Der Garten der alten Dame - Nikola Hahn - E-Book

Der Garten der alten Dame E-Book

Nikola Hahn

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Beschreibung

Elis Eltern trennen sich, und ihr Leben zerbricht. Der Kummer ist kaum auszuhalten, doch dann entdeckt sie den versteckten Zugang zu einem verbotenen Garten, in dem eine seltsame alte Dame wohnt: Sie trägt den Namen einer Toten und behauptet unmögliche Dinge. Und sie zeigt Eli eine Welt, die sie wieder froh sein lässt – bis zu jenem Tag, an dem etwas Furchtbares geschieht … +++ Dass zwischen dem bewussten Lügen, dem unbewussten Irrtum und dem Fabulieren, wie es Kinder gerne tun, oft keine eindeutige Grenze gezogen werden kann, ist für die ermittelnde Kriminalkommissarin misslich, für die Schriftstellerin war es eine erzählerische Herausforderung – und der Grund, warum Nikola Hahn für ihren Roman über Freundschaft und Verlust, Tod und Leben, Schein und Sein die Perspektive eines Kindes gewählt hat. Trotz der kindlichen Protagonistin richtet sich »Der Garten der alten Dame« vor allem an erwachsene Leser, die poetisch erzählte Geschichten wie »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry oder Frances Hodgson Burnetts »Der geheime Garten« mögen. +++ Aus der Intention, die Geschichte eines kleinen Mädchens, das nach der Trennung seiner Eltern voller Schmerz in einen verwilderten alten Garten und in eine Fantasiewelt flüchtet, nicht nur literarisch, sondern auch in Bildern zu erzählen, entstand das Romanprojekt »Verbotener Garten«: ein Reigen jahreszeitlich adaptierter »Special Editions« im Paperback und eine Schmuckausgabe im Hardcover. Die Umsetzung begann mit einer illustrierten eBook-Ausgabe, der sukzessive unterschiedlich gestaltete Printausgaben folgten. Für jede Jahreszeit wurde ein Buch mit einem passenden Cover kreiert; die Herbstausgabe ist zudem als literarisches Malbuch angelegt. Eine englische Version ist unter dem Titel »Mrs. Meyer`s Magical Garden« erhältlich. Mit der sechsten Ausgabe als gebundenes, farbig gestaltetes literarisches Geschenkbuch hat Nikola Hahn das Projekt abgeschlossen. * Sommerausgabe im eBook, schwarzweiß illustriert *

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Seitenzahl: 225

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Nikola Hahn

Der Garten der alten Dame

Roman

Der Roman »Der Garten der alten Dame« erscheint als Romanprojekt »Verbotener Garten« in unterschiedlich gestalteten Printausgaben.

»Sommerausgabe« im eBook

Vers. 5/2016

© 2012–2016 Thoni Verlag

Titelbild, Satz u. Layout: N. Hahn

www.thoni-verlag.com

ISBN 978-3-944177-01-4

Ein Qindie-Buch im Thoni Verlag

Das Qindie-Siegel steht für Qualität & Unabhängigkeit.

Weitere Informationen im Internet: qindie.de

zum Buch – zur Autorin – Hinweis:

Für eine optimale Darstellung der Bildeffekte wählen Sie bitte die Hintergrundfarbe »Papier« oder weiß.

Für Thomas.

Weil Du da bist.

Wer Schmetterlinge lachen hört,

der weiß, wie Wolken schmecken.

Der wird im Mondschein, ungestört

von Furcht, die Nacht entdecken.

(Carlo Karges, Novalis)

Thoni Verlag

Herbst.

Omnium rerum principia parva sunt.

Der Anfang aller Dinge ist klein.

Marcus Tullius Cicero

Kapitel eins

Die Blätter des Baumes waren bunt und trudelten eins nach dem anderen hinunter aufs Straßenpflaster, direkt vor den Eingang der alten Stadtvilla. Zumindest vermutete Eli das, denn um es sehen zu können, hätte sie sich aus dem Fenster ihres Zimmers lehnen müssen, das nun nicht mehr ihr Zimmer war. Ein letztes Mal schaute sie den Baum an: eine Stieleiche. Das wusste sie von Paps. Uralt sei der knarzige Geselle, älter noch als das Haus, und das war auch schon ziemlich alt. Ach, Paps konnte herrliche Geschichten erzählen! Eli vermisste ihn schon, obwohl er noch gar nicht gegangen war. Er würde sie nämlich begleiten, ins neue Heim, wie Mama bedeutungsvoll erklärt hatte. Eli zuckte zusammen, als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte.

„Na, sagst du dem alten Recken Lebwohl, Ronja Räuber?“

Eli unterdrückte die Tränen und wandte sich um. „Die olle Eiche wird auch noch hundert Jahre ohne mich weiterwachsen“, erklärte sie tapfer.

Paps strich ihr übers Haar. Sie hasste es, wenn andere das taten, bei ihm liebte sie es. Genausosehr wie sie es liebte, wenn er sie Ronja nannte. Das war ihr großes Geheimnis. Nicht mal Mama wusste, dass sie wirklich und wahrhaftig so hieß wie die Heldin aus der Geschichte von Astrid Lindgren: Ronja Räubertochter, die auf der geborstenen Mattisburg im dunklen Mattiswald lebte, und die verwegen war und mutig und einzigartig. So wie Eli eben. Paps hatte gesagt, dass er das heimlich gemacht hatte, weil Mama der Meinung war, dass Ronja kein Name für ein ordentliches Mädchen sei. Ziemlich lange hatte Eli gerätselt, wie er das hingekriegt hatte, ohne dass es Mama herausfand, denn irgendwie fand sie alles irgendwann heraus.

„E-li-sa-betha!“, hörte sie ihre Stimme vom Flur. „Wir müssen los!“

Eli mochte es nicht, wenn sie ihren Namen in die Länge zog. Eigentlich mochte sie überhaupt nicht Elisabetha heißen. Eli, das ging gerade noch. Wenn sie es sich aussuchen dürfte, würde sie allen befehlen, nur noch Ronja zu sagen. Die Tür ging auf. Mama kam herein. Sie verzog das Gesicht. „Ich hätte mir ja denken können, dass ihr wieder herumtrödelt.“

Paps schloss das Fenster und sagte nichts.

Die neue Schule war doof. Im Klassenzimmer gab es nur noch einen freien Platz neben einem pummeligen Mädchen mit Brille und schrecklich ordentlich gekämmten Haaren, das Emma hieß und unglücklicherweise auch noch in der Nähe von Eli wohnte. Emma war nämlich genauso doof wie die Schule. Und die Lehrerin war auch doof und die neue Straße und die neue Wohnung in dem mausgrauen Kasten von Mietshaus erst recht. Die ganze Gegend war doof: überall gleich aussehende Reihenhäuser mit gleich aussehenden Minigärten oder schäbige Betonbauten wie das Haus, in dem sie nun wohnten. Betreten verboten! stand auf einem verbeulten Schild; damit war das bisschen Gras neben dem Eingang gemeint, aber die Hunde hielten sich nicht daran, wie eine Unzahl braune Haufen zeigten. Nicht mal eine Stieleiche gab es hier! Die einzigen Bäume weit und breit konnte Eli nur zur Hälfte sehen, weil sie hinter einer hohen Mauer jenseits der Straße standen. An der Mauer wuchs Gestrüpp und davor war eine freie Fläche, platt planiert und auch mit einem Verbotsschild. Anscheinend war vorgesehen, sie bald zu bebauen. Der größte Baum hinter der Mauer hatte leuchtende gelbe Blätter; sie sahen aus, als hätte ein Maler sie gerade frisch gestrichen. Der gelbe Baum war das einzig wirklich Schöne in der Straße.

Lustlos stieg Eli nach der Schule die abgetretenen Stufen zu der neuen Wohnung hoch, die direkt unterm Dach lag. Sie vermisste das Knarren der Holztreppe und der Dielen in ihrer alten Wohnung, und den Hall im Korridor, wenn jemand sprach, und die luftig hohen Decken mit dem weißen Stuck, die ihr das Gefühl gegeben hatten, in einem Schloss zu wohnen. Früher mochte Mama nie viel herumstehen haben, jetzt war es ihr offenbar egal. Der Flur war eng und dunkel. Selbst am Tag musste man eine Lampe anmachen, um etwas zu sehen, und die Mäntel verschwanden nicht mehr hinter geheimnisvollen Schwebetüren, sondern hingen offen an einem kippeligen Garderobenständer. Eli hängte ihre Jacke dazu und ging in ihr Zimmer: ein schmaler Schlauch mit einem kleinen Fenster zur Straßenseite. Eli öffnete es, um die Herbstsonne hereinzulassen. Sie vermisste Paps so sehr, dass es wehtat.

„Alles muss ich jetzt doppelt bezahlen!“, hatte er geklagt und mit Mama über Miete, Heizkosten und irgendwelche sonstige Aufwendungen gestritten. Und zuletzt noch über das Besuchsrecht. Eli mochte es nicht, wenn ihre Eltern sich zankten, aber das war ihr immer noch lieber, als wenn sie gar nicht miteinander redeten.

Draußen gab es nicht viel zu sehen: ein angerostetes graues Blumengitter vor einer leeren Fensterbank und triste Dächer. Aber der Himmel war herrlich blau und die Sonne warf interessante Muster auf die Straße. Von jenseits der hohen Mauer leuchtete der gelbe Baum herüber. Eli grinste. Seit wann war eine Mauer für Ronja ein Hindernis? Sie würde sich die Sache aus der Nähe ansehen. Am besten jetzt sofort. Doch daraus wurde nichts, weil Mama heimkam.

Am nächsten Tag tat Eli so, als ginge sie nach der Schule direkt nach Hause; tatsächlich wartete sie hinter der Eingangstür, bis sie sicher war, Emma loszusein. Als sie das Haus wieder verließ, war glücklicherweise weit und breit kein Mensch zu sehen. Betont gelangweilt spazierte sie über die planierte Fläche und inspizierte die Mauer. Sie bestand aus grob behauenen Steinen, war mit Moos bewachsen und so hoch, dass Eli nicht darüber schauen konnte. In der Stadt umgaben solche Mauern die Gärten reicher Leute und Eli und ihre Freundin Susi hatten sich vorgestellt, unsichtbar zu sein und einfach hindurchzugehen. Die einzige Möglichkeit, einen Blick auf das Dahinter zu tun, waren die mächtigen, aus Schmiedeeisen bestehenden Eingangstore. Hier gab es nichts dergleichen, sondern bloß jede Menge dornige Sträucher und rechts und links Reihenhäuser. Das Grundstück hinter der Mauer war anscheinend sehr groß; wahrscheinlich lag der Eingang in einer Parallelstraße.

Eli brauchte eine Weile, bis sie die richtige Einmündung fand, und stellte enttäuscht fest, dass das Tor mit Schilfmatten abgehängt war, auf denen das altbekannte Betreten verboten! prangte, und darunter: Eltern haften für ihre Kinder; also sozusagen der Hinweis, dass es sich lohnte, nach einem Durchschlupf zu suchen, weil es Interessantes zu entdecken gab. Susi hatte das auch so gesehen und deshalb hatten sie vor Kurzem mächtig Ärger bekommen. Erst mit dem Hausbesitzer, und Eli danach mit Mama, und abends noch mit Paps, als er von der Arbeit heimkam. Das alles änderte nichts daran, dass solche Schilder neugierig machten; man durfte sich eben nur nicht erwischen lassen. Eli stellte sich auf die Zehenspitzen, aber auch das half nichts. Der Garten hinter der Mauer blieb verborgen.

„Geh da lieber weg!“, rief jemand hinter ihr. Sie fuhr erschrocken herum. Es war die pummelige Emma. War sie ihr etwa hinterhergeschlichen?

„Warum?“, fragte Eli.

„Weil’s verboten ist.“

„Warst du mal drin?“

„Natürlich nicht!“

Eli dachte an Susi. Sie wandte sich zum Gehen.

„Wohin willst du?“, fragte Emma.

„Heim.“

„Darf ich ein Stückchen mitkommen?“

Eli zuckte die Schultern und schlenderte die Straße entlang. Emma lief neben ihr her und plapperte drauflos. Sie erzählte von der Schule und dass sie Eli bei den Hausaufgaben helfen könne, aber Eli hörte nicht zu. Sie dachte an den gelben Baum. Und wie sie in den Garten käme. Sie blieb stehen und sah Emma an.

„Bist du denn gar nicht neugierig?“

„Worauf?“

„Na, wie es hinter der Mauer aussieht!“

Emma verzog das Gesicht. „Da gibt’s bloß jede Menge Unkraut und ein kaputtes Haus.“

„Also warst du doch schon drin!“

„Nein, ja, also … Früher hat da die alte Frau Meyer gewohnt. Aber die ist gestorben. Und meine Mutti sagt, es wird Zeit, dass der Schandfleck endlich bald wegkommt.“ Das klang, als freute sie sich noch mehr darüber als ihre Mutti, und Eli war sich sicher, dass Emma ganz bestimmt nicht ihre Freundin werden würde. Außerdem wollte sie sowieso keine Freundin mehr haben. Und überhaupt wäre sie am liebsten allein auf der Welt. Dann müsste sie wenigstens nicht so traurig sein, wenn die anderen nicht mehr da wären. Aber vielleicht könnte sie am nächsten Wochenende mit Paps zusammen nach der Mattisburg suchen?

„Ich find’s schön, dass wir in eine Klasse gehen“, sagte Emma.

Ich nicht, dachte Eli und ließ sie stehen. Als sie nach Hause kam, war Mama noch nicht da. Sie musste jetzt arbeiten, aber sie freute sich, frei zu sein. Das hatte sie jedenfalls am Telefon zu ihrer Freundin Birgit gesagt. Eli fühlte sich nicht frei, sondern eingesperrt in dem kleinen Zimmer. Dabei war es gar nicht so klein, wenn sie es mit dem von Mama verglich.

„Ich schlafe ja nur darin“, hatte sie gesagt und gelächelt. „Aber du brauchst einen vernünftigen Platz für die Hausaufgaben.“

Der vernünftige Platz war eine Nische unter dem Fenster, gerade groß genug für Elis Schreibtisch. Wenn sie beim Hausaufgabenmachen hochsah und das hässliche Gitter wegdachte, schaute sie direkt in den Himmel. Und wenn sie aufstand, sah sie die Straße und die Mauer, dahinter viel buntes Gebüsch – und den gelben Baum, der eine Verheißung war: Ronja würde den Eingang finden und mutig erkunden, was es im verbotenen Garten der alten Frau Meyer zu entdecken gab! Sie musste bloß aufpassen, dass Emma ihr nicht über den Weg lief.

Leider war das nicht so leicht, denn Emma freute sich, jemanden gefunden zu haben, dem sie auf die Nerven fallen konnte. Eli mochte sie zwar nicht, brachte es aber nicht fertig, ihr das noch deutlicher zu zeigen, als sie es schon getan hatte. Also hörte sie jeden Morgen auf dem Hinweg zur Schule und jeden Mittag wieder zurück Emmas langweiliges Geschwätz an und atmete auf, wenn sie sich endlich verabschiedete. Sie wohnte mit ihren Eltern in einem der Reihenhäuser, die an die Mauer von Frau Meyers Garten grenzten, und nur deshalb ließ Eli sich schließlich erweichen, ihr Zimmer zu besichtigen. Wie ihr eigenes lag es unter dem Dach, aber was für ein Unterschied: Emmas Zimmer war groß und hell und hatte sogar einen eigenen kleinen Balkon. Und von da aus konnte man tatsächlich in Frau Meyers Garten sehen! Das heißt, man konnte ihn erahnen, denn Bäume, Büsche und Bambus verwehrten den Blick; nur ein bisschen Dach entdeckte Eli zwischen üppig herbstlichem Bunt.

„Hat Frau Meyer allein dort gewohnt?“, fragte sie.

Emma zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich war ja noch ziemlich klein, als sie gestorben ist. Meine Mutti sagt, dass sie wunderlich war.“

„Warum habt ihr sie nicht mal zum Kuchenessen eingeladen?“

„Wir kannten sie doch gar nicht! Außerdem haben die Leute gesagt, dass es besser ist, sich nicht mit ihr abzugeben.“

„Und warum?“

„Ach, was weiß denn ich!“ Emma sah Eli kopfschüttelnd an. „Warum interessiert die dich? Die ist doch längst tot.“

Eli dachte an die Geschichte vom alten Garten, die Paps ihr vorgelesen hatte, und an die einsame Dame, die ihre Blumen Kinder nannte, und an die guten Gartengeister, die ihr hatten helfen wollen. Zu gern hätte Eli gewusst, wie ein guter Gartengeist aussah. Nicht mal Paps hatte es ihr sagen können. Vielleicht versteckte sich einer im Garten von Frau Meyer?

„Wollen wir mit meinen Puppen spielen?“, fragte Emma.

Eli schüttelte den Kopf. „Nein. Ich muss heim.“

Auf der Straße pfiff sie ein Lied. Das Pfeifen hatte sie von Paps gelernt.

„Du bringst dem Kind lauter Unfug bei“, behauptete Mama, aber als sie es sagte, hatte sie gelächelt. Das war lange her, doch Eli wusste genau, dass es an einem sommerwarmen Samstagnachmittag gewesen war. Sie hatten im Zoo die Elefanten besucht und als sie nach Hause kamen, saß in der Stieleiche eine glänzend schwarze Amsel und sang.

„Kannst du das auch?“, fragte Paps. „Pfeifen wie ein Vogel?“ Und dann hatte er es vorgemacht und sie hatte es nachgemacht, und die Amsel hatte mitgemacht. Und dann kam eine braune hinzu, und die konnte sogar pfeifen, obwohl sie den Mund voller Würmer hatte, und Paps sagte streng: „Mit vollem Schnabel singt man doch nicht!“ Da hatte Eli so laut lachen müssen, dass die schwarze Amsel erschrocken davonflatterte und die braune fast die Würmer fallen ließ, und dann war sie zeternd im wilden Wein verschwunden und hatte ihre Jungen gefüttert.

Eli hatte die Brachfläche erreicht und schlenderte betont unauffällig am Verbotsschild vorbei zur Mauer. Sie war dabei, das Gestrüpp zu inspizieren, als sie hinter sich eine allzu vertraute Stimme hörte.

„Du kriegst mächtig Ärger, wenn sie dich erwischen!“ Emma zeigte auf das Schild und sah Eli mit einem Blick an wie es Mama tat, wenn sie etwas besonders Schlimmes ausgefressen hatte. Sie hielt Eli einen Lolli hin. „Magst du? Himbeergeschmack.“

„Lass mich endlich in Ruhe!“

Emmas Augen füllten sich mit Tränen. Eine Heulsuse. Auch das noch! Eli überlegte, ob sie einfach weitermachen sollte, aber diese schreckliche Emma würde sie bestimmt verpetzen.

„Tschüss“, sagte sie und ging.

Es dauerte schrecklich lange, bis endlich Samstag war. Nach dem Frühstück holte Paps Eli ab; sie hatte gehofft, dass sie zu dritt etwas unternehmen würden, doch Mama sagte Paps nicht mal guten Tag. Also fuhren sie allein in die Stadt. Paps hatte trotz Mamas Abfuhr gute Laune und lud Eli ins Eiscafé ein. Das Eis schmeckte gut, aber nicht so gut wie früher, als Mama dabei gewesen war. Eli hatte sich sosehr auf Paps gefreut, und jetzt war er da, und sie vermisste Mama.

„Wollen wir in den Zoo?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und wünschte sich ganz weit weg.

Am Sonntagmorgen regnete es. Durch das Grau konnte Eli nur mit Mühe den gelben Baum hinter der Mauer sehen. Als sie sich aus dem Fenster lehnte, spritzte ihr Wasser aus der kaputten Dachrinne ins Gesicht, und sie schwor sich: Sobald es aufhörte zu regnen, würde Ronja in Frau Meyers Garten gehen – komme, was wolle!

Zwei Tage später schien die Sonne wieder, und nicht einmal Emma konnte sie aufhalten, denn sie lag mit einer Grippe im Bett.

„Meinst du nicht, du solltest deine neue Freundin mal besuchen?“, fragte Mama.

„Sie ist nicht meine Freundin!“

„Sie ist ein sehr nettes Mädchen“, sagte Mama. Wie konnte sie das wissen? Sie hatte sie nur zweimal gesehen! Überhaupt hatte Eli den Eindruck, dass Mama nicht mehr so gut zuhörte wie früher, als sie noch in der Stadt gewohnt hatten. Manchmal vergaß sie sogar, was sie versprochen hatte. Die Telefonate mit Birgit wurden auch kürzer. Frei sein hatte Eli sich anders vorgestellt.

„Na gut“, lenkte sie ein. „Besuche ich halt Emma.“

Der Besuch fiel kurz aus. Eli sagte, dass sie noch etwas Wichtiges zu erledigen habe, und das war ja strenggenommen nicht gelogen.

Als Eli diesmal über die Brache schlich, schaute sie sich sorgsam um, aber es waren nur vereinzelt Leute unterwegs, und die achteten nicht auf sie. Sie folgte der Mauer nach rechts bis zu dem Dornengestrüpp. Irgendwo dahinter lag das Grundstück von Emmas Eltern, aber nirgends gab es ein Durchkommen. Eli ging in die andere Richtung; auch dort verschwand die Mauer hinter undurchdringlichem Gebüsch, aber nach intensivem Suchen entdeckte Eli eine Stelle fast ohne Dornen. Sie kämpfte sich durch und stand unvermittelt in einer Art natürlichem Zelt: Dürres Geäst und Dornenranken formten einen Hohlraum, dessen hintere Seite die Mauer bildete. An einer Stelle waren mehrere Steine herausgebrochen, und der entstandene Spalt war gerade so groß, dass Eli hindurchpasste. Am liebsten hätte sie vor Freude in die Hände geklatscht. Die Steine fühlten sich kühl an und waren von weichem Moos bewachsen. Es roch nach Erde, Laub und Pilzen. Wie auf der diesseitigen verdeckten auch auf der jenseitigen Seite der Mauer mannshohe Sträucher den Zugang. Wenn jemand nicht danach suchte, würde er ihn nicht finden.

Neugierig schaute Eli sich um. Überall leuchteten Büsche und Bäume in satten, warmen Farben. Das Gras war kniehoch und in einem von Unkraut überwucherten Beet blühten Blumen, deren Namen sie nicht kannte.

Der gelbe Baum stand nah bei einem Haus, das fast vollständig unter Efeu und Dornenranken verschwand. Holzstufen führten auf eine überdachte Terrasse, auf der Eli zwei verblichene Korbstühle und einen Tisch sah. Und einen Schaukelstuhl, der sich bewegte.

„Guten Tag, Elisabetha. Oder sollte ich Ronja sagen? Schön, dass du mich besuchen kommst.“

Erschrocken blieb Eli stehen und starrte die Frau an, die im Schaukelstuhl saß. Sie war in eine blaurotkarierte Decke gehüllt, auf der ihre Hände ruhten wie verschrumpelte Winteräpfel im Frühling. Ihr Gesicht glich einer Wegekarte aus Falten und Fältchen, und das weiße Haar hatte sie zu einem verschlungenen Knoten gesteckt. Zumindest vermutete Eli das, denn sehen konnte sie es nicht. Aber Oma Maria hatte auch solche Haare gehabt. „Bitte … Entschuldigen Sie“, stotterte sie. „Es tut mir leid. Ich …“

Die Fältchen schienen sich zu amüsieren.

Eli stutzte. „Woher wissen Sie, wie ich heiße?“

„Das ist mein kleines Geheimnis. Zwei Namen – das ist anstrengend. Wie soll ich dich also nennen?“

„Meine Mama sagt Elisabetha. Mein Paps sagt Ronja, aber nur heimlich. Alle anderen nennen mich Eli.“

„Und wie heißt du am liebsten?“

Das hatte sie noch niemand gefragt. „Na ja … Wie Sie möchten.“

„Nein. Das entscheidest du, liebes Kind.“

Eli hasste es, wenn die Leute sie liebes Kind nannten, doch die alte Dame sagte es, dass es wie eine Ehre klang. Eli überlegte, ob es Paps recht wäre, wenn eine Fremde sie bei ihrem geheimen Namen rufen würde. Wahrscheinlich nicht. Sie ging die Treppe hinauf. Das Knarzen klang vertraut.

„Also gut. Eli. Und wie heißt du?“

„Ich bin Frau Meyer. Du kannst aber gern Tante Irma sagen.“

Wildfremde Frauen Tante nennen, mochte Eli noch weniger als das liebe Kind sein. „Ich sag Frau Meyer zu dir.“

Frau Meyer zeigte auf einen Korbstuhl; Eli setzte sich zögernd. „Emma behauptet, dass du gestorben bist.“

„So, so. Behauptet deine Freundin das.“

„Sie ist nicht meine Freundin.“

„Und warum nicht?“

„Darum!“

Frau Meyers Fältchen amüsierten sich prächtig.

„Warum schimpfst du nicht mit mir?“

„Warum sollte ich?“

„Weil ich in deinen Garten – nun, hineingeklettert bin.“

„Das ist nicht mein Garten.“

„Aber – wohnst du denn nicht hier?“

„Ich bin bloß zu Besuch.“

Eli lugte in Richtung der offenen Terrassentür. „Und bei wem?“

Die alte Dame berührte mit dem Zeigefinger ihre Lippen und flüsterte: „Du wirst schon sehen.“

Eli merkte, wie sie Gänsehaut bekam. Diese Frau Meyer war zwar nett, aber auch ein bisschen unheimlich. Ihr fiel ein, dass Mama sie immer davor warnte, sich mit Fremden einzulassen, und dass schlimme Dinge geschehen könnten, wenn sie es doch täte. Aber Mama hatte von Männern gesprochen, nicht von Frauen, und ganz bestimmt nicht von so alten Frauen wie Frau Meyer. Eli überlegte, dass sie ja notfalls wegrennen könnte. Frau Meyer war sicher nicht gut zu Fuß. Andererseits: Was sollte sie Böses im Schild führen? „Hast du einen Mann?“

Die Fältchen blitzten. „Oh ja! Das heißt, ich hatte einen. Früher.“

„Habt ihr euch scheiden lassen?“

„Aber nein! Otto und ich waren sechsundsechzig Jahre verheiratet. Dann ist er gestorben.“

Eli versuchte auszurechnen, wie alt jemand sein musste, der so lange verheiratet war. Oma Maria war mit dreiundsechzig gestorben und sie war mit Opa Friedhelm verheiratet gewesen, aber der war schon so lange tot, dass Eli ihn nur von Fotos kannte. Und Oma Augusta war fünfundsechzig und hatte, wie sie bei jedem ihrer Besuche stolz betonte, ihr Kind, nämlich Mama, ganz gut ohne Kerl durchgebracht. Und Mama? Die hatte nicht mal zehn Jahre mit Paps geschafft … Konnte man tatsächlich sechsundsechzig Jahre verheiratet sein?

„Hast du Kinder?“

Frau Meyer nickte. „Zwei Töchter und einen Sohn. Aber die wohnen weit weg.“

„Bist du denn gar nicht traurig, wenn du so allein bist?“

„Du bist doch da.“

„Ich gehe gleich wieder.“

„Du wirst wiederkommen.“

„Woher weißt du das?“

Sie lächelte. „Du wirst schon sehen.“

Kapitel zwei

Als Eli den nächsten klaren Gedanken fassen konnte, fand sie sich am Schreibtisch in ihrem Zimmer wieder. Durch rostfleckiges Blumengittergrau betrachtete sie den orangerot angemalten Sonnenuntergangshimmel. Die alte Frau Meyer hatte ein bisschen Unfug erzählt, aber das hatte Oma Maria auch gemacht, und Eli hatte sie trotzdem liebgehabt. Wohl und geborgen hatte sie sich bei ihr gefühlt, im Winter drinnen auf der Ofenbank, im Sommer draußen zwischen den Beeten mit den vielen bunten Blumen. Oma Maria baute sogar Gemüse an, Möhren und Salat und Radieschen und dazu Kräuter, die herrlich rochen und noch herrlicher schmeckten. Und all die vielen Leckereien erst! Himbeeren und Erdbeeren hatte Eli am liebsten direkt vom Strauch genascht, die Nüsse fielen im Herbst von alleine runter, und die Äpfel mussten ein Weilchen im Keller liegen und dufteten im tiefsten Winter noch nach Sonne und Sommererde. Und dann war eines Tages Paps gekommen und hatte gesagt, Oma Maria wohne jetzt beim Lieben Gott im himmlischen Garten. Eli hatte das nicht verstanden und Paps wohl auch nicht, denn statt auf ihre Fragen zu antworten, hatte er die Geschichte vom alten Garten vorgelesen.

In Oma Marias Garten hatte es alles gegeben, nur Kirschen nicht. Ein Kirschbaum sei zu groß, hatte sie gesagt, und für eine ordentliche Ernte brauche man ja mindestens zwei. Aber in ihrem früheren Garten, da habe sie einen gehabt, und der Nachbar nebendran hatte auch einen, und so ernteten sie jeden Sommer eimerweise leckere rote Kirschen.

Eli schlug ein zerfleddertes Buch auf, in dem sie oft mit Paps zusammen gelesen und Bilder angeschaut hatte. Lauter kluge Antworten auf ganz wichtige Fragen konnte man darin finden; woher die Elefanten kommen beispielsweise, oder warum es regnet, aber auch, welche Bäume in Deutschland wachsen, und wie ihre Blätter aussehen. Eli lächelte, als sie die Zeichnung von der Stieleiche sah. Sie blätterte weiter – und tatsächlich: Der gelbe Baum war eine Kirsche! Oma Maria hatte erzählt, dass Paps als Kind jeden Sommer in den Kirschbaum geklettert war und von den süßen Früchten genascht hatte, genau­so wie es Eli mit den Beeren tat. Nur dass sie dafür nicht zu klettern brauchte. So viele Kirschen habe Paps verspeist, dass er Bauchweh davon bekam. Und mit dem Nachbarsjungen habe er sich im Kirschkernweitspucken gemessen. „Das gefiel deiner Oma allerdings gar nicht“, sagte Paps. „Obwohl ich doch immer gewonnen habe.“ Dabei hatte er gegrinst und tatsächlich ein bisschen wie ein kleiner Junge ausgesehen.

„Warum seid ihr aus eurem früheren Garten weggezogen?“, wollte Eli wissen.

Paps schaute traurig. „Manchmal muss man einen Ort verlassen, den man liebt. Weil die Umstände dazu zwingen.“

Eli fragte sich, wie die Umstände das wohl angestellt hatten, aber niemand konnte ihr eine verständliche Antwort geben. Zu der Zeit schaute Paps öfter traurig und Mama auch, und sie zankten sich oder sie schwiegen, und Eli ahnte, dass etwas Schlimmes geschehen könnte, dass sie sich trennen würden wie die Eltern ihrer Freundin Susi. Gleichzeitig hoffte sie, es werde nicht so sein. Dann war es doch passiert und sie musste aus ihrem schönen Zimmer weg, genauso wie Paps einst aus dem Kirschbaumgarten weggemusst hatte. Dabei hatte Oma Maria sich gar nicht scheiden lassen!

Eli klappte das Buch zu und sah aus dem Fenster. Der Himmel war jetzt rostig wie das Gitter, und dann verschwanden alle Farben und der gelbe Baum wurde grau. Es wird Zeit, dass der Schandfleck endlich bald wegkommt, fielen ihr Emmas Worte ein. Wie konnte sie so etwas Gemeines sagen? Gelogen hatte sie noch dazu: Frau Meyer war gar nicht tot! Und solange sie lebte, konnte man ihren Garten nicht kaputtmachen – oder? Jedenfalls wollte sich Eli lieber nicht vorstellen, wie es wäre, morgens aus dem Fenster zu schauen und den gelben Baum nicht mehr zu sehen.

Plötzlich musste sie lachen. Liebe Zeit! Sie hatte glatt vergessen, dass Blumen und Bäume sich ja wehren und böse Menschen verjagen konnten! Das wusste sie allerdings nur, weil Paps ihr die Geschichte vom alten Garten erzählt hatte. Der alte Garten war so groß, dass niemand genau wusste, wo er aufhörte, denn er lag inmitten von Wiesen und Wäldern und hatte keinen Zaun. Es gab mächtige Bäume dort und bunte Blumen und ein Haus, in dem ein Ehepaar mit seinen Kindern wohnte. Die Jahre vergingen und als die Kinder erwachsen waren, zogen sie fort, und die Eltern blieben allein zurück. Und die Stadt drängte mit ihren Häusern und Straßen immer näher an den alten Garten heran und die Eltern, die nun Großeltern waren, ließen eine hohe Mauer bauen, damit die Bäume und Blumen nicht von der Stadt aufgefressen werden konnten. Als die alten Leute starben, war die Stadt längst um die Mauer und den Garten herum ins Land hinausgewachsen. Niemand wollte das Haus haben und so riss man es ab und baute ein hässliches Mietshaus hin. Zwischen dem übriggebliebenen Garten und dem Mietshaus wurde ein Zaun aufgestellt, und wieder vergingen die Jahre. Die Stadt wuchs, das Mietshaus wurde immer hässlicher, und hinter dem Zaun lag der alte Garten still wie eine verlassene Insel im Häusermeer.

Eines Tages zog ein Junge mit seiner kleinen Schwester und seinen Eltern in das hässliche Mietshaus ein. Von ihrem Fenster aus konnten die Kinder in den alten Garten sehen und sie malten sich aus, wie sie darin spielen würden. Die anderen Kinder sagten, dass hinter dem Zaun ein böser Gärtner hause, und deshalb traute sich keiner hinein. Doch der Junge war mutig und machte einen Plan, wie er den Gärtner überlisten könnte. Tatsächlich gelang es den Geschwistern, ungesehen in den Garten zu kommen, und als sie dort niemanden entdeckten, packte sie der Übermut. Sie rissen Blätter von den Bäumen und zertrampelten die Blumen; sie drehten Käfer auf den Rücken, dass sie zappelten, sie zerrissen Spinnennetze, sie warfen mit Steinen nach Vögeln und richteten noch so allerlei Zerstörung an. Aber als es dunkel wurde, fanden sie den Weg nicht mehr hinaus, und plötzlich wurde der alte Garten lebendig: Die Tiere konnten sprechen und die Blumengeister erhoben sich, und alle miteinander beschlossen, dass die Kinder für ihre grausamen Taten sterben mussten. Da hatte Eli einen mächtigen Schreck bekommen, denn obwohl der Junge und seine kleine Schwester ziemlich böse gewesen waren, hatte sie doch Mitleid mit den beiden, und sie war erleichtert, als die Buchenfrau ihnen eine Gnadenfrist gewährte. Sie ließ die Kinder schrumpfen, bis sie klitzeklein waren und schickte sie auf eine abenteuerliche und gefährliche Reise unter die Erde. Sie besuchten die Erdmutter, begegneten dem Meervater, und sie waren zu Gast im Turm der Winde. Von dort flogen sie schließlich in den Garten der alten Dame, die ihre Blumen Kinder nannte, und in dem die guten Gartengeister wohnten. Und noch später wären sie um ein Haar von gierigen Mäusen verspeist worden. Aber eben nur fast.