Die Farbe von Kristall - Teil 2 - Nikola Hahn - E-Book

Die Farbe von Kristall - Teil 2 E-Book

Nikola Hahn

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Beschreibung

Ein Kriminalroman aus der Reihe "Krimis zur Kriminalistik" / Vollständig überarbeitete Neuausgabe im eBook (Teil 2: Kap. 21-31) KRIMIS ZUR KRIMINALISTIK Die "Krimis zur Kriminalistik" der Ersten Kriminalhauptkommissarin und Autorin Nikola Hahn verbinden eine spannende Krimihandlung mit akribisch recherchierter Gesellschaftsgeschichte und lassen die Anfänge und Entwicklung der Kriminalistik in Deutschland lebendig werden. • Band 1: Die Detektivin • Band 2: Die Farbe von Kristall (als eBook in zwei Teilen: Teil 1: Kap. 1-20; Teil 2: Kap. 21-31 plus Anhänge) Zum Buch: Frankfurt am Main, 1904: Der Klavierhändler Hermann Lichtenstein wird in seinem Geschäft mitten in der belebten Innenstadt Frankfurts von Unbekannten beraubt und erschlagen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Stadt und verhindert das Antrittsgespräch der Polizeiassistentin Laura Rothe, die sich als erste Frau im Präsidium um verwahrloste Kinder und Jugendliche kümmern soll. Ein blutiger Fingerabdruck am Kragen des Ermordeten und die Spur eines Damenschuhs lassen den Verdacht aufkommen, dass eine Frau in die brutale Tat verwickelt ist. Außerdem gibt es Hinweise, dass der Mord an dem Klavierhändler mit mysteriösen Drohbriefen zusammenhängt, die der ermittelnde Kommissar Richard Biddling seit Jahren bekommt. Laura Rothes Recherche ist es schließlich zu verdanken, dass der Kommissar einen entscheidenden Schritt weiterkommt. Doch die Spuren führen nicht nur in Biddlings Familie, sondern auch zu einem Kriminalrätsel des Meisterdetektivs Sherlock Holmes, in dem offenbar der Schlüssel zu einem alten und lebensgefährlichen Geheimnis verborgen liegt. -- BAND 2, Kap. 21-31 --

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Seitenzahl: 393

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Nikola Hahn

Die Farbe von Kristall

Kriminalroman

Teil 2

Kap. 21 – 31, Epilog, anhänge

»Krimis zur Kriminalistik« Band 2 – Teil 2

Vers. 2, 8/2016

neu bearb. Ausgabe im eBook 2014

Erstausgabe 2002 Marion von Schröder; 8. unveränderte Aufl. 2016 Ullstein Taschenbuch; vollständig überarb. Neuausgabe im Paperback und Hardcover-Großformat Thoni Verlag 2016

© Thoni Verlag 2014–2016

www.thoni-verlag.com

Covergestaltung: N. Hahn, unter Verwendung von Fotografien von C. F. Mylius, Bilder aus dem alten Frankfurt am Main u. Hamburger Polizeibehörde, Photographische Anstalt

Satz u. Layout: N. Hahn

ISBN 978-3-944177-30-4

Ein Qindie-Buch im Thoni Verlag

Das Qindie-Siegel steht für Qualität & Unabhängigkeit.

Weitere Informationen im Internet: qindie.de

Mehr zur Reihe »Krimis zur Kriminalistik«

Vorbemerkung

Bei den im Roman verwendeten Zeitungszitaten handelt es sich um authentische Ausschnitte aus der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt aus dem Jahr 1904 – 1914, die an den jeweils angegebenen Tagen erschienen sind. Auch die aufgeführten Anzeigentexte stammen aus den genannten Jahrgängen der Frankfurter Zeitung.

Wichtiger Hinweis:

Bei dem vorliegenden eBook handelt es sich um Teil 2 von insgesamt zwei Teilen des Romans »Die Farbe von Kristall«, der unmittelbar an Teil 1 (Kapitel 1 – 20) anschließt und deshalb mit Kapitel 21 beginnt.

Sofern aus dem vorliegenden eBook eine (automatische) Leseprobe generiert wurde, enthält diese Spoiler!

Der cristal ist ein kalter klarer stein, der des fewrs dermaszen begirig ist, das, wann er in die sonn gehalten wirdt, er die nahe dürre ort oder materien anzündet.

Antik mittelalterliche Wissenschaft vom Kristall (Albertinus)

Hält in der Hand noch den Krystall, das zersprungene Glück von Edenhall.

(Uhland, 1847)

Die Farben der Kristalle stellen unsichere Bestimmungskriterien dar, weil sie durch geringste stoffliche Änderungen in einem weiten Spektrum variieren.

(Encarta Enzyklopädie 2000, Microsoft Corporation)

Drittes Morgenblatt,Samstag, 18. Juni 1904

Das Gordon-Bennett-Rennen. Daß es gerade ein Franzose ist, der Sieger blieb, das ist uns, offen gestanden, nicht unlieb. Deutsche und Franzosen vereint in friedlichem Wettbewerb auf dem Gebiete des Sports und der Industrie – wir sind wohl nicht zu sanguinisch, wenn wir darin gute Zeichen für die Zukunft erblicken. Die beiden deutschen Mercedeswagen konnten den zweiten und dritten Platz besetzen. Von den drei Belgiern erreichte nur einer das Ziel.

Es ist erfreulich, daß den verschiedenen Nationen von Jahr zu Jahr Gelegenheit geboten wird, ihre Kräfte zu messen in einem Wettstreit, der in seiner Weise, wenn auch sehr bescheiden, etwas zur Kräftigung der Friedensidee beiträgt.

Einundzwanzig

»Wo ist er? Wie geht es ihm? Ist er verletzt?«

»Nein.«

»Herr Braun! Sagen Sie endlich, was los ist!«

»Er ist tot.«

In die Stille schlug die Uhr zur halben Stunde. Victoria lächelte verkrampft. »Das ist ein Scherz, nicht wahr?«

Heiner berührte ihren Arm. »Es tut mir so leid.«

Der Kloß in ihrem Hals ließ keinen Ton heraus. Sie ging zum Fenster. Nie mehr würden sie gemeinsam in die Wolken schauen, nicht mehr träumen, nicht mehr lachen. Tot. Drei Buchstaben sollten die Macht haben, ein Leben wegzuwischen? Auf der Dachrinne saß eine Amsel und sang. Wie konnte sie! Victoria drehte sich zu Heiner um. »War es ein Unfall?«

»Ein Spaziergänger hat ihn gefunden.«

»Wo?«

»Im Stadtwald. Nahe der Stelle, an der damals Ihr Cousin zu Tode kam.«

Ihre Hände verkrampften sich in ihrem Kleid. »Warum dort?«

»Ich weiß es nicht.«

»Bitte, Herr Braun. Sagen Sie mir die Wahrheit.«

Er sah an ihr vorbei. »Es deutet einiges darauf hin, dass Ihr Mann sich erschossen hat. Aber die Ermittlungen werden selbstverständlich in alle Richtungen geführt.«

»Nein!« Sie lief zur Tür. »Ich will ihn sehen!«

Er hielt sie fest. »Victoria, bitte. Sie wissen doch, dass zuerst die polizeilichen Untersuchungen abgeschlossen sein müssen.«

»Ja. Das verstehe ich.« Ihre plötzliche Gefasstheit erschreckte sie selbst. Es war, als redete nicht sie, sondern jemand anderes aus ihr heraus, der keine Trauer fühlte, keinen Schmerz, keine Schuld. »Ich nehme an, Sie sind mit einem Beamten aus dem Präsidium da.«

Heiner nickte. »Ich habe darum gebeten, dass ich zuerst allein mit Ihnen sprechen darf. Herr Kommissar Beck wird Ihnen ein paar Fragen stellen, sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen.«

»Wenn es möglich ist, würde ich vorher gern meiner Familie und dem Personal Bescheid sagen.«

»Herr Beck wird darauf Rücksicht nehmen.«

»Ich glaube nicht an Selbstmord. Er hatte keinen Grund. Nicht den geringsten.« Der Kloß in ihrem Hals drohte sie zu ersticken. Wortlos nahm Heiner Braun sie in seine Arme.

Wenige Minuten später klingelte sie nach Louise und bat, Flora zu holen. Die alte Zofe wollte etwas sagen, aber Victoria schüttelte stumm den Kopf. Zusammen mit Heiner Braun ging sie zu Vickis Zimmer und klopfte. »Ich will niemanden sehen!«, drang es durch die Tür.

»Bitte machen Sie auf, Vicki. Wir haben etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen«, sagte Heiner.

Sie schloss die Tür auf. »Sie wussten es auch, nicht wahr? Jeder wusste es! Und jetzt schickt Vater Sie zum gut Wetter machen vor!«

»Nein«, sagte er ruhig.

Louise und Flora kamen über den Flur. Flora sah Victoria an. »Was hast du, Mama?«

»Ich sage es dir gleich. Bitte kommt herein.«

Vicki wollte auffahren, aber als sie Heiner Brauns Blick begegnete, schwieg sie. Victoria wartete, bis er die Tür geschlossen hatte und atmete durch.

»Herr Braun hat mir gerade eine sehr traurige Nachricht überbracht. Richard ... Euer Vater ist gestorben.«

Sie konnte nicht sagen, was zuerst in ihr Bewusstsein drang: Louises Tränenausbruch, Floras markerschütternder Schrei oder dass Vicki in Ohnmacht fiel. Sie schloss Flora in ihre Arme, Heiner Braun trug Vicki zum Bett. Louise holte schluchzend Riechsalz.

»Bitte, bitte, Mama, sag, dass das nicht wahr ist«, wimmerte Flora, aber Victoria konnte nichts tun, als ihr stumm übers Haar zu streichen.

Heiner hielt Vicki das Salz unter die Nase. Sie schlug die Augen auf und stieß seine Hand weg. »Das habt ihr euch fein ausgedacht!«

»Hast du denn nicht gehört?«, sagte Flora leise. »Papa ist tot. Er kommt nie mehr wieder. Nie, nie mehr.« Ihre Stimme versagte, Tränen rannen über ihre Wangen. Vicki streckte die Hand aus. Weinend fielen sich die Schwestern in die Arme.

Victoria sah, dass Heiner ihr ein Zeichen gab und folgte ihm nach draußen. »Es ist besser, wenn Sie die beiden ein bisschen allein lassen«, sagte er. »Louise passt schon auf, hm?«

»Wir hätten ihr längst die Wahrheit sagen müssen«, sagte Victoria tonlos. »Aber ich hatte Angst. Und Richard war sehr niedergeschlagen, weil sie nicht mehr mit ihm reden wollte.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Kleid. »Vielleicht hat er es deshalb getan?«

Heiner schüttelte den Kopf. »Dafür hätte es keiner besonderen Nachricht bedurft, oder? Wann hat Vicki es erfahren?«

»Vorgestern. Eine Indiskretion im Präsidium. Hat Richard Ihnen gesagt, dass sie heiraten will?«

»Ich weiß von Herrn Heynels Plänen, ja.«

Sie fuhr sich über die Augen. »Herr Braun, bitte. Was wissen Sie noch?«

»Wir sollten später in Ruhe darüber sprechen.«

»Richard erwähnte, dass Herr Heynel vielleicht in den Fall Wennecke verwickelt ist. Er hat mir aber nicht gesagt, warum.«

»Wir vermuten, dass Oberwachtmeister Heynel der Letzte war, der Fritz Wennecke lebend gesehen hat, und dass er Streit mit ihm hatte. Außerdem hat er früher an der Maschine gearbeitet, an der Wennecke zu Tode kam. Die Bedenken Ihres Mannes waren also nicht unbegründet. Aber es gibt keinen Beweis.«

»Warum hat Richard mir das nicht gesagt? Warum hat er immerzu Ausflüchte gesucht oder geschwiegen? Warum, Herr Braun?« Sie zerknitterte ihr Taschentuch. »Ich habe mich beim Automobilrennen vergnügt, während mein Mann einsam und verzweifelt war. Wie soll ich denn weiterleben?«

»Dass im Moment einiges für Selbstmord spricht, heißt nicht, dass es wirklich so war.«

»Und was glauben Sie, wie es war?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Mann das getan hat. Aber selbst, wenn doch ...« Er fasste ihre Hände. »Was auch geschieht, ich bin immer für Sie da, Victoria.«

Sie nickte, und dann gingen sie in den Salon. Kommissar Beck sprach ihr ungelenk sein Beileid aus. Victoria ließ das Personal kommen, sagte, was geschehen war und erteilte Anweisung, dass sich alle für eine Befragung bereithalten sollten. Sie schickte einen Boten ins Warenhaus, veranlasste die telegrafische Benachrichtigung von Richards Eltern in Berlin und beantwortete Becks Fragen. Sie erledigte Formalitäten und nahm ihrem Bruder die Cognacflasche weg. Sie ertrug die Ablehnung Vickis und die unbewegte Miene ihres Vaters, weinte nicht, dachte nicht, fühlte nicht. Der Tag ging, der Abend, die Nacht. Ein neuer Morgen begann. Mit Vogelgezwitscher, blauem Himmel und Sonnenschein.

Kommissar R. Biddling

- persönlich -

Untermainkai 18

Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld! Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.

Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais

Ich gebe Ihnen die Antwort auf Ihre Fragen. Warten Sie im Nizza vor dem Grindbrunnen. Kommen Sie sofort und unbedingt allein!

Kommissar Beck betrachtete kopfschüttelnd den mit Maschine geschriebenen Brief und gab ihn Paul Heusohn. »Sie haben mit Biddling zusammengearbeitet. Was bedeutet das?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht war blass. »Ich weiß es nicht. Herr Biddling hat gesagt, dass er den Fall Wennecke vorläufig abschließen will, weil es keine Beweise für einen Mord gab.«

»Woraus ziehen Sie den Schluss, dass das Schreiben auf die Sache Wennecke abzielt?«

»Wir hatten sonst nichts Größeres in Bearbeitung. Woher haben Sie das?«

»Aus Biddlings Jackett. Seine Frau sagte mir vorhin, dass er gestern früh eine Nachricht bekam. Ich nehme an, dass es diese war. Sollte sich der Inhalt tatsächlich auf das Todesermittlungsverfahren Wennecke beziehen, lässt das Zitat die Deutung zu, dass Biddling selbst in die Sache verstrickt war.«

»Nein!«, sagte Paul Heusohn heftig.

»Es besteht auch die Möglichkeit, dass jemand darin verstrickt ist, der ihm sehr nahestand, und dass das der Grund für seine Kurzschlusshandlung war.«

»Das ist barer Unsinn! Genauso wie es Unsinn ist, dass er sich umgebracht haben soll. Das hätte er nie getan!«

»Was macht Sie so sicher?«

Paul Heusohn wich Becks Blick aus und schwieg.

»Die Spurenlage am Fundort hat keinen Anhaltspunkt für eine Fremdeinwirkung ergeben«, sagte Beck. »Wie es aussieht, hat er sich auf den Baumstamm gesetzt, die Waffe an die Stirn gehalten und abgedrückt. Er fiel rückwärts auf einen Stein; außer der Platzwunde am Hinterkopf sind keine Verletzungen vorhanden. Seine Waffe lag unmittelbar neben ihm, und es fehlt nur ein Schuss. Die Leichenflecken sind lagegerecht, und ich bin sicher, dass die Autopsie die Erstuntersuchung bestätigt.«

Paul Heusohn presste die Hand vor den Mund und rannte aus dem Büro. Als er wiederkam, hatten seine Augen rote Ränder. »Bitte entschuldigen Sie, Herr Kommissar.«

Beck öffnete das Fenster. Luft strömte herein. »Glauben Sie bitte nicht, dass mir die Angelegenheit gleichgültig ist. Aber wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und für Klarheit sorgen, bevor die Spekulationen ins Kraut schießen. Gab es im Zusammenhang mit Ihren Ermittlungen irgendwelche Auffälligkeiten?«

»Ja. Vor ungefähr vier Wochen hat man mir für Informationen über den Fall Wennecke Geld angeboten. Wir haben nicht herausbekommen, wer dahintersteckt.«

»Wie viel?«, fragte Beck.

»Zunächst vierhundert Mark.«

»Dafür muss man eine ganze Weile Perlen fädeln, oder?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich pflege mich zu erkundigen, mit wem ich zusammenarbeite. Biddlings Frau sagt, Ihr Mann sei gestern frühmorgens ins Präsidium gegangen. Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein.«

»Wo bewahrte er seine Waffe auf?«

»Ich glaube, zu Hause.«

»Ist Ihnen in seinem Büro etwas aufgefallen? War etwas anders als sonst?«

»Nein. Nichts.«

»Hatte Biddling private Probleme?«

»Er hat mit mir nicht über Privates gesprochen.«

»Sie mit ihm auch nicht?«

»Herr Biddling war nicht der Mensch, der sich umbringt!«

»Und was unterscheidet ihn von solchen, die es tun?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Beck sah ihn forschend an. »Was war mit diesem Seil?«

Der Junge schluckte. »Welches Seil?«

»Aus der Sache Lichtenstein! Sie haben es bei mir abgeholt. Wozu?«

»Ich fühlte mich an dem Tag nicht wohl und hatte eine Anordnung von Herrn Biddling falsch verstanden.«

»Ich nehme an, Sie wissen selbst, wie unglaubwürdig das klingt.«

»Bitte, ich habe Ihnen wirklich alles gesagt.«

»Ich brauche die vollständige Akte Wennecke und einen detaillierten Bericht über Ihre zuletzt durchgeführten Ermittlungen!«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

Beck setzte sich an seinen Schreibtisch. »Wie stellen Sie sich Ihre berufliche Zukunft vor, Heusohn? Ihr Kollege Schmitt hat es vorgezogen, zur Wachmannschaft zurückzugehen.«

»Ich hatte Kommissar Biddling gesagt, dass ich gern bleiben möchte. Er wollte mit Herrn Polizeirat Franck darüber sprechen.«

»Die Autopsie ist für drei Uhr angesetzt. Werden Sie mich begleiten?«

Sein Gesicht verlor den letzten Rest an Farbe. »Ja, Herr Kommissar.«

Zum Mittag kam Kommissar Beck in Biddlings Büro. »Waren Sie schon essen, Heusohn?«

Der Junge schlug das Buch zu, in dem er gelesen hatte und schüttelte den Kopf. »Ich möchte nichts.«

Beck gab ihm die Akte Wennecke und den Bericht zurück. »Sind Sie sicher, dass da alles drinsteht, was in der Sache ermittelt wurde?«

»Ich habe kein Geld genommen!«

»Habe ich das behauptet?«

»Nein. Aber gedacht.«

»Sie sind reichlich vorlaut, Heusohn. In Anbetracht Ihrer zukünftigen Verwendung sollten Sie überlegen, ob das klug ist.«

Der Junge sah zu Boden und schwieg. Beck lächelte. »Ich weiß, dass Biddling sich wenig um Hierarchien geschert hat, doch Sie tun sich keinen Gefallen, wenn Sie Ihren Platz in diesem Haus nicht kennen. Das heißt aber nicht, dass Sie gar nichts mehr sagen dürften.«

»Ja, Herr Kommissar.«

»Haben Sie Biddlings Sachen durchgesehen?«

»Ich glaube nicht, dass mir das zusteht.«

»Ich fragte, ob Sie es getan haben!«

»Nein.«

Beck räumte Biddlings Schreibtisch aus. Paul Heusohn sah ihm mit unbewegter Miene zu und ging dann zu seinem Pult. Beck rief ihn zurück. »Ich will jetzt auf der Stelle wissen, warum Biddling sich erschossen hat!«

»Herr Biddling hat sich nicht erschossen.«

»Verdammt noch mal! Ich bin nicht blind! Sie haben Angst gehabt, dass ich etwas in diesem Schreibtisch finden könnte! Was, Heusohn?«

»Alles, was ich weiß, steht in meinem Bericht.«

»Wenn Sie glauben, dass ich mich von Ihnen für dumm verkaufen lasse, irren Sie! Nach der Autopsie reden wir weiter.«

»Ja, Herr Kommissar.« Sein Gesicht war kalkweiß. Auf seiner Stirn sammelte sich Schweiß.

»Ziehen Sie Ihre Jacke an und kommen Sie mit«, sagte Beck versöhnlich.

Schweigend ging Paul Heusohn mit Kommissar Beck von der Zeil zum Alten Markt. Als Beck auf das Rothe Haus zusteuerte, wäre Paul am liebsten davongelaufen. Oft hatte er mit Kommissar Biddling in der alten Schirn gegessen. Worscht und Wasserweck sind gut fürs Gemüt, hatte der Kommissar Wachtmeister Braun zitiert, und Paul hatte über die ulkige Aussprache seines preußischen Vorgesetzten lächeln müssen. Beck verschwand unter dem niedrigen Schieferdach, Paul blieb an einem klotzigen Eichenpfeiler stehen.

»Brauchen Sie eine Extraeinladung?«, rief Beck aus dem Halbdunkel.

»Ich habe keinen Hunger, Herr Kommissar.«

Beck kam zurück. »Sie gehen jetzt mit mir da hinein!«

Paul merkte, wie ihm schwindlig wurde. »Warum liegt Ihnen so viel daran, mich zu demütigen?«

»Wie bitte?«

»Verzeihen Sie. Ich habe kein Recht ...« Er hielt sich an dem Pfeiler fest.

Beck griff ihm unter die Arme. »Herrgott, Heusohn! Wie lange wollen Sie noch den Helden spielen?« Er brachte ihn zu einer Bank, die zwischen Geranientöpfen vor dem Nachbarhaus stand.

»Danke, Herr Kommissar. Es geht schon wieder.«

»Setzen Sie sich! Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?«

»Wir müssen zum Friedhof.«

»Haben Sie schon einmal an einer Autopsie teilgenommen?«

»Nein.«

»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«

»Weil es keine Rolle spielt.«

Beck legte eine Fünfmarkmünze auf die Bank. »Ich fahre jetzt zum Friedhof, und wenn ich wiederkomme, haben Sie gefälligst etwas Vernünftiges gegessen!«

Paul Heusohn stand auf. »Ich lasse mich nicht kaufen«, sagte er und ging.

Martin Heynel starrte Laura an. »Was sagst du da? Biddling ist tot?«

Sie nickte. »Er hat sich gestern erschossen.«

»Gestern?« Nervös lief er im Büro auf und ab. »Wann? Warum?«

»Ich hörte, er habe eine anonyme Nachricht nach Hause bekommen. Was ist mit dir?«

»Nichts«, entgegnete er schroff.

Kommissar von Lieben kam herein. Er sah Heynel an. »Müssen Sie nicht zur Untersuchung ins Polizeigefängnis?«

»Kommissar Biddling ist tot«, sagte Laura.

»Ich hab’s gehört.« Er setzte sich und tat, als studierte er Akten, aber Laura wusste, dass er nur darauf wartete, unbeobachtet zur Flasche greifen zu können.

Auf dem Weg zum Gefängnis sprach Martin Heynel kein einziges Wort, und Laura hing ihren Gedanken nach. Sie hatte nichts gemerkt! Ausgerechnet sie war blind gewesen für die Verzweiflung eines Menschen, der offenbar keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als seinem Leben ein Ende zu machen. Allerdings wollte ihr kein Grund einfallen, warum er es getan haben könnte. Aber hatte man ihr nicht genau das vorgehalten? Dass sie keinen Grund gehabt hatte, dass sie selbst schuld war?

»Der Kommissar hat wohl ’ne hübsche Leiche im Keller gehabt, wenn er sich die Kugel gibt, was?«, sagte Wachtmeister Kröpplin, als sie in die Gefängniswache kamen.

»Halt dein verdammtes Maul!«, fuhr ihn Martin Heynel an. Es war das erste Mal, dass der Oberwachtmeister während der Untersuchungen keinen der üblichen derben Scherze machte, und auch nach der Rückkehr ins Büro blieb er einsilbig. Laura gab es bald auf, mit ihm ein Gespräch anfangen zu wollen, und sie war froh, als sie Dienstschluss hatte. Auf dem Flur war es still, aus Biddlings Büro drang ein Geräusch. Sie klopfte, und ein zögerliches Herein erklang. Paul Heusohn saß an Biddlings Schreibtisch und wischte sich hastig über die Augen. Der Junge sah erschreckend aus.

»Hat sich etwas Neues ergeben?«, fragte Laura.

Er zeigte auf ein Blatt Papier. »Der vorläufige Sektionsbefund. Könnten Sie mir bitte sagen, was kardiovaskulär, Koronarsklerose und Vitalitätsdiagnose bedeuten?«

Laura las. »Erinnern Sie sich an Kommissar Biddlings Zusammenbruch? Wie ich vermutet habe, war er herzkrank. Bei oder unmittelbar nach der Schussabgabe muss er einen Herzschlag erlitten haben. Beides für sich genommen war tödlich, aber es lässt sich nicht genau sagen, woran er letztlich gestorben ist. Unter Vitalitätsdiagnose versteht man die Feststellung, ob eine Verletzung zu Lebzeiten oder nach dem Tode zugefügt wurde. Man erkennt es unter anderem an Gewebseinblutungen in der Umgebung von Wunden, die nur nachweisbar sind, solange ein Mensch lebt.«

»Ja, aber wenn diese Gewebsblutung fast nicht feststellbar ist, heißt das dann nicht, dass Herr Biddling schon so gut wie tot war, als der Schuss abgegeben wurde? Dass er die Waffe gar nicht mehr selbst halten konnte?«

Laura lächelte. »Die Unterscheidung ist im Einzelfall nicht immer einfach. Man müsste weitere Untersuchungen anstellen, aber ich glaube nicht, dass das gemacht wird. Der Befund ist ja ansonsten eindeutig.«

»Nein!« Der Junge schrie es fast. »Der Kommissar hat das nicht getan!« Seine Stimme wurde zum Flüstern. »Wir haben zusammengearbeitet. Ich hätte etwas gemerkt. Ganz bestimmt, Fräulein Rothe.«

Sie schluckte. »Ich war mehrere Jahre in Krankenhäusern tätig, Paul. Man sieht es Menschen nicht an, wozu sie in der Lage sind.«

Er stand auf und nahm seine Jacke. »Am schlimmsten ist die Gewissheit, versagt zu haben. Schuld zu sein, weil man blind war. Und nur die eigenen Sorgen im Kopf hatte. Einen schönen Abend noch.«

Im Rapunzelgässchen warf die untergehende Sonne Muster auf die Fassaden. Heiner Braun saß auf seinem Belvederche und blickte ins Leere.

»Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen?«, fragte Laura. Er deutete auf den Stuhl neben sich. Sie nahm Platz. »Wussten Sie, dass Herr Biddling sehr krank war?«

Heiner sah sie fassungslos an. »Nein!«

Laura berichtete von seinem Zusammenbruch im Büro und dem Autopsiebefund. »Ich vermutete gleich, dass es nicht der erste Anfall war. Meinen dringenden Rat, einen Arzt aufzusuchen, wies Herr Biddling ab. Bitte sagen Sie mir, was in dem Brief steht, Herr Braun.«

»Er kann das nicht geschrieben haben. Unmöglich.«

»Seine Frau hat das Recht, seine letzten Worte zu erfahren.«

»Victoria wird dieses Pamphlet bestimmt nicht zu Gesicht bekommen!«

»Nach dem Sektionsbefund gibt es keinen ernsthaften Zweifel mehr, dass es Selbstmord war. Seien Sie vernünftig. Bitte.«

Sie sah, wie er seine Finger ineinander verkrampfte. »Vielleicht hat er etwas herausgefunden? Dinge, die mit seiner Familie zu tun haben.«

Laura dachte an den Brief aus Stuttgart, und ihr wurde heiß. War am Ende sie verantwortlich? Hatte Biddling ihr Büro durchsucht, weil er glaubte, dass sie ihm Informationen vorenthielt? War er deshalb so kurz angebunden gewesen?

»Was ist denn?«, fragte Heiner.

Laura wich seinem Blick aus. »Paul Heusohn sagte mir, dass man ein anonymes Schreiben bei Herrn Biddling gefunden hat, in dem es um ein Treffen am Grindbrunnen ging.«

»Könnten Sie dieses Schreiben für mich einsehen?«

»Was haben Sie vor, Herr Braun?«

»Zweifel säen«, sagte er leise. »Mindestens so lange, bis er ordentlich begraben ist.«

Sie wusste, was er meinte. Selbstmördern standen weder Ehrungen noch ein kirchliches Begräbnis zu. »Sie bekommen, was Sie wollen. Wenn Sie mir sagen, was in dem Abschiedsbrief steht.«

Heiner ging ins Haus. Es dauerte eine Weile, bis er zurückkam. Mit einer müden Geste gab er Laura das Schreiben. Lieblosere Worte hatte sie selten gelesen. Entweder war der Kommissar bis ins Mark getroffen oder nicht mehr bei Sinnen gewesen, oder den Text hatte tatsächlich jemand anderes verfasst. Sie sah Braun an. »Sie müssen den Brief abgeben. Wenn Sie es nicht tun, wird Biddlings Frau Sie eines Tages dafür hassen.«

»Ja.«

In dem einen Wort schien alle Traurigkeit der Welt vereint.

»Nein!«, rief Cornelia von Tennitz. »Ich werde nicht mit Ihnen sprechen, und ich werde Sie auch nicht empfangen! Morgen auch nicht! Nein! Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig! Das sollten besser Sie tun!«

Andreas Hortacker hörte seine Schwester im Salon reden, als er ins Haus kam. Es wurde still, und er ging zu ihr hinein. Sie saß zusammengesunken auf dem wassergrünen Sofa unter dem Telefonapparat. Ihr Gesicht verhüllte ein Trauerschleier.

»Guten Abend, Cornelia.«

Ihr Kopf schnellte hoch. »Hast du mich wieder belauscht, ja?«

»Ach was. Ich bin gerade vom Reiten gekommen.«

»Ist es so schwer zu begreifen, dass ich niemanden sprechen will? Habe ich nicht das Recht auf ein bisschen Einsamkeit?«

Andreas sah ihre Augen nicht, aber er war sicher, dass sie mit den Tränen kämpfte. Er setzte sich zu ihr und streichelte ihre behandschuhten Hände. »Geht dir der Tod von Kommissar Biddling so nah? Ich dachte, euer Verhältnis war nicht sonderlich eng?« Er wollte ihr den Schleier nehmen, aber sie hielt ihn fest.

»Bitte, Cornelia, sag mir, was du hast.«

»Ich trauere um mein Leben«, sagte sie leise. »Um unsere bunten Schlösser, in die wir niemals einziehen konnten.« Andreas nahm sie in den Arm, und sie weinte wie ein Kind.

»Ich habe einige Fragen an Sie«, sagte Kommissar Beck. Helena goss ihm Kaffee ein und entschuldigte sich.

»Fragen Sie«, sagte Heiner.

»Ich habe gestern die Akte Wennecke durchgesehen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Biddlings Tod mit diesem Fall zusammenhängt.«

»Das mag sein.«

»Hatte Biddling private Probleme?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Irgendetwas muss vorgefallen sein! Es bringt sich doch niemand ohne Grund um!«

»Wenn es überhaupt ein Selbstmord war.«

»Es war einer, so wahr ich hier sitze.«

»Und warum ermitteln Sie dann überhaupt noch?«

Beck rührte in seinem Kaffee. »Sie waren in Biddlings Büro und haben anschließend sofort eine Fahndung nach ihm eingeleitet. Warum?«

»Seine Frau war in großer Sorge, weil er noch nicht zu Hause war.«

»Biddling hat öfter abends Außenermittlungen durchgeführt. Und ich weiß, dass er nicht immer gesagt hat, wo und bei wem. Weshalb also diese überhastete Suchaktion?«

»Warum sagen Sie nicht einfach, was Sie von mir wollen?«

»Also gut, Braun: Wo ist der Abschiedsbrief?«

»Bitte?«

»Ein Mann wie Biddling schießt sich nicht einfach wortlos eine Kugel in den Kopf!«

Anna Frick kam herein. Sie sah Beck und fuhr zusammen. »Sind Sie meinetwegen hier?«

»Nein«, sagte er. »Ich untersuche den Tod von Kommissar Biddling und befrage Herrn Braun.«

Auf ihrem Gesicht machte sich Erleichterung breit. »Dann möchte ich nicht stören.«

»Hat Herr Biddling Ihnen nicht eine Arbeit im Kaufhaus seines Schwagers vermittelt?«

»Ja.« Ihr Augenlid fing an zu zucken. »Über Herrn Kommissar Biddling kann ich aber nichts sagen! Gar nichts. Bitte entschuldigen Sie mich.«

Bevor Beck etwas erwidern konnte, war sie verschwunden. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Herrgott noch mal! Wie soll ich die Wahrheit herausfinden, wenn mir jeder nur Märchen auftischt?«

»Dass sie Angst vor Ihnen hat, ist begreiflich«, sagte Heiner.

»Ach ja? Hat sie Ihnen erzählt, was für ein Unmensch ich bin?«

»Sie musste nichts sagen.«

Beck stand auf. »Eine weitere Befragung hat wohl keinen Sinn.«

»Nein«, sagte Heiner. »Denn Sie haben Ihr Urteil ja gefällt.«

»Sie doch auch«, erwiderte Beck und ging.

Kurz darauf kam Anna Frick zurück. »Kann ich Sie kurz sprechen?«

Heiner deutete auf einen Stuhl. »Sollten Sie wegen Kommissar Beck Befürchtungen haben, kann ich Sie beruhigen.«

Sie setzte sich. »Nein. Es geht um meinen Jungen. Ich möchte das nicht, Herr Braun.«

Er sah sie verständnislos an. »Was möchten Sie nicht?«

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin dankbar, dass Sie mir die Miete ermäßigt und bei Frau Lichtenstein ein gutes Wort eingelegt haben. Eine weitere Unterstützung ist nicht nötig.«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«

»Die Zahlung an den Vormund meines Sohnes.«

»Hat Fräulein Rothe doch geplaudert? Sehen Sie’s als kleine Spende an.«

»Es handelt sich nicht um eine kleine Spende, Herr Braun«, sagte Anna Frick ernst.

Je länger Laura darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Biddlings Selbstmord mit dem Bericht aus Stuttgart zusammenhing. Er musste irgendetwas herausgefunden haben, das so schlimm war, dass er damit nicht weiterleben konnte. Aber was? Die Einzige, die ihr eine Antwort geben konnte, war Gräfin von Tennitz.

Am Montag machte Laura pünktlich Feierabend, und als Martin Heynel lächelnd zur Decke deutete, schob sie einen wichtigen Termin in der Centrale für private Fürsorge vor. Sie musste endlich Klarheit haben.

Sie fühlte Schmerz und Beklemmung, als sie vor der Villa der Gräfin aus der Droschke stieg. Was für ein perfektes Paar Martin und Vicki Biddling abgegeben hatten! Wie verliebt sie ihn beim Tanzen angeschaut hatte! Und dann die Begegnung im Garten. Die Gräfin war wütend gewesen, aber in ihren Augen hatte Angst gestanden. Weil sie es nicht ertrug, dass jemand sie schwach und hilflos sah? War das Bild im flackernden Lichtschein doch keine Gaukelei gewesen? Mit Gewalt verdrängte Laura ihre Gedanken und schellte.

Ein rothaariges Dienstmädchen öffnete. »Gräfin von Tennitz empfängt heute keinen Besuch.«

»Es ist wichtig!«, beharrte Laura.

»Ich bedaure. Frau Gräfin ist krank.«

»Sagen Sie ihr, Polizeiassistentin Rothe ist da, und es geht um Leben und Tod!«

Das Mädchen erschrak und verschwand. Es dauerte lange, bis sie wiederkam. Laura folgte ihr über eine breite Marmortreppe in einen Salon im ersten Stock. Teppiche und Vorhänge waren schlicht, die wenigen Möbel ausgesucht platziert. Angefangen von den Türbeschlägen bis hin zu den mit floralen Motiven bedruckten Tapeten strahlte der Raum Würde aus. Die Gräfin stand am Fenster. Sie trug eine hochgeschlossene Empfangstoilette und einen Trauerschleier. »Um was geht es?«

»Ich möchte Sie etwas fragen, das vielleicht im Zusammenhang mit Herrn Biddlings Tod steht«, sagte Laura »Er war in der vergangenen Woche bei Ihnen. Es ging um Cilla Rebenstadt.«

»Von Ihnen stammt das also! Mein Schwager hat wortreiche Ausflüchte gemacht, als ich insistierte, wer solche Indiskretionen weitergibt. Wer weiß noch davon?«

»Nur Herr Biddling, ich, und ein Informant aus Stuttgart.«

»Wer ist der Informant?«

Laura überlegte, was sie sagen könnte, ohne Henriette Arendt in Verlegenheit zu bringen. Cornelia von Tennitz nahm ihr die Entscheidung ab. »Sie wollen wissen, ob es richtig ist, was in diesem Bericht steht? Ja. Aber es ist nicht die ganze Geschichte.«

»Verzeihen Sie. Ich wollte Ihnen bestimmt nicht zu nahe treten.«

Sie lachte. Es klang bitter. »Da Sie nun einmal angefangen haben, in meiner Vergangenheit zu graben, kann ich Ihnen den Rest auch erzählen, oder? Unter der Voraussetzung allerdings, dass ich mich auf Ihre absolute Verschwiegenheit verlassen kann.«

Laura nickte. Cornelia von Tennitz zog die Gardine beiseite und sah in den Garten hinaus. »Ehrenfried Gandolf Graf von Tennitz brachte außer seinem adeligen Namen nur eins mit in unsere Ehe: jede Menge Schulden. Er brauchte so dringend Geld, dass er den Teufel höchstpersönlich geheiratet hätte, um welches zu bekommen. Ich war für ihn nie mehr als eine lukrative Partie. Schon in der Hochzeitsnacht hätten mir die Augen aufgehen müssen, aber was wusste ich denn davon, wie Männer mit Frauen umgehen? Eines Tages stellte er Cilla ein, damit ich etwas Gesellschaft hätte.« Sie lachte höhnisch. »Wir verstanden uns bestens. Kluge Bücher haben wir gelesen, zitiert und interpretiert, dumme Rosenbilder gemalt, harmlose Liedchen intoniert, italienische und französische Nachmittage abgehalten. Dolce far niente! Comme il faut. Süßes Nichtstun, wie es sich für eine Dame meines Standes gehört.

Zwischendurch musste Cilla für meinen Mann arbeiten. Sein Büro lag in einem Seitentrakt unserer Villa, ich hatte keinen Zutritt, und ich hätte es auch nie gewagt, mir welchen zu verschaffen. Es war an einem Sonntag. Ich war schwanger, und meine Zofe hatte Ausgang. Ich bekam starke Schmerzen. In meiner Not wollte ich meinen Mann um Hilfe bitten. Sein Büro war leer, aber von irgendwoher hörte ich Stimmen. Neben dem Kamin entdeckte ich eine Geheimtür.«

Sie drehte sich zu Laura um. Der Schleier vor ihrem Gesicht bewegte sich im Takt ihrer Worte. »Sie kommen aus Berlin. Da wird Ihnen der Name Strachwitz vielleicht ein Begriff sein?«

»Die Dreschgräfin«, sagte Laura. »Zwei ihrer Gespielen hat unser Oberarzt behandelt. Allerdings inoffiziell.«

»Dann brauche ich ja nichts zu erklären. Die Marterkammer hinter unserem Kamin hätte der Strachwitz zur Ehre gereicht. Und Cilla ebenso! Die Frau, der ich jahrelang vertraut hatte, hatte mich aufs Schändlichste hintergangen. Ich bestand darauf, dass sie sofort entlassen wurde. Zwei Jahre später wurde mein Mann sehr krank. Ich habe ihn bis zu seinem Tod gepflegt.«

»Und Ihr Kind?«, fragte Laura.

»Es starb. Genau wie die anderen.«

»Das tut mir leid.«

»Es ist vorbei.«

»In dem Bericht aus Stuttgart wird erwähnt, dass Ihr Gatte gewissen Geschäften mit Kindern nachgegangen sei.«

»Zu beweisen war ihm nie etwas. Und dass er mir nichts darüber sagte, können Sie sich wohl denken.«

Laura nickte. »Warum kam Cilla, äh, Zilly, nach Frankfurt?«

»Wir verkehren nicht in den gleichen Kreisen.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Ich habe ihr klargemacht, dass sie den Mund zu halten hat.«

»Warum haben Sie Kommissar Biddling nicht früher gesagt, dass Sie Zilly kennen?«

»Welche Frau erzählt ihrem Schwager schon gern, dass sie die Hure ihres Ehemannes zur Gesellschafterin hatte?« Sie lachte. »Glauben Sie etwa, er habe sich derart für meine Vergangenheit geschämt, dass er sich umbringt?«

»Wissen Sie, ob er auch mit Zilly gesprochen hat?«

»Er sagte, dass er sie aufsuchen will. Ob er es getan hat, fragen Sie sie am besten selbst. Nachdem ich Ihnen gesagt habe, was Sie wissen wollten, werden Sie diesen unseligen Bericht hoffentlich vernichten?«

Laura nickte und gab ihr die Hand. »Ich bedanke mich für Ihre Offenheit, Frau von Tennitz.«

Die Gräfin wollte etwas sagen, als es klopfte. Das rothaarige Mädchen führte Martin Heynel herein. Er starrte Laura, dann Cornelia von Tennitz an. »Welche verdammte Komödie führen Sie jetzt wieder auf, Gräfin?«

»Keine, deren Witz Sie begreifen könnten, Oberwachtmeister. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen? Ich fühle mich nicht wohl.«

Er wollte etwas sagen, aber die Gräfin schüttelte den Kopf. Laura hatte Martin nie zuvor so wütend gesehen. »Ein Termin in der Centrale für private Fürsorge, ja?«, sagte er, als sie das Haus verließen.

»Ich weiß nicht, warum du dich über eine Nichtigkeit so aufregst.« Sie lächelte. »Ich brauche deine Hilfe. Ich muss mit Zilly reden.«

»Worüber?«

»Ich habe den Verdacht, dass sie den Grund für Kommissar Biddlings Selbstmord kennt.«

»Hör auf auf, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen!«

»Kommissar Biddling war dein Kollege. Er sollte sogar dein Schwiegervater werden! Ist es da nicht angebracht, alles daran zu setzen, die Umstände seines Todes aufzuklären?«

»Dafür ist Beck zuständig.« Er hielt eine vorbeifahrende Droschke an und forderte Laura auf, einzusteigen. Als sie sich weigerte, zuckte er die Schultern. »Schade. Ich wollte dich zu einer Tasse Kaffee bei mir zu Hause einladen.«

»Ich dachte, deine Wirtin schätzt keinen Damenbesuch?«

Er zeigte auf ihre Schwesterntracht. »Ich werde behaupten, ich sei fürchterlich krank.«

Laura war zu neugierig, um abzulehnen. Die Droschke fuhr in Richtung Palmengarten und hielt vor einem viergeschossigen, mit Renaissanceornamenten, Erkern und präsentablen Balkonen ausgestatteten Mietshaus in der Königsteinerstraße. Überrascht stieg Laura aus. Heiner Braun hatte recht: Es war ein nobles Wohnquartier für einen Oberwachtmeister.

Martin Heynel bemerkte ihren Blick und lächelte. »Ich hatte einmal Glück in meinem Leben. Ein geschenktes Lotterielos, und es gewann.«

Seine Wohnung lag im dritten Stock; er bat Laura in einen kleinen Salon. Die schweren Möbel und die überreich drapierten Vorhänge schienen den Raum zu erdrücken. Hinter einer orientalischen Mohrenstatue hing ein monströses Raubtierfell, auf einem Vertiko stand antikes Schmuckgeschirr.

»Du musst ja ordentlich in der Lotterie gewonnen haben«, bemerkte Laura.

Er grinste. »Wie du siehst, habe ich das Geld gut angelegt. Es reicht sogar für ein Mädchen. Aber das hat heute seinen freien Tag.« Er nahm ihr das Häubchen ab und löste ihr Haar. Seine Lippen berührten ihre Nase, ihren Mund, ihren Hals. Laura atmete seine Haut und einen Hauch Tabak. Sie wollte sagen, dass sie es nicht ertrug, nur seine Mätresse zu sein, dass sie sich ausgenutzt fühlte, dass sie todunglücklich war. »Ich liebe dich«, flüsterte sie.

»Und ich bin verrückt«, sagte er lächelnd. »Komplett verrückt.« Er knöpfte ihr Kleid auf, nestelte an ihrem Mieder. »Ich habe gehört, du warst am Freitagabend mit Wachtmeister Braun in Biddlings Büro.«

»Ja. Warum?«

Seine Lippen liebkosten ihre Brüste, seine Hände glitten zwischen ihre Beine. »War etwas anders als sonst?«

Stöhnend hielt sie sich an ihm fest. »Martin ...«

»Bitte, Liebes. Versuch dich zu erinnern.«

»Nein ... Nein, es war nichts.«

»Komm schon, Laura! Denk nach!«

Sie stieß ihn von sich. »Was soll das?«

»Du wolltest den Tod von Biddling aufklären, oder?«

»Was hat der Zustand seines Büros damit zu tun?«

Seine Finger wanderten ihren Arm entlang. »Vergiss es.«

Sie knöpfte ihr Kleid zu. »Ich habe keine Lust mehr, für dich bloß Mittel zum Zweck zu sein.«

»Laura, bitte! Du verstehst das ganz falsch.«

»Ach? Wie sollte ich es denn richtig verstehen?«

Er lächelte. »Deine Augen leuchten, wenn du wütend bist.«

»Was wolltest du von Gräfin Tennitz?«

»Sie hat mich im Präsidium angerufen und gebeten, sofort zu kommen. Und was wolltest du von ihr?«

»Du lügst! Sie ist krank und wollte nicht einmal mich empfangen.«

Martin streichelte ihr Haar. »Habe ich dir nicht gesagt, dass sie ein mieses, kleines Spiel mit dir treibt?«

Sie nahm seine Hände weg. »Es fragt sich, wer hier ein mieses Spiel treibt, Oberwachtmeister!«

»Wenn ich meinen schützenden Arm von dir wegziehe, fällst du schneller in die Grube, als dir lieb ist, Polizeiassistentin.«

»Ich habe keine Angst vor dir.«

»Was glaubst du denn, für wen es schlimmere Folgen hat, wenn unsere Liaison öffentlich wird? Ich werde behaupten, du bist eine Zuspätgekommene und hast mich mit deinen Reizen so hartnäckig und hinterlistig umgarnt, bis ich gar nicht anders konnte, als nachzugeben. Das ist zwar absurd, aber man wird mir glauben, schon deshalb, weil man sich keinen Skandal leisten kann. Polizeirat Franck wird es ein Vergnügen sein, dich zu entlassen. Eine Nachfolgerin wird er allerdings kaum verhindern können. Und schon hat die Gräfin ihr Ziel erreicht.«

»Und der arme verführte Oberwachtmeister ehelicht die wunderschöne reiche Vicki Biddling, die ihm die Zuspätgekommene generös verzeiht. Sie gebärt ihm dankbar ein paar Kinder, und er gibt überglücklich ihr Geld aus, und so leben sie in trauter Eintracht, bis der Tod sie scheidet.«

Er grinste. »Du hast recht. Wir haben beide ein gesteigertes Bedürfnis, dass unser kleines Geheimnis ein Geheimnis bleibt.«

Laura konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. »Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vor sich geht! Aber was es auch ist, das mit uns ist vorbei.«

Auf der Straße merkte sie, dass sie ihr Häubchen vergessen hatte.

Georg und Margarethe Biddling trafen am Sonntagnachmittag mit dem Zug aus Berlin ein, und kaum waren sie im Haus, übernahm Georg das Regiment. Victoria war ihm dankbar dafür. Sie hatte keine Kraft mehr, sich mit ihrem Vater wegen jeder Kleinigkeit zu streiten.

Abends kam Georg zu ihr in die Bibliothek. Das Sofa ächzte unter seinem Gewicht. »Entschuldige, Kindchen, aber deinem Herrn Vater musste ich leider ein wenig die Meinung geigen. Was die Beerdigung angeht, hat er nichts mehr zu melden. Die Kosten übernehme samt und sonders ich.«

»Danke, Georg.« Victoria setzte sich zu ihm. »Ich bin froh, dass du da bist. Und ich glaube, Flora tut es auch gut.«

Er nahm ihre Hand. »Mit Vicki wird es schon wieder. Morgen früh rede ich mit ihr, ja?«

»Hätten wir bloß auf dich gehört.«

»Richard hat meine Meinung selten interessiert.« Er lächelte. »Mein angeheirateter Sohn war ein rechter preußischer Sturkopf, und wir hatten es nicht immer leicht miteinander. Aber er war ein feiner Mensch.«

»Er fehlt mir so sehr«, sagte Victoria leise.

Aus Georg Biddlings sonst so fröhlichen Augen löste sich eine Träne. »Mir auch, Kindchen.«

Am folgenden Tag kam Andreas Hortacker vorbei. Vicki weigerte sich, ihn zu empfangen, und er saß lange mit Victoria und Georg Biddling zusammen. Erst am Abend verließ Vicki ihr Zimmer. Ihr Gesicht hob sich wie eine Porzellanmaske vom Schwarz ihrer Haare und ihres Kleides ab.

»Wo willst du denn hin?«, fragte Victoria.

»Ich fahre aus.«

»Nimm bitte ein Mädchen mit, ja?«

»Du bist nicht meine Mutter! Ich brauche mir von dir überhaupt nichts vorschreiben zu lassen!«

Victoria wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Sie wandte sich ab und hoffte, dass ihre Tochter ihre Tränen nicht gesehen hatte.

Vicki ließ sich zum Polizeipräsidium bringen und danach in die Königsteinerstraße. Martin Heynel öffnete ihr die Tür. »Ich hab’s doch gewusst, dass du ...« Er brach ab und starrte sie an.

»Hattest du jemand anderen erwartet?«, fragte sie tonlos.

Er schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand. »Es tut mir so leid.«

»Ich muss mit dir reden.«

Er führte sie in den Salon und rückte ihr einen Sessel zurecht. »Woher weißt du denn, wo ich wohne?«

»Dein Kollege hat es mir gesagt.« Sie verzog das Gesicht. »Er war betrunken!«

Er streichelte ihr Haar. »Wie geht es dir?«

Sie kämpfte mit den Tränen. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass unter den gegebenen Umständen eine Hochzeit erst einmal nicht in Frage kommt.«

»Das verstehe ich, Liebes.«

Vicki stutzte und hob Lauras Häubchen auf. »Was ist das denn?«

Er nahm es ihr lächelnd ab. »Mein Mädchen ist leider überaus liederlich. Ich werde sie entlassen müssen.«

Vicki versuchte, eine gleichmütige Miene zu machen. »Ich meine, in Anbetracht der Umstände sollten wir uns besser nicht wiedersehen.«

Er schluckte. »Ich wollte ganz bestimmt nicht, dass du die Wahrheit auf diese schäbige Weise erfährst, und ich mache mir schreckliche Vorwürfe.«

»Ich habe ihn weggeschickt!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. »Ich kann nicht aufhören zu denken, dass er es meinetwegen getan hat. Dass ich schuld bin.«

Martin Heynel nahm sie in seine Arme. »Bitte, Vicki, glaube mir: Der Tod deines Vaters hat nichts mit eurem Streit zu tun. Und auch nichts mit unseren Hochzeitsplänen.«

Sie sah ihn aus rotgeweinten Augen an. »Woher weißt du das?«

»Wer wütend ist, kann nicht zugleich verzweifelt sein, oder? Und dein Vater war sehr wütend auf mich.«

»Warum wollte er denn nicht, dass wir heiraten?«

Er berührte ihre Wangen. »Weil er dich davor bewahren wollte, ein Leben zu führen, das größtenteils aus Warten besteht.«

»Aber wenn mir ein Mensch etwas bedeutet, warte ich doch gern auf ihn.«

»Er glaubte, ich sei nicht gut genug für seine wunderschöne Prinzessin. Und er hatte recht.«

»Martin! Wie kannst du so etwas sagen?« Sie schlang die Arme um seinen Hals. »Ich liebe dich doch so sehr.«

An das

Kgl. Polizeipräsidium

Neue Zeil 60

z. Hd. des ermittelnden Beamten i.S. Ableben des Kriminalkommissars Biddling

Ich war am Freitag, dem 17. Juni, frühmorgens mit einem Bekannten in der Stadt unterwegs. Gegen 5 Uhr 30 haben wir beobachtet, wie Herr Kriminalkommissar Biddling zu zwei Männern in ein Automobil gestiegen und weggefahren ist. Herr Biddling ist mir aus dem Mordprozess Lichtenstein bekannt. Deshalb bin ich sicher, dass er es war.

Das Automobil stand an dem großen Torbogen in der Kronprinzenstraße. Mein Bekannter sagt, es sei ein Wagen gewesen, wie ihn der Schriftsteller Bierbaum für seine Reise von Berlin nach Sorrent benutzt hat. Auf jeden Fall war er rot.

Die beiden Männer hatten helle Staubmäntel und Lederkappen an. Ihre Gesichter konnten wir wegen der Automobilmasken nicht erkennen.

Wir halten es für unsere Pflicht, Sie über die Beobachtung in Kenntnis zu setzen. Aus Gründen der Diskretion können wir unsere Namen nicht nennen.

In der Bibliothek war es still und düster wie in einer Gruft. Auf dem Tisch vor dem Kamin brannte eine Kerze. Victoria wusste nicht, ob es Morgen oder Abend war, und es interessierte sie auch nicht. Sie strich über den abgegriffenen Einband des schmalen Buches, schlug die vergilbten Seiten auf. Die Buchstaben schienen im flackernden Licht zu tanzen. Haben Sie etwa das ganze Buch auswendig gelernt? Nein, nur das, was wichtig ist, Herr Kommissar. Nichts war mehr wichtig. Ihre Tränen tropften aufs Papier.

»Guten Tag, Victoria«, sagte Heiner Braun von der Tür her. »Sie sollten ein bisschen Sonne hereinlassen.«

»Wozu?«

Er zog die Vorhänge zurück und öffnete die Fensterläden. »Damit Sie den Sommer sehen.«

»Richard kann den Sommer auch nicht mehr sehen.« Sie klappte das Buch zu. »Mit Detektiv Dupin hat es damals angefangen«, sagte sie leise. »Erinnern Sie sich, als ich bei Ihnen war, um wegen Eduard auszusagen? Richard hat mir dieses Buch nach dem Verhör geschenkt. Und ich wusste nicht, ob ich ihn lieben oder hassen sollte.«

»Wir waren nicht besonders nett zu Ihnen, hm?«

»Bitte, Herr Braun. Er würde doch nicht gehen, ohne ein einziges Wort?«

Heiner Braun setzte sich zu ihr. »Sie hatten mich gebeten, Ihnen das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung mitzuteilen.« Mit behutsamen Worten erklärte er ihr das Autopsieergebnis. Auch Laura Rothes Feststellung verschwieg er nicht.

Victoria zerknitterte ihr Taschentuch. »O Gott. Und ich habe nichts von seiner Krankheit gewusst, nicht einmal etwas geahnt.«

»Mir hat er auch nichts gesagt. Und Fräulein Rothe wüsste ebenfalls nichts, wenn sie nicht zufällig in sein Büro gekommen wäre.«

Victoria wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. »Niemand bringt ihn mir wieder zurück. Aber dass er kein Vertrauen gehabt hat ... Und wenn ich schuld bin an seinem Tod?«

»Bitte machen Sie sich nicht solche Vorwürfe. Noch steht nicht zweifelsfrei fest, ob es wirklich Selbstmord war.«

»Aber Kommissar Beck behauptet es.«

»Der Vorgesetzte Ihres Mannes lässt nach wie vor in alle Richtungen ermitteln.« Heiner Braun drückte ihre Hand. »Wenn sie im Präsidium die Wahrheit nicht herausfinden, werde ich es tun. Das verspreche ich Ihnen.«

Polizeirat Franck bekam den Brief am Dienstag kurz vor dem Mittagessen, also zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Er war an ihn persönlich adressiert, hatte keinen Absender und weder Anrede noch Unterschrift.

Man hat Biddlings Abschiedsbrief verschwinden lassen.

Fragen Sie Wachtmeister Braun.

Wütend warf er das Blatt auf seinen Schreibtisch. Er hasste Leute, die ihren Namen nicht sagten. Er klingelte nach seinem Gehilfen und trug ihm auf, sofort Kriminalwachtmeister im Ruhestand Braun einzubestellen.

Kommissar Beck wirkte zufrieden, als er am Dienstag spätnachmittags von einer Unterredung mit Polizeirat Franck zurückkam. Paul Heusohn war dabei, sein Stehpult einzurichten. Auch die Schreibmaschine und ein Aktenschrank waren aus Biddlings in Becks Büro umgestellt worden. Beck setzte sich an seinen Schreibtisch und nahm die Tageszeitung zur Hand. »Sie können im Präsidium bleiben, Heusohn.«

»Danke, Herr Kommissar.«

»Ich stelle fest, Sie sprühen nicht gerade vor Begeisterung.«

Der Junge wand sich. »Ich weiß, Sie sind sehr beschäftigt. Aber hat sich vielleicht etwas aus meiner Feststellung im Nizza ergeben?«

Beck sah ihn verärgert an. »Davon abgesehen, dass ich es reichlich dreist von Ihnen finde, eigenmächtig Ermittlungen vorzunehmen, nein.«

»Der Spaziergänger hat mir gesagt, dass er den Jungen erst um Viertel nach fünf mit dem Herrn Kommissar vom Grindbrunnen hat weggehen sehen. Seine Frau hat aber behauptet, Herr Biddling wäre schon um kurz vor vier Uhr aus dem Haus gegangen. Warum hat man ihn so lange im Nizza warten lassen? Und dann ist ja noch die Frage zu beantworten, wie er zu diesem Ort im Wald kam! Und was er dort überhaupt wollte?«

»Es war ein Selbstmord, Heusohn!«

»Aber Herr Polizeirat Franck hat gesagt ...«

»Herrgott noch mal! Sind Sie so begriffsstutzig oder tun Sie nur so? Ein Kriminalbeamter, der sich umbringt, ist nicht gerade gut fürs Renommee. Außerdem muss man Rücksicht auf die Familie nehmen. Nach der Beerdigung werde ich meinen Ermittlungsbericht vorlegen.«

»Bitte sagen Sie mir, wo genau man ihn gefunden hat, Herr Kommissar.«

»Nein. Es reicht, wenn Sie ungefragt am Grindbrunnen herumschnüffeln.« Der Junge wollte etwas sagen, aber Beck fiel ihm ins Wort. »Die Akte befindet sich bei Polizeirat Franck, und dort wird sie bleiben, bis die Sache abgeschlossen ist. Ich verbiete Ihnen ausdrücklich, weitere Ermittlungen oder Überlegungen in dieser Sache anzustellen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Der Junge sah auf sein Pult und schwieg.

»Ich will wissen, ob Sie mich verstanden haben!«

»Ja.«

Beck räusperte sich. »Ich weiß, dass Sie Herrn Biddling sehr geschätzt haben, aber es hilft nichts, die Wahrheit zu leugnen, Junge.« Als Paul nichts sagte, fügte er hinzu: »Polizeirat Franck hat mir vorhin Biddlings Abschiedsbrief gezeigt.«

Paul Heusohn hatte Mühe, die Fassung zu wahren. »Darf ich ihn sehen? Bitte, Herr Kommissar.«

Beck schüttelte den Kopf. »Nein, Heusohn. Und kein Wort darüber zu irgendwem!«

Es klopfte. Ein Polizeidiener kam mit einem blassblauen Brief herein. »Zu Händen des ermittelnden Beamten in Sachen Ableben des Kriminalkommissars Biddling«, las er vor. »Das sind Sie, oder?«

Beck riss den Umschlag auf und überflog das Schreiben. Paul Heusohn sah ihn neugierig an. »Dürfte ich erfahren, was darin steht, Herr Kommissar?«

Beck faltete den Briefbogen zusammen und steckte ihn ein. »Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass Sie die Sache nichts mehr angeht! Sollte es mir übrigens noch mal einfallen, Sie zum Essen einzuladen, möchte ich bitte nicht beleidigt werden.«

»Es tut mir leid, Herr Kommissar.«

»Ich muss zu Polizeirat Franck. Lesen Sie derweil die Akte, die ich Ihnen hingelegt habe. Wenn ich wiederkomme, will ich wissen, was Sie von dem Zwischenbericht des Kollegen halten.«

Beck hatte das Büro kaum verlassen, als Laura Rothe hereinkam. »Ich müsste kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Paul.«

»Es ist wegen meiner Mutter, nicht wahr?«

Laura nickte. »Die Gestellung der Pflegerin war eine vorübergehende Hilfsmaßnahme. Man erwartet im Armenamt von mir, dass ich sage, wie es weitergehen soll, wenn sich der Gesundheitszustand Ihrer Mutter nicht bessert.«

»Aber sie kann schon jeden Tag ein bisschen aufstehen, und ich tue alles, damit meine Geschwister ein ordentliches Zuhause haben.«

»Das ist es ja gerade, Paul. Sie können nicht rund um die Uhr arbeiten.«

»Das macht mir nichts aus, Fräulein Rothe!« Seine Stimme wurde flehend. »Bitte sagen Sie dem Amt, dass wir zurechtkommen, dass ich für meinen Bruder und meine Schwestern sorge. Bitte.«

Laura legte ihm die Hand auf den Arm. »Was glauben Sie denn, wie lange Sie das durchhalten? Sie müssen auch ein bisschen an sich denken.«

»Mir geht es gut, wirklich. Aber wenn meine Geschwister in die Kinderherberge müssten oder zu irgendwelchen Leuten, die sie gar nicht kennen, die sie behandeln wie billige Dienstboten ... Bitte, tun Sie ihnen das nicht an!«

Laura sah die Verzweiflung in dem jungen Gesicht, und sie nickte. Obwohl sie wusste, dass sie ihm nicht würde helfen können.

Am Tag der Beerdigung regnete es. Heiner Braun kam allein, Maria war über Georg Biddlings Aufzug pikiert, Rudolf Könitz beleidigt und David betrunken. Victoria interessierte es nicht. Pfarrer Battenberg sprach eine Andacht. Seine Worte klangen fremd und fern wie die Menschen um sie herum fremd und fern waren. Richard Friedrich Biddling, zweiundfünfzig Jahre alt. Hermann Richard Lichtenstein, zweiundfünfzig Jahre alt.