Gefährliches Kreta - Nikola Vertidi - E-Book
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Gefährliches Kreta E-Book

Nikola Vertidi

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Beschreibung

Der verschrobene Kommissar Hyeronimos Galavakis ermittelt in seinem dritten Fall mit deutscher Gründlichkeit und kretischem »Siga-Siga« Ein Griechenland-Krimi zum Wegträumen und eine Reise zu den schönsten Stränden Kretas und in die urigsten kretischen Tavernen! Die Saison ist zu Ende und die Insel versinkt im Winterschlaf, bis ein grausiger Fund die Kreter aufschreckt: Der beliebte Sänger Callistus Ariakis wird tot im Hafenbecken von Chania angeschwemmt. Kommissar Galavakis wird gebeten den Fall in der Nachbarpräfektur aufzuklären. Kurze Zeit später erschüttern zwei weitere entsetzliche Funde Heraklion und fordern den skurrilen Ermittler. Ein schmähliches Ringen um Geld und verletzte Gefühle nimmt seinen Lauf...

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Triggerwarnung: Dieser Roman behandelt explizit das Thema Angststörung.

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Intro

Personen

Die 1. Strophe

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Die Bridge

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Die 2. Strophe

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Der Refrain

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

Refrain

94. Kapitel

95. Kapitel

96. Kapitel

97. Kapitel

98. Kapitel

99. Kapitel

100. Kapitel

101. Kapitel

102. Kapitel

103. Kapitel

104. Kapitel

105. Kapitel

106. Kapitel

107. Kapitel

108. Kapitel

109. Kapitel

110. Kapitel

111. Kapitel

112. Kapitel

113. Kapitel

114. Kapitel

115. Kapitel

116. Kapitel

117. Kapitel

118. Kapitel

119. Kapitel

120. Kapitel

Das Outro

121. Kapitel

Epilog

Nachwort

Kretische Rezepte – für 4 Personen

Titikas Dolmadakia mit Zitronensoße

Titikas Moussaka

Titikas Melomakarona (ergibt ca. 20 Gebäckstücke)

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Intro

Herz in der Strömung

Jede Welle bringt KraftBirgt große LeidenschaftWir sind umgebenVom LebenSpürst du es auch?

Die Farbe des Himmels ändert die Farbe des MeeresÄndert sich auch deine Liebe?

Wir gehören zusammenWie der Strömung Fluss und die Gischt auf den WogenUnsere Herzen schlagen im GleichklangNie haben sie uns je belogen

Der Ozean ist immer konstantAuch wenn er sich mal gegen uns hat gewandtAm Ende ist er wieder spiegelglattZeigt, welche Bedeutung unsere Liebe hatSie ist für immer

Die Farbe des Himmels ändert die Farbe des MeeresÄndert sich auch deine Liebe?

Wir gehören zusammenWie der Strömung Fluss und die Gischt auf den WogenUnsere Herzen schlagen im GleichklangNie haben sie uns je belogen

Die Farbe des Himmels ändert die Farbe des MeeresÄndert sich auch deine Liebe?

Ich gehöre für immer zu dirIch gehöre für immer zu dir

Callistus Ariakis

Personen

Hyeronimos Galavakis – Kriminalkommissar

Penelope Demostaki – leitende Pathologin der Insel

Athina Galavaki – Galavakis’ Mutter

Anatolis Galavakis – Galavakis’ Vater

Ekaterini, genannt Titika – Galavakis’ Yaya (Großmutter)

Kassia – die Frau, die Hyeronimos liebt

Stelios Mentakis – sein Chef

Zacharis Zentakis – sein Mitarbeiter

Christos Papadakis – sein Kollege

Maria – Stelios Mentakis’ Assistentin

Eleni Pentulaki – Influencerin, T-Shirt-Designerin

Familie Ariakis

Callistus Ariakis – Sänger mit Weltruhm

Zenia (Mathoudaki) Ariaki – seine Frau und Pressesprecherin

Athanasia Ariaki – seine Schwester und verantwortlich für Bühnenoutfits und Maske

Silenus Ariakis – sein Bruder und Manager

Familie Sklaventakis

Sofia Sklaventaki – Mutter

Nereos Sklaventakis – Sohn

Evangelina Sklaventaki – Tochter

Teris Sklaventakis – Evangelinas Sohn

Familie Kapetanakis

Stephanos Kapetanakis – Vater

Myron Kapetanakis – Sohn

Katherina Kapetanaki, geb. Drakiaki – Mutter

Etna – Vorzimmerdrache

Weitere Personen

Arion – Bodyguard der Ariakis’

Koula – Christos Papadakis’ Frau

Giannis – Restaurantbesitzer aus Chania

Manos – aus dem Restaurant Thigaterra in Ammoudara

Chrysoula Strompouli – Evangelinas Lehrerin

Und noch viele mehr …

Die 1. Strophe

Prolog

Niemand bleibt heil, egal, was das Leben für ihn bereithält. Es spielt einfach keine Rolle, ob man reich ist, Ruhm erntet, in einer Villa am Meer lebt oder arm ist, die Straße fegt und in einer Steinhütte in den Bergen haust. Das Leben ist einfach so, es hat die Macht, zu erschaffen und zu zerbrechen. All die Liebeslieder, mit denen der Planet überschwemmt wird, wollen den Menschen weismachen, dass es möglich ist, einmaliges Glück, vollkommene Erfüllung und tiefe Verbundenheit zu erleben. Wie hoch der Preis jedoch tatsächlich ist und wie viel Hass dadurch entstehen kann, das bleibt häufig unerwähnt. Nur in den traurigen, von der Lyra begleiteten Gesängen in den kleinen Tavernen hoch oben in den Bergen kommen sie zu Wort. Jedoch ist es etwas völlig anderes, eine Melodie nur mitzusingen oder ein Teil des Liedes aus Eifersucht, Wut und Zerstörung zu sein.

Das Haar des Mannes schwamm, einem Schleier gleich, auf dem Wasser. Eine der aufgeweichten Brotscheiben, mit denen manche die Fische im Hafenbecken fütterten, hatte sich darin verfangen, und sein aufgeblähter Körper schlug immer wieder leicht gegen die Kaimauer. Der Abend war kalt, trüb, regnerisch und die Promenade menschenleer. Vielleicht würde das Meer ihn wieder mitnehmen, denn es hatte ihn schon einige Tage umfangen, bevor Strömung und Wellen ihn hierher gebracht hatten. Die Nacht würde es zeigen.

1. Kapitel

Der Himmel war grau, und als er nach draußen schaute, hatte er das Gefühl, genau zu wissen, was mit der Redewendung »es gießt wie aus Kübeln« gemeint war. Die Stühle auf der Terrasse schimmerten feucht im Regen, und der böige Wind zerrte an der Schutzplane über den Lounge-Möbeln. Der Sommer war unwiderruflich zu Ende, und selten hatte das Wetter das so deutlich unterstrichen. Es regnete schon seit fast einer Woche, und die Temperaturen waren nahe dem einstelligen Bereich. Er mochte diese Jahreszeit nicht, Sonne war sein Elixier, und er brauchte sie gerade mehr denn je.

Er hörte, wie sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, und er war sich sicher, dass sie vorwurfsvoll aufging. Er unterband ein Seufzen. Hatte er es denn nicht verdient, glücklich zu sein? Er wusste, dass er dazu neigte, unfair zu werden, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte, doch er war es leid, Rücksicht zu nehmen und auf sein Glück zu verzichten, nur damit sein Bruder seinen Status behalten konnte, seine Schwester sich nie um ihren eigenen Kram kümmern musste und Zenia sich an etwas festklammerte, was es schon sehr lange nicht mehr gab. Oder vielleicht sogar einzig in ihrer Fantasie gegeben hatte.

»Du meinst es wirklich ernst«, sagte sie, und er hörte die Verbitterung in ihrer Stimme, »wann wolltest du mir sagen, dass du ausziehst?«

»Zenia«, er drehte sich nicht um, hielt den Blick auf das regengraue Meer gerichtet, das er über einen kleinen Zugang hinter der weitläufigen Grünanlage seines Anwesens direkt erreichen konnte. »Ich habe dir gesagt, dass ich nicht mehr hierbleiben werde, und ich weiß nicht, was daran unverständlich formuliert war.«

»Warum tust du das?« Sie wurde lauter und ihr Tonfall schriller. »Warum wirfst du unser Leben, mich, weg wie einen alten Lappen, den du nicht mehr brauchst?«

»Es ist dieselbe Antwort wie gestern, vorgestern und an all den Tagen davor.« Es war ihm bewusst, wie beißend er klang. »Unser Leben macht mich krank. Unser Leben ist eine einzige Publicity-Lüge, und das weißt du ebenso gut wie ich.«

»Dreißig Jahre Lüge also? Wo wärst du heute ohne mich? Du würdest in einem Loch hausen und würdest, ja, was würdest du eigentlich tun? Nichts wahrscheinlich, denn ich wüsste nichts, was du könntest.« Nun war es an ihr auszuteilen.

Es war immer dasselbe Muster. Er wollte nicht mehr streiten, er wollte nur fort von hier, und er würde liebend gern in einem Loch hausen, wenn dort jemand auf ihn wartete, für den er ein Mensch war und nicht eine Geldmaschine oder eine Fahrkarte zum Erfolg. All das war er leid. Drei Jahrzehnte konnten rasch vergehen, waren aber eine unendlich lange Zeit, wenn man sie in einem Käfig verbrachte. Egal, wie golden dieser war, ein Käfig blieb ein Käfig. Die Tür hatte sich für ihn geöffnet, als die flammende Liebe in sein Leben getreten war, und nun wollte er diese Chance nutzen und hinausfliegen in ein wundervolles, glückliches Leben.

»Zenia«, setzte er an, doch sie unterbrach ihn rüde.

»Spar dir alles, was du sagen willst, denn ich bin es nicht wert, Respekt von dir zu erhalten. Du ersetzt mich, tauschst mich aus und glaubst allen Ernstes, dass du einfach so ein neues Leben anfangen kannst. Du nimmst mich überallhin mit, Callistu. Vergiss niemals, wer dich gemacht hat – und dass du gar nicht weißt, wer du ohne mich bist. Ich kann es dir sagen, denn ich weiß es: ein Nichts! Und das wirst du rasch merken und dein Flittchen auch.«

Er begann mit dem Unterkiefer zu mahlen, es war schwer für ihn, sich nicht umzudrehen und ihr deutlich zu machen, dass er derjenige mit dem Talent war, egal, wie sehr sie darauf bestand, ihn gefördert zu haben und ganz allein für seine Karriere verantwortlich zu sein. So, als hätte sie auch eine Ziege aus dem Garten ihres Vaters nehmen und auf die Bühnen dieser Welt stellen können. Ganz so einfach war es jedoch nicht, denn es war seine Stimme. Sie gehörte ihm, und sie war sein Kapital.

Er konnte hören, dass sie näher kam. Wenn er schwieg, wurde sie rasch noch angriffslustiger, aber er wollte einfach nicht mehr immer wieder dieselben Argumente, Beschwörungen, Beleidigungen und Verletzungen ertragen. So hatten sie ihn all die Jahre stillgehalten. Silenus und sie. Sein Bruder war keinen Deut besser als seine zukünftige Ex-Frau. Auch er bestand darauf, dass sich an seinem Leben nie mehr etwas ändern durfte, und dass er, Callistu, drauf und dran war, ein Imperium in Schutt und Asche zu legen, nur weil er dran glaubte, dass es hier um Liebe ging.

»Die Schlampe will nur dein Geld«, war noch eine der nettesten Beschimpfungen gewesen, ganz unabhängig von der Tatsache, dass sein Bruder ihm die Fähigkeit absprach, ein Groupie von einer liebenden Frau zu unterscheiden.

Die zwei hatten eine Welt um ihn herum gebaut, die ihm die Möglichkeit nehmen sollte, jemals daraus zu entfliehen. Er wusste, dass es im Interesse seiner Familie war, wenn er diesen Kokon nicht aufbrach oder gar verließ, doch die Zeit war reif. Er wusste genau, dass das Schicksal dieses wunderbare Wesen geschickt hatte, um ihn zu retten. Er war bereit dazu, ganz egal, was Zenia sagen oder tun würde.

Langsam wandte er den Blick von dem grauen Novemberhimmel, drehte sich um und erschrak.

2. Kapitel

»Denkst du, es wird den ganzen Winter über so nass und kalt sein?« Penelope klapperte theatralisch mit den Zähnen, während sie ihm einen Becher Kaffee reichte.

»Titika hat gesagt, dass so ein Regen im Dezember darauf hindeutet, dass es bis Ostern so bleibt.« Hyeronimos spürte, dass ihm bei dieser Erläuterung ein Schauer über den Rücken lief. Er war für regnerisch kaltes Wetter einfach nicht gemacht. Das war einer der Gründe gewesen, die ihn dazu gebracht hatten, Deutschland für immer zu verlassen.

»Und deine Großmutter weiß, was sie sagt«, die Rechtsmedizinerin seufzte, »denn schließlich ist sie fast hundert Jahre alt.«

Hyeronimos nickte bestätigend, trank einen Schluck des heißen Gebräus und reichte Penelope ein cremiges Törtchen mit Schokoladensplittern obendrauf, während er seines mit einer Gabel in mundgerechte Stücke zerteilte.

»Was ist los mit dir?«, fragte seine beste Freundin, und ihre Stimme klang jetzt leicht beunruhigt.

»Titika hat auch gesagt, dass dieses Wetter Unglück mit sich bringt.«

»Aberglaube oder Wahrheit?«, fragte sie, und er spürte ihren aufmerksamen Blick.

»Du kennst mich gut. Ich habe tatsächlich überprüft, ob die regnerischen Winter mehr Unheil bringen, und siehe da, meine Yaya hat recht. Wenn es zu lange kalt und grau wird, ist das nicht gut für uns. Wir werden depressiver oder angriffslustiger, je nach Persönlichkeit«, erklärte er und schob sich eine Gabel voll Kuchen in den Mund.

»Köstlich, nicht wahr?«, fragte Penelope kauend. »Also gibt es mehr Selbstmorde und Übergriffe, richtig?«, fasst sie das Gehörte zusammen.

Er nickte bestätigend.

»Dann haben wir zumindest was zu tun«, unkte sie, »und ich weiß, dass das makaber klingt.«

»Es geht mir ähnlich«, gab er zu, »wenn ich zu lange in diesem Büro sitze, werden meine Eigenheiten stärker, und ich brauche dann wirklich viel Energie, um sie im Zaum zu halten.«

Sie hob ihren Blick und sah ihn fragend an.

»Es ist okay, Penelope, ich komme zurecht.«

»Ich bin für dich da«, sagte sie, und er wusste, dass es ihr ernst war.

Im Job waren sie voneinander abhängig, denn ohne Penelopes Hilfe war es für ihn, den Kommissar der Mordkommission, kaum möglich, ein Verbrechen aufzuklären. Das hatte sie schon oft unter Beweis gestellt, und nachdem sie im Frühjahr einen spektakulären Mehrfachmord gemeinsam aufgeklärt hatten, hatte sich herausgestellt, dass sie auch als Ermittlungsteam wirklich gut funktionierten. Gleichzeitig brauchte sie als leitende Pathologin der Insel auch ihn, um dem Einerlei klinischer Obduktionen entfliehen zu können. Sie waren echte Freunde geworden und unterstützten einander, wo immer es möglich war, gleichzeitig waren sie beide auf ihre Art auch besonders. Hyeronimos war als Kriti in Deutschland großgeworden, das hatte ihn in Bezug auf seine Gründlichkeit geprägt, auch ganz besonders, da er im schwäbischen Tübingen aufgewachsen war, das ihn in Bezug auf Ordnungsliebe, Fleiß und die Fähigkeit, sich in ein Problem zu verbeißen, geformt hatte. In der Kombination mit dem kretischen Credo »Siga-siga« – was so viel wie »immer langsam, immer mit der Ruhe« bedeutete –, war dies ein Verhaltensmix, der ihn zu einem außergewöhnlichen Ermittler geformt hatte.

Penelope war auf der Insel aufgewachsen, hatte sich dann aber von den Fesseln der Tradition befreien müssen, um sich selbst treu zu bleiben. Lange hatte sie auf dem Festland gearbeitet, doch ihre Art zu leben und zu lieben hatte ihr auch dort Stöcke zwischen die Füße geworfen, und sie war über eine Beziehung gestolpert und danach wieder auf der Insel gelandet. Ihre humorvoll sarkastische Art und ihre ehrliche Offenheit hatten dafür gesorgt, dass Hyeronimos ihr vertraute, und das wiederum hatte auch ihr Vertrauen in ihn wachsen lassen. Obwohl er sich sein ganzes Leben lang schwergetan hatte, Freundschaften zu schließen, und ein Einzelgänger gewesen war, verband ihn mit der Pathologin etwas Außergewöhnliches.

»Hast du in letzter Zeit etwas von Eleni gehört?«, wechselte er das Thema. Die junge Bloggerin und Influencerin war ihnen beiden sehr ans Herz gewachsen.

»Wir haben gerade gestern geskypt«, sagte Penelope lächelnd, »sie hat wirklich einiges bewegt in diesem Jahr, und es läuft gut mit der T-Shirt-Kollektion, aber auch mit ihrem Blog. Sie hat viel Aufmerksamkeit bekommen und nutzt das außerordentlich sinnvoll.«

»Du klingst stolz«, bemerkte Hyeronimos und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Wie eine Mutter!« Er wusste, dass das etwas provokativ war, denn das, was sich zwischen den beiden Frauen entwickelt hatte, war weit entfernt von einem Mutter-Tochter-Verhältnis. Doch wer war er, dass er über andere urteilen durfte. Er saß mit seiner Beziehung schließlich auch im Glashaus, und dann warf man nicht mit Steinen. Doch so intensiv seine Verbindung zu Penelope auch war, er bewahrte dieses Geheimnis für sich.

»Iiiiih!«, reagierte sie auch sogleich, »das klingt furchtbar. Klar bin ich stolz auf sie. Sie ist mutig und geht ihren Weg. Eleni ist ein echtes Vorbild für all die jungen Frauen, die etwas aus ihrem Leben machen und dem Patriarchat den Rücken kehren wollen.«

»Hört, hört!«, er war ganz ihrer Meinung, und doch zog er sie gern etwas auf, denn sie hatte ihn gelehrt, Scherze nicht nur zu verstehen, sondern auch zu machen. Es gelang ihm nicht leicht, doch er gab sich redlich Mühe. Normal zu erscheinen war recht anstrengend, denn man musste intensiv an sich arbeiten, und bei dieser Tätigkeit hatte man quasi nie frei.

»Du hast vollkommen recht«, er nahm einen weiteren Bissen Kuchen, »sie ist ein Vorbild, und sie ist wirklich clever und tough, aber sie kommt nicht zurück, oder?«

»Nein«, seufzte Penelope, »das ist wohl der Tribut, den man dem Ruhm zollt. Sie bleibt erst einmal weiter in Athen, und dann macht sie tatsächlich eine kleine Europatour. Sie soll die Kollektion in Mailand, Berlin und Paris präsentieren, und sie will sich dort auch für die LGBTQ-Szene einsetzen.«

Hyeronimos nickte erstaunt und kaute zufrieden, er hatte nicht gewusst, dass es so gut für das Mädchen aus Chania lief, und er gönnte es ihr von Herzen. Ihr Knochenfund in der Samaria-Schlucht vor einem Jahr hatte sie zusammengebracht und ihr tatsächlich einen Karriere-Push verschafft.

»Ich habe schon überlegt, mit ihr zu kommen, doch eine alternde Begleiterin ist wahrscheinlich eher hinderlich. Also bleibe ich hier bei dir.« Sie grinste schief.

»Klingt eigentlich mehr nach Beleidigung als nach einem Kompliment.« Er zwinkerte ihr verstehend zu.

Es klopfte leise an die Tür, und kurz darauf streckte Giorgia, Penelopes Sektionsassistentin, den Kopf durch den Spalt: »Wir bekommen Besuch.« Sie deutete mit dem Zeigefinger nach oben. Es kam also ein ungeklärter Todesfall aus dem Klinikum, in dessen Kellergeschoss sich das rechtsmedizinische Institut befand, zur Klärung zu ihnen.

Er konnte sehen, wie Penelopes Augen zu leuchten begannen. Sie war mit Leib und Seele Pathologin, und daher hatte man ihr die Leitung für die Insel übertragen. Doch auf eine gewisse Art war es auch eine Bestrafung, denn es gab wirklich nicht viel zu tun auf Kreta. Das Eiland zählte rund 625.000 Einwohner, da war es nicht an der Tagesordnung, komplizierte Todesfälle zu sichten, und auch die Patienten aus dem Krankenhaus, die starben und obduziert werden mussten, hielten sich im Rahmen. Man konnte deshalb manchmal wirklich in Langeweile vergehen. Daher war es eine Art Segen für sie, dass sie die Möglichkeit bekommen hatte, den Kommissar immer wieder bei seinen Ermittlungen zu unterstützen. Ihre Behörde unterstand in gewisser Weise der Polizei, und doch arbeitete sie eigenverantwortlich und konnte sich daher als Chefin die Freiheit nehmen, mit ihm rauszufahren. Das half ungemein gegen das dröge Abarbeiten von Papierkram im Büro, das ihr regelmäßig ein Gräuel war.

Hyeronimos ging es auch oft so, und allzu viel Büroarbeit gab es nicht, sodass man in ruhigen Zeiten täglich acht Stunden zu tun hatte. Stelios Mentakis, sein Chef, war zudem ein großer Penelope-Fan, auch wenn er nie bei ihr landen würde, und unterstützte die Zusammenarbeit zwischen den beiden Behörden nur allzu gern.

»Nun hau schon ab«, scheuchte er sie davon, »ich räume hier rasch auf, und dann gehe ich schwimmen.«

»Du spinnst, Galavaki«, sagte sie munter, während sie schon halb auf dem Flur stand, »dir ist hoffentlich nicht entgangen, dass es saukalt ist und regnet.«

»Nass werde ich eh«, gab er zurück, »und ich bin eben kein Weichei, das nur im Sommer ins Wasser geht.«

»Ja, und ich weiß, dass du deshalb auch quasi nie eine Erkältung bekommst und so ein stahlharter Bursche bist.« Sie winkte ihm mit breitem Grinsen zu, warf sich ihren weißen Kittel über und verschwand in Richtung Sektionssaal.

Bevor er Penelope gekannt hatte, hätte eine solche Aussage ihn zutiefst getroffen, und er hätte sich vollkommen in sich zurückgezogen, doch nun konnte er den frechen Kommentar grinsend abtun. Er schnappte sich die Überreste des Nachmittagssnacks, packte sie in den kleinen Kühlschrank und räumte die Tassen in die schmale Spülmaschine.

Gerade als er seine Jacke überzog, klingelte sein Handy, und überrascht stellte er fest, dass seine Mutter am Apparat war. Einen Augenblick zögerte er, dann nahm er das Gespräch an.

3. Kapitel

Sie schaute hinab auf den Säugling, der sich an sie schmiegte und sich an ihrer Brust labte. Eben hatte er noch mit zittrigen, fahrigen Bewegungen gekräht, und nun lag er still und zufrieden in ihren Armen. Er war perfekt. Seine fein geschwungenen Lippen umschlossen ihre Brustwarze, saugten gleichmäßig, und sein gieriges Schlucken ließ sie lächeln. Dieses Kind der Liebe war ein wundervolles Geschenk, und es krönte die Verbindung zwischen ihr und dem Mann, der seit fast vier Jahren ihr Ein und Alles war. Nichts würde ihr ebendieses Glück rauben, denn sie waren eine Familie. Er hatte es endlich geschafft, ein Haus zu finden, das er als passend empfand, und in Kürze würden sie dort gemeinsam leben und ihren Sohn großziehen. Sicher würde mindestens ein weiteres Kind dazukommen, denn sie wollte eine richtige Familie haben. Lange Zeit hatte sie befürchtet, dass das mit ihm nicht funktionieren würde, doch er hatte seinen Worten Taten folgen lassen, und bald schon würde er seinem jetzigen Leben den Rücken kehren.

Sie streichelte sanft über die Wange des kleinen Kerls und bewunderte sein Öhrchen. Wie konnte es sein, dass ein Wesen so perfekt war? Niemals hatte sie eine Vorstellung davon gehabt, dass man jemanden so lieben konnte – und das, obwohl sie schon seinen Vater so liebte, wie es sonst nur in Seifenopern und schnulzigen Liebesfilmen vorkam. Das hier war etwas komplett anderes. Er war in ihr entstanden und gewachsen, sie würde alles für ihn tun. Nun, das war die Aufgabe einer Mutter. Ihre Gedanken glitten ab zu ihrer eigenen, sicher war deren Reaktion auf ihre Beziehung und die Schwangerschaft nur einer Art Schutzmechanismus zu verdanken gewesen, doch sie hätte niemals mit solch harscher Ablehnung gerechnet. Ihre Mutter war vollkommen ausgeflippt, als sie ihr ihren Zustand voller Glückseligkeit gestanden hatte, es war so etwas wie der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Alle hatten sich gegen sie gewandt, und ihr Bruder hatte ihr sogar nahegelegt, das Kind abtreiben zu lassen. Nereos schämte sich für seine Schwester, und er warf ihr Egoismus vor und dass sie seiner politischen Karriere durch ihren liederlichen Lebenswandel Schaden zufügte.

»Wir leben im 21. Jahrhundert«, hatte sie fassungslos entgegnet und Hilfe suchend zu ihrer Mutter geblickt, doch Sofia hatte den Blick abgewandt und ihr so verdeutlicht, dass sie Nereos’ Ansinnen unterstützte. So, wie sie es immer tat. Ihr Sohn war ein aufstrebender Politiker, und das würde der Familie Macht und Einfluss verleihen. Das wollte Sofia mit aller Kraft, und die uneheliche Schwangerschaft ihrer Tochter stand ihrem konservativen Bestreben ganz klar im Weg.

»Wir leben auf einer Insel, auf der Werte noch zählen«, hatte der Bruder mit erhobenem Zeigefinger doziert.

»Verschone mich mit deinen politischen Parolen«, hatte sie genervt entgegnet, »das ist ein Lebewesen, und ich töte keinen Menschen. Das gehört nämlich auch zu den fundamentalen Werten unserer Gesellschaft.«

Sie hatte sich aufgerichtet, ihrem Bruder in die Augen gestarrt und gewartet. Er hatte seine Arme gehoben und wie früher geschrien: »Du machst alles kaputt!«

Dann war er Türen knallend aus dem Haus gerauscht.

Sofia hatte sich umgedreht, ihr Blick eiskalt und bohrend: »Wenn er dich nicht heiratet, gibst du das Kind zur Adoption frei!«

Dann war auch sie aus dem Raum gestürmt.

Das hämische Wenn er dich nicht heiratet, hatte in ihrem Kopf widergehallt wie ein dunkles Unheil bringendes Echo. Er würde sie heiraten, aber ganz sicher nicht, bevor das Kind zur Welt kam, das war ihr vollkommen bewusst gewesen. Er brauchte noch etwas Zeit. Doch sie würde ihr Baby beschützen und alles tun, damit es ein wundervolles und glückliches Leben bekam und sie bald eine richtige Familie sein konnten.

Während sie die flatternden, fast durchsichtig erscheinenden Lider ihres Kleinen betrachtete, machte sie sich wie schon oft Gedanken darüber, warum sie nicht einfach ihre Sachen gepackt und sich eine Wohnung in der Stadt gesucht hatte. Ihr Freund hätte das ohne Probleme finanziert. Doch irgendwie hatte sie es nicht über sich gebracht, ihrer Familie vollends den Rücken zu kehren, obwohl das selbst in ihren Ohren vollkommen unverständlich klang. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nicht allein sein wollen mit diesem Leben, das da in ihr heranwuchs, denn er hatte noch nicht oft genug bei ihr sein können. Jetzt war das gemeinsame Heim zum Greifen nah, und Mutter und Bruder hatten sie in den Tagen nach der Geburt tatsächlich in Ruhe gelassen.

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, und ein wohliges Glücksgefühl schwappte wie eine Welle durch ihren Körper. »Teris«, flüsterte sie, und der Kleine rekelte sich behaglich in ihrem Arm.

Er war ein Wunder, ein Geschenk Gottes an sie. Er nuckelte nur noch reflexartig, und sie löste seinen Mund sanft mit einem Finger von ihrer Brust, ohne ihn dabei zu wecken. Dem Lehrbuch zufolge müsste er nun aufstoßen und dabei überflüssige Luft herauslassen, doch sie wollte ihm nicht den Schlaf rauben, und auch sie brauchte dringend Ruhe, denn der kleine Mensch musste seinen Rhythmus wohl erst noch finden. Vorsichtig erhob sie sich, trat ins Nebenzimmer und bettete ihn in seiner Wiege zum Schlafen. Ein Milchfaden lief aus seinem Mundwinkel, und er schlummerte selig schmatzend, während sie wieder zum Sofa ging und sich seufzend darauf niederließ. Kurze Zeit später war auch sie eingeschlafen.

4. Kapitel

Athanasia beugte sich über das schwarze Hemd mit den Troddeln an den Ärmeln und setzte einige Stiche, um es auf Maß zu bringen. Wie immer, wenn sie konzentriert arbeitete, kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Dieses Bühnenoutfit würde der Hammer werden: Der leichte, fast seidige Stoff absorbierte Schweiß und sorgte dafür, dass es dem Träger so nicht auf der schwitzigen Haut klebte. Es zeigte an den richtigen Stellen die Körperformen – ihr Bruder hatte schließlich kein Gramm zu viel auf den Rippen und einen durchtrainierten Körper – und war dennoch so bequem, dass es genügend Bewegungsfreiheit bot. Die schmale Bundhose war, genau wie das Hemd, den traditionellen Trachten nachempfunden und endete kurz unter dem Knie mit einem wolligen Bündchen. Callistus trug weiche, schwarze Lederstiefel dazu und als Hommage an die Insel einen leuchtend blauen Gürtel. Hemd und Hose stammten aus ihrer Schneiderei, seine Gürtel ließ er mittlerweile von einem Designer in Athen herstellen. Sie waren zu einer Art Markenzeichen für den gefeierten Star geworden, und seine Fans zahlten bereitwillig viel Geld dafür. Alles, was Callistus tat, brachte Geld ein, und das war gut so, da er so ihrer aller Leben finanzierte. Doch schon seit langer Zeit nagte es an ihr, dass sie für ihn nicht mehr als eine bessere Garderobiere zu sein schien, denn genau so kam sie sich mittlerweile vor. Nicht wie eine Künstlerin, die die Bühnenoutfits eines Stars entwarf und fertigte, sondern wie jemand, der ihm lästig war und der hinter ihm aufzuräumen hatte, wenn er sich in den Pausen eilig umzog. Er hatte sich verändert und sprach davon, sich zur Ruhe zu setzen. Was für eine Schnapsidee!

Er füllte schließlich Stadien, und die Menschen kamen Tausende von Kilometern angereist, um ihn zu sehen. Wie konnte er es nur in Erwägung ziehen, keine Konzerte mehr zu geben? Einerseits wäre es eine Chance, nach so vielen Jahren in seinem Schatten frei zu sein und sich entfalten zu können, und andererseits war sie starr vor Angst, wenn sie daran dachte, ihn als Einnahmequelle zu verlieren. Sie hatte kein Händchen für Geld und nichts auf der hohen Kante. Erschwerend kam noch hinzu, dass sie ein Faible für teuren Alkohol entwickelt hatte und ohne mit der Wimper zu zucken einen Tausender für eine Flasche Whisky hinblätterte. Es wäre also keineswegs verwunderlich, wenn sie ohne Callistus bald arm wie eine Kirchenmaus war. Er musste zur Vernunft gebracht werden, doch das war nicht allein ihre Aufgabe. Zenia und Silenus mussten das Ihrige dazu beitragen.

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, als sich die Tür öffnete und Silenus hereinstapfte. Er blickte sauertöpfisch drein, wie immer, und all seine Versuche, dem attraktiven Callistus nachzueifern, misslangen. Er war nicht konsequent genug beim Sport, aß und trank zu viel, und sein langes Haar begann schütter zu werden.

»Was wird das?«, schnauzte er. »Was sollen diese verdammten Bommeln an dem Hemd?«

»Das geht dich gar nichts an. Das ist meine Arbeit.« Athanasia hasste es, wenn er sich überall einmischte und davon überzeugt war, dass er das als Manager auch durfte.

Prompt reagierte er: »Ich muss über alles informiert sein, und das weißt du ganz genau. Warum muss ich dir das beinahe täglich sagen?«

»Silenu, lass mich einfach in Ruhe. Musst du nicht irgendein Interview oder ein Shooting organisieren oder eine der Tänzerinnen für das neue Video flachlegen?«, schoss sie giftsprühend zurück.

»Halt einfach die Klappe, Atha. Du musst nicht neidisch sein, nur weil dich keiner flachlegen will.« Er wusste, wie er sie treffen konnte.

Wann hatten sie nur begonnen, so miteinander umzugehen? Verdarb der Ruhm wirklich den Charakter, oder war es die Sorge um ihr gewohntes Leben, die sie alle ausflippen ließ?

»Du musst ihn davon abbringen«, sagte sie nun bewusst ruhiger, »er darf uns nicht einfach ablegen wie ein altes Hemd. Wir haben ihm mehr als zwei Jahrzehnte zur Seite gestanden, er kann nicht so egoistisch sein.«

Sie sah ihn tief einatmen, bevor er den Mund öffnete: »Giorgos Lanthimos hat angerufen.«

Sie schlug sich überrascht die Hand vor den Mund: »O mein Gott! Will er den Film etwa machen?«

Er nickte, und seine Gesichtsfarbe wurde noch dunkler: »Er schon …«

»Das ist nicht dein Ernst. Hat Callistus wirklich Nein gesagt, oder zickt er nur ein wenig herum, um zu zeigen, wer der größere Star ist?«, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue. Sie war es so leid, von diesen beiden Dummköpfen abhängig zu sein, aber sie hatte sich in eine Falle manövriert und zappelte nun wie ein dummes Insekt in einem klebrigen Spinnennetz um ihr Leben.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, um ihm zu verdeutlichen, dass ein Film mit einem so begabten Filmemacher den Zenit seiner Karriere bedeutet, und wenn er unbedingt abtreten will, dann eben nach dem Film. Er macht mich so wütend«, gab er schnaubend zu.

»Ja, das kann er wirklich hervorragend.« Athanasia wusste, wovon sie sprach.

Callistus konnte bei ihnen allen auf den richtigen Knopf drücken, und er genoss es anscheinend, sogar wenn sie sich am Ende wie tollwütige Hunde aufführten. Nicht selten klatschte er sogar mit spöttischem Gesichtsausdruck Beifall, wenn sie einander fast an die Kehle gingen.

Als Kind war er ihr Lieblingsbruder gewesen. Sie war das mittlere Kind, und der zarte Callistus konnte sich ihrer immer sicher sein. Sie beschützte ihn vor Gemeinheiten, half ihm, wo immer es nötig war. Dann begann er traurige Weisen mit der Lyra zu singen und wurde im Dorf so ein gern gesehener Gast bei jeder Feierlichkeit. Einige Jahre später trat Zenia in sein Leben. Sie kam aus gutem Hause, hatte Geld, und noch wichtiger: Einfluss. Sie war es, die ihn entdeckt hatte, darauf bestand sie grundsätzlich, sie kannte die richtigen Leute, und durch ihre Kontakte nahm seine Karriere Fahrt auf. Ihr war es tatsächlich zu verdanken gewesen, dass das Talent des jungen Mannes über die Dorf- und dann sogar über die Insel- und die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde. Zenia war eine wundervolle, großherzige Frau. Noch dazu war sie bildschön. Sie hatte nicht verdient, was ihr Mann ihr antat, und würde durch sein idiotisches Handeln nicht nur ihren Lebenspartner, sondern auch ihren Lebensstil verlieren.

Sie saßen alle im selben Boot, und Callistus hatte nun ganz allein beschlossen, dass es an der Zeit war, es untergehen zu lassen. Er ging entspannt von Bord und ließ sie ersaufen. Wenn er sich da mal nicht täuschte. Athanasia verscheuchte die Gedanken, wandte sich wieder dem Bühnenkostüm zu, und Silenus setzte sich auf den Hocker neben ihrem Arbeitstisch. »Was sollen wir tun, Atha? Wir müssen einen Plan B haben für den Fall, dass er das wirklich durchzieht. Ich hätte diesem Flittchen schon vor Jahren Geld bieten sollen.«

»Oder ihr den Hals umdrehen«, ergänzte sie sarkastisch.

Er hob provokativ den Blick. »Was für eine kreative Idee, Schwesterherz!«

»Immer zu Diensten«, gab sie schnippisch zurück, »aber jetzt brauche ich meine Ruhe. Diese Bommeln nennt man übrigens Troddeln, und sie sind der traditionelle Aspekt des Outfits.« Sie wies mit dem Kinn auf die Tür, und tatsächlich erhob er sich und ging schwerfällig hinaus.

Wütend schob sie die Nadel in den Stoff, so, als könne sie Callistus damit treffen.

5. Kapitel

Eigentlich wollte er das Telefonat aus Deutschland nicht annehmen, denn er hatte seinen Eltern, im Speziellen seiner Mutter, noch immer nicht so recht verziehen, dass sie ihn über die Rolle seines Großvaters im Zweiten Weltkrieg auf der Insel im Dunklen gelassen hatten. Und noch weniger, dass der Alte ihm als Kind stets von seinen Gräueltaten berichtet hatte.

Hyeronimos hatte den Stempel, sonderbar zu sein, er konnte menschliche Auren als Farbschattierungen sehen, erstarrte zur Salzsäule, wenn seine Ordnung gestört wurde, und dass er an jedem Dreizehnten eines Monats von einer Panikattacke heimgesucht wurde, die ihn vollkommen aus dem Leben riss und ihn als Verrückten stigmatisierte, nahmen seine Eltern einfach hin. So wie seine Hand-Ticks: Immer wieder versuchte seine rechte Hand sein Haar zu glätten, und es hatte ihn extrem viel Mühe und Selbstbeherrschung gekostet, das einigermaßen in den Griff zu bekommen. An allem anderen arbeitete er noch, und es war mühselig und kräftezehrend, und oft hatte er das Gefühl, einen Schritt nach vorn zu machen und zwei zurück. Selbst das Asperger-Syndrom, das ein Psychologe nach der ersten Aura-Episode diagnostiziert hatte, hatten sie stillschweigend hingenommen und dann ignoriert. Für sie war er immer nur ihr Kind gewesen.

Doch seine Eltern waren nicht mehr die Jüngsten, und seine Yaya hatte ein gutes Wort für ihre Tochter bei ihm eingelegt. »Maki«, sie nannte ihn noch immer beim Kosenamen aus Kindertagen, »sie wollten dich nur beschützen. Das machen Eltern so, und manchmal ist es eben einfach die falsche Wahl, aber das ist menschlich.«

Hyeronimos stimmte seiner Großmutter gedanklich zu – wieder einmal – und nahm das Gespräch an.

»Hallo, Mutter«, er versuchte, seiner Stimme den leichten Klang zu geben, den sie noch eben beim Plaudern mit Penelope gehabt hatte.

»Junge«, sagte sie, und ihr Tonfall machte ihn sofort nervös.

»Was ist passiert, geht es euch gut?«, wollte er wissen, und an der Pause, die sie machte, hörte er, dass dem nicht so war. Athina war nicht leicht zu erschüttern, daher musste etwas Schlimmes geschehen sein. Er wappnete sich innerlich.

»Dein Vater …«, sie machte eine Pause, und er rief erschrocken: »Ist er tot?«

»Nein, nein«, beeilte sie sich nun zu sagen. »Er«, wieder machte sie eine Pause, und Hyeronimos drehte sich der Magen um, »er hatte wahrscheinlich einen Herzinfarkt. Er ist auf dem Golfplatz zusammengebrochen.«

»Was hat er zu dieser Jahreszeit auf dem Golfplatz verloren?« Er wusste nicht, warum ihm gerade diese Frage nun wichtig erschien, aber vielleicht war es einfach nur seine Unsicherheit.

»Das ist doch unwichtig, er ist im Vorstand und hat irgendwas aufgeräumt, was weiß ich. Er liegt im Krankenhaus, er lebt, aber er ist schwach«, erklärte sie mit leiser Stimme, was ihm deutlich zeigte, dass es nicht gut um seinen Vater stand und wie besorgt seine Mutter war. Die toughe Geschichtsprofessorin war normalerweise durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

»Ich nehme den nächsten Flieger zum Festland und komme«, stieß er atemlos aus und rannte zur Tür, um den Krankenhauskeller zu verlassen.

»Das ist gut«, sagte sie schlicht und schluchzte leise.

Es war lange her, dass er sie hatte weinen sehen, und nun konnte er hören, dass sie voller Furcht Tränen vergoss. Er bekam es mit der Angst zu tun. Ob er seinen Vater noch lebend antreffen würde?

In seinem Kopf begannen die Gedanken zu rasen, und es war nie gut, wenn das geschah, denn dann geriet er in die Gefahr, Fehler zu machen. Das war ihm vollkommen bewusst, jedoch hatte er noch nie eine ähnliche Situation erlebt. Sein Großvater war gestorben, als er noch ein Kind gewesen war, und die Eltern seines Vaters waren ebenfalls schon sehr lange tot. Die Verletzlichkeit eines Menschen, der ihm so nahe stand, machte ihn dünnhäutig.

Kurz bevor er den Ausgang erreicht hatte, machte er wieder kehrt. Er musste mit Penelope sprechen und dann seinen Chef um Sonderurlaub bitten.

»Ich rufe dich sofort zurück, wenn ich gebucht habe. Du brauchst mich nicht in Stuttgart abzuholen. Ich nehme einen Leihwagen«, sagte er hastig und verabschiedete sich von seiner Mutter, bevor er atemlos den Sektionssaal erreichte.

Penelope blickte erstaunt auf, als er die Tür mit Schwung aufstieß und in ihre Obduktion platzte. »Ist dir schon langweilig?«, begann sie, doch dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck und verstummte abrupt.

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich, »bitte … hast du kurz einen Augenblick für mich?«

Sie kam sofort hinter dem Tisch hervor, übergab die Instrumente, die sie in der Hand hielt, an Giorgia und ging mit ihm in den leeren zweiten Saal. »Was ist los?«, fragte sie besorgt.

»Mein Vater hatte einen Herzinfarkt, meine Mutter hat furchtbar geweint, ich muss sofort nach Deutschland fliegen, ich glaube, er stirbt«, sprudelte er ohne Pause hervor.

»Hyeronimo«, sagte sie voller Mitgefühl, »kann ich etwas für dich tun?«

»Ich weiß nicht. Ich will nur nicht«, er schaute sich kurz um und senkte seine Stimme, »ich will nicht erstarren. Ich will stark sein.«

»Hast du das Gefühl, dass dich das triggert?«, fragte sie geradeheraus, ganz so, wie es ihre Art war.

»Nein, eigentlich nicht, aber ich war noch nie in einer solchen Situation, daher rechne ich irgendwie mit allem.«

»Ich kann hier gerade nicht Schluss machen«, erklärte sie betroffen, »kommst du zurecht, oder soll ich einen Kollegen anrufen, der hier für mich übernimmt?«

»Ich komme zurecht«, sagte er und straffte sich. »Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt und dich nicht wunderst, wenn ich so kurz nach unserem Kaffee in den Flieger steige und verschwinde«, versuchte er es mit der Medizin, die er von ihr gelernt hatte: Humor.

Sie legte ihre Hand leicht auf seine Schulter und lächelte ihm zu: »Soll ich mich um deine Yaya kümmern, während du fort bist?«

Er lächelte zurück. »Das würdest du machen? Danke, Pen!«

»Das ist doch selbstverständlich, und ich tue das nicht nur für dich. Ich mag Titika sehr«, sie grinste, »und sie wird mich bekochen.«

»Das wird sie ganz sicher«, gab er zurück, denn obwohl sie auf die hundert zuging, ließ sie es sich nicht nehmen, in ihrer Küche zu werkeln und die köstlichsten traditionellen Gerichte zu zaubern. Er war sich sicher, dass die Alten über eine besondere Magie beim Kochen verfügten, denn er erlebte es auch bei seinen regelmäßigen Ausflügen in die Berge, dass die Tavernen, in denen die fast zahnlosen Großmütter kochten, immer die leckersten Speisen auf den Tisch brachten.

»Ich muss los«, unbeholfen beugte er sich vor und umarmte sie. Körperlicher Kontakt war nicht seine Stärke, aber er wollte seiner Freundin zeigen, wie dankbar er war, und ihre tröstliche Erwiderung tat ihm gut.

Rasch verließ er die Pathologie, klärte mit Stelios Mentakis seinen Sonderurlaub und fand einen Flug nach Athen, den er noch heute erreichen konnte. Der Koffer war schnell gepackt, und als er an dem im Winter fast menschenleeren Flughafen in Irakleio stand, kam ihm ein Gedanke, denn er würde über Nacht in der Hauptstadt bleiben müssen. Doch er verwarf die Idee gleich wieder. Er wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Nichtsdestotrotz würde er ihr eine Nachricht schicken. Sie hatten ein kompliziertes System vereinbart, das es ihnen ermöglichte, sich auf ein Telefonat zu verabreden, ohne dadurch in Gefahr zu geraten. Kassia war die Frau eines hochrangigen Politikers, und obwohl es ganz und gar nicht seiner Art entsprach, sich in bestehende Beziehungen zu drängen, war es doch einfach um ihn geschehen gewesen, als er sie bei seiner Ehrungsfeier vor einigen Jahren in Athen das erste Mal getroffen hatte. Er hatte den Blick nicht von ihr wenden können, ihre Aura umgab sie wie ein goldener Schimmer, und er hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Ihre Augen hatten sich ineinander versenkt, und von jenem Moment an hatten sie nicht mehr voneinander lassen können. Nur wenige gestohlene Stunden waren ihnen seither gewährt gewesen, und doch liebten sie einander mit tiefer Innigkeit. Sie war es, die ihn immer wieder aus seiner eigenen Dunkelheit errettete. Sie spürte sogar, wann er sie am meisten brauchte, und nach jenen furchtbaren vierundzwanzig Stunden, die ihn an jedem Dreizehnten eines Monats plagten, ging sie immer das Risiko ein, ihn in den frühen Morgenstunden des Vierzehnten anzurufen, um sich zu vergewissern, dass es ihm wieder gut ging.

Er schickte ihr eine Nachricht und bat um ein offizielles Statement zu irgendeinem Blödsinn, den er sich gerade ausgedacht hatte. Hatte sie die Möglichkeit, ungestört zu sprechen, würde sie einen Termin vereinbaren, wenn nicht, kam ein sachlicher Verweis auf die Pressestelle. Während er auf das Boarding wartete, rief er kurz seine Mutter an. Der Zustand seines Vaters war weiterhin kritisch, und Hyeronimos schaffte es einfach nicht mehr, seine Hand davon abzuhalten, mehrfach sein Haar zu glätten. Vom Gate aus hatte man einen Blick auf das Meer, und er konzentrierte sich auf das Wasser, das durch den Regen und die aufziehende Dunkelheit grau und düster schimmerte.

»Ich atme, also lebe ich«, flüsterte er tonlos jenen Satz, der ihn durch seine Panikattacken geleitete.

Sein Handy zeigte eine eingehende Nachricht, und er seufzte erleichtert auf: Er würde Kassias Stimme hören dürfen.

6. Kapitel

Sie stöhnte erwachend und richtete sich langsam auf. Schon lange hatte sie nicht mehr so tief geschlafen, seit Teris’ Geburt hatte sie das Gefühl, dass bereits der Flügelschlag eines Schmetterlings sie aufwecken würde. Sie streckte sich ausgiebig und lauschte, doch im Nebenzimmer blieb alles still. Der Kleine schien wirklich müde gewesen zu sein. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie fast vier Stunden im Land der Träume gewesen war. Sie hatte wirklich wundervolle Bilder gesehen: Wie sie als Familie ein schönes Heim bewohnten, sich an den Händen hielten oder sich strahlend über das Bettchen ihres Sohnes beugten. Fast zu schön, um aufzuwachen und festzustellen, dass es noch nicht so weit war. Sie erhob sich leise und schlich auf Zehenspitzen nach nebenan; der Kleine sollte nicht aufwachen. Sie wollte ihn im Schlaf betrachten, sein entspanntes Gesichtchen ansehen und darüber staunen, wie ähnlich er schon jetzt seinem gut aussehenden Vater sah.

Der Schrei, der sich ihren Lippen entrang, als sie die Wiege erreichte, klang nicht wie der eines Menschen. Er ähnelte eher dem eines verwundeten Tieres, das um sein Leben bangte.

Teris war nicht da, wo er sein sollte.

»Mutter«, schrie sie außer sich, denn Sofia hatte ihr sehr deutlich klargemacht, wie sie zu dem Kind der Sünde, wie sie es nannte, stand, und ganz gewiss hatte sie nicht von einer Minute auf die andere ihre großmütterlichen Gefühle entdeckt.

In Evangelina kroch kalte Angst hoch, und für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Ihr Atem ging stoßweise, und sie bekam nicht genügend Luft.

Dann rannte sie schreiend los, um ihren Sohn zu finden. Hatte Sofia ernst gemacht und ihr den Säugling heimlich entrissen, um ihn fortzugeben?

Sie fand ihre Mutter im Büro im Erdgeschoss, an ihrem Schreibtisch sitzend. Seit ihr Vater tot war, regelte Sofia die Familiengeschäfte und setzte all ihre Energie daran, Nereos’ Karriere zu unterstützen, denn politischer Einfluss war nicht mit Geld aufzuwiegen. Nereos war alles, was für die harte Frau zählte, die nun erstaunt aufblickte und eine Augenbraue so in die Höhe zog, dass diese fast den Haaransatz berührte.

»Wo ist mein Kind?«, kreischte Evangelina und hatte das Gefühl, ihr Herz würde gleich explodieren. Ihr Unterleib begann sich schmerzend zusammenzuziehen, und auch ihre Brüste spannten und verlangten nach dem Säugling.

Ihre Mutter reagierte so ungerührt, dass sich in Evangelina Panik und Wut zu vermischen begannen. »Woher soll ich wissen, wo deine Brut abgeblieben ist?«, sagte sie mit kalter Stimme und wandte sich wieder ihren Unterlagen zu.

»Ich will mein Kind, sofort!« Evangelina schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, sodass einige der sorgsam aufgereihten Stifte durch die Gegend kullerten.

»Offensichtlich bist du damit überfordert, auf ein Baby aufzupassen.« Ihre Mutter setzte eine spöttische Miene auf.

»Mein Kind! Mein Kind!«, skandierte Evangelina immer lauter werdend, während der pure Hass sie einnahm und rotschlierig an ihr herabgleitend ihre Fäuste erreichte: Sie würde die Antwort aus der Hexe herausprügeln. Sie warf sich regelrecht auf den Schreibtisch, fegte dabei Unterlagen und Utensilien hinunter, um zu erfahren, was mit Teris geschehen war.

Sie hätte niemals hierbleiben dürfen. Sie hätte wissen müssen, dass Sofia ernst machen würde. Doch sie hatte darauf vertraut, dass der Säugling die Herzen ihrer Familienmitglieder erweichen und dass am Ende alles gut werden würde. Doch nichts dergleichen hatte sich ereignet.

»Du bist eine Verrückte«, Sofia war aufgesprungen, »und Verrückte eignen sich nicht als Mutter. Das sollte dir bewusst sein.«

»Weil du ja vollkommen normal bist«, brüllte Evangelina, »gib mir mein Kind, du elende Hexe!«

Sie rutschte seitlich vom Schreibtisch, um auf die Beine zu kommen. Sofia würde nicht einfach davongehen und so tun, als sei es völlig normal, einen wenige Tage alten Säugling aus der Wiege zu stehlen. Sie steckte dahinter und ganz sicher hatte sie Nereos zu ihrem Handlanger gemacht. Evangelina spürte, wie ihr übel wurde vor Angst, und ganz plötzlich registrierte sie etwas Kühles unter ihrer Hand und griff zu. Keuchend kam sie auf die Füße und richtete den spitzen Brieföffner auf Sofia.

»WO IST MEIN KIND?«, verlangte sie zu wissen, und Sofia schaute nun nicht mehr so selbstsicher, sondern wich automatisch vor ihrer Tochter zurück. »Antworte!«, verlangte Evangelina und spürte die Bereitschaft in sich, alles zu tun, was nötig war, um Teris wiederzubekommen.

Sofia machte einen weiteren Schritt zurück. »Da sieht man deutlich, wie gestört du bist, Mädchen! Du bekommst dieses Kind nie mehr zurück, und dem verheirateten Kerl, der dich geschwängert hat, seid ihr sowieso beide gleichgültig. Füge dich einfach in dein Schicksal, heirate Myron wie vorgesehen, und mach einmal etwas richtig. Hör auf, dich wie eine billige Hure zu verkaufen!«

Die eiskalten Worte ihrer Mutter gaben Evangelina den Rest, und sie sprang, den Öffner noch immer in der ausgestreckten Hand haltend, in rasender Wut auf die Frau zu. Klirrend zersprang eine Vase, die hinter Sofia stand, in tausend Teile, während sie beide auf dem Boden aufschlugen.

7. Kapitel

Hyeronimos hatte es noch geschafft, kurz vor dem Abflug mit Kassia zu telefonieren, da er aber schon im Bus unterwegs zum Flugzeug war, konnte er nicht frei sprechen. Vollkommen erstaunt hatte er zur Kenntnis genommen, dass sie ihn in Athen erwarten würde. Er war verwirrt, und die Besorgnis über seinen Vater vermischte sich mit der sonderbaren Aufgeregtheit über das bevorstehende Treffen mit seiner Liebsten. Er fühlte sich ihr so tief verbunden, und das Herz schlug ihm flatternd in der Brust, wenn er nur ihre Stimme hörte. Sie sehen zu können, vielleicht ihre Hand berühren zu können, das warf ihn schier aus der Bahn, und als er die Maschine betrat, spürte er den prüfenden Blick der Stewardess auf sich, die dann auch kurze Zeit später zu seinem Platz kam.

»Ist alles in Ordnung?«, wollte sie wissen, und er nickte rasch bestätigend und konzentrierte sich darauf, bewusst zu atmen, um seine aufgewühlte Gefühlswelt wieder in den Griff zu bekommen. Manchmal war es wirklich sehr schwer, dass er mit niemandem über diese Beziehung sprechen konnte. Er hatte selbst Penelope gegenüber noch nie ein Sterbenswörtchen geäußert. Es kam ihm oft schäbig vor, dass sie ihm so sehr vertraute und er ihr etwas vorenthielt, doch er würde Kassia niemals in Gefahr bringen, also behielt er dieses Thema für sich. Sie war seine romantische Liebesgeschichte, und kein fiktiver Inhalt der Bücher, die er so gern las, war dazu in der Lage, eine Liebe wie die ihre treffend beschreiben zu können. Kassia war seine zweite Hälfte, sie vervollständigte ihn. Wenn er mit ihr sprach, fühlte er sich nicht skurril oder unzulänglich.

Als sie nur Minuten später in der Luft waren, hatte er sich wieder im Griff und folgte auf seinem E-Book-Reader einer aufstrebenden Bäckerin und einem reichen Börsenmakler auf ihrem Weg zu Happy End. Eine weitere Leidenschaft, über die er nicht offen sprach, denn ein Kommissar der Mordkommission, der Lovestorys, die mit Hochzeitsglocken endeten, bevorzugte, war ganz sicher nicht nur wunderlich, sondern höchstwahrscheinlich sogar lächerlich.

Er blickte von seiner Geschichte auf und dachte spontan: zu viele Geheimnisse. Doch dann versenkte er sich in die reizende Erzählung und tauchte erst wieder daraus auf, als das Fahrwerk des Flugzeuges den Boden berührte. Prompt war die Nervosität wieder da. Sie telefonierten regelmäßig, vertrauten einander tiefe Seelengeheimnisse an, doch die Treffen, bei denen sie einander körperlich nahegekommen waren, ließen sich an einer Hand abzählen.

Kurze Zeit später schritt er die Gangway entlang. Sein Reisegepäck wurde direkt weiter verladen, lediglich einige Utensilien für die Übernachtung trug er in einer kleinen Tasche bei sich. Sein Herz wollte sich schier nicht beruhigen, und für einen Moment kam er sich schäbig vor, dass er die Erkrankung seines Vaters nutzte, um seine Geliebte zu treffen. Doch wem würde es nützen, wenn er jetzt sein Hotelzimmer aufsuchte und sich dort allein grämte?

Er sah sie sofort. Einer Göttin gleich stand sie an einer Säule. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten geschlungen, was ihre fein geschnittenen Züge hervorragend zur Geltung brachte. Sie sah wirklich aus wie eine griechische Göttin. Ihr beiger Hosenanzug war ganz offensichtlich maßgeschneidert und umspielte ihre Figur. Die hohen Schuhe und der Gürtel passten perfekt zum Farbton des Outfits, und die weiße Bluse sowie das cremefarbene Tuch, das sie locker um die Schultern geschlungen hatte, gaben ihr jenen mondänen Touch, den nur Frauen mit angeborener Eleganz hatten.

Er hielt den Atem an und ließ ihre Erscheinung auf sich wirken. Gewiss konnte jeder in der Ankunftshalle seinen Herzschlag vernehmen und sehen, dass er vor Liebe lichterloh brannte. Dann sah auch sie ihn, und ihre Blicke versenkten sich ineinander wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Es war, als schwebten sie in einer schimmernden Seifenblase vollkommen allein über die Menschenmenge hinweg, ineinander verschlungen und für immer verbunden. Dann unterbrach sie den Blickkontakt, ihr Brustkorb hob und senkte sich in rascher Abfolge. Sie kam gemäßigten Schrittes auf ihn zu und begrüßte ihn geschäftig mit einem Handschlag.

»Kommissar Galavaki, herzlich willkommen in Athen. Bitte folgen Sie mir!«

»Es ist mir eine Ehre, Madame«, sagte er formvollendet, schlug kurz die Hacken zusammen und folgte ihr. Er würde überall mit ihr hingehen, wunderte sich aber kurz, wie es ihr gelungen war, ohne Bodyguard an den Flughafen zu kommen. Dann nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr, und eine rote Aura mit blauen Spitzen drängte sich in sein Bewusstsein. Sie war doch nicht allein. Der drahtige Mann war leger gekleidet und folgte ihnen in respektvollem Abstand. Er beeilte sich, zu ihr aufzuschließen, und versuchte sich im Small Talk, was ganz klar nicht zu seinen Stärken zählte! Kassia machte es ihm mit einem lockeren Plauderton leicht, sich zu fangen. Angrenzend an die VIP-Lounge des Athener Flughafens gab es einige Besprechungsräume. Dort angekommen, zog sie eine platinfarbene Karte aus der Tasche und öffnete die Tür zu einer elegant eingerichteten Lounge. Der Mann setzte sich diskret einige Meter weiter auf einen Stuhl. Sie waren für sich und doch unter Beobachtung. Kassia nickte ihrem Begleiter zu, schloss die Tür, und für einen Moment vergaßen sie beide zu atmen.

»Die Räume hier sind nicht videoüberwacht«, sagte sie, »sie wollen den Nutzern höchstmögliche Diskretion bieten, um ihre Geschäfte abzuwickeln.«

Er blickte sie an, und die Zeit schien stillzustehen. Er musste nur den Arm ausstrecken, dann konnte er sie berühren und spüren, doch er war wie gelähmt. Verzaubert von dem Augenblick und der Wärme in ihren Augen, die ihn liebevoll anleuchteten. Dann machten sie gleichzeitig einen Schritt aufeinander zu. »Maki«, flüsterte sie rau und legte ihre Hand zart auf seine Wange.

Er tat es ihr gleich und ließ seine Finger über ihre glatte Haut gleiten. Er konnte es nicht fassen. Sie waren gemeinsam hier.

Langsam und unendlich vorsichtig senkte er seinen Kopf, sog ihren wundervollen Duft tief in seine Lunge, um ihn dort für immer aufzubewahren. Sie roch nach Rosen und einem Hauch von Zimt. Er liebte diesen Geruch, er liebte sie. Mehr als er je geglaubt hatte, lieben zu können. Dann legte er seine Lippen auf die ihren, und sie verschmolzen in einem Kuss, der sie alles um sich herum vergessen ließ.

8. Kapitel

Das Kind schrie gellend, und der kleine Körper wand sich wie unter Schmerzen. Er fuhr sich nervös durch die Haare. Wie hatte er sich nur darauf einlassen können, diese Rolle zu übernehmen. Er hatte mit Kindern nichts am Hut und daher auch keine Idee, was zu tun war, um das knallrot angelaufene Bündel ruhigzustellen. Es war Sofias Idee gewesen, Evangelina auf diese Weise unter Druck zu setzen, der Adoption und der Eheschließung zuzustimmen. Sie war sich sicher, dass ihr Plan aufgehen würde, denn die junge Mutter würde gewiss alles tun, damit es dem Jungen gut ging. So weit der Grundgedanke, doch sie hatte ihn kein bisschen vorbereitet, was zu tun war. Das Geräusch prallte auf sein Trommelfell, quälte es und machte ihn zu einem hektischen Nervenbündel. Ob er ihn hochnehmen sollte? Vielleicht würde das Baby dann aufhören zu kreischen. Er rangierte das Auto an den Straßenrand, und dann kam ihm der Gedanke, dass man ihn mit dem Säugling sehen könne, also gab er rasch wieder Gas und fuhr zurück auf die Nationalstraße. Er hatte sich gedacht, eine entspannte Spritztour zum Meer zu machen, nachdem ihm seine Mutter den Kleinen in den Arm gedrückt und befohlen hatte, ihn sofort für einige Stunden aus dem Haus zu bringen. Er war zum Auto gespurtet, ohne sich Gedanken zu machen, wie man ein Baby transportierte, und hatte es dann einfach auf dem Rücksitz abgelegt. Die Tonart und die Lautstärke des Gebrülls machten ihn kirre, und er blickte immer wieder in den Rückspiegel, um einen Blick auf seinen Neffen zu erhaschen – in der Hoffnung, dass er endlich aufgeben und still sein würde.

Seine Schwester und er waren sich nie wirklich nah gewesen. Evangelina war sonderbar und verhielt sich nicht wie andere Kinder: Sie spielte nicht, sondern saß nur da und schaute den anderen mit großen Augen zu. Wenn sie etwas gefunden hatte, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, dann beschäftigte sie sich nur damit und gab es niemals aus der Hand, tagelang oder auch für Wochen. Er machte sich einen Spaß daraus, ihre Sachen immer wieder zu verstecken, und sie war dann schier nicht zu beruhigen, wenn ihr Stoffschaf oder ihre Puppe nicht auffindbar waren. Es war interessant, sie so zu sehen und zu wissen, dass er sie jederzeit aus ihrer stillen Reserve locken konnte. Wenn sie jedoch so außer sich war, war im Haus der Familie kein normales Leben mehr möglich, und irgendwann begann er sich als Retter zu zeigen und das verschwundene Spielzeug zu finden, damit endlich wieder Frieden einkehrte. Obwohl es unangenehm war, wenn sie so heulte und zeterte, konnte er nicht aufhören, sie zu ärgern. Bis sie ihn eines Tages dabei ertappte und es dem Vater berichtete. Der hatte ihm daraufhin eine Tracht Prügel verabreicht, an die er sich noch heute mit grausigem Schauer erinnerte. Evangelina hatte nicht nur sein kleines Machtspiel kaputt gemacht, sondern auch die Beziehung zu seinem Vater. Doch ab diesem Tag war seine Mutter auf seiner Seite, und zwar vorbehaltlos. Er hasste seinen Vater, und dass dieser nun über das Mädchen wachte, machte es nur noch schlimmer. Sie war zierlich und zart und sah immer irgendwie verletzlich aus. Selbstverständlich wusste er, dass sie es nur darauf abgesehen hatte, ihn zu verdrängen. Doch das ließ er nicht zu. Immer wieder sorgte er dafür, dass sie auf ihren Platz verwiesen wurde. Er war der Erstgeborene und ein Mann. Sie war nur ein dürres, dummes Mädchen mit einem Verhaltensproblem. Nie wieder wurde er so offensichtlich aktiv, dass der Vater etwas bemerkte. Seine Mutter war bis heute immer für ihn da, und letztlich war es auch sie gewesen, die beschlossen hatte, dass er internationales Management studierte. Nach dem Tod des Vaters hatte er mit ihr aus dem kleinen Familiensupermarkt eine Kette gemacht, die überall auf der Insel Fuß fasste. Zudem hatte sie ihn auch mit den richtigen Leuten bekannt gemacht, um seine politische Karriere zu fördern.

Die Wahl stand kurz bevor, und er würde gewiss in seiner Präfektur Nomos Lasithou als einer der sechs Abgeordneten in den Regionalrat einziehen. Das war ein wichtiger erster Schritt. Er war knapp über dreißig und damit einer der vielversprechenden jungen Anwärter. Sie hatten einen guten Wahlkampf gemacht, und es war ihnen sogar gelungen, die Schwangerschaft seiner Schwester erfolgreich geheim zu halten. Obwohl sie so tat, als habe Jesus sie zur unbefleckten Empfängnis auserwählt, war es ihr und dem Kerl, der sie geschwängert hatte, sonderbarerweise ganz recht gewesen, es nicht an die große Glocke zu hängen. In den letzten Wochen hatte sie das Haus nur selten verlassen. Wenn, dann meist sowieso mit dem Auto, denn der Arzt, der sie untersuchte, hatte seine Praxis nahe Chania, was einer Tagesreise entsprach, von der sie erst abends zurückkehrte. Wahrscheinlich traf sie sich dann auch oft mit dem Vater des Kindes, obwohl Sofia ihr untersagt hatte, weiter herumzuhuren.

Gott, dieses Baby sollte endlich still sein! Hart trat er auf die Bremse und brüllte wie ein Berserker Schimpftiraden durch den Wagen, als ein Auto vor ihm aus einem Feldweg auf die Straße schoss – und dann war es plötzlich wirklich still. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass es das Bündel vom Sitz geschleudert hatte. Er fuhr nun doch an den Straßenrand. Er hatte zwar weder Interesse an seinem Neffen noch ein schlechtes Gewissen bei dem, was er seiner Schwester antat, doch töten wollte er das Kind nicht.

Rasch stieg er aus und ging auf die Beifahrerseite, um die hintere Tür zu öffnen. Vorsichtig beugte er sich hinab und klaubte das Baby mit spitzen Fingern aus dem Fußraum, wo es nach dem Bremsmanöver gelandet war. Es hatte die Augen geschlossen, seine Lider wirkten bläulich durchscheinend, und auf seiner Stirn klaffte eine kleine Wunde, aus der Blut tropfte. Warum hatte er nur auf seine Mutter gehört? Sie hätte das tun sollen. Es wäre ihm eine Freude gewesen, Evangelina mit dem zu konfrontieren, was sie von ihr erwarteten. Unbeholfen packte er den Säugling wieder auf den Rücksitz und betrachtete ihn. War der Junge tot? Sollte er ihn einfach hier in die Büsche werfen, damit die wilden Hunde ihn holen konnten? Einen Moment lang war er versucht, genau das zu tun, doch dann schlug der Kleine flatternd die Augen auf.

Nereos sprang zurück, als hätte ihm dieser Anblick eine Art Stromschlag verpasst, dann spurtete er zur Fahrerseite und wendete den Wagen, um das Wesen so schnell wie möglich loszuwerden. Er war doch keine Nanny, das war Frauensache, und das würde er Sofia klarmachen. Sie musste den Jungen fortbringen, der nun wieder zu weinen begann, leiser als zuvor, aber auch irgendwie eindringlicher.

Nur wenig später steuerte er den Jeep die Auffahrt entlang, öffnete die Garage, parkte den Wagen und marschierte direkt zum Büro seiner Mutter, um ihr seinen Standpunkt klarzumachen. Das Kind ließ er im Auto liegen, sollte sie sich gefälligst darum kümmern.

9. Kapitel