irakleio, entschieden hatte. Eine hübsche Maisonette-Wohnung, die sogar einen Pool auf der Terrasse hatte, sollte nun ihre Homebase sein. So hatte es die junge Frau wohl bezeichnet. Sie hielt also ihr Wort, ihre Beziehung zu Penelope wirklich ernst zu nehmen und nicht mehr andauernd von einem Hotel zum nächsten zu hüpfen. Die beiden Frauen waren seither intensiv damit beschäftigt, Einrichtungsgegenstände und Dekoartikel zu erwerben. Er gönnte Penelope und Eleni ihr Glück von ganzem Herzen, auch wenn seine Erinnerung an die geänderten Empfindungen immer schwächer wurde.

Er hatte den Unterschied Kassia gegenüber am frühen Morgen des Vierzehnten erwähnt – sie rief ihn stets vor dem Morgengrauen an, um sich zu vergewissern, dass er es überstanden hatte –, doch ihnen waren immer nur kurze, gestohlene Momente vergönnt. Die Zeit hatte nicht ausgereicht, um ihr alles zu erzählen. Seit ihr Mann Innenminister war, stand sie noch mehr unter Beobachtung. Es war schwer, sich die Augenblicke zu nehmen. Gleichzeitig saß er ja auch nicht herum und tat nichts.

Sie hatten gerade einen bitteren Fall mit Todesfolge bearbeitet: Wie auf Kreta gewohnt hatte man bei einer Hochzeit in einem Dorf oberhalb der Stadt wild umhergeschossen, und ein Querschläger hatte ein neunjähriges Mädchen erwischt. Die Kleine war im Krankenhaus gestorben, und danach hatten sie alle Hände voll zu tun gehabt, Ausschreitungen zu vermeiden. Es war nicht zum ersten Mal Thema auf der Insel, auf der es Gerüchten zufolge mehr illegale als legale Waffen gab – wahrscheinlich sogar fast so viele illegale Waffen wie Einwohnende. Da war es vollkommen verrückt und aus polizeilicher Sicht ein aussichtsloses Unterfangen, die Schießereien in den Griff zu bekommen. Solange man es quasi als Ausdruck von Freude ansah, auf einer Feierlichkeit eine Knarre zu ziehen und herumzuballern, solange würde es unmöglich sein, die Gesetze mit aller Härte durchzupeitschen. Der Tod des Kindes würde temporär für Veränderung sorgen, aber langfristig gesehen änderte sich nichts. Den Schützen hatten sie überführt, und er würde seine Strafe absitzen. Ob es andere zukünftig davon abhielt, sich so zu verhalten …? Er glaubte nicht daran. Der Fall war emotional aufwühlend gewesen, und er war sich sogar – o welch Wunder! – mit Christos Papadakis einig gewesen.

Es klopfte, und Maria Chrisaki steckte ihren Kopf durch die Tür. »Besprechung, Hyeronimo. Da ist etwas Unangenehmes im Busch!«

Bevor er fragen konnte, worum es ging, war sie schon davongerauscht. Typisch Maria – sie hatte das Herz am rechten Fleck, war aber gleichzeitig rau und bärbeißig. Er schaltete den Computer in den Ruhezustand, betrachtete kurz die pedantische Ordnung auf seinem Schreibtisch und fühlte Zufriedenheit. Dann trabte er los in Marias Büro. Er hatte sich mittlerweile vollkommen daran gewöhnt, dass es ihr Büro war – nicht mehr das von Stelios. Elonidas Spectros war zusätzlich zu diesem Job auch noch Leiter der Cybereinheit und hatte dort seinen Arbeitsplatz.

Auf dem Flur begegnete ihm sein blasser Assistent Zacharis. Der Mann sah stets ungesund aus, hatte aber mittlerweile eine Glatze, und das stand ihm richtig gut. Jahrelang hatte er den immer kahler werdenden Kopf unter einer sonderbaren Frisur zu verbergen versucht, aber nun hatte er sich durchgerungen, es zu akzeptieren. Überrascht stellte Hyeronimos fest, dass er sich wohl auch einen Vollbart stehen ließ, der dem verhuschten Mann ein attraktiveres Aussehen gab. Zacharis hatte sich bei den letzten Fällen als unverzichtbar bewiesen, und er hatte einen Mut an den Tag gelegt, den ihm kaum jemand zugetraut hätte. Das hing gewiss unter anderem damit zusammen, dass er an einem Sprachfehler litt, der unter Stress noch stärker zutage trat.

»Klingt ganz nach einem neuen Fall«, sagte er an seinen Mitarbeiter gewandt.

Dieser nickte und sagte: »Ohne r’chtige Aufgabe zu sein, ist n’chts, ab’r mit ist auch n’cht gut.«

»Da hast du wohl recht.« Genau so war es: Hatten sie nichts zu tun und mussten Papierkram aufarbeiten, war der Job eher langweilig, aber ein neuer Einsatz bedeutete eben immer auch, dass jemand gestorben war.

Sie betraten den Raum mit dem großen Schreibtisch, den Maria mittlerweile nicht mehr so dominant mitten im Zimmer stehen hatte, und setzten sich an den Besprechungstisch.

»Hyeronimo, Zachari.« Elonidas nickte ihnen freundlich zu.

Stelios hatte die beiden klug ausgewählt, denn was Maria an Taktgefühl fehlte, legte Spectros an den Tag. Dafür glich sie aus, dass er sich ungern mit Obrigkeiten anlegte und sich lieber diplomatisch gab, als auch mal auf den Tisch zu hauen. Sie waren das perfekte Team!

Maria setzte sich, und Hyeronimos hob fragend seine Augenbrauen. »Fehlt da nicht noch jemand?«

»Christos ist krank«, erklärte Elonidas. »Er wird für einige Wochen ausfallen – mehr wissen wir auch nicht.«

Obwohl Hyeronimos mit dem Mann mehr Ärger als gute Zusammenarbeit erlebt hatte – ohne so recht zu wissen, warum das so war –, tat es ihm leid, dass der Kollege offensichtlich ernsthaft erkrankt war. Er wünschte ihm trotz aller Streitereien nichts Schlimmes. So dachte er nicht, auch wenn er kein Vertreter des Karma-Gedankens war. Es gab kaum Menschen, denen er Böses wünschte, denn im Regelfall stand immer eine Geschichte hinter allem, und die kannte man oft einfach nicht. Das hieß nicht, dass damit alles zu entschuldigen war. Er dachte an den Fall mit dem Torso in der Samaria-Schlucht und Nikos … Da war so viel Unglück im Leben des Mannes gewesen …

Doch jetzt musste er sich auf die aktuelle Situation konzentrieren, daher verbannte er die traurige Erinnerung aus seinen Gedanken. »In Ordnung. Dann darf ich gewiss, wenn nötig, auf Stelios und Penelope zurückgreifen. Richtig?«

Seine Chefs nickten.

»Wie gesagt, unangenehme Sache … und doch ist erst mal niemand tot«, begann Maria.

»Und trotzdem ist die Mordkommission gefordert?«, hakte Hyeronimos nach.

»Eigentlich nicht die Mordkommission, sondern du, Hyeronimo.«

»Bitte sag Dimitris Stefanakis, dass er zwar als Leiter des EYP sicherlich ein hohes Tier ist, aber nicht dauernd nach Belieben über mich verfügen kann.« Er fühlte den Ärger in sich aufsteigen, denn Stefanakis fand schon seit Längerem Gefallen daran, ihn zu rekrutieren.

»Der hat mal ausnahmsweise nichts damit zu tun. Außergewöhnlich, aber wahr«, ergänzte Elonidas ruhig.

»Okay. Tut mir leid.« Hyeronimos hob entschuldigend die Hand.

»Ein junges deutsches Paar wird vermisst. Die Eltern leben irgendwo da in der Nähe, wo du aufgewachsen bist, und haben irgendwann einen Bericht über dich und deine Arbeit gelesen. Du sollst die Kinder finden.«

»Kinder? Wie alt sind die denn, dass sie allein in den Urlaub fliegen?«

Maria senkte ihren Blick auf den Zettel, der vor ihr lag. »Lisa Heinemann ist neunundzwanzig, ihr Freund Daniel – den Namen musst du selbst lesen – ist zweiunddreißig.«

»Also zwei Erwachsene!«

»Ja, aber laut der aufgeregten Mutter ist es nicht die Art ihrer Tochter, sich nicht zu melden. Der Vater hat wohl Krebs, und normalerweise ruft Lisa spätestens jeden zweiten Tag an, um sich nach ihm zu erkundigen.«

»Es könnte ihr vielleicht einfach zu viel sein, und sie muss im Urlaub mal abschalten, um zu Kräften zu kommen«, versuchte Hyeronimos sich an einer Erklärung. Für Vermisstenfälle war eine andere Abteilung zuständig.

»Das kann natürlich auch sein. Jedoch wissen die Eltern nur, dass die beiden in Stalis in einer Apartmentanlage untergebracht sind. Die Mutter ist sich unsicher … Ihr Englisch war nicht so toll. Ich denke, du solltest sie anrufen.« Maria schob ihm einen Zettel über den Tisch.

Er seufzte, als er ihren erwartungsvollen Blick sah. »Jetzt sofort?«

»Wir wollen doch nicht, dass jemand in Deutschland Amok läuft und behauptet, die Polizei auf Kreta sei faul und würde sich um nichts kümmern! Das können wir echt nicht brauchen. Du weißt, wie die Presse auf so etwas anspringt.« Maria blickte ihn streng an und ließ ihre gepflegten roten Nägel auffordernd auf den Tisch klackern. »Oder brauchst du erst ein Schlückchen Tsikoudia, um locker zu werden?«, schob sie grinsend hinterher, und er beeilte sich abzuwinken. Das Zeug ätzte einem die Mundschleimhaut weg – außerdem war es Vormittag!

Er wählte die Nummer, und bereits nach dem ersten Klingeln nahm eine atemlos klingende Frau das Gespräch an. »Heinemann?« Es klang interessanterweise wie eine Frage.

»Mein Name ist Hyeronimos Galavakis von der Polizei auf Kreta«, stellte er sich vor und spürte die neugierigen Blicke der anderen auf sich. »Sie hatten darum gebeten, dass ich mich bei Ihnen melde.«

»Ah, ja, guten Tag. Meine Tochter … ich mache mir Sorgen. Das ist nicht ihre Art und … sie ruft sonst immer an. Ich …« Sie schwieg abrupt, und er konnte sie aufgeregt atmen hören.

»Seit wann haben Sie denn nichts mehr von Lisa gehört?«

»Schon seit zweieinhalb Tagen«, eine Art Schluchzen mischte sich in ihre Stimme, »mein Mann … er ist sehr krank, und unsere Tochter liebt ihren Vater sehr. Sie würde sich nicht zweieinhalb Tage lang nicht melden. Es ist etwas passiert. Da bin ich mir ganz sicher!«

»Ihre Tochter ist nicht allein gereist – ihr Freund Daniel Schütze ist mit ihr auf der Insel?«, hakte Hyeronimos nach. »Was sagen die Eltern des jungen Mannes?«

»Ich … wir … wir kennen sie nicht. Daniel hat keinen Kontakt zu seinem Vater, soviel ich weiß, und seine Mutter ist gestorben, als er zwanzig war oder so.«

»Und Freunde der beiden?« Er war sich sicher, dass die besorgte Mutter schon jede ihr bekannte Nummer abtelefoniert hatte.

»Lisas Freundin Lara hat auch vergeblich versucht, sie zu erreichen. Sie antwortet nicht auf Nachrichten und war auch nicht auf Instagram oder diesem TikTok aktiv. Mit den anderen Mädchen hat sie nur einen losen Kontakt. Die waren eher irritiert …« Sie schwieg kurz. »Das ist nicht Lisas Art, Herr Galavakis. Sie kümmert sich immer um uns.«

»In Ordnung, Frau Heinemann. Eigentlich ist es nicht meine Aufgabe, nach Personen zu suchen, die noch …« Er biss sich auf die Zunge. »Ich arbeite nicht in der Vermisstenabteilung«, beendete er daher seinen Satz etwas leiser.

»Das weiß ich«, sagte sie leise. »Ich habe gelesen, wo Sie arbeiten. Aber Sie sind von hier, und ich kann ganz normal mit Ihnen reden und muss nicht überlegen, ob ich mich auf Englisch vielleicht unklar oder sogar falsch ausdrücke. Bitte, Herr Galavakis. Helfen Sie mir … uns. Es … ich … es geht ihm nicht gut. Lisa würde das wissen wollen. Finden Sie mein Mädchen. Bitte!«, schloss sie flehentlich.

Er war vielleicht nicht der einfühlsamste Mensch auf dem Planeten, aber die Furcht in der Stimme der Mutter – gemischt mit unendlichem Kummer – ging ihm ans Herz. »In Ordnung, Frau Heinemann. Wir werden nach Lisa und Daniel suchen. Dazu habe ich einige Fragen, deren Beantwortung uns helfen kann, die Suche voranzutreiben.«

7. Kapitel

Themis schaute sich um und fragte sich, warum Amalia immer so tun musste, als hätte sie die Weisheit mit einem sehr großen Löffel gefressen. Das war ihm oft so unglaublich peinlich. Ihre Stimme bekam einen boshaften Unterton, und ihre Miene wurde hochmütig – als wären grundsätzlich alle Personen um sie herum Vollidioten, und das Universum hätte sie dazu auserkoren, die Dummen zu belehren.

Doch leider war das eben nur ihre Wahrnehmung, und alle anderen waren regelmäßig angepisst von diesen Vorträgen, die gern mit »Ich kenne mich damit aus, weil ich Fachfrau bin …« begannen. Wobei sich doch nicht jedes unangenehme Auftreten damit rechtfertigen ließ, dass man es angeblich besser wusste, weil man Expertise besaß. Dann begann sie, irgendwelche Beweise an den Haaren herbeizuziehen. Das war meist der Zeitpunkt, an dem er sich ausklinkte. Dann musste er weg. Nicht immer war das körperlich möglich, daher war er zu einem Experten für mentales Abdriften geworden. Anfangs hatte er sich auf Themen konzentriert, die mit seinem Job zu tun hatten – Recherchen für Artikel, lose Fäden zusammenführen und so weiter. Doch dann hatte er den Sog sexueller Fantasien kennengelernt, und diese Flucht verschaffte ihm sogar jede Menge Befriedigung. Warum musste sie ausgerechnet in dieser Situation hier ihre abtörnendste Seite herauskehren? Und in dieser Konstellation? Sie mussten keine besten Freunde werden, doch die Leute an ihrem Tisch sollten sie akzeptieren. Für ihn war ihr Verhalten also kontraproduktiv und wenig zielführend.

Sie kannte sich mit Edelmetallen und Edelsteinen aus – daran zweifelte doch niemand! Es war ihr Beruf … Er hatte sich selbstverständlich ebenfalls schlaugemacht und die anderen sicher auch, daher zeigten alle beteiligten Personen mittlerweile eine schwer genervte Miene.

Nur Amalia bemerkte nichts und schwadronierte über Karat: »Die Ursprünge des Wortes Karat liegen im Griechischen. Wie bei so vielen Dingen ist die Herkunft in unserer großartigen Sprache zu finden! Der Begriff kommt von kerátion – das bedeutet übersetzt Hörnchen und wurde für die hörnchenförmigen Früchte des Johannisbrotbaums verwendet. Die Samen dieser Hülsenfrüchte hat man aufgrund ihres nahezu einheitlichen Gewichts von 0,2 Gramm als Gewichtsmaß verwendet. Ganz früher hat man das mit Getreidekörnern definiert, doch im Jahr 1875 kam es dann zur Einführung des metrischen Karats, das auf ebendieses Gewicht festgelegt wurde.«

Sie schaute sich um, als erwartete sie Beifall, und er wollte sie gern von ihrem Platz zerren und ihr sagen, dass sie die Klappe halten sollte. Doch es gab da auch dieses ungestüme Wesen in ihr, das Dinge zerschlug und mit Gegenständen nach ihm warf. Anfangs hatte er es für Temperament gehalten, doch mittlerweile war er sich im Klaren darüber, dass das kein gesundes Verhalten darstellte. Diese Ausbrüche machten ihm sogar hin und wieder Sorgen. Daher galt es, sie nicht zu provozieren und sich vor allem mit nichts zu verraten, um zu verhindern, dass sie am Ende alles gefährdete. Sie brauchten ihr Know-how. Er musste achtsam vorgehen. Sie wussten alle, warum sie hier waren, und er wusste sogar doppelt, weshalb: Für ihn war das Ganze mit einem echten Kick verbunden … Er hatte noch keine wirklich aufregenden Reportagen in seinem Leben gemacht. Immer ging es um irgendwelchen lokalen Kleinkram. Thessaloniki war nicht so wichtig wie Athen und er eben auch kein investigativer Journalist, der sich die Finger regelmäßig verbrannte.

Sein Leben war so langweilig gewesen. Doch dann …

Wahrscheinlich war er auch deshalb sofort angesprungen, als Ioannis ihn während eines Telefonats angesprochen hatte, sich doch mal aus seiner Komfortzone zu bewegen. Sein Leben schien zu einer ätzend öden Gleichmäßigkeit verdammt zu sein: Amalia und er waren verlobt. Ihre Familien erwarteten die Heirat bald und dann natürlich Kinder. Ganz egal, ob das in der aktuellen politischen und finanziellen Lage in Griechenland Sinn machte oder nicht. Amalias Familie hatte ihre Wurzeln auf Kreta, und dort schrieb man Tradition gleich doppelt so groß. Selbstverständlich musste auf den ersten Schritt ein zweiter folgen, als hätte er mit dem Verlobungsring gleich einen Vertrag bis zum Tod geschlossen.

Ioannis und er kannten einander schon seit seinen Kindertagen, und der reiche Geschäftsmann war eine Art Vorbild für ihn, wenn es um Freiheit und Selbstverwirklichung ging. Gleichzeitig hatte sein Vater immer gesagt, Ioannis sei ein verantwortungsloser Egomane. Gefährlich und rücksichtslos. Wenn dieser zu entscheiden hätte, ob er seinem Konto eine weitere Million hinzufügen oder seiner todkranken Mutter die Hand am Totenbett halten könnte, wäre ihm die Frau, die ihn ausgetragen und aufgezogen hatte, wohl vollkommen egal. Am Ende war es tatsächlich so gekommen, und Themis’ Vater war derjenige gewesen, der neben der knorrigen Alten gewacht hatte.

Der Heiligenschein ist dir sicher, alter Freund, hatte Ioannis damals wegwerfend bemerkt und sich wieder dem zugewandt, was er am meisten liebte: seinem Reichtum!

Wenn sein Vater wüsste, dass sein Sohn nun mit dieser Sorte Mensch gemeinsame Sache machte … er würde ihn ausschelten wie einen dummen Schulbuben.

Doch es war sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Sein Vater lebte nicht mehr. Vielleicht hatte er sich deshalb so auf Amalia eingeschossen, die mit ihren kretischen Familienbanden zu punkten wusste, während er eine Mutter hatte, die ihn nicht mehr erkannte, obwohl sie noch gar nicht so alt war. Eine Form von Alzheimer hatte sie ihrer Erinnerungen beraubt, und eine Cousine kümmerte sich um sie, weil er es nicht konnte und auch nicht genügend Geld hatte, um sie in einem guten Pflegeheim unterzubringen. Auf Dauer war das keine Lösung – das war ihm klar. Und das war ebenfalls einer der Gründe, warum er hier war. Das und seine Gier nach Leben … nach Abenteuer.

»Ich kann schon nachvollziehen, warum es nötig ist, diskret zu sein«, hörte er Amalia nun sagen. Völlig übergangslos schwenkte sie von ihrem Karat-Vortrag um, warf ihre langen schwarz schimmernden Haare zurück, auf denen sich stets jedes Licht zu reflektieren schien, und fuhr fort: »Gleichzeitig weiß niemand außer uns, was wir hier tun, und gewiss ist keine der beteiligten Personen so dumm, dass sie riskiert, dass wir auffliegen – deshalb gibt es Regeln!« Sie schaute in die Runde und musterte alle mit ihrem durchdringenden Blick. In ihren tiefschwarzen Augen blitzte etwas auf, und es sah ein wenig bedrohlich aus.

Sie war auf dieser Insel aufgewachsen, auf der es für die Kinder in den Bergdörfern vollkommen normal war, mit einer Waffe zu hantieren, und obwohl er sie mehrfach gebeten hatte, keine schussfähige Pistole in seinen Haushalt zu bringen, hatte sie eine davon in einer mit Samt ausgelegten Kiste im Kleiderschrank liegen. »Ich bin als Juwelierin mit einem Waffenbesitzschein autorisiert. Das ist keine illegale Knarre«, hatte sie mit diesem Tonfall, den er so hasste, gesagt, und er hatte damit ganz offensichtlich sein Recht verwirkt, das Ding nicht in seinen vier Wänden haben zu wollen.

Ob sie die Waffe sogar mit auf ihre Mission genommen hatte? Sie waren mit dem Auto auf die Fähre gefahren, nicht geflogen, und da wurde man nicht durchleuchtet. Er traute es ihr zu. Gewiss würde ihr Argument so lauten: Du weißt doch genau, dass es tückisch ist, was wir vorhaben. Und Menschen und ihre Begierden … das birgt einfach zu viele Gefahren. Ich bin lieber vorbereitet, als am Ende dumm aus der Wäsche zu schauen.

Wie immer war ein Fünkchen Wahrheit an dem, was sie sagte – wahrscheinlich war es auch genau das, was ihn so provozierte: Sie hatte zu oft recht! Und wie würde sie wohl reagieren, wüsste sie, was er getan hatte?

Er wollte es am besten nie erfahren …

Easy-going-Phase

8. Kapitel

»Und du bist dir vollkommen sicher, dass du es so … ähm … farblos haben möchtest?« Penelope schaute ihre Freundin mit zur Seite geneigtem Kopf an. Ihre eigene Wohnung war bunt und fröhlich eingerichtet: Pink und Türkis herrschten vor, gepaart mit Sonnengelb, Orange, Rot und Blau, und sogar in Hyeronimos’ penibel eingerichtetem Reich gab es neben dem sandfarbenen Zeug wenigstens noch Blau in allen Varianten. Doch Elenis Vorstellung bestand aus Weiß und Schwarz. Das höchste der Gefühle war eine Abstufung in Grautönen.

»Vollkommen. Klare Linien. Keine Schnörkel und alles total clean. Für das Bunte bist du bei uns zuständig!«, bekräftigte Eleni ihre Wahl.