Baumgesicht - Nikola Hahn - E-Book

Baumgesicht E-Book

Nikola Hahn

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Beschreibung

Warum Baumgesicht? In allen Religionen, quer über alle Kontinente, wurden Bäume als Sinnbild für Kraft und Stärke verehrt und mit Gottheiten in Verbindung gebracht. Die alten Germanen glaubten gar, dass das erste Menschenpaar aus zwei Bäumen geschaffen wurde und daher eine Seelenverwandtschaft zwischen Baum und Mensch bestehe. Unter Bäumen wurde getanzt und gefeiert, Recht gesprochen und Schutz gesucht: Namen wie 'Tanzlinde', 'Maibaum', 'Gerichtseiche', 'Hausbaum' oder 'Richtbaum' erinnern noch heute daran. So steht der Baum als Sinnbild für die bunten Geschichten aus dem Leben, die Nikola Hahn zusammengetragen hat. Wie Sandkörner im Kofferraum bringen sie die Erinnerung an das Licht und die Leichtigkeit eines Sommertags am Meer zurück, aber auch die Melancholie des Abschieds. Und die Sehnsucht nach einer Prise Glück in der betriebsamen Eile des Alltags, der die Zeit längst verloren hat.// Mit Fotografien von T. Hahn. --- Zitate aus Leserzuschriften, die Nikola Hahn nach der Wiederauflage ihres Debüts erhielt: --- "Sie sind mir mit Ihrem "Baumgesicht“ ein Stück näher gerückt und sprechen mir aus dem Herzen. Bleiben Sie bitte Ihren treuen Lesern erhalten und lassen Sie es niemals zu, dass Ihnen Hornhaut auf die Seele wächst." * * * "Ich wünsche Ihnen, dass Sie vielen Menschen mit dem "Baumgesicht" eine so große Freude bereiten wie uns." * * * "Dass Sie wunderbare Geschichten schreiben können, weiß ich längst. Aber Ihre Gedichte haben mich sehr überrascht. Die sind so schön, dass man weinen könnte."

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Seitenzahl: 136

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Nikola Hahn

Baumgesicht

Prosa & Poesie

mit Fotografien von Thomas Hahn

Illustrierte eBook-Ausgabe

Version 2, 8/2016

Die Druckausgabe erscheint in der Reihe »Lesen im Quadrat« (Band 2)

Neuausgabe mit Originalillustrationen 2013

3. u. 4. Auflage 2009/2010 UT: Geschichten. Gedichte. Gedanken

Die 1. Auflage erschien 1995 mit dem Titel Baumgesicht. Gedichte und Prosa

© 1995–2009 Nikola Hahn

© 2013–2016 Thoni Verlag, Rödermark

Titelfoto: N. Hahn (2012), Nürnberg, Nähe Dutzendteich

Satz u. Layout: N. Hahn

www.thoni-verlag.com

ISBN 978-3-944177-23-6

Ein Qindie-Buch im Thoni Verlag

Das Qindie-Siegel steht für Qualität & Unabhängigkeit.

Weitere Informationen im Internet: qindie.de

Hinweis:

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Zum Buch

Warum Baumgesicht? In allen Religionen, quer über alle Kontinente, wurden Bäume als Sinnbild für Kraft und Stärke verehrt und mit Gottheiten in Verbindung gebracht. Die alten Germanen glaubten gar, dass das erste Menschenpaar aus zwei Bäumen geschaffen wurde und daher eine Seelenverwandtschaft zwischen Baum und Mensch bestehe. Unter Bäumen wurde getanzt und gefeiert, Recht gesprochen und Schutz gesucht: Namen wie »Tanzlinde«, »Maibaum«, »Gerichtseiche«, »Hausbaum« oder »Richtbaum« erinnern noch heute daran.

So steht der Baum als Sinnbild für die bunten Geschichten aus dem Leben, die Nikola Hahn zusammengetragen hat. Wie Sandkörner im Kofferraum bringen sie die Erinnerung an das Licht und die Leichtigkeit eines Sommertags am Meer zurück, aber auch die Melancholie des Abschieds. Und die Sehnsucht nach einer Prise Glück in der betriebsamen Eile des Alltags, der die Zeit längst verloren hat. Mit Fotografien von T. Hahn.

Für Thomas

Schreiben braucht Zeit.

Danke, dass Du sie mir gibst.

Übersicht

Index Texte

Baumgesicht eins/Prosa

Der kleine Junge Wochenende Sandkörner im Kofferraum Der blaue Anzug Offener Brief an Dich Nur ein Prosit Die Versöhnung Dem Kind ein Vater Anne und Viktoria Die alte Linde November Der kleine Hund Blumen am Wegrand Baumgesicht Dialog Die Hand im Spiel Panne um Mitternacht Ottos Schreibmaschine Das Denkmal Jahr der Behinderten Bücherliebe Die Begegnung Carmen, Lied der Zukunft Sommergewitter

Baumgesicht zwei/Poesie

Somalia Blume Silberlöffel Gute Bürger Binsen Keine Zeit Krone Spaziergang Rattenberge Gras Der stille See Verlorener Traum Schminke Südseetraum Jenseits des Weges Herbst Das alte Schloss Im Moor Regen Pusteblume Jahreszeiten Entdeckung Wer glaubt schon an Geister Immer für mich da Silvester

Nachgelesen. Aufgelesen

Reminiszenz

Lesung

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur4. Auflage

Rückkehr zu den Wurzeln/

Nachwort zur Neuausgabe

Index Bilder

Hahn statt Fanz

Schöne Bücher machen

Impressum

Ein verlinktes Inhaltsverzeichnis befindet sich am Ende des Buches.

Warum ich schreibe

Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue durchs offene Fenster auf den alten Ahorn. Der Wind zerrt an den Blättern. Der Himmel ist verhangen, es riecht nach Herbst. Vor mir liegt ein leeres Blatt. Ich entwickle Konzepte, ändere, verwerfe sie. Ich sehe den Baum, die Wolken, ich fühle die Kühle des zu Ende gehenden Sommers. Gibt es Schöneres, als Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen, Begegnungen, Erfahrungen mit Fantasie zu mischen?

Ideen fließen

Sätze malen

Szenen

Welten

Werden

Prosa Poesie.

In allen Religionen, quer über alle Kontinente, wurden Bäume als Sinnbild für Kraft und Stärke verehrt und mit Gottheiten in Verbindung gebracht. Legenden erzählen, dass Zeus in einer Eiche auf Kreta geboren, Buddha bei einem Feigenbaum erleuchtet und Romulus und Remus unter einer Weide gesäugt wurden. Die alten Germanen glaubten gar, dass das erste Menschenpaar aus zwei Bäumen geschaffen wurde und daher eine Seelenverwandtschaft zwischen Baum und Mensch bestehe.

Unter Bäumen wurde getanzt und gefeiert, Recht gesprochen und Schutz gesucht: Namen wie »Tanzlinde«, »Maibaum«, »Gerichtseiche«, »Hausbaum« oder »Richtbaum« erinnern noch heute an diese ehemaligen Funktionen.

Neben der mystischen hatte der Baum für den Menschen auch immer eine wirtschaftliche Bedeutung: Früchte und Nüsse dienten als Nahrung, das Holz zum Bau von Häusern, Möbeln und Gebrauchsgegenständen.

Nikola Hahn (1994), aus:

»Liebe Besucherin, lieber Besucher«,

Begrüßung zur Vernissage

»Bäume in Rödermark«,

18. Juni 1994, Galerie Lou ihr Milljöh

Wochenende

Sag mal, hast du ’nen Frosch verschluckt?“ Lachend klopft die rundliche Eva ihrer schweigsamen Kollegin auf die Schulter.

„Lass mich in Ruhe“, entgegnet Petra mürrisch.

„Entschuldige, war nicht böse gemeint – tschüss, schönes Wochenende!“ Eva hat es plötzlich eilig.

„Pah“, sagt Petra und denkt an die zweieinhalb öden Tage, die vor ihr liegen. Ihr Blick geht zum fünften Stock des Bürogebäudes hinauf. Dort haben Eva und sie vor einigen Minuten noch Akten sortiert. In den Fensterreihen spiegelt sich die Sonne. Achselzuckend wendet Petra sich ab und schlendert in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Menschen eilen an ihr vorbei, und die vierspurige Citystraße ist hoffnungslos verstopft. Bremsen quietschen, ein wütendes Hupkonzert folgt. Ich habe Zeit, herrlich viel Zeit, denkt Petra und spürt, wie die Angst sie überfällt, Angst vor der Stille in ihrer Wohnung und dem Anblick der halbleeren Kaffeetasse, die noch vom Morgen auf dem Tisch steht.

„Bloß jetzt nicht nach Hause!“

Ein älterer Mann mit einer abgegriffenen Arbeitstasche in der Hand sieht sie fragend an, und sie merkt, dass sie laut gesprochen hat. Sie errötet und ist froh, als die Straßenbahn kommt. Sie fährt bis zur Endhaltestelle mit. An einem Kiosk kauft sie eine Zeitschrift und geht in den nahen Stadtpark. Unter einer Kastanie sitzt ein Liebespärchen im Gras. Unzählige Sonnenhungrige bevölkern die Liegewiese am Entenweiher. Petra geht auf eine Bank zu, die ein wenig abseits des Weges steht. Eine Gruppe schwatzender Radfahrer kommt ihr entgegen: ein Mann, eine Frau, zwei Kinder, im Schlepptau ein struppiger Hund. Familienleben – hatte sie sich das nicht auch einmal gewünscht?

„Hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden! Du bist nicht die Einzige, die mit einem verkorksten Liebesabenteuer fertig werden muss!“ Petra hatte Eva diese Worte übelgenommen; trotzdem muss sie immer wieder daran denken. Inzwischen hat sie die Bank erreicht. Sie setzt sich und blättert lustlos in der Illustrierten. Mode und Rezepte der Saison. Reisetipps. Bekanntschaften. Ob sie versuchen sollte, auf diesem Weg ...?

„Mit neununddreißig bist du zu jung, um für den Rest deines Lebens zu versauern.“ Auch das hatte Eva gesagt.

Petra studiert Anzeige um Anzeige. Irgendwie sind alle gleich. Dann stutzt sie.

DUMMER HÄSSLICHER MANN, SCHON 45, SUCHT DRINGEND KLUGE HÜBSCHE FRAU.

Warum eigentlich nicht?, denkt sie amüsiert und merkt gar nicht, dass sie zum ersten Mal seit Wochen freitags gute Laune hat.

Sandkörner im Kofferraum

Das kleine Boot vor der Westküste Mallorcas war nicht viel mehr als ein Fleck, der auf dunklem Wasser bedächtig hin- und herschaukelte. Nur das Geräusch der Wellen, die leise gegen die Planken schwappten, durchbrach die nächtliche Stille. Versonnen sah Jens aufs Meer hinaus, in dessen Schwärze der Mond ein glitzerndes Band warf, das sich am Horizont in silberne Sterne aufzulösen schien.

„Ich könnte mir keinen schöneren Urlaubsausklang denken“, sagte er zu seiner Frau Ute, die hinter ihm auf dem Bootsdeck saß.

„Vollmond haben wir zu Hause jeden Monat und noch dazu gratis.“ Ihre Worte zerstörten den Zauber der Nacht wie ein Paukenschlag.

„Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn du mal nichts zu meckern gehabt hättest!“ Jens’ Stimme klang wütend und enttäuscht zugleich. „Das Wasser ist dir zu schmutzig, der Service zu schlecht, die Musik in der Hotelbar stört deine Nachtruhe, und der Vollmond scheint auch über Düsseldorf – vielleicht solltest du deine Ansprüche nicht so hoch schrauben, dann wärst du glücklicher.“

„Also bitte!“, entrüstete sich Ute. „Wir haben fast das Doppelte bezahlt wie vergangenes Jahr, da werde ich ja wohl ein Mindestmaß an Komfort erwarten dürfen.“

„Zwei Wochen raus aus dem Alltagstrott, Sonne und Wärme genießen, nach Herzenslust faulenzen – ist das etwa nichts?“

„Du hast vergessen zu erwähnen, wie angenehm es ist, mit Magenschmerzen und Durchfall in einem stickigen Hotelzimmer zu liegen.“

„Ich habe dir oft genug gesagt, dass du die Cola ohne Eiswürfel trinken sollst! Abgesehen davon, bestand unser Urlaub ja nicht nur aus diesem einen Tag.“

„... an dem du dich bestens amüsiert hast, wie ich erfuhr“, vervollständigte sie bissig.

„Jetzt mach bloß kein Theater, weil ich es ein einziges Mal gewagt habe, allein zum Strand zu gehen.“

„Allein? Dass ich nicht lache! Wenn du irgendwo auftauchst, läuft dir spätestens in fünf Minuten alles nach, was einen Rock anhat.“

„Du immer mit deiner verflixten Eifersucht!“

„Die ja wohl mehr als berechtigt ist! Oder willst du etwa behaupten, dass du mit der kleinen Spanierin nichts hattest?“

„Wie oft soll ich dir noch erklären, dass ich sie in letzter Minute aus dem Wasser fischte, bevor der Hai sie erreichte! Es war reiner Zufall, dass ich mit dem Boot ...“

Ute lachte gekünstelt. „Der gute Fisch muss sich aber tüchtig verschwommen haben. Oder hast du schon mal was von menschenfressenden Haien im Mittelmeer gehört? Ich nicht.“ Als er schwieg, fuhr sie fort: „Und welche Ausrede hast du für dein Techtelmechtel mit der hübschen Holländerin? War das vielleicht dein Beitrag zur internationalen Völkerverständigung?“

„Ich glaube, es ist am besten, wir fahren zurück“, sagte Jens kühl.

Utes Antwort ging im Aufheulen des Außenbordmotors unter. Jens wendete das Boot so hart, dass sie sich festhalten musste, um nicht hinzufallen.

Zwei Tage später stehen Ute und Jens Meyer mit ihrem Wagen in einem langen Stau auf der Autobahn. Sie unterscheiden sich nicht viel von den anderen Autoinsassen vor, neben und hinter ihnen: braungebrannte Menschen in Sommerkleidung mit gestresstem Gesichtsausdruck.

Auf dem Rücksitz steht die warm gewordene Kühlbox mit Verpflegung für unterwegs zwischen Mitbringseln, Straßenkarten und der Fototasche mit den Urlaubsdias. Im Kofferraum liegen Taschen mit schmutziger Wäsche, Badezeug, zwei zusammengefaltete Luftmatratzen, an denen noch ein paar Sandkörner vom Urlaubsstrand haften.

Die Sonne knallt aufs Wagendach. Jens stellt den Motor ab und zündet sich nervös eine Zigarette an. Ute schimpft über die dummen Idioten, die alle immer am gleichen Tag aus dem Urlaub zurückkehren. Aber selbstverständlich werden sie nächstes Jahr auch wieder fahren.

Offener Brief an Dich

Als ich Dich kennenlernte, war ich achtzehn, und Du warst achtunddreißig Jahre alt. Du sahst gut aus, hieltest mit Deiner Meinung nicht hinter dem Berg und verfügtest über jene Mischung aus Charme und frecher Klappe, die bei Frauen ankommt. Ich war still, schüchtern, und ich beneidete Dich um Deine Offenheit, mit der Du auf andere zugingst. Ich war ein Anfänger in meinem Beruf und trotz meiner Volljährigkeit auch im Leben, wie es nun mal vorkommt bei Mädchen, die allzu behütet aufwachsen.

Bald warst Du mehr als mein Ausbilder, wurdest Vorbild, Vater, Freund. Ich bewunderte, verehrte – liebte Dich. Mit verstohlenen Blicken, in meinen Träumen, in Tagebucheintragungen voller Sehnsucht und schlechtem Gewissen.

Irgendwann hast Du mich geküsst und gesagt, dass Du mich auch liebst. Ich wurde rot, freute mich und weinte. Aber egal, wie alt man ist: Gegen die erste Liebe ist niemand gefeit, und erst recht nicht gegen die Überzeugung, dass sie einmalig und unvergänglich sei. Trotzdem redete ich mir ein, mein Gefühl für Dich sei platonisch, ein harmloser Kuss hier und da, eine zufällige Berührung, die Gedanken sind frei.

Dann kam Dein erster Brief. Viele sollten folgen. Voller Zärtlichkeit und Leidenschaft. Heimlich stecktest Du sie mir zu, und ich hatte jedes Mal ein Kribbeln im Bauch, wenn ich auf der Toilette saß und las – und einen Kloß im Hals, weil ich die geliebten Zeilen zerreißen, wegspülen musste.

Worte, die andere zehn-, ja hundertmal lesen, mit rosa Schleifen versehen, in Kästchen sammeln: unsere waren nur Momentaufnahmen. Du wolltest es so, und ich verstand. Ich verstand ja alles.

Wenn Du nicht da warst, und Du warst oft nicht da, habe ich mich mit Dir unterhalten, ich bezog Dich in mein Leben ein, Du wurdest ein Teil von mir. Wie eine Süchtige gierte ich nach dem Klang Deiner Stimme, Deiner Nähe.

Mein Weg zum Glück hieß warten. Also wartete ich, führte ein Leben wie an einer Haltestelle, an der Du nach Belieben den Fahrplan ändertest. Dein Gesicht, Dein Körper – ich habe Dich in Gedanken liebkost, wenn ich abends allein in meiner kleinen Wohnung saß. Deinetwegen war ich von zu Hause ausgezogen, wohnte in einem dieser Betonkästen, in denen es keine Nachbarn, sondern bloß Mitbewohner gibt, deren Namen bestenfalls als Kürzel an der Tür stehen. Deinetwegen hatte ich Streit mit meinen Eltern und Freunden. Zwanzig Stunden Einsamkeit für zwanzig Minuten Glückseligkeit.

Nur zu gern glaubte ich Deinen Beteuerungen, dass Du mich mehr als alles auf der Welt liebst, dass Du Deine Kinder nicht im Stich lassen kannst, dass Du Verantwortung für Deine Familie trägst.

„Gib mir ein wenig Zeit“, batest Du, und Deine streichelnden Hände wischten beiseite, was zwischen uns stand: Deine Frau. Ich habe sie bedauert, verwünscht, gehasst! Und mich entsetzlich dafür geschämt.

„Wir werden einen Weg finden“, sagtest Du. „Vertraue mir.“

Ich vertraute und litt. Ein Jahr, ein zweites. Dann beschloss ich zu tun, wozu Du nicht fähig warst.

Weißt Du noch? Du hast mir die Tür aufgemacht. Wenn ich nicht so nervös gewesen wäre, hätte ich lachen mögen über Dein Gesicht. Ich nahm meinen Mut zusammen und verlangte, Deine Frau zu sprechen. Wütend bist Du geworden, aber Du konntest nicht schreien, weil sie Dich hätte hören können, die Frau, die Du nicht mehr liebtest. Plötzlich stand sie in der Tür. Blass und gefasst hat sie mich hereingebeten.

Die Uhr sagte mir später, dass ich keine halbe Stunde in Deinem (Eurem!) Wohnzimmer verbracht habe. Mir kam es vor wie die Ewigkeit. Ich erinnere mich an die gerahmten Fotografien über dem Kamin, eine Braut in Weiß, fröhliches Kleinkinderlachen, ein stolzer Papa.

Die Braut war in die Jahre gekommen, aber immer noch attraktiv, und der Papa stammelte wie ein getadelter Schuljunge, dass diese Affäre (Affäre!) von mir völlig überbewertet werde. Die Welt stürzte ein, und Du saßt auf Eurem lindgrünen Plüschsofa und hieltest ihre Hand. Unfähig, etwas zu tun oder zu sagen, verließ ich Dich – Euch.

Tags darauf standest Du vor meiner Tür, verlegen, mit Tränen in den Augen. Wie leid Dir alles tue, aber ich habe Dir ja keine Wahl gelassen. Dein Jüngster brauche Dich, aber bald sei auch er alt genug, zu verstehen. Deine Hände berührten mein Gesicht, aber Du berührtest mich nicht mehr. Die Schmetterlinge waren fort. Zumindest glaubte ich das.

Du hast lange versucht, mich zurückzugewinnen, und vielleicht gibt es Dir im Nachhinein Genugtuung, dass Du nah am Ziel warst. Es war eine Lüge, dass ich Dich nicht wiedersehen wollte, doch für mich der einzige Weg, auch wenn er mit Verzweiflung gepflastert war.

Wie leicht es klingt, wenn ich das jetzt schreibe, wie vernünftig und emotionslos. Eine Liebe endet nicht mit Traurigkeit und auch nicht im Hass, sagte damals ein guter Freund zu mir. Eine Liebe ist zu Ende, wenn der andere einem gleichgültig geworden ist.

Als Du mich gestern anriefst und von Deiner Scheidung erzähltest, wusste ich, dass er recht gehabt hat.

Alles Gute Deine –

Der blaue Anzug

Der Bahnsteig war leer, als der Nachtzug die Halle verließ. Leer, bis auf einen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte den Schlusslichtern des Zuges hinterher, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren. Er warf die angerauchte Zigarette auf die Gleise, nahm seinen Koffer und ging zum Ausgang.

Die flimmernde Neonlichtreklame am gegenüberliegenden Gebäude tauchte den Bahnhofsvorplatz abwechselnd in rotes, grünes und blaues Licht. Aus einer Kneipe drang Musik, die sich mit dem Lärm aufheulender Motoren mischte. Die Straße war nass, aber es hatte aufgehört zu regnen.

Der Mann verzog das Gesicht. Er hatte die Stadt nie gemocht, und doch war er aus freien Stücken hierhergekommen, um einen Neuanfang zu wagen. Aus freien Stücken?, höhnte seine innere Stimme. Mach dir nichts vor! Du würdest in deinem gemütlichen Sessel sitzen und fernsehen, wenn, ja, wenn der dumme dunkelblaue Anzug nicht in die Reinigung gemusst hätte.

„Schluss jetzt!“, sagte er laut und ging mit festem Schritt über den Platz. Die Entscheidung war getroffen, und er war froh darum.

Eine Viertelstunde später, die Uhr zeigte halb eins, fuhr er in den zehnten Stock des großen Wohnblocks in der Gerbergasse. Im Flur roch es nach abgestandener Luft. Irgendwo schrie ein Kind. Hinter der Tür mit dem Namensschild B. Gröhn