Mitleidloses Kreta - Nikola Vertidi - E-Book
SONDERANGEBOT

Mitleidloses Kreta E-Book

Nikola Vertidi

0,0
6,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der verschrobene Kommissar Hyeronimos Galavakis ermittelt in seinem sechsten Fall mit deutscher Gründlichkeit und kretischem »Siga-Siga«. Ein Griechenland-Krimi zum Wegträumen und eine Reise zu den schönsten Stränden und in die urigsten Tavernen Kretas  Eigentlich würde Kommissar Hyeronimos Galavakis gern den Feierabend mit Blick auf das kretische Meer genießen. Doch dann reisen seine heimliche Geliebte Kassia und ihr Mann aus offiziellem Anlass auf die Insel und er muss sich höchstpersönlich um den Besuch kümmern. Ein Ausflug der Delegation in die Berge wird zu einer lebensbedrohlichen Gefahr, als Kassia entführt, einer der Bodyguards getötet und Galavakis selbst von einem Streifschuss verletzt wird. Die Insel gerät in einen Ausnahmezustand. Doch wer hat es auf Kassia – oder gar den Minister selbst – abgesehen? 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Krimi gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Mitleidloses Kreta« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR.

Redaktion: Julia Feldbaum

Korrektur: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Personenregister

Zitat

Anmarsch bis zur Ablauflinie

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Annäherung an die Einbruchstelle

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Sturm und Einbruch

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Kampf durch die Tiefe

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Verfolgung

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

Epilog

Nachwort

Danksagung

Kretische Rezepte für vier Personen

Tirokafteri

Gamopilafo (Titikas Abwandlung)

Titikas Koulourakia

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Personenregister

Hyeronimos Galavakis – Kommissar

Kassia Petridi – Hyeronimos’ heimliche Geliebte

Maria Chrisaki – Hyeronimos’ Chefin

Elonidas Spectros – Leiter der Cyber-Einheit, teilt sich den Chefposten mit Maria

Stelios Mentakis – Hyeronimos’ ehemaliger Chef (arbeitet nun als Privatermittler)

Zacharis Zentakis – Hyeronimos’ Mitarbeiter

Christos Papadakis – Hyeronimos’ Kollege

Penelope Demostaki – leitende Pathologin der Insel

Giorgia – Penelopes Sektionsassistentin

Michalis Manousakis – Stellvertreter von Penelope, leitet derzeit die Pathologie

Eleni Pentulaki – Influencerin, T-Shirt-Designerin und Penelopes Freundin

Filomena Serpantaki – Mafia-Chefin, die Wohltäterin leitet nun die Geschäfte als Vasilisa (Königin)

Anna-Maria Fillipaki – Filomenas rechte Hand

Michalis Serpantakis – Filomenas Bruder und ehemaliger Mafiaboss (er gilt als verschollen)

Dimitris Stefanakis – Minister in Athen

Thanasis Petropoulos – Kassias Mann, Minister in Athen

Alles Leid des Menschen kommt vom Menschen.

Seneca

Anmarsch bis zur Ablauflinie

1. Kapitel

Er fuhr aus dem Schlaf hoch und spürte den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Der vierzehnjährige tote Junge aus den Bergen hatte sich wieder einmal in seine Träume geschlichen und ihn anklagend angesehen. Wie immer, wenn ein Kind zu Schaden kam, ließ einen das nicht so einfach los. Kurz flackerte die ihm bekannte Atemlosigkeit auf, die ihn bei seinen monatlichen Panikattacken heimsuchte, doch er kämpfte sie erfolgreich nieder. Es war noch nicht so weit. Der nächste Dreizehnte war erst in knapp drei Wochen. Beim letzten Mal war es kaum zu ertragen gewesen, denn dass Penelope fort war, machte seinen Alltag zäh. Sie hatte gehen müssen, um für sich selbst zu sorgen, und nicht, weil sie ihn im Stich hatte lassen wollen. Das war ihm vollkommen bewusst, und doch war sie eben seine beste – nein, er korrigierte sich – seine einzige Freundin.

Er rappelte sich auf, tappte über die kühlen Fliesen in die Küche, goss sich im Dunkeln ein Glas Wasser ein und beschloss, auf der Terrasse durchzuatmen. Er schob die bodentiefe Tür beiseite, und die warme Herbstluft schlug ihm entgegen. Die Tage waren nach wie vor so warm, dass die Hauswände und der Boden nicht abkühlten. Die Nacht war sternenklar, und der Mond schien hell vom Himmel herab, sodass er das Meer sehen konnte, auf dem sich die helle Scheibe spiegelte. Er mochte seine hübsch eingerichtete, stets ordentliche Wohnung sehr, denn hier fand er genau jene Ruhe und Entspannung, die für einen Mann der Mordkommission nötig war. Doch ohne das Meer wäre es für ihn undenkbar, sein Leben zu meistern. Er war zwar in Süddeutschland aufgewachsen – seine Eltern hatten dort ihr Glück gefunden –, aber alle Ferien hatte er am Meer bei seinen Großeltern auf Kreta verbracht. Mit den Füßen bis zu den Knöcheln im Sand oder wie ein Fisch im salzigen Nass schwimmend, waren die Wochen nur so dahingeflogen. Er hatte quasi von Ferien zu Ferien gelebt und war schon in jungen Jahren allein geflogen, da seine Mutter und sein Vater den Bezug zur Insel verloren oder bewusst das Heimkommen gemieden hatten. Anfangs, um sich von der Familiengeschichte zu distanzieren, später dann aus beruflichen Gründen. Seine Yaya hatte ihn immer von einer Nachbarin oder einem Nachbarn vom Flughafen in Irakleio abholen lassen, und vom Augenblick der Landung an hatte er das Gefühl gehabt, atmen zu können. Das Blau des Meeres hatte ihn stets erfüllt, und seine »Besonderheit« war im Wasser nicht weiter aufgefallen. Da war er eben nur ein Junge gewesen, der tobte und schwamm.

Er trat bis an die Brüstung vor, lehnte einen Arm darauf und trank das Wasser in kleinen Schlucken. Der Blick auf die im Nachtlicht schimmernde Pracht vor Irakleio streichelte seine Seele und vertrieb die Bilder des Schreckens von seinem inneren Auge. Er hoffte, noch einige Stunden schlafen zu dürfen, um nicht wie ein Zombie im Präsidium aufzulaufen. Aktuell hatte er nur einen Fall im Milieu: Zwei Drogendealer waren aneinandergeraten, hatten sich mit Messern attackiert, und einer war dabei ums Leben gekommen. Es gab nicht viel zu tun, und das bedeutete, dass er sich nicht andauernd vor seinem Kollegen Christos in seinem Büro verstecken konnte. Dieser war nach dem offiziellen Tadel, den er für seine verheerenden Alleingänge erhalten hatte, noch unerträglicher als vorher. Hyeronimos hatte gehofft, ihn im Anschluss irgendwie geläutert vorzufinden, doch weit gefehlt. Christos lief mit grollender Miene durch die Flure, und kam man ihm in die Quere, konnte es mit einem unschönen Wortgefecht enden.

Hyeronimos seufzte.

Gäbe er sich jetzt all den Gedanken über das, was vorgefallen war, hin, könnte er den Schlaf gleich ganz abschreiben. Er fixierte die leichte Bewegung der Wasseroberfläche, die durch den Lichtschimmer des Mondes von seiner Terrasse über den Dächern der Stadt gut zu sehen war, und verband sich mit der Bewegung. Ganz langsam passte sich seine Atemfrequenz dem Rhythmus an, und er fühlte, dass sich die Aufgeregtheit legte. Er leerte das Glas, brachte es zurück in die Küche und ging wieder ins Bett. Während er das leichte Laken über die Beine zog, dachte er bewusst an Kassia – die Frau, die er herzenstief und so im Verborgenen liebte. Sie war es, die ihm immer wieder Kraft gab, ihm zuhörte und ihn durch ihre Liebe stark machte. Und doch waren sie wie die zwei Königskinder in dem vielbesungenen Lied, die nicht zueinanderkommen konnten, weil das Wasser zu tief war. Zwischen ihnen lag nicht nur der Ozean – sondern auch ein Ehering.

2. Kapitel

Penelope atmete tief durch. Sie musste sich immer wieder verdeutlichen, dass sie das Richtige getan hatte. Sie hatte Eleni wirklich vertraut, und nachdem sie einander ihre Liebe gestanden hatten, war es ihr so vorgekommen, als würde sie nun endlich glücklich sein dürfen. Doch dann war ihr gesamtes Leben eingebrochen, weil ihre junge Freundin den Mund nicht gehalten hatte. Auf einer Insel wie Kreta tickten die Uhren anders, und Eleni – die aus Chania stammte – wusste dies nur zu genau. Natürlich hatte sie nicht unrecht damit, dass man die Welt nur dann verändern und voranbringen konnte, wenn man mutig etwas wagte, doch für Penelope war es schmerzhaft gewesen, sich den Angriffen zu stellen, die nach ihrem ungewollten Outing durch die Presseschlagzeilen erfolgt waren. Natürlich nicht offenkundig, sondern feige versteckt hinter hingeschmierten Botschaften auf Wänden und Fotos, die überall kursierten. Sie war als nekrophile Lesbe bezeichnet worden, weil sie als Pathologin berufsbedingt hauptsächlich mit Toten arbeitete. Hyeronimos und das Institut zu verlassen war ihr schwerergefallen, als sie sich eingestanden hatte, und nun begann es, an ihr zu nagen. Sie war einsam, zwar selbst gewählt, aber es fühlte sich trotzdem sonderbar an. Mittlerweile konnte sie gut nachvollziehen, warum Stelios Mentakis, der ehemalige Chef der Mordkommission auf Kreta, sich in die Berghütte seines Großvaters zurückgezogen hatte, um mit dem, was ihn täglich belastete und auslaugte, zurechtzukommen.

Trotz aller Anfeindungen vermisste sie ihre Heimat. Kreta war ein besonderer Ort, und sie konnte die Magie der Insel in jeder Pore spüren, saß sie auf ihrem Balkon in Ammoudara und blickte nachdenklich aufs Meer. Nachdem man sie auf ihre Sexualität reduziert hatte, war sie in die Falle gelaufen, die viele Menschen erlebten, die nicht der Norm der griechisch-orthodoxen Kirche entsprachen, und hatte begonnen, die Schuld bei sich und natürlich bei Eleni zu suchen. Das kam einer Form der Selbstgeißelung gleich, und sie erkannte sich kaum noch wieder.

Sie hatte doch immer gewusst, wer sie war, wie sie leben und lieben wollte. Und nun saß sie hier in einem kleinen Apartment auf der Halbinsel Pilion. Felsige Buchten und dicht bewachsene Wälder kennzeichneten die Landschaft. Sie wanderte oft über die gut gepflasterten Pfade und bewunderte regelmäßig in Trikeri die sich aneinanderreihenden weiß gestrichenen Herrenhäuser, die eine traumhafte Kulisse boten. Die bezaubernde Architektur hatte natürlich wie überall in Griechenland einen historischen Hintergrund: Zwischen 1750 und 1850 bauten die Aristokraten meist dreigeschossige Herrenhäuser, sogenannte Archontika. Heute wurden diese prächtigen Villen häufig als Privathotels genutzt. Sie hatte sich nicht bewusst dafür entschieden, in dieser Ecke des Landes über ihr Leben zu sinnieren. Anfangs war nur der Drang zu fliehen übermächtig gewesen. Eleni hatte immer wieder versucht, sie an ihre Seite zu holen. Es tut mir leid, Penelope. Lass uns bitte von Angesicht zu Angesicht reden, hatte sie gefleht. Doch für Penelope war klar gewesen, dass sie dann weich werden würde. Andererseits ging es nicht darum, Härte zu zeigen, sondern sich abzugrenzen. Sie war homosexuell und mit einer wesentlich jüngeren Frau ein Verhältnis eingegangen. Das polarisierte, und nun gehörte irgendwie alles auf den Prüfstand. Gleichzeitig hatte sie sich nie in Normen pressen lassen und sogar den Kontaktabbruch ihrer Mutter und deren ätzenden Abscheu in Kauf genommen, um ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Ich brauche Zeit, hatte sie nicht nur getextet, sondern während vieler schmerzhafter Telefonate auch immer wieder gesagt.

Die junge Influencerin hatte in ihrer Verzweiflung versucht, alle Register zu ziehen, denn kurz vor ihrem Vertrauensbruch hatten sie einander zum ersten Mal bewusst ihre Liebe gestanden. Eleni jettete durch die Welt, promotete ihr eigenes T-Shirt-Label und stand für die queere Gemeinschaft ein, indem sie auf ihrem Instagram-Kanal, TikTok und in ihrem Blog kein Blatt vor den Mund nahm. Es war das Vorrecht der jungen Leute, neue Wege zu gehen, kämpferisch zu sein und alte Muster zu hinterfragen. Penelope hatte als junge Frau dieses Privileg nicht genossen, denn auf Kreta hinkte man der Zeit einfach um Jahrzehnte hinterher, und eine Frau, die Frauen liebte, war nicht nur verwerflich, sondern auch eine Schande für die Familie: Sie würde keine Kinder in die Welt setzen und damit der Frauen zugedachten Aufgabe entsagen. Sie war nach Athen gegangen, um zu studieren, und hatte dort ihre zweite fatale Fehlentscheidung getroffen, als sie beschloss, das Fachgebiet Pathologie auszuwählen. Ihre Mutter hatte nach der herben Enttäuschung über die Beziehungsausrichtung ihrer Tochter zumindest von ihr erwartet, in einer schicken Privatpraxis zu praktizieren, doch stattdessen sägte diese Tote auf. Alles war immer vertrackter geworden, und der Weg zurück in die Arme ihrer Familie war ihr dann endgültig verwehrt geblieben, als ihre geliebte Yaya starb und die Mutter ihr die Schuld dafür gab: Sie konnte nicht damit leben, eine Lesbe als Enkelin zu haben, die Tote verstümmelt!

Jetzt war sie wieder zur Ausgestoßenen geworden. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wer sie war, doch Fotomontagen von zwei – wahrscheinlich aus Pornos herauskopierten – sexuell aktiven weiblichen Körpern, auf die man ihren und Elenis Kopf gebastelt hatte, überall als Flugblatt zu finden, untergruben ihre Vertrauenswürdigkeit als Rechtsmedizinerin. Nicht weil man an ihren grundsätzlichen medizinischen Fähigkeiten zweifelte, sondern an ihrer Integrität. Was würde sie mit dem Kopf zwischen den Brüsten oder Beinen der Jüngeren wohl alles ausplaudern … Diese Frage stellten die Flugblätter, Schmierereien an Wänden und jede Menge Posts in den sozialen Medien. Die Moralapostel hatten sich aufgeschwungen, sie zu vernichten, und obwohl ihr klar war, dass sie ihnen durch ihr Fortgehen quasi in die Hände arbeitete, hatte sie die Kraft noch nicht gefunden, dem allem die Stirn zu bieten. Das Apartment hier gehörte einer ehemaligen Studienkollegin, die gerade für Ärzte ohne Grenzen in Afrika war. Bleib, solange du willst, Penelope, hatte sie angeboten, ich bin froh, wenn jemand auf mein Kleinod achtet, denn ich habe hier viel zu tun. Willst du nicht auch kommen? Wir können jede helfende Hand brauchen!

Penelope hatte kurz darüber nachgedacht, das Angebot anzunehmen, doch dann war ihr klar geworden, dass sie in ihrem aktuellen Zustand für niemanden eine Hilfe sein würde. Sie musste erst zum Kern ihres Wesens durchdringen und sich in die Balance bringen, bevor sie für andere tätig werden konnte.

Sie sah der Sonne beim Aufgehen zu und packte ihr Heimweh ganz nach hinten in ihr Herz. Sie war noch nicht so weit.

3. Kapitel

»Wir spüren alle, dass sich die Dinge irgendwie verändert haben, ohne es richtig greifen zu können, und das bezieht sich auch auf politische Ausrichtungen«, sinnierte Elonidas Spectros und schaute dabei an seiner Kollegin Maria Chrisaki vorbei ins Leere. Er war prinzipiell eher ein Zahlen, Daten, Fakten-Typ. In der Informatik gab es Klarheit und Nachvollziehbarkeit, und seine Führungsrolle bei der Cyber-Einheit bot ihm genau diesen Rahmen. Natürlich analysierten und interpretierten sie hier auch, doch jene Schwingungen, die er, seitdem die Pandemie vorbei war, wahrnahm, waren von anderer Qualität.

»Die Leute sind bekloppt geworden«, brachte Maria es mit ihrer kratzigen Stimme auf den Punkt. »Oder sie waren es schon immer, und jetzt verbergen sie es einfach nicht mehr.«

»Beides ist schlimm.« Er schaute sie an.

Sie saß wie immer hinter dem großen Schreibtisch, füllte den Platz gut aus und damit mittlerweile auch das, was ihnen Stelios Mentakis hinterlassen hatte. Sie waren ein gutes Team und ergänzten sich: Maria kümmerte sich um das Administrative, er war operativ unterwegs. Sie war unbequem und laut, nahm kein Blatt vor den Mund und legte ihre Finger gern in Wunden. Er war eher introvertiert und überlegte dreimal, bevor er etwas ansprach. Seine Aussage bezog sich sowohl auf interne Herausforderungen als auch auf das, was seine Abteilung ihm zurückmeldete – aber auch auf seine ganz persönlichen Beobachtungen. Etwas hatte sich spürbar verändert, und das verursachte ihm Unwohlsein. Seit dem letzten großen Fall rund um das Attentat auf Mentakis war er dünnhäutig geworden. Noch war seine Seele nicht fähig gewesen zu verarbeiten, was er hatte sehen müssen, und seine regelmäßigen Besuche beim Psychologen brachten dies deutlich zutage.

Sie kämpften alle damit. Maria versteckte die Erschütterung hinter ihrer rauen Schale und kippte in den belastendsten Momenten ein Gläschen Tsikoudia, den ihr Onkel in den Bergen heimlich brannte und der so scharfkantig war, dass er einem beinahe die Mundschleimhaut wegätzte. Er schien auch dunkle Gedanken zu zerfressen …

Zacharis Zentakis – Hyeronimos Galavakis’ Mitarbeiter – war seitdem noch blasser geworden und verbrachte immens viel Zeit damit, Akten zu digitalisieren. Es war keine seiner originären Aufgaben, doch sie ließen ihn alle gewähren. Er war ein kauziger Kerl mit Sprachfehler, aber ein hervorragender Ermittler, auch wenn er im Regelfall nicht mit in den Außendienst ging.

Wie Penelope Demostaki mit alldem fertigwurde, konnte er nicht sagen. Sie war während der Beweismittelsichtung mehrfach zusammengebrochen, und ihre private Krise hatte es ihr gewiss nicht leichter gemacht, eine posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern.

Galavakis war dieser speziellen Recherchearbeit entkommen, hatte aber mitansehen müssen, wie ein Vierzehnjähriger an seiner Schussverletzung gestorben war.

Keiner von ihnen war dieselbe Person wie vorher, doch aus seiner Sicht waren sie alle einschätzbar geblieben. Bis auf Christos Papadakis. Doch der hatte sich einem offiziellen Verfahren stellen müssen, und seitdem war er … na ja … irgendwie eingeschnappt. So als hätte nicht er einen folgenschweren Fehler begangen, sondern irgendwer, auf den sein Zeigefinger deutete. Am Ende war es immer Galavakis, denn mit dem hatte er nach wie vor einen Film am Laufen. Papadakis sah einfach nicht, dass mindestens drei Finger auf einen selbst zeigten, wies man mit einem Finger auf andere.

Sie hatten also bereits in den eigenen Reihen genügend Potenzial für Probleme. Und Michalis Manousakis, der Pathologe, der nun an Penelopes Stelle die wichtige Zuarbeit leistete, war so anders als sie, dass kaum jemand mit ihm warm wurde. Die Sektionsassistentin Giorgia hatte schon mehr als einmal mit Kündigung gedroht, weil er zudem vollkommen humorlos war und Musik im Sektionssaal verbot. Dass die Welt dort draußen am Rad zu drehen schien, sich Verschwörungstheorien wie Stechmücken vermehrten und aggressionsgeladene Übergriffe zunahmen, machte alles noch schwerer.

»Du schmeißt doch nicht hin«, holte ihn Maria aus seinen Gedanken und tippte klackend mit einem ihrer langen roten Nägel auf die Tischplatte.

Er schüttelte den Kopf. Zwar konnte er sich nicht ganz davon freisprechen, schon einmal daran gedacht zu haben, wie gemütlich sein Cyber-Posten im Vergleich zu dem hier war, aber er war kein Mann der leichtfertigen Entscheidungen. Er hatte Alpha gesagt, und damit musste er auch Beta sagen. »… und überlasse das Ganze hier dir?« Er machte eine den Raum umfassende Geste. Sie hatten das Büro mittlerweile umgestaltet, denn die Erinnerungen an die Betreuung durch den Psychologen in diesen vier Wänden war für alle lebendig und damit auch die Bilder … Nein … er durfte es nicht zulassen.

»Tsikoudia, Spectro!«, bellte Maria nicht feinfühlig, sondern bewusst grob. Sie kannte ihn und hatte gewittert, was gerade in ihm vorging.

»Es ist neun Uhr morgens, Maria …«

»Mein Großvater …«, begann sie.

»… wurde hundert, weil er sich jeden Morgen und jeden Abend ein Gläschen gegönnt hat«, vervollständigte er den Satz, der auf Kreta mehr als nur ein geflügeltes Wort war, denn beinahe jeder hatte in seiner Familie einen Papous wie diesen.

Es hatte geklappt, und er war wieder aus seinen Gedanken aufgetaucht.

»Was wolltest du mir denn mit deinem Einstiegssatz sagen?«, erkundigte sie sich.

»Wir stoßen wieder vermehrt auf Parolen, Kreta zu einem unabhängigen Staat zu formen. Dazu erscheint die alte Flagge mit dem Stern, und es sind deutlich massivere Schwingungen. Theorien, dass einflussreiche Gruppierungen das Ganze unterstützen, gibt es ebenfalls. Mit Hinweisen auf unsere gemeinsame Freundin, die Wohltäterin.«

»Das ist doch nichts Neues. Was ist denn jetzt anders? Ich kann ja sehen, dass dich das wirklich beschäftigt.«

»Die Tonalität verändert sich, und der Angriff auf die Touristen letztes Jahr hat sich dabei auch zu einem Akt manifestiert, den die einen als rassistisch bezeichnen und die anderen für Kreta gehört uns benutzen. Ich halte das für … na ja … bedenklich. Eben weil die Stimmung allgemein so …« Er suchte nach dem richtigen Wort, und nun war es Maria die seinen Satz beendete.

»… aufgeheizt ist.«

Er spielte auf einen Zwischenfall auf der Nationalstraße an, bei dem einige Einheimische einen Mietwagen mit Touristen absichtlich gerammt hatten. Die Presse in ganz Europa hatte die Geschichte aufgegriffen und sich gefragt, was diese Feindseligkeit auf Kreta wohl zu bedeuten hatte. Es war bisher bei dem einen Übergriff geblieben – Gott sei Dank!

»Ja, so kann man es wohl nennen. Gleichzeitig verstehen wir alle, dass niemand seinen Gürtel noch enger schnallen kann, um die Inflation aufzufangen. Der Unmut darüber wird lauter.«

»Wir reden quasi ständig darüber, dass alles teurer wird, aber keiner erheblich mehr Geld mit nach Hause bringt. Und diese Saison hat das zu Beginn irgendwie noch angespannter werden lassen. Ich habe in fast jeder Taverne und jedem Laden in Strandnähe das Gleiche gehört: Die Leute buchen eher All-inclusive-Angebote. Die Restaurants an den Promenaden haben bis Ende August über Gästemangel geklagt.«

»Und finden sonderbarerweise kein Personal«, warf er ein und kapierte diese Entwicklung tatsächlich nicht.

»Auch das habe ich gehört. Zuverlässiges Personal ist Mangelware geworden. Beißt sich da aber nicht die Katze in den Schwanz? Ich meine, wenn ich zu Hause sitze, bekomme ich auch kein Geld …«

»Das müssen wir wohl differenzierter betrachten, Maria. Im Vergleich zu den Leuten, die Saisonjobs machen, verdienen wir solide. Bei vier oder fünf Euro pro Stunde kommt eben nicht viel zusammen.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.

»Es bleibt aber Geld, und die meisten Jobs gehen nicht länger als sechs oder sieben Monate. Klar ist das anstrengend, aber zwölf Monate im Jahr Mörder zu jagen ist auch nicht ohne.« Maria verteidigte ihren Standpunkt.

»Wir haben beide recht, Maria. Was ich damit sagen will, ist, dass die Grundstimmung sich nicht ändern wird, wenn die Rahmenbedingungen gleich bleiben. Und wenn das alles noch schlimmer wird, dann wird etwas passieren.«

»Uah. Das klingt jetzt aber kryptisch und zugleich bedrohlich«, erwiderte sie.

»Es ist mir ernst damit, und meine Leute spüren das auch: Etwas baut sich auf, und wir müssen aufmerksam bleiben. Das ist alles, was ich sagen will, und dass du deine Ohren aufsperrst, wenn du zum Beispiel deinen Onkel besuchst. In den Bergen wissen die Leute oft mehr über diese Dinge, als wir hier in der Stadt mitbekommen.«

»Ich höre sowieso immer gut zu, aber ich werde tatsächlich mal versuchen, Gespräche auf diese Thematik zu lenken.«

Wieder sahen sie sich an und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

»Du hast Filomena Serpantaki eben erwähnt«, griff sie seinen Hinweis zu der Frau auf, die allgemein als die Wohltäterin bekannt war. »Wissen wir mittlerweile irgendetwas über den Verbleib von Michalis?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist tot, und sie hat ihn da verscharrt, wo er seine erste Frau vergraben hat. Wenn er das Land verlassen hätte … Ich kann mir nicht vorstellen, dass er über solche Unsummen an Bargeld verfügt, die man für ein so spurloses Untertauchen benötigt. Wir müssten irgendwo eine Form von Bewegung wahrnehmen. Natürlich wissen wir nicht, in welchen Ländern er über Bankkonten verfügt, aber wirklich zu verschwinden ist für eine lebende Person nicht ganz so leicht, wie es scheint. Zumal der Boss ja auch einen gewissen Anspruch an Lebensqualität hat.« Der führende Kopf des Mafia-Unternehmens, Michalis Serpantakis, war nach einem Schusswechsel in den Bergen mit der Polizei spurlos verschwunden. »Die Organisation scheint unter der Leitung seiner Schwester gut zurechtzukommen. Hättest du Filomena das zugetraut?« Maria beugte sich neugierig vor.

»Eher nicht. Wobei die beiden bis zum Tod ihres Sohnes wirklich ein Kopf und ein Arsch waren. Er hat sich da ein echtes Eigentor geschossen.«

»Man sollte einer Mutter nicht verbieten, sich ordentlich von ihrem einzigen Kind zu verabschieden. Eine einfache Beerdigung und ein Grab auf dem Friedhof von Zoniana … Wenn er den Frieden in seiner Region für so brüchig hielt, dass noch nicht mal das drin war …« Maria hob fragend die Schultern.

»Ist Frieden nicht immer brüchig?«, wollte er wissen. Die Frage war aber mehr hypothetischer Art als an Maria gerichtet.

»Das ist er wohl«, bestätigte sie seine Worte. »Lass uns schauen, was aktuell anliegt. Wir halten die Augen offen, was diese Entwicklungen betrifft, und kümmern uns jetzt mal um unser Tagesgeschäft. In Ordnung, Elonida?«

Er nickte und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber.

4. Kapitel

Kassia wandte sich um und strich sich das lange Haar über die Schulter. Die bevorstehende Reise beunruhigte sie. Natürlich war Kreta wunderschön und das Hotel, in dem sie wohnen würden, schick und mit großartigem Blick auf die Ägäis – doch es war seine Insel! Sie hatten sich lange nicht gesehen, und die regelmäßigen Telefonate waren ihr einziger Kontakt. Es änderte nichts an dem, was sie verband, änderte nichts an der Liebe, die ihre Herzen miteinander verwoben hatte, und an dem, was die Grundlage ihrer Beziehung war. Natürlich hatten sie auch die Einheit ihrer Körper genossen, doch das lag schon Jahre zurück. Das war es nicht, was sie einander für immer nahe sein ließ. Ihre Seelen schwangen im selben Rhythmus. Sie spürten sich über die vielen Kilometer hinweg und fühlten, was der andere fühlte. Kassia wusste, wann es ihm schlecht ging oder er in Gefahr schwebte, und dieser besondere Mann kannte sie wie niemand sonst auf diesem Planeten.

Sie hatten es beide in jenem Moment verstanden, als sie einander das erste Mal gesehen hatten – damals bei der Ehrungsfeier. Ihre Blicke hatten sich getroffen und ihre Herzen nach einem kurzen Stocken plötzlich im Einklang geschlagen. Das vollkommen Verrückte: Es war ihnen bewusst gewesen. Sie hatten es nicht später bei einem intensiven Gespräch herausgefunden, sondern in der Sekunde, in der es geschehen war. Als wäre Magie im Spiel gewesen.

Für sie war es viel verwirrender gewesen als für ihn, denn er war per se außergewöhnlich, konnte Menschen ganz anders wahrnehmen als der Großteil ihrer Spezies, und während sie an der Seite ihres Mannes den Raum durchschritten hatte, hatte er mit einem Glas Wein in der Hand an einer Säule Halt gefunden. Er hatte sie in eine goldene Aura gehüllt wahrgenommen und erklärte ihr seither regelmäßig, dass sie es war, die ihn immer wieder aus seiner eigenen Dunkelheit rettete. Dabei tat sie nichts, außer für ihn da zu sein.

»Würdest du bitte kurz über die Sachen, die ich zurechtgelegt habe, schauen, meine Liebe«, unterbrach Thanasis ihre Gedanken, und sie musste an sich halten, um nicht erschrocken zusammenzuzucken.

»Selbstverständlich.« Sie hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. Natürlich war ihr bewusst, dass ihre Liebe zu einem anderen Mann ihre Ehe in Gefahr brachte, doch gleichzeitig war die Beziehung zu Thanasis eben auch anderer Natur. Sie waren ein Bündnis eingegangen, das zwei einflussreiche Familien miteinander verband, und ihr Geld hatte den Weg für seinen Aufstieg maßgeblich geebnet. Auf gewisse Art waren sie einander immer fremd geblieben, auch wenn sie spürte, dass er sie als seinen Besitz betrachtete – wie ein Schmuckstück. Etwas, was man zur Zierde besaß und entsprechend vorzeigte, denn sie war nicht nur schön, sondern auch klug. Sie waren sich innerlich nicht nah, und ohne es zu wissen, hatte sie das wohl vermisst. Wie sonst war es zu erklären, was ihr mit Hyeronimos passiert war? Wie wahrscheinlich war es, dass man seine fehlende zweite Hälfte fand bei all den Milliarden Menschen auf diesem Planeten? Seitdem er da war – seitdem sie gefühlt hatte, dass er es war –, war sie vollständig.

Anfangs hatte sie noch versucht, die Veränderung, die dieses intuitive Wissen verursacht hatte, zu verbergen, doch irgendwann war ihr das dumm erschienen. Diese Liebe, diese Verbindung machte einen besseren Menschen aus ihr, und das musste sie nicht vertuschen. Nur den Grund behielt sie für sich. Das, was zwischen Hyeronimos und ihr war, gehörte nur ihnen beiden, und niemand sollte es mit Schmutz bewerfen. Sie waren nicht darauf aus, sich ständig mit verschwitzten Körpern zwischen den Laken zu wälzen.

Bei ihrem letzten Treffen in einem VIP-Besprechungsraum am Athener Flughafen hatten sie einander in den Armen gehalten, ihre Energien miteinander verbunden, Kraft in dem Gehaltenwerden und Halten gefunden. Das war die wahre Grundlage ihrer Liebe und nicht sexuelle Anziehung. Als sie sich diesem körperlichen Bedürfnis damals hingegeben hatten, war es wunderschön gewesen. Hyeronimos hatte sich als leidenschaftlicher Liebhaber entpuppt, und für sie war es wie das erste Mal gewesen. Was es ja auch irgendwie war – denn mit dem richtigen Menschen war Sex eine unglaubliche Erfahrung: Körper und Seele im Einklang!

Sie ging in Thanasis’ Schlafzimmer und betrachtete seine Auswahl. Er hatte Kombinationen für die offiziellen Anlässe gewählt, aber auch lässige Leinenoutfits für das Freizeitvergnügen. Es war in Ordnung. »Hast du an deinen Hut gedacht?«, erkundigte sie sich.

»Ah, gut, dass du mich daran erinnerst.« Er öffnete die Tür zu seinem Ankleidezimmer, brachte den Panamahut und noch ein Paar braune Lederpantoletten.

»Und ich denke, wir benötigen festere Schuhe, falls wir in die Berge oder auf die Südseite müssen«, fügte sie hinzu.

Er wies auf die Turnschuhe neben dem Bett, und sie wiegte den Kopf nachdenklich hin und her. »Zum Anzug trägst du diese ja nicht so gern. Darf ich?« Sie wandte sich in Richtung Ankleidezimmer.

»Selbstverständlich.«

Sie zog ein Paar aus braunem Leder mit cognacfarbenen Nähten aus dem Regal, zeigte es ihm und legte es nach seiner Zustimmung zu den anderen Sachen. All das kannten sie aneinander. Sie wusste, welche Marke er bei seinen Anzügen bevorzugte, er, welche Absatzhöhe sie bei welchem Anlass trug – aber wonach es ihre Seelen verlangte, das wussten sie nicht. Außer sein ständiges Streben nach immer mehr Macht und Einfluss … dessen war sie sich bewusst! Es war in Ordnung, dass er das wollte. Grundsätzlich. Doch sie hatte mittlerweile oft das Gefühl, dass es dabei keine Prinzipien für ihn gab, denen er treu blieb.

Leider war Scheidung keine Option, denn ihre Eltern hatten bei der Eheschließung damals darauf bestanden, dass alles, was ihr gehörte, auch ihm zustand. Und sollte sie ein einigermaßen anständiges Leben führen wollen, so würde es eine Schlammschlacht um das Vermögen geben. Das würde er mit allen Mitteln verhindern, um den damit verbundenen Schatten auf seinem Ruf als durchsetzungsstarker Politiker zu vermeiden, denn Thanasis Petropoulos hasste die Beschädigung seines Rufs.

»Du weißt, dass uns Dimitris Stefanakis bei einigen offiziellen Anlässen begleiten wird?«, erkundigte er sich. Er mochte den Mann nicht besonders und machte keinen Hehl daraus.

»Das ist mir bekannt. Welche Ziele verfolgt ihr damit?«

»Pah«, stieß er aus, »wenn es nach mir ginge, könnte er bleiben, wo der Pfeffer wächst, aber wir sollen Einigkeit demonstrieren. Das ist nach der Wahl doch immer wichtig, und vor allem auf Kreta geht es darum, Stärke und Solidarität zu zeigen, sowohl zwischen uns als auch in Bezug auf das Gefüge auf der Insel. Da brodelt es …«

Sie strich sich über die cremefarbene Marlene-Hose und vergewisserte sich, dass die weiße Bluse mit dem schönen V-Ausschnitt perfekt im Hosenbund saß, bevor sie etwas erwiderte. Die Gesten verschafften ihr etwas Zeit, sich ihre Antwort zu überlegen.

Hyeronimos hatte ihr einiges über seine Zusammenarbeit mit Stefanakis berichtet, und obwohl auch er keine tiefe Sympathie für den Minister empfand, hatte er doch durchaus wohlwollend über dessen Arbeit gesprochen. Stefanakis wollte das Gleichgewicht auf der Insel halten, und dazu bedurfte es eben hin und wieder unliebsamer Entscheidungen. Zudem hatte der Mann einen herben persönlichen Schlag erlitten, als sein Sohn bei einem Mordfall zwischen die Fronten geraten war. Für Thanasis jedoch war das wahrscheinlich irrelevant, denn beide Männer spekulierten stark auf die Stelle des Innenministers, und noch hatte der Premier sein Kabinett nicht komplett umgestaltet. Außerdem hatte auch eine wirklich unschöne Entwicklung rund um den EYP arge Wellen geschlagen. Der Geheimdienst war wieder einmal in die Schlagzeilen geraten, und ein Mitarbeiter hatte sich sogar vor Gericht seinen Taten stellen müssen. Die eiserne Staatsanwältin – so nannte man Alexandra Papadopoulo allenthalben – hatte nicht lockergelassen und ihn zur Verantwortung gezogen. Sie machte einen guten Job und ließ sich nicht von ihrem geraden Weg abbringen, doch politisch gesehen waren solche Erschütterungen kontraproduktiv, denn gerade jener Teil des EYP unterstand dem Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis persönlich …

»Wo seid ihr denn einer Meinung?«, fragte sie, ganz auf Geschlossenheit gepolt.

Er hob in einer theatralischen Geste die Arme. »Nirgends, aber für alle da draußen haben wir natürlich viele Übereinstimmungen …«

Er war ihr so fremd.

Jetzt, wo die Reise nach Kreta bevorstand und sie Hyeronimos so viel näher sein würde, war ihr plötzlich ganz besonders bewusst, wie groß der Abstand zwischen ihr und ihrem Gatten war. Das würde sich auch nicht mehr ändern – und doch war er ihr Ehemann.

5. Kapitel

»Wir dürfen uns nicht dazu hinreißen lassen, zu sehr wie die Männer sein zu wollen«, sagte Anna-Maria und schaute ihr gerade ins Gesicht.

Filomena Serpantaki schätzte genau diese Art sehr. Anna-Maria war keine Speichelleckerin, und sie wurde von ihrer steten Wut wie eine Maschine angetrieben. Zudem verband sie beide die unstillbare Trauer über den Verlust eines Kindes. Während Filomena ihren einzigen Sohn verloren hatte, saß der zweite Junge von Anna in Athen im Gefängnis. Er war noch keine achtzehn, aber Michalis – ihr verschlagener und ruchloser Bruder – hatte den Teenager instrumentalisiert.

Michalis … einst waren sie unzertrennlich gewesen: der Boss und die Wohltäterin! Dann hatte er dafür gesorgt, dass sie seine erbitterte Feindin wurde, und nun residierte sie in seinem ehemaligen Büro und genoss den unglaublichen Blick aus den bodentiefen Fenstern auf das Bergpanorama. Er war fort – mehr gab es dazu nicht zu sagen. Sie saß beinahe gottgleich auf dem Thron des von ihnen gemeinsam geschaffenen Imperiums, und Anna-Maria war zu ihrer rechten Hand geworden. Deren verstorbener Mann hatte schon für die Organisation gearbeitet, und Filomena musste ihr die Regeln nicht erklären. Eine Entscheidung für einen Job dieser Art war nicht mehr rückgängig zu machen und endete mit dem Tod … So oder so!

»Natürlich hast du recht, und doch geht es auch darum, nicht schwach oder gar angreifbar zu wirken. Manchmal muss Härte demonstriert werden, die Schmerz nach sich zieht«, blieb sie unnachgiebig.

Sie waren sich darin einig, nichts zu tun, was Kinder gefährdete, und hatten vor, das Papa-Prinzip umfassend zu überdenken. Gleichzeitig musste aber eben auch Nachwuchs herangezogen werden, denn nur das bot im Regelfall wirkliche Loyalität. So wie bei Anna-Marias Söhnen.

Doch das wollte Filomena nun nicht diskutieren. Als Papa zog man sich hoffnungsvolle, meist vaterlose Kinder heran. Man bot ihnen Jobs, anfangs legale Kleinigkeiten, um sich ein paar Euro hinzuzuverdienen – packte sie bei der Ehre, es für das Überleben der Familie zu tun. Man lobte die Kids überschwänglich, machte ihnen hier und da kleine Geschenke. Nichts Besonderes: mal ein T-Shirt oder einen Lippenstift. Eben etwas, was signalisierte, dass man wusste, was die Person mochte. Es war ein Zeichen, das laut schrie: Ich kenne dich und beschäftige mich mit deinen Wünschen. Danach verfielen die Kinder einem rasch, und man konnte die härteren Bandagen »anlegen«. Dann kamen die ersten illegalen Aufgaben, und die Zöglinge fuhren zum Beispiel mit einem knatternden Mofa Drogentütchen von einem Dorf zum anderen. Man konditionierte sie auf das Wohlwollen des Papa und den damit verbundenen relativen Reichtum für ihre Familien. Wer sonst von einem Tagesgehalt zwischen zwanzig und dreißig Euro leben musste, der war unglaublich dankbar für jeden zusätzlichen Cent im Geldbeutel. Und irgendwann spielte es auch keine Rolle mehr, dass die Kinder zu Verbrechern wurden.

Anna-Maria und sie waren, was das Konzept anging, grundsätzlich einer Meinung: Es brachte Kinder in Lebensgefahr, und doch konnten sie ja auch keine Zeitungsannoncen für ihre Jobs schalten. Nicht, nachdem die Polizei die Organisation seit Jahren im Auge hatte und sogar erfolgreich einen Spitzel einschleusen konnte. Michalis war hier mit voller Härte vorgegangen. Wie immer … Filomena war seit Jahren fest davon überzeugt, dass er nicht einmal davor zurückgeschreckt war, seine erste Frau umzubringen. Sie hatte sich scheiden lassen wollen, dann war sie plötzlich weg gewesen. Angeblich hatte sie sich mit jeder Menge Bargeld und Schmuck aus dem Staub gemacht. Wer auch immer diesem Märchen Glauben geschenkt hatte, war ein hirnverbrannter Idiot.

Jetzt war er es, über den man Selbiges erzählte – glaubhaft, denn er hatte etwas sehr Dummes getan. Sie wollte nicht sein wie er, und doch hatte sie in den letzten Monaten in diesem Zimmer, an diesem Schreibtisch, erkannt, wie vielfältig die Aufgaben waren und wie viel es zu bedenken galt. Sie hatte seine legendären Notizbücher irgendwann aus dem Tresor herausbekommen, und diese Mitschriften verliehen echte Macht. Doch sie war in einen wirklichen Zwiespalt geraten, als ihr bewusst geworden war – wirklich bewusst! –, womit sie so einen riesigen Umsatz machten: Menschenhandel! Ohne Rücksicht auf das Alter! Und wollten sie nicht, dass Kinder zu Schaden kamen, dann musste sie einen Teil dieses Gewaltreigens unterbinden. Es stellte sich als Mammutaufgabe dar, und Filomena war gerade versucht – genau wie ihr Bruder –, die Verantwortlichen, die nicht gehorchen wollten, in einer Reihe aufzustellen und zu exekutieren.

Aber natürlich hatte Anna-Maria recht. Sie war zu einer Art moralischem Zeigefinger für Filomena geworden, denn sie hatte sich eine gewisse Art von Naivität bewahrt, auch wenn ihre Welt mehrfach zusammengestürzt war.

»Ich verstehe deinen Standpunkt sehr gut, Filomena. Der Respekt, den man dir stets zollte, fußte auch auf der Angst vor deinem Bruder. Wir brauchen eben eine gute Mischung aus Hochachtung, Ehrerbietung und … Furcht. Dazu müssen wir taktisch klug vorgehen und einige vor unseren Karren spannen, ohne dass sie es merken.«

Anna-Maria war ein echtes Kind der Berge und nie wirklich herausgekommen, während Filomena die Welt bereist und durch den Reichtum, den Michalis und sie irgendwann erlangt hatten, auch die Mittel und Möglichkeiten gehabt hatte, an ihrer Bildung zu arbeiten. Sie kannte die Werke von Platon und Aristoteles, sprach gutes Englisch und sogar einige Brocken Russisch – aber die Frau mit den scharfkantigen, müden Gesichtszügen verfügte über eine Art Bauernschläue, die regelmäßig mitten ins Schwarze traf. Filomena hatte gelernt, ihr zuzuhören und dann Strategien zu planen.

6. Kapitel

»Ja«, rief Hyeronimos auffordernd und hob den Kopf.

Dem Klopfen an seiner Bürotür folgte ein zaghaftes Öffnen der Tür, und sein Assistent Zacharis Zentakis steckte seinen Kopf vorsichtig herein. Er trug das Haar auf eine sonderbare Weise aufgerollt und versuchte damit recht erfolglos, eine Halbglatze zu verbergen. In den letzten Monaten war er noch blasser geworden, und Hyeronimos hatte sich oft Vorwürfe gemacht, ihn all dem ausgesetzt zu haben, was nötig gewesen war, um ihren letzten großen und sehr verzwickten Fall aufzuklären. Wurde einer von ihnen zum Opfer, so rollte das wie eine Welle des Schreckens durch den Polizeiapparat. Und dass man ausgerechnet auf den in seiner Selbstfindungs-Auszeit befindlichen Stelios Mentakis geschossen hatte, war für sie alle grausam gewesen. Sie hatten in die Tiefen menschlicher Bösartigkeit hinabsteigen müssen, und Zacharis litt nach wie vor ganz besonders darunter.

Hyeronimos hatte anfangs so seine Schwierigkeiten mit dem Mann gehabt, der oft auf Außenstehende seltsam und abstoßend wirkte, doch dann hatte er ihn immer mehr zu schätzen gelernt. Heute war Zacharis unersetzbar für ihn. Nicht nur Maria und Elonidas als Führungskräfte, sondern auch er als direkter Vorgesetzter von Zacharis musste sich Gedanken machen, wie dem Mann zu helfen war. Hyeronimos war kein Mensch, dem es leichtfiel, locker flockige Konversation zu betreiben und enge Beziehungen aufzubauen. Penelope hatte immer dafür gesorgt, dass diese Komponente in seinem Leben genügend Raum erhielt. Sie hatte ihn besser gemacht. Mit ihr konnte er auch mal scherzen, und er wirkte durch ihr Vorbild empathischer. Himmel, er durfte sich nicht wieder in diesen Sentimentalitäten verlieren.

»Komm bitte herein«, forderte er den unschlüssig in der Tür stehenden Mann auf, und Zacharis trat ein. Er hatte eine Akte in der Hand. Hyeronimos bat ihn mit einer Geste, Platz zu nehmen.

Sein Büro war hell und aufgeräumt. Das war extrem wichtig, denn er ertrug keine Störung seiner Ordnung. Das war der gesamten Abteilung deutlich klar geworden, als eine Reinigungskraft vor Jahren seine Akten umgelegt hatte, um Staub zu wischen. Eine Panikattacke hatte ihn heimgesucht, und ausgerechnet Christos hatte ihn gefunden, einen Herzinfarkt vermutet und den Notarzt herbeigerufen. Es hatte das Verhältnis zwischen ihnen massiv verschlechtert, da sein Kollege der Ansicht war, dass jemand mit Panikattacken nicht als Kommissar arbeiten durfte.

»Ich will n’ch stör’n Ch’f«, nuschelte sein Assistent, dessen Sprachfehler sich im Regelfall durch Stress verschlimmerte.

»Du störst mich nicht, Zachari. Was hast du mitgebracht?« Hyeronimos deutete auf die Akte.

Zacharis legte sie auf den Tisch, klappte sie auf und zog zwei Fotos heraus. Hyeronimos erkannte eine Person sofort. »Anna-Maria Fillipaki«, sagte er, und Zacharis nickte.

»Sie fl’gt fast jede W’che nach Athen. M’t dem Heli!«

Hyeronimos musste nicht nachfragen, warum Zacharis dies für berichtenswert erachtete. Sie tauschten einen verstehenden Blick. Wenn Anna-Maria den Helikopter wie selbstverständlich benutzen durfte, erhöhte das ihren Grad an Wichtigkeit in der Organisation enorm. »Um ihren Sohn im Gefängnis zu besuchen?«

Zacharis war ein Meister der Recherche, und er hatte gewiss noch mehr in petto als eine treusorgende verzweifelte Mutter. »Ja. Ab’r sie trifft auch Leute. Hab ’nen Kump’l von der Polizeischule angeruf’n. Der hat sich das m’l ang’schaut.« Er schob Hyeronimos ein zweites Foto über den Tisch.

»Offiziell?«

Zacharis schüttelte den Kopf, hielt Hyeronimos’ fragendem Blick aber stand.

»Okay … Das sieht nicht wie ein Taxi aus. Weißt du, wo die Limousine hingehört und wohin sie die Frau bringt?«

»V’rfolgen wollte er nicht. Er w’ll keine Probl’me. D’s Auto g’hört zu ein’m Pool, auf d’n Leute d’r Regierung zugreif’n könn’n.«

Hyeronimos spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Ging es dabei noch um den Teenager in Haft auf dem Festland, oder nutzte die Frau an der Seite der Wohltäterin ihre Aufenthalte auch für andere Dinge? Es war keine Neuigkeit, dass die Mafia über sehr viele Kontakte verfügte, und gerade Filomena Serpantaki hatte durch ihre zahlreichen Spenden bei vielen Menschen noch einen sehr guten Ruf. Sie war zudem attraktiv, charmant und gebildet – dann konnte man ja nicht böse sein! So, als wären gutes Aussehen und schicke Kleidung ein Garant für ein edles Herz.

»Sie müssen gewiss ihr Netzwerk neu justieren, nachdem Michalis verschwunden ist.« Er seufzte, denn er war sich sicher, dass der Boss nicht mehr lebte. Doch würden sie das je beweisen können? Hatte Filomena ihn selbst auf dem Gewissen oder vielleicht sogar Anna-Maria? Beide Frauen hatten ein Motiv. Hyeronimos konnte es sich nicht vorstellen, dass sie jemanden aus den Reihen des Mannes hatten gewinnen können, um ihn auszuschalten. Damit hätten sie sich angreifbar gemacht. Es würde wohl ein ewig ungeklärtes Rätsel bleiben. Interessant war nur, dass seine Schergen sich Filomena unproblematisch untergeordnet hatten. Wobei sie ganz offensichtlich seine »rechtmäßige« Nachfolgerin auf dem Thron in den Bergen darstellte, denn sein Nachwuchs aus zweiter Ehe war noch klein. Michalis’ Tochter aus erster Ehe war mit einem einflussreichen Magnaten auf dem Festland verheiratet, der als politisch rege galt. Eine arrangierte Verbindung – so viel war klar. Die junge Frau, die Michalis geehelicht hatte, um einen Sohn zu zeugen, war weder geeignet, in seine Fußstapfen zu treten, noch hätte Filomena das zugelassen. Dessen war er sich sicher. Er kannte die Frau, hatte sich mit ihr zu einem Vieraugengespräch getroffen und verstanden, dass sich unter der Maske der Wohltäterin auch nur eine weibliche Version von Michalis verbarg. Bei ihm hatte man nach all den Jahren gewusst, woran man war. Bei ihr galt es noch, das herauszufiltern. »Ich verstehe, dass sich dein Kollege in Athen nicht in Gefahr begeben möchte. Es wäre aber tatsächlich wichtig, herauszufinden, mit wem sie sich da trifft …«

»Ich fr’g ihn, aber ich w’ll auch n’cht, dass er ein Risiko eing’ht.«

»Natürlich. Stefanakis wäre eine weitere Möglichkeit, doch was, wenn er es ist, mit dem sie sich da trifft. Ich will ihm gern trauen … wirklich … auch weil ich weiß, dass Stelios ihm traut, aber etwas in mir hält mich davon ab, es vollständig zu tun.«

Hyeronimos ließ seinen Blick auf dem großen Bild vom Meer ruhen, das an der Wand gegenüber dem Schreibtisch hing. Er brauchte den Ozean als kraftspendende Quelle. Tauchte er in das Wasser ein, so wurde erst sein Körper frei und dann auch sein Geist. Er schwamm im Winter und im Sommer. In den letzten Wochen war er oft in einen Zwiespalt geraten, denn nicht selten hatte ihn Penelope in den warmen Monaten begleitet. Sie fehlte ihm dann immer ganz besonders, aber auf das Meer zu verzichten, ging eben auch nicht. Er hatte nie vorher einen so engen Freund oder eine enge Freundin in seinem Leben gehabt. Die anderen hatten ihn für sonderbar gehalten und sich vor allem darauf fokussiert, seine Gewissenhaftigkeit auszunutzen, um zum Beispiel Hausaufgaben von ihm abzuschreiben. Penelope war die Einzige, der es gelungen war, so an ihn heranzuwachsen, und nun war sie fort. Er war wieder derselbe einsame Wolf wie vor ihrer Freundschaft – das Dumme war nur, dass es ihm nicht mehr gefiel. Gut, sie telefonierten regelmäßig, aber das war etwas anderes, als zusammen Fälle zu lösen, beim Essen beieinanderzusitzen oder ihr gemeinsames Was wäre, wenn?-Spiel zu spielen, mit dem sie oft durch Querdenken Tätern auf die Spur gekommen waren.

»D’m traue ’ch auch n’cht«, riss ihn Zacharis aus seinen Gedanken.

»Dann fällt er entweder raus, oder ich muss ihn durch die Blume fragen, wenn er das nächste Mal hier aufschlägt, und das tut er ja regelmäßig – ob wir es wollen oder nicht.«

Tatsächlich kam der Minister ständig auf seine Heimatinsel, um seinen Sohn im Pflegeheim zu besuchen. Angeblich ging es dem Jungen langsam besser, und Stefanakis hatte bei seinem letzten Besuch sogar die Hoffnung geäußert, dass er vielleicht bald nach Hause durfte. Hyeronimos wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, mit einer psychischen Erkrankung zu leben und den Alltag zu meistern. Wenn er es so sah, dann hatte er auf eine gewisse Art sogar Glück, dass ihn seine allumfassende Panik nur einmal im Monat an jedem Dreizehnten für vierundzwanzig Stunden außer Gefecht setzte. Andere Trigger hatte er mittlerweile besser in den Griff bekommen, vor allem während all der Stunden, die er oben auf der Nida-Ebene am Andartis – dem Monument für den Frieden – verbracht hatte, um über sein Leben und das seiner Angehörigen nachzudenken. Zudem hatte ihm Penelope auch hier geholfen. Sie hatte Plakate mit ihm entworfen, die er an jedem Zwölften abends aufhängte und die ihn daran erinnerten, dass er lebte, solange er atmete! Waren diese furchtbaren Stunden überstanden, fiel er in einen komaähnlichen Schlaf, aus dem ihn immer ein liebevolles Telefonat mit Kassia weckte. Dann war er wieder dazu in der Lage, sich zu sortieren und zu funktionieren. Die menschliche Psyche war so unfassbar fragil.

Zacharis beugte sich noch einmal vor und zog ein drittes Bild aus der Mappe: Es zeigte Filomena Serpantaki neben einem Trupp Arbeitern auf dem Friedhof in Irakleio.

»Ah, sie hat ihn also in die Berge geholt. Auch das spricht eine deutliche Sprache. Findest du nicht?«

Zacharis nickte und schob ein viertes Bild heraus. Es zeigte zwei Gräber mit blütenweißen Steinen. Dort ruhten die Söhne der beiden aktuell gefährlichsten Frauen auf der Insel. Sie standen an der Spitze einer kaltblütigen mörderischen Maschinerie, und doch waren sie auch Mütter, die einen grausamen Verlust zu beklagen hatten. Nichts würde ihnen ihre Kinder zurückbringen, und vielleicht lag gerade darin die Gefahr, die von ihnen ausging – zumindest Filomena hatte nichts mehr zu verlieren, und bei ihr liefen alle Fäden zusammen.

»Wir müssen sie weiterhin im Auge behalten, Zachari«, sagte Hyeronimos entschlossen, »und wegen Athen und dem, was wir da schon haben, sprechen wir am besten mit Maria und Elonidas. Vielleicht haben die beiden eine Idee, wie wir da sauber arbeiten können, ohne zu viel Aufsehen zu erregen. Aber wir sollten wissen, was da vor sich geht, denn das bleibt gewiss nicht in Athen, sondern kommt zu uns herübergeschwappt!«

»So seh ich d’s auch, aber rede du. M’ch m’cht sch’n der G’danke n’rvös.« Zacharis zuckte genervt mit den Achseln, denn sein Sprachfehler machte ihm sofort zu schaffen.

»In Ordnung. Möchtest du mich begleiten?«

Zacharis nickte, packte die Unterlagen zusammen.

»Ah, okay warum nicht sofort. Du hast recht.« Er erhob sich, schaltete seinen Computer auf Stand-by, und sie machten sich auf den Weg zum Chefbüro.

7. Kapitel

Eleni hatte wirklich alles versucht, ihren Fehler wiedergutzumachen. Hyeronimos hatte ihr noch die Möglichkeit gegeben, das Richtige zu tun, aber das Unheil hatte sie einfach nicht mehr ungeschehen machen können. Für sie hatte es kaum öffentliche Konsequenzen gehabt. Ihr Auftritt bei Oprah Winfrey hatte ihr Fehlverhalten rasch aus den Köpfen vertrieben, und ihre Followerinnen und Follower waren auch, was den Altersdurchschnitt anging, zu jung, um zu begreifen, was das alles für Penelope bedeutete. Zudem waren sie überall auf der Welt zu finden, und der Fortschritt, was ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der Normen bestimmter Gesellschaftsformen anging, war eben auch sehr unterschiedlich.

Auf Kreta tickten die Uhren stets etwas langsamer, doch man durfte eben auch nicht vergessen, dass die WHO Homosexualität erst 1990 aus der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen hatte! Sie war dumm gewesen, hatte einem Mädchen vertraut, das ihr offen und modern erschienen war, und hatte dann erkennen müssen, wie es war, wenn Leute für ein wenig Ruhm alles über Bord warfen, was Zutrauen und Glauben an das Gute im Menschen bedeutete. Warum man manche Dinge auf die harte Tour lernen musste, hatte sich ihr noch nie erschlossen. Ihre Mutter sagte immer: Der Mensch lernt nur, wenn es wehtut. Eleni hatte immer die Nase darüber gerümpft, wie über viele Sprüche und Aussagen ihrer Eltern, die so pauschal und einfach waren. Doch im Nachhinein gesehen war vieles daran einfach wahr. Andererseits sollten Menschen einander doch vertrauen dürfen, denn das war ein Teil der Menschlichkeit. Ihr Verstand war sich darüber bewusst, dass nichts so viel gebrochen wurde wie dieser Grundwert, aber ihr Herz mochte es nicht wahrhaben. Sie hatte es ebenso getan wie Serenity – das aufstrebende Gesangstalent! Elenis Manager war erst ausgeflippt, hatte sie dann an die kurze Leine genommen und im Nachhinein all die Möglichkeiten gesehen, die der Skandal bot. Das war schließlich sein Job, und sie – die schon lange unter Heimweh und Sehnsucht gelitten hatte – hatte nun abwägen müssen, was ihr wichtiger war: ihre Community und die Karriere oder ihre Seele … Eigentlich hätte das ganz leicht sein sollen … eigentlich!

Das Wort implizierte bereits eine Verneinung, und so war es auch gewesen, denn keine ihrer Pro- und Contra-Listen hatte sie wirklich überzeugt.