Baustellen der Nation - Philip Banse - E-Book

Baustellen der Nation E-Book

Philip Banse

0,0
18,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Endlich: das Buch zu einem der größten Politik-Podcasts Deutschlands Es bröckelt an den Fundamenten unseres Staates. Ob bei der maroden Infrastruktur, den katastrophalen Defiziten im Bildungssektor oder der wenig beherzten Energiewende: Deutschland hat Reformen und Investitionen jahrelang verschlafen und ausgebremst. Philip Banse und Ulf Buermeyer beschreiben die wichtigsten Probleme und skizzieren Lösungen: Was muss geschehen, damit der Windkraftausbau endlich gelingt? Wie holen wir den Rückstand bei der Digitalisierung auf? Wie stellen wir sicher, dass Deutschlands Straßen und Schulen nicht länger buchstäblich zerbröseln, die Bahn wieder verlässlich funktioniert und die Renten endlich wirklich sicher sind? Pünktlich zur Halbzeit der Ampel-Koalition analysieren die Autoren die großen Baustellen in Deutschland und liefern konkrete Lösungsvorschläge. Aus erhellenden Recherchen und spannenden Hintergrundinformationen wird ein Werk, das die Lust am Nachdenken fördert, Aha-Erlebnisse liefert, Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit gibt und zu gesellschaftlichem Engagement ermutigt - kompetent, meinungsstark und im lässigen Sound der Lage.  »Ich bin großer Fan der Lage, höre sie immer mit Erkenntnisgewinn und echter Freude an der nerdigen oder sagen wir: fein ziselierten Art, mit der die beiden die Themen auseinanderpiddeln.« Anne Will

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 465

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Baustellen der Nation

Die Autoren

Der Journalist Philip Banse arbeitete 25 Jahre als Moderator und Reporter für DLF und DLF Kultur, die längste Zeit davon als fester Freier für das Hauptstadtstudio in Berlin mit den inhaltlichen Schwerpunkten deutsche Innenpolitik sowie Klima- und Umweltpolitik, Digitales und Bildung. Er ist immer wieder in Talkrunden bei Phoenix zu Gast.

Ulf Buermeyer ist promovierter Jurist und war wissenschaftlicher Mitarbeiter u.a. am Bundesverfassungsgericht und am Berliner Verfassungsgerichtshof. Neben seiner Tätigkeit als Podcaster ist er Mitgründer der gemeinnützigen „Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.“. Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit liegen im Verfassungsrecht sowie im Strafrecht. Außerdem schreibt er regelmäßig u.a. für die Süddeutsche Zeitung und den Freitag.

Das Buch

Endlich: das Buch zu einem der größten Politik-Podcasts Deutschlands

Es bröckelt an den Fundamenten unseres Staates. Ob bei der maroden Infrastruktur, den katastrophalen Defiziten im Bildungssektor oder der wenig beherzten Energiewende: Deutschland hat Reformen und Investitionen jahrelang verschlafen und ausgebremst. Philip Banse und Ulf Buermeyer beschreiben die wichtigsten Probleme und skizzieren Lösungen: Was muss geschehen, damit der Windkraftausbau endlich gelingt? Wie holen wir den Rückstand bei der Digitalisierung auf? Wie stellen wir sicher, dass Deutschlands Straßen und Schulen nicht länger buchstäblich zerbröseln, die Bahn wieder verlässlich funktioniert und die Renten endlich wirklich sicher sind?

Pünktlich zur Halbzeit der Ampel-Koalition analysieren die Autoren die großen Baustellen in Deutschland und liefern konkrete Lösungsvorschläge. Aus erhellenden Recherchen und spannenden Hintergrundinformationen wird ein Werk, das die Lust am Nachdenken fördert, Aha-Erlebnisse liefert, Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit gibt und zu gesellschaftlichem Engagement ermutigt - kompetent, meinungsstark und im lässigen Sound der Lage.

 »Ich bin großer Fan der Lage, höre sie immer mit Erkenntnisgewinn und echter Freude an der nerdigen oder sagen wir: fein ziselierten Art, mit der die beiden die Themen auseinanderpiddeln.« Anne Will

Philip Banse und Ulf Buermeyer

Baustellen der Nation

Was wir jetzt in Deutschland ändern müssen

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-3028-0

© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor

Umschlaggestaltung: © semper smile, München

Autorenfoto: © privat

E-Book-Konvertierung powered by pepyrus

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Die Autoren / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

Das Land der bröselnden Brücken

Wenn der Förster den Admin macht

Entgleist

Wege aus der Flaute

Ein Land hat Schlagseite

Du wirst, was Deine Eltern sind

Arbeiten bis zum Umfallen

Mehr Macht wagen

Bye, bye, Happyland

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für Franka, Nora und Tim

Vorwort

Herzlich willkommen zu den Baustellen der Nation!

Einige werden uns schon kennen, viele sicher noch nicht. Seit 2016 veröffentlichen wir den wöchentlichen Politik-Podcast »Lage der Nation«, in dem wir die politischen Ereignisse hierzulande und in der Welt zusammentragen, erklären und einordnen. Wir versuchen dabei, nicht nur Probleme auszubreiten, sondern auch Lösungen zu skizzieren. Kritisch und unabhängig, aber stets konstruktiv. In den sieben Jahren, die wir inzwischen gemeinsam podcasten, sind wir auf einige Themen gestoßen, denen wir gern mehr Raum geben würden. Problemfelder, auf denen beispielhaft Missstände zu besichtigen sind, die die Republik in fast allen gesellschaftlichen Bereichen bremsen und die daher weit über die Themen in diesem Buch hinausweisen. Auf diese Weise haben wir acht Baustellen unseres Landes zusammengetragen, die wir euch in diesem Buch ausführlich und verständlich darstellen möchten – verbunden mit konstruktiven Vorschlägen, die uns als Gesellschaft weiterbringen können.

Die Baustellen in diesem Buch sind nicht die einzigen in Deutschland, für viele vielleicht nicht mal die wichtigsten. Jedem und jeder von euch werden andere Probleme einfallen, die mehr öffentliche Aufmerksamkeit gebrauchen könnten, etwa der Wohnungsmangel, die immer noch nicht erreichte Gleichstellung von Männern und Frauen, die marode Bundeswehr, der Pflegenotstand, Kinderarmut, der Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft, um nur einige zu nennen.

Unsere Liste möglicher Baustellen war lang. Wir haben uns gefragt: Welche dieser Probleme betreffen unmittelbar besonders viele Menschen? Zu welchen haben wir einen persönlichen Bezug? Welche Fragen wollten wir uns immer schon mal genauer ansehen? Wo könnten wir etwas analysieren und erklären, was vielleicht noch nicht so bekannt ist? Und vor allem: Wo kann die Politik, wo können also die Menschen, die wir demokratisch wählen, die Weichen richtig stellen, damit es endlich vorangeht? So haben wir unsere acht Baustellen der Nation herausdestilliert.

Uns ist bewusst, dass wir die Welt aus einer sehr privilegierten Position beobachten. Wir sind weiße, heterosexuelle Cis-Männer jenseits der 40. Wir sind in westdeutsche Mittelschichtsfamilien geboren worden, alle Bildungswege standen uns offen. Heute können wir uns ein weitgehend unbeschwertes Leben in Berlin leisten. Wir werden nicht diskriminiert, angespuckt, beleidigt, als Fremde behandelt, ausgebeutet oder ausgeblendet. Wir müssen nicht darüber nachdenken, ob unsere Hautfarben oder Namen verhindern, dass wir Jobs und Wohnungen finden. Diese Privilegien von Angehörigen einer gesellschaftlichen Mehrheit definieren unseren Blick auf die Gesellschaft und beeinflussen maßgeblich, wo wir Baustellen sehen und welche das sind. Ein paar Gedanken dazu, was wir gegen solche Ungleichheiten tun können, findet ihr im Nachwort.

Für uns ist Deutschland im Kern ein attraktives und funktionierendes Land. Das Wetter ist die meiste Zeit des Jahres sehr angenehm – zumindest noch. Die Demokratie ist im Grundsatz gefestigt, demokratische Parteien bekommen zumindest bundesweit stabil 80 Prozent der Stimmen. Die Medien sind frei, und der Rechtsstaat funktioniert meistens gut. Kostenlose Schulen und Universitäten sind für uns so selbstverständlich wie ein bezahlbares Gesundheitswesen und demokratische Freiheiten, die sich in wenigen Ländern der Welt finden.

Doch dieser Zustand ist nicht naturgegeben. Gesellschaft, Staat und Demokratie allgemein sind dauernd in Bewegung, weil sie von Menschen gemacht und getragen werden. Diese Dynamik erlaubt erstaunliche Freiheiten, Fortschritte und Flexibilität. Sie verlangt aber auch Wachsamkeit und Engagement, wenn es in bestimmten Bereichen wieder bergab geht. Und das geschieht auch in Deutschland – langsam meist, doch leider stetig. Die Bundespolitik der letzten zwanzig Jahre hat an vielen Stellen ihren Job nicht gut gemacht, und zwar parteiübergreifend. So hat sich in unserem Land eine Vielzahl von Baustellen angesammelt, auf denen es nicht schnell und zielstrebig genug vorangeht oder Dinge von Anfang an völlig falsch zusammengeschraubt wurden. Denken wir an den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Digitalisierung der Verwaltung oder die wohl größte Infrastruktur-Baustelle, die Deutsche Bahn: Deren Gebäude und Gleise müssen nach aktuellen Schätzungen für mindestens 85 Milliarden Euro saniert werden. Für die Altersvorsorge und das Schulsystem brauchen wir womöglich gleich einen ganz neuen Bauplan.

Auf den meisten Baustellen, die wir in diesem Buch beschreiben, hat sich die aktuelle Ampel-Regierung einiges vorgenommen. Zum Erscheinen dieses Buches ist die Hälfte der Legislaturperiode rum. Bei einigen Projekten ist die rot-gelb-grüne Regierung deutlich vorangekommen, bei anderen passiert dagegen wenig. Wir möchten mit diesem Buch auf Wunden hinweisen, die dringend versorgt werden müssen. Wir wollen aber auch zeigen: Ein besseres Land ist möglich. Und oft wären die notwendigen Schritte gar nicht so groß.

Viele unserer Baustellen sind entstanden, weil Regierungen sie ignoriert haben oder Probleme erst angingen, als der Karren schon tief im Dreck steckte. Bräsigkeit, Phlegma und Selbstzufriedenheit haben dazu beigetragen, dass Deutschland in vielen Bereichen international zurückgefallen ist. Digitalisierung, Energiewende, Infrastrukturinvestitionen, das Rentensystem und die Modernisierung des Föderalismus – diese historischen Aufgaben verlangen nach Politiker:innen, die nicht nur auf kurzfristige Vorteile schielen, sondern Menschen erklären, warum sich Ausgaben, vorübergehende Härten oder Verzicht auf lange Sicht lohnen – selbst wenn sie damit das Risiko eingehen, die nächsten Wahlen zu verlieren. Wir brauchen Menschen an den entscheidenden Stellen dieses Landes, die es schaffen, Mehrheiten vom Wert langfristiger Politik zu überzeugen.

Dafür braucht es ein neues Verständnis staatlichen Handelns. Es gehört zum Grundkonsens der sozialen Marktwirtschaft, dass der Staat einen Rahmen setzt, in dem Bürger:innen und Unternehmen ihre Kräfte zum Wohlstand aller entfalten können. Doch dieser Rahmen muss neu justiert werden. Um dem Handeln von Menschen und Unternehmen eine neue Richtung zu geben, muss der Staat eine aktivere Rolle übernehmen als bisher.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es die westdeutsche Demokratie geschafft, die Marktwirtschaft durch eine soziale Dimension zu erweitern. Unternehmerische Freiheit wurde beschränkt, um Mitbestimmung und sozialen Ausgleich zu organisieren. Das war das zentrale Erfolgsgeheimnis Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg: Ohne sozialen Ausgleich wäre das Wirtschaftswunder undenkbar gewesen. Dieses soziale Staatsverständnis ist zwar nie offiziell aufgegeben worden, wird in der Praxis seit den 1990er-Jahren jedoch immer weniger gelebt. In der Folge ist die soziale Ungleichheit in Deutschland dramatisch gewachsen – mit weitreichenden Folgen, wie wir im Kapitel zur Vermögensverteilung zeigen. Hier braucht es klare Regeln, damit wieder möglichst alle Menschen am Reichtum unseres Landes teilhaben können. Gefordert ist dabei kein dirigistischer Zentralstaat, sondern ein Mindestmaß an Führung durch den Bund. Denn wenn der Bund die Zügel schleifen lässt, fahren gesellschaftlich unverzichtbare Einrichtungen vor die Wand. Die Deutsche Bahn etwa gehört dem Staat und soll Rückgrat der Verkehrswende sein, verfolgt jedoch alle möglichen Ziele – nur viel zu selten jene, die der Bund vorgibt. Und die Verwaltung fußt immer noch auf Fax und DIN A4, weil der Bund seit Jahren zu wenig fundierte Vorgaben macht, nach welchen Regeln die Digitalisierung abzulaufen hat.

Beim Ausbau der Windkraft ist diese neue Rolle des Staates zu erahnen. Dort wird aber auch deutlich: Lange verschlafener und nun forcierter Wandel ist mit Härten verbunden und bringt in kurzer Zeit mehr Veränderung, als viele bisher erlebt haben. Daher muss staatliches Handeln stets demokratisch legitimiert sein. Das wiederum klappt nur, wenn klar ist, wer wofür Verantwortung trägt. Nur so können Menschen entscheiden, ob sie den bisherigen Weg weitergehen wollen oder lieber eine andere Partei wählen. Deswegen muss das Zusammenspiel von Bund und Ländern neu geregelt werden. Der real existierende Föderalismus führt nicht nur zu ineffektiven Kompromissen und Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die heute gelebte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bewirkt auch, dass oft nicht mehr zu erkennen ist, wer für was verantwortlich ist. Denn wenn Bundestag, Bundesrat, Bundestagsmehrheit und -opposition de facto gemeinsam entscheiden, sind alle verantwortlich. Das verwischt jedoch die politische Verantwortung und ist Gift für eine Demokratie, weil Wähler:innen das Gefühl haben, es spiele eh keine Rolle, wem sie ihre Stimme geben.

Wir haben dieses Buch nicht allein geschrieben. Ohne die Hilfe von Maria Barankow, Maren Fußwinkel, Elisabeth Ruge und Susann Sitzler, die auf der Grundlage unserer Recherchen erste Textentwürfe verfasst hat, sowie Christoph Steskal würdet ihr die Baustellen nicht in der Hand halten. Vielen Dank an das Team! Außerdem haben viele Menschen wichtige Hinweise zu einzelnen Aspekten des Buchs gegeben. Nicht alle wollen genannt werden. Stellvertretend möchten wir uns bedanken bei Florian von Alemann, Stefan Bach, Thomas Banning, Christian Füller, Felix Gaydoff, Armin Himmelrath, Julia Jirmann, Adrian Meier, Niklas Prenzel, Anne Syré, Hermann-Josef Tenhagen Veronika Völlinger, Horst Weishaupt, Jan-Martin Wiarda, Paulina Wiesel und Anne Will. Nicht zuletzt danken wir Stephan Anpalagan und Selmin Hava Çalışkan für ihre wertvollen Hinweise zu unseren Schlussgedanken.

Natürlich gehen alle Fehler, die sich im Buch verstecken, auf unsere Kappe. Solltet ihr welche finden, lasst es uns wissen: lage.link/buch-feedback.

Und wenn ihr mehr von uns hören möchtet: Unseren wöchentlichen Podcast findet ihr unter lagedernation.org – oder wo immer ihr Podcasts hört.

Viel Freude beim Lesen wünschen euch

Philip Banse und Ulf Buermeyer

Berlin, im August 2023

Das Land der bröselnden Brücken

Warum es der Politik so schwer fällt, für gute Infrastruktur zu sorgen, und wie es dennoch gelingen könnte

Seit 1968 spannte sich die Brücke der A45 über ein Tal bei Lüdenscheid in Nordrhein-Westfalen. Ein 453 Meter langes Asphaltband überbrückte auf zehn Stelzen das Flüsschen Rahmede. Die Rahmede-Talbrücke verband bis vor Kurzem die Wirtschaftsregionen Dortmund und Frankfurt am Main. Mit rund 64 000 Fahrzeugen täglich war die Brücke eine Hauptschlagader des Straßenverkehrs im Westen der Republik – bis im Dezember 2021 bei einer Kontrolle irreparable Verformungen am Tragwerk gefunden wurden. Die Brücke wurde sofort gesperrt, die Autobahn ist seither an dieser Stelle unterbrochen, der Verkehr wird über eine völlig überlastete Umleitung geführt. Die Folge: Stauchaos, stockender Lieferverkehr, Fachkräfteabwanderung, Umsatzeinbußen.1 Am Mittag des 7. Mai 2023 musste die völlig marode Brücke gesprengt werden. An den Hängen versammelten sich Hunderte Zuschauer:innen, Fotograf:innen und Kameraleute; im Livestream sahen Tausende zu, wie die Autobahnbrücke in einer gigantischen Staubwolke verschwand.

So viel Aufmerksamkeit bekommt die Infrastruktur in Deutschland selten – und das hat fatale Folgen. Brücken, Straßen, Schienen und Datennetze wurden in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt. Der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums warnt in einer ernüchternden Analyse, dass in »Deutschland […] schon seit vielen Jahrzehnten deutlich zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert« werde.2 Ob Schwimmbäder, Wasserstraßen, Stromtrassen oder öffentliche Gebäude wie Schulen und Universitäten – es dominiert der Verfall. »Wir leben von der Substanz«, warnt die Ökonomin Monika Schnitzer.3 Die Volkswirtschaftler:innen Sebastian Dullien und Katja Rietzler kommen zu dem Schluss, dass etwa seit der Jahrtausendwende »in Deutschland massiv zu wenig in den öffentlichen Kapitalstock investiert« wurde.4

Der öffentliche Kapitalstock meint den Wert all dessen, was der Staat an für die Volkswirtschaft Nützlichem besitzt, also über Investitionen angesammelt hat – von der Schule über Brücken bis hin zu Schienen, Bahnhöfen und Wohnungen. Um zu beurteilen, ob ein Staat genug investiert, wäre es hilfreich, den Kapitalstock zu messen.

Diesen Wert zu ermitteln ist aber nicht leicht. Zum einen fehlen dazu in Deutschland wichtige Daten, zum anderen ist umstritten, wie die Messung vorgenommen werden soll. Die einen fordern, den Wert einer Bahnschiene mit dem Anschaffungspreis zu verbuchen,5 was jedoch verschleiert, dass ein Gleis volkswirtschaftlich an Wert verliert, wenn es altert. Andere fordern daher, die Werte im Staatsbesitz netto zu verbuchen, also vom Neuwert einen Teil abzuziehen, um die Abnutzung und damit den Wertverlust für die Allgemeinheit widerzuspiegeln. Dieser Wertverlust ist aber seinerseits schwer zu beziffern. Auch wenn Expert:innen streiten, wie verrottet die Infrastruktur in unserem Land nun genau ist – alle sind sich einig, dass etwas getan werden muss. Dringend.

Während Regierungen bei Investitionen und Sanierungen sparten, um Schulden in Euro und Cent abzubauen und neue Euro-Schulden mithilfe der (noch zu erläuternden) Schuldenbremse auf ein Minimum zu begrenzen, häuften sie unbemerkt neue Schulden an, die durch Sparrunden nicht zu beheben sind, nämlich gigantische Infrastrukturschulden. Auch die lassen sich mit einem Preisschild versehen: mindestens 457 Milliarden Euro – rund ein kompletter Bundeshaushalt. So viel müssten wir in den nächsten zehn Jahren investieren, schätzten bereits 2020 das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und das eher wirtschaftsliberale Institut der Deutschen Wirtschaft (IW).6

Was ist Infrastruktur?

Das Wort Infrastruktur beschreibt laut Duden den notwendigen wirtschaftlichen und organisatorischen Unterbau für die Versorgung und Nutzung eines bestimmten Gebiets,7 also Einrichtungen, die wir alle brauchen, damit unser Leben funktioniert: etwa Behörden, Schulen, Bahnhöfe, Stromnetze, Wasserleitungen, Glasfaserleitungen. Infrastruktur wird meist unterteilt in »technische Infrastruktur«, etwa Datennetze, Energie- und Wasserversorgung, sowie »soziale Infrastruktur« – dazu zählen Schulen, Krankenhäuser, Sport- und Freizeitanlagen oder kulturelle Einrichtungen.8

Infrastruktur bildet das Fundament einer freiheitlichen Industriegesellschaft. Die Gemeinschaft baut sie, damit alle Menschen sie nutzen können – jede:r auf seine Weise, nicht alle gleich, einige gar nicht. Aber die Gemeinschaft bezahlt, weil sie ohne Infrastruktur kollabieren würde.

Wer betreibt und bezahlt die Infrastruktur?

Wichtige Teile der Infrastruktur zahlt und betreibt der Staat selbst, etwa Straßen, Schulen oder Behörden. Andere Teile der Infrastruktur überlässt der Staat Privatunternehmen, macht ihnen aber gewisse Vorgaben, zum Beispiel für Strom- und Kommunikationsnetze. Für die staatliche Infrastruktur sind verschiedene föderale Ebenen verantwortlich: Kommunen betreiben und bezahlen beispielsweise Schwimmbäder und Parks; Länder sind zuständig für Polizei und Krankenhäuser; der Bund plant, baut und bezahlt unter anderem die Autobahnen sowie viele Wasserstraßen, Brücken und Bahngleise.

Infrastruktur kostet Geld, sowohl beim Bau als auch im laufenden Betrieb. Es fallen Kosten an für Strom und Löhne, aber auch für laufende Investitionen, die den Verfall verhindern und die Funktionsfähigkeit sichern sollen. Bahngleise müssen repariert, aber auch mit digitaler Technik aufgerüstet werden, damit mehr Züge mit weniger Abstand schneller hintereinanderfahren können, um mehr Menschen und Güter zu transportieren als heute. Wird nicht investiert, häufen sich Infrastrukturschulden an, für die – ähnlich wie bei Euro-Schulden – eine Art Zins fällig wird. Investiert der Staat mäßig, aber kontinuierlich in den Erhalt von Gebäuden, Netzen und Wasserstraßen, bleiben die Infrastrukturschulden im Rahmen und damit auch die Kosten, um die Infrastruktur zu erhalten. Doch je länger eine Brücke nicht gewartet wird, desto teurer wird es, sie auf den neuesten Stand zu bringen. Im schlimmsten Fall muss eine Brücke gar gesprengt oder eine Schule abgerissen und neu gebaut werden.

In den letzten Jahrzehnten hat Deutschland beachtliche Infrastrukturschulden angehäuft, Tendenz explodierend. Das Deutsche Institut für Urbanistik befragt für sein »Kommunalpanel« im Auftrag der staatlichen KfW-Bank regelmäßig Kämmereien, also die Haushaltsabteilungen in allen Landkreisen sowie in Städten und Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern. Auf Basis dieser Umfrage erstellen die Forscher:innen eine repräsentative Hochrechnung. Die kommunalen Finanzverantwortlichen listen unter anderem auf, wie viel sie in ihre Infrastruktur investieren müssten, wenn sie denn könnten, also etwa in Schulen, Straßen, Verwaltungsgebäude und den Katastrophenschutz. Der so ermittelte Investitionsrückstand summierte sich schon 2009 auf 84 Milliarden Euro.9 Bis 2022 verdoppelte sich das Minus auf mehr als 165 Milliarden Euro10 – und das sind nur die nötigen, aber mangels Haushaltsmittel verschobenen Investitionen auf Ebene der Kommunen, also ohne die Länder und den Bund. Am meisten müsste nach dem Kommunalpanel 2023 in Schulen investiert werden, denn hier schlummern fast 29 Prozent der kommunalen Infrastrukturschulden. Straßen bräuchten knapp ein Viertel der Summe, in Verwaltungsgebäude müssten gut zwölf Prozent der mehr als 165 Milliarden Euro fließen. Und diese Defizite nehmen Jahr für Jahr zu, weil dauerhaft viel weniger Geld vorhanden ist, als notwendig wäre.

Und das ist nur der Sanierungsstau bei der kommunalen Infrastruktur. Bundesweit sind die Zahlen noch viel höher, wie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft errechneten: Jährlich sollten rund 45 Milliarden Euro gezielt investiert werden, zusätzlich zu dem, was schon geplant ist – und zwar über mindestens zehn Jahre. Mit insgesamt gut 450 Milliarden Euro könnte man bis 2030 nicht nur den Investitionsstau in den Kommunen auflösen, sondern auch dringend notwendige Fortschritte erzielen, etwa im Bildungssystem, bei Datennetzen sowie bei der Dekarbonisierung des Landes, also der Umstellung auf klimaschonende Technologien.11

Denn während viele sich noch überlegen, wie wir die Infrastrukturschulden der Vergangenheit tilgen, stehen schon die nächsten Investitionen an, um unsere Industriegesellschaft klimaneutral aufzustellen. Diese Investitionen haben besondere Priorität, denn ohne Investitionen in Elektrolyse-Anlagen, Wasserstoffnetze, Windräder und Wärmedämmung lässt sich der Klimawandel nicht stoppen – und dann sind nicht nur Brücken gefährdet, sondern unser gesamtes Gesellschaftssystem, wie der Spiegel-Journalist Jonas Schaible warnt.12 Für eine klimaneutrale Gesellschaft, inklusive nachhaltiger Energieerzeugung, digitalisierter Verwaltung, Verkehrswende und einem Bildungssystem, das genügend Fachkräfte hervorbringt, werden wir also weitere Milliarden investieren müssen. Dieser epochale Kurswechsel der Industriegesellschaften verlangt ein extremes Maß an Koordination, Planung und politischer Führung. Investitionen in Infrastruktur verlangen Weitsicht, Mut und gute Kommunikation. Disziplinen, in denen unsere Regierungen der letzten zwei Jahrzehnte nicht zu den Besten zählten.

Infrastruktur-Apokalypse bei den Straßen

Die Rahmede-Talbrücke ist gesprengt, bleibt aber Symbol für die Misere der Infrastruktur im Verkehrsbereich. »In den alten Bundesländern wurde die überwiegende Zahl der heute vorhandenen Ingenieurbauwerke in den Jahren 1965 bis 1985 errichtet«, heißt es in einer Dokumentation des Verkehrsministeriums.13 Ingenieurbauwerke sind Brücken, Tunnel und andere Strukturen, die groß genug sind, dass sie besonders genau auf statische Sicherheit geprüft werden müssen. Die Rahmede-Talbrücke etwa wurde 1968 eröffnet; in den 20 Jahren danach folgten Tausende weitere Brücken und Tunnel. Doch ihre Instandhaltung kam zu kurz – unter anderem aus diesem Grund sind viele von ihnen jetzt marode: Laut aktuellem Verkehrsinvestitionsbericht der Bundesregierung sind rund 4500 Brücken in Deutschland in »nicht ausreichendem« oder »ungenügendem« Zustand.14

Das Bröckeln begann nicht über Nacht. Jede der insgesamt knapp 40 000 Brücken in Deutschland wird alle sechs Jahre durch spezielle Fachleute in einer sogenannten Hauptprüfung an sämtlichen Bauteilen mit Spezialgeräten »visuell begutachtet«, also genau angeschaut. Drei Jahre später folgt eine erneute Prüfung.15 Dazu kommen jährliche »Besichtigungen« der äußeren Beschaffenheit und halbjährliche »Beobachtungen« der bekannten und sichtbaren Schäden. Mit anderen Worten: Die Fachleute wissen stets sehr genau, in welchem Zustand welche Brücke ist. Damit wissen es auch die sogenannten Baulastträger, also jene öffentlichen Stellen, die für das Bauwerk verantwortlich sind.

Bundesstraßen und Autobahnen werden ähnlich aufwendig beobachtet, geprüft und begutachtet. Für Straßen gibt es seit den 1990er-Jahren ein von Bund und Ländern einheitlich angewendetes Verfahren. Für die »Zustandserfassung und -bewertung (ZEB)«16 fahren speziell ausgerüstete Messfahrzeuge alle zwei Jahre entweder die Autobahnen oder die Bundesstraßen ab, sodass jede Straße des Bundes alle vier Jahre an der Reihe ist. Sie erfassen den Zustand der Fahrbahnoberfläche, finden Spurrinnen und Buckel, messen, wie gut Reifen an der Fahrbahn haften und wie der Asphalt insgesamt aussieht. Die Daten fließen in den Verkehrsinvestitionsbericht des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr ein. Stand 2020 bedürfen fast fünf Prozent aller Bundesautobahnen »einer intensiven Beobachtung und einer vorrangigen Planung von Maßnahmen zur Verbesserung der Gebrauchstauglichkeit«, ein weiteres knappes Prozent hatte zusätzlich »einen Gebrauchswert erreicht, bei dem die Einleitung von verkehrsbeschränkenden oder baulichen Maßnahmen geprüft werden muss«.17 Bei Bundesstraßen liegen die Anteile gar bei über 13 Prozent (beobachten) bzw. drei Prozent (Beschränkungen prüfen). Im Juni 2022 legte der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ein Gutachten vor mit dem Titel »Öffentliche Infrastruktur in Deutschland: Probleme und Reformbedarf«. Darin heißt es, der »hohe Anteil der Bundesstraßen mit schlechtem oder sehr schlechtem Substanzwert« lege nahe, »dass in näherer Zukunft ein erheblicher Sanierungs- oder Neubauaufwand erforderlich sein wird, wenn man deutliche Verschlechterungen vermeiden will«.18 Deutschlands Straßen sind also zu einem guten Teil hinüber – und von allein werden sie sich nicht erholen.

Gravierende Folgen für die Wirtschaft

Der Bau der neuen Brücke über die Rahmede soll 2026 beginnen. Bis dahin schleicht der umgeleitete Verkehr auf fast vierzig Kilometern über Landstraßen, die dafür nicht ausgelegt sind, daher überlastet werden und so ihrerseits viel schneller verschleißen.19 Anwohner:innen leiden jahrelang unter Dreck, Lärm und Schwerlastverkehr.

Auch die Wirtschaft spürt, dass der Staat über Jahrzehnte zu wenig für Instandhaltung und Reparatur von Brücken und Straßen ausgegeben hat. Die marode Infrastruktur bremst die Energiewende, weil Schwerlasttransporter hunderte Kilometer Umweg fahren müssen, um bröselnde Brücken zu meiden. Im Sommer 2022 befragte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im sogenannten IW-Trend Unternehmen in Deutschland, inwieweit sich Mängel in der Infrastruktur auf ihre Geschäfte auswirken. Danach sahen sich 2022 vier von fünf der befragten Firmen »regelmäßig durch Infrastrukturmängel in ihrer Geschäftstätigkeit beeinträchtigt«.20 Die größten Probleme machten die »unzureichenden Straßennetze«.21 Auf Autobahnen, schreibt der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums, zeige sich über die letzten 16 Jahre »eine erhebliche Zunahme der Staulänge«. 2002 hätten sich jährliche Staus noch auf 321 000 Kilometer summiert, 2018 waren es schon 1 528 000 Kilometer – das Fünffache.22 Das liegt nicht allein am Zustand der Straßen, sondern auch am zunehmenden Verkehr. Ein Grund mehr, warum es klüger wäre, wenn Unternehmen ihre Transporte auf die Schiene verlagerten.

Auch die Bahn ist ein Sanierungsfall

Doch auch das ist einfacher gesagt als getan, denn unsere Schienenwege wurden seit Jahrzehnten noch mehr vernachlässigt als die Straßen (Details dazu finden sich im Kapitel zur Baustelle Bahn). »Die Eisenbahninfrastruktur ist in vielen Bereichen überaltert«, schreibt der Bundesrechnungshof im März 2023 in einem 33-seitigen Gutachten »zur Dauerkrise der Deutschen Bahn AG«, aus dessen Zeilen so viel Frust aufsteigt, wie er in behördlichen Texten selten zu finden ist.23 Die Bahn sei nach Jahren der Untätigkeit ein »Sanierungsfall«. Eigentlich ist erklärtes Ziel der Ampel, die Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr bis zum Jahr 2030 zu verdoppeln. Das wird nicht zu machen sein, schreiben die Rechnungsprüfer, auch wegen der maroden Bahn-Infrastruktur. Ein ebensolches Fiasko drohe auch beim Güterverkehr. Die Gütersparte DB Cargo erbringe »keinen messbaren Beitrag, Güterverkehre auf die Schiene zu verlagern«. Die Ampel strebt an, dass bis 2030 ein Viertel der gesamten Güter per Bahn transportiert wird. Auch das sei nicht zu schaffen, urteilen die Rechnungsprüfer. Schuld ist wiederum vor allem die vernachlässigte Infrastruktur.

Im Netzzustandsbericht an den Aufsichtsrat zeichnet auch der Chef der DB Netz AG ein düsteres Bild.24 Für den Bericht wurden erstmals die mehr als 33 000 Kilometer Gleise inklusive aller Brücken, Tunnel, Bahnübergänge, Stellwerke und Oberleitungen mit Schulnoten bewertet. Die Bilanz: Über ein Viertel aller Weichen ist in schlechtem, mangelhaftem oder ungenügendem Zustand. Gleiches gelte für 22 Prozent der Oberleitungen, 23 Prozent der Gleise, 42 Prozent aller Bahnübergänge und 48 Prozent aller Stellwerke. Damit, so die Tagesschau, sei die Infrastruktur der Bahn in »deutlich schlechterem Zustand« als etwa die der Bahnen in Österreich oder der Schweiz, die ihre Infrastruktur seit Jahren mit Noten bewerten. Nötig sei eine »schnelle und umfassende Generalsanierung«, so der Chef der DB Netz AG – Kosten: rund 89 Milliarden Euro.

Wie konnte es so weit kommen? Und was ist zu tun? Mehr dazu im Bahn-Kapitel.

Wasserstraßen am Limit

Die nächste Großbaustelle sind Kanäle, Schleusen und schiffbare Flüsse. In seinem Gutachten kommt der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums zum Schluss: »Die Überalterung der Infrastruktur ist bei den Wasserstraßen noch ausgeprägter als bei den Bundesstraßen.«25 Wehre und Schleusen sind im Durchschnitt 65 Jahre alt, »einige der wichtigsten Anlagen stammen noch aus der Kaiserzeit«.26 Daher fallen sie oft aus, mit der Folge, dass Wasserstraßen gesperrt werden müssen.

Auch das hat erhebliche wirtschaftliche Folgen. Rund zehn Prozent der Güter auf Binnenschiffen gehen etwa an die Chemieindustrie, eine der wichtigsten Branchen in Deutschland.27 Als im Sommer 2022 viele Flüsse kaum Wasser führten, war die Stromversorgung in Gefahr, weil Binnenschiffe keine Kohle liefern konnten. »Um die Binnenschifffahrt funktionsfähig zu erhalten, ist es notwendig, mehr Verlässlichkeit bei der Infrastruktur zu erreichen«, schreibt der Verband der deutschen Chemieindustrie.28 Der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums betont daneben die Bedeutung der Binnenschiffe für den Klimaschutz: Um die klima- und energiepolitischen Ziele der Bundesregierung zu erreichen, müsse viel mehr Verkehr von der Straße auch aufs Wasser verschoben werden. Allerdings sei eine solche Verlagerung »beim derzeitigen Ausbau der Wasserwege […] kaum möglich«.29

Die Probleme der deutschen Verkehrsnetze haben sich angehäuft, weil jahrelang zu wenig investiert wurde. Inzwischen stelle der Staat zwar mehr Geld zur Verfügung, das bringe aber nicht zwingend Besserung, analysiert das Institut der deutschen Wirtschaft.30 Denn das Geld werde durch steigende Baupreise aufgezehrt und führe daher nicht zu mehr Investitionen. Über Jahrzehnte angehäufte Infrastrukturschulden verhalten sich auf unangenehme Weise ähnlich wie Euro-Schulden. Sie sind gefühlt immer dann akut und nicht mehr zu ignorieren, wenn auch andere Probleme eskalieren. Denn es geht heute nicht mehr nur darum, ein paar Altlasten zu beseitigen – ein klimaneutrales Verkehrssystem verlangt darüber hinaus Milliardeninvestitionen in neue Wasserwege, Gleise, Radwege und Ladesäulen.

Benötigte Investitionen in den Verkehr: Ladesäulen und E-Autos

Nur wenige Aktivist:innen wie die Initiative »Berlin autofrei« möchten Autos weitgehend abschaffen.31 Ja, Autos nehmen zu viel Raum ein und sollten Platz machen für Menschen zu Fuß und auf dem Rad, aber das Auto wird trotzdem ein wichtiges Transportmittel bleiben, vor allem auf dem Land. Allerdings müssen die verbleibenden Autos elektrisch betrieben werden. Daher brauchen wir viel mehr Ladesäulen.

Wir sind für dieses Buch mit E-Autos quer durch Deutschland gefahren und haben das Netz einem Praxistest unterzogen: Am Rande der Autobahnen findet sich immer eine schnelle Ladesäule. Schon die Navigations-App kann berechnen, wann, wo und wie lange entlang der Route geladen werden sollte. Auf dem Land ist das Ladenetz hingegen deutlich löchriger und langsamer. Hier stehen immer noch überwiegend Normalladepunkte, also z. B. 22-kW-Stationen, an denen Vollladen mehrere Stunden dauern kann. Für Menschen auf der Durchreise ist das ein Problem, für Menschen, die auf dem Land wohnen, hingegen weniger, denn sie haben öfter die Möglichkeit, im Carport ihres Hauses eine Wallbox zu installieren, die das Auto nachts entspannt lädt – womöglich mit Sonnenstrom vom eigenen Dach. Am schwierigsten ist die Lage in den Städten. Es gibt zu wenig Ladesäulen, und die vorhandenen sind oft genug von Verbrennern zugeparkt. Ein ähnliches Problem droht aber auf den Fernstraßen und Autobahnen, wenn immer mehr E-Autos unterwegs sind, sofern das Netz nicht massiv ausgebaut wird.

Bis zu einer ausreichenden Lade-Infrastruktur ist es noch ein weiter Weg. Das Ladesäulenregister der Bundesnetzagentur nennt genau 72 441 Normalladepunkte und 15 875 Schnellladepunkte, die am 1. April 2023 in Betrieb waren,32 zusammen also knapp 100 000. Wenn man sich überlegt, dass zu Beginn des Jahres 2023 in Deutschland mehr als 60 Millionen Kraftfahrzeuge zugelassen waren, davon rund 49 Millionen Pkw,33 die in den nächsten Jahren überwiegend auf E-Antrieb umgestellt werden müssen, wird schnell klar, dass die derzeit 0,1 Millionen öffentlichen E-Ladepunkte bei Weitem nicht ausreichen. Nun werden nicht alle Fahrzeuge gleichzeitig geladen, aber einige Millionen Lademöglichkeiten daheim und unterwegs werden wir sicher brauchen – sofern Deutsche nicht massenhaft aufs Auto verzichten. Und danach sieht es nicht aus: Zuletzt nahm die Autodichte sogar zu.34

Im Oktober 2022 stellte Bundesverkehrsminister Volker Wissing den »Masterplan Ladeinfrastruktur II« vor. Sein Ziel ist es, eine Million öffentlicher Ladepunkte bis 2030 zu bauen. Das ist angesichts des absehbaren Bedarfs ein eher bescheidenes Ziel. Aber immerhin: Im Plan enthalten sind »68 konkrete Maßnahmen und Lösungsansätze, versehen mit Zuständigkeit und Fristen«.35 Wissings Slogan lautet: »Laden wird so einfach wie Tanken!«36 Selbst wenn das gelingt, billig wird der Ausbau einer Ladeinfrastruktur nicht. Martin Robinius vom Forschungszentrum Jülich und Kolleg:innen der RWTH Aachen schätzen, dass das über 50 Milliarden Euro kosten wird – für 20 Millionen Fahrzeuge.37 Zugelassen sind heute jedoch insgesamt mehr als doppelt so viele Fahrzeuge. Die Ladeinfrastruktur dürfte also eher 100 Milliarden Euro kosten. Und natürlich muss der ganze Strom grün sein, was entsprechende Investitionen in Solaranlagen oder in Windkraftanlagen erfordert.

Benötigte Investitionen in die Energiewende: Redispatch und die Stromnetze

Für den schnelleren Ausbau von Wind- und Sonnenstromanlagen hat die Ampel wichtige Weichen gestellt, auch wenn es noch zu langsam vorangeht (siehe Kapitel zur Windkraft). Doch auch wenn südliche Bundesländer hier mehr ausbauen und Strom zunehmend dezentraler, sprich direkt am Ort des Verbrauchs produziert wird, bleibt eine große Baustelle bestehen: Sauberer Strom vom Meer und aus windigen Gebieten in Norddeutschland muss in die Industriegebiete im Westen und Süden transportiert werden. Dafür gibt es bisher zu wenige Höchstspannungsleitungen – und diese fehlende Infrastruktur bremst die Wende zur klimaneutralen Gesellschaft aus: Bei frischem Wind kann Ökostrom im Norden oft nicht ins Netz gespeist werden, weil es sonst überlastet würde. Die Windräder werden daher vom Netz genommen. Weil Fabriken im Süden aber trotzdem Strom benötigen, müssen dort Gaskraftwerke hochgefahren werden. Der Fachbegriff dafür heißt »Redispatch« – und das ist so teuer wie umweltschädlich.

Wie können wir das lösen? Wir müssen Strom sparen und viel effizienter nutzen. Doch selbst dann werden wir in den kommenden Jahren viel mehr elektrische Energie benötigen als heute, vor allem, wenn Verkehr und Industrie auf Strom umsteigen. Lokale Stromerzeugung vor Ort durch Windräder und Fotovoltaik-Anlagen kann einen wichtigen Beitrag leisten, um die Stromnetze zu entlasten. Dennoch führt an mehr Stromleitungen von Norden nach Süden kein Weg vorbei. In den kommenden Jahren müssen »mehr als 10 000 km im Übertragungsnetz optimiert, verstärkt oder neu gebaut werden«, heißt es im Netzentwicklungsplan der Bundesregierung.38 Geschätzte Investitionskosten:39 etwa 61 Milliarden auf dem Festland und bis zu 24 Milliarden offshore, zusammen also rund 85 Milliarden Euro.

Benötigte Investitionen in Energie: Wasserstoff und Digitalisierung

Grüner Strom wird der wichtigste Energieträger einer klimaneutralen Gesellschaft sein. Man kann Verbrennerautos durch E-Autos und fossile Gebäudeheizungen durch Wärmepumpen ersetzen, aber damit wirklich CO2 eingespart wird, statt die Emissionen nur zu verlagern, muss der nötige Strom seinerseits CO2-neutral hergestellt werden, also »grün« sein. In Bereichen, die nicht direkt zu elektrifizieren sind, etwa bestimmte Teile der Industrie, wird Wasserstoff als Brennstoff oder als Rohstoff eine zentrale Rolle spielen. Hier stellt sich dieselbe Frage: Wie wird dieser Wasserstoff hergestellt? Damit er CO2-Emissionen einspart und diese nicht nur an einen anderen Ort verlagert, muss auch er mit grünem Strom hergestellt werden.

Wasserstoff lässt sich außerdem wie eine Batterie einsetzen. Ist zu viel grüner Strom vorhanden, kann man ihn verwenden, um Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten. Dieser grüne Wasserstoff kann dann gespeichert, transportiert, bei Bedarf verbrannt oder wieder in Strom umgewandelt werden. Idealerweise geschieht das direkt vor Ort, im Windpark – dann spart man nämlich gleich einen Teil der sonst nötigen Kapazität für Stromleitungen ein. Die Geräte, mit denen man Wasserstoff herstellen kann, nennt man Elektrolyseure. Die Ampel-Regierung will laut Koalitionsvertrag Elektrolyseure mit einer Kapazität von zehn GW ans Netz bringen.40 Davon sind wir aktuell noch weit entfernt – und auch zehn GW werden den Wasserstoffbedarf der deutschen Industrie nicht decken.

Daher wird Deutschland auf Jahrzehnte sehr viel Wasserstoff importieren müssen. Zwar können die vorhandenen Gasnetze teilweise dafür genutzt werden,41 aber sie müssen aus- und umgebaut werden, was erneut hohe Investitionen erfordern wird.

D-Offline

Wer mitten in der Hauptstadt einer der führenden Industrienationen immer mal wieder die E-Mails nicht checken kann, weil das Handynetz so schlecht ausgebaut ist, dass es dort nur die Uralt-Technik EDGE anbietet, fragt sich schon, ob unser Land für die Zukunft gerüstet ist. In der Unternehmensbefragung des Instituts der deutschen Wirtschaft gaben 2018 72 Prozent der Antwortenden an, »Infrastrukturmängel im Kommunikationsnetz beeinträchtigten ihre aktuellen Geschäftsabläufe«. Fünf Jahre zuvor waren es noch 64 Prozent gewesen.42 Es wird also nicht besser, im Gegenteil, der Trend geht in die falsche Richtung. Mit jeder neuen Technologie, von 3G über LTE bis hin zu 5G, vergrößert sich der Rückstand, weil die Unternehmen jedes Mal aufs Neue nicht genug in den Ausbau der Sendemasten investieren.

Vermutlich liegt der Frust bei der Wirtschaft auch daran, dass inzwischen nicht nur nervtötende Funklöcher die Geschäfte behindern, sondern auch fehlende Glasfaseranschlüsse. Die Deutsche Telekom setzte viele Jahre lang auf die veraltete DSL-Technik und verbummelte den Ausbau von Glasfaserleitungen. Nun da die DSL-Anschlüsse angesichts stetig wachsender Datenmengen endgültig ans Limit kommen, rächt sich das: Firmen spüren den D-Offline-Effekt immer deutlicher – mobil und im Büro.

Infrastruktur in Deutschland: Tendenz zerbröselnd

Was wir als Bürger:innen und Unternehmer:innen an allen Ecken und Enden im Alltag erleben, spiegelt sich im »Global Competitiveness Report«:43 Deutschlands Infrastruktur ist hiernach zwar aktuell noch ausreichend, aber auf dem absteigenden Ast. Diesen Report gibt das Weltwirtschaftsforum (WEF) regelmäßig heraus, um die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Volkswirtschaften zu vergleichen. Darin wird unter anderem die Qualität der Infrastruktur in verschiedenen Ländern in einem Punktesystem bewertet, das unter anderem auf der subjektiven Einschätzung von Führungskräften beruht, die Noten von 1 (»sehr schlecht«) bis 7 (»sehr gut«) vergeben.

In seinem Gutachten analysiert der Beirat des Wirtschaftsministeriums diese Infrastruktur-Einschätzungen der Jahre 2006 bis 2018 und stellt fest, dass die Bewertungen »in allen Bereichen (Straße, Schiene, Flughäfen, Häfen, Stromversorgung) oberhalb von 5 liegen«,44 die Infrastruktur also nach Einschätzung der Führungskräfte noch halbwegs leistungsfähig ist. Es zeige sich aber »eine Verschlechterung in allen Bereichen«. 2007 lag Deutschland in der Disziplin Infrastruktur noch auf dem dritten Platz. 2018 war es auf Platz zwölf abgerutscht.45 Im aktuellen Report des WEF von 2020 wird vor allem das Zurückfallen Deutschlands bei »relevanten digitalen Fähigkeiten« betont – also der Umgang der Arbeitskräfte mit Computern. Während etwa Ägypten, Bulgarien und Tansania in diesem Bereich die größten Fortschritte machten, schneidet Deutschland immer schlechter ab.46

Regierungen haben sich verkalkuliert

So sparsam, wie wir in den letzten Jahrzehnten in die öffentliche Infrastruktur investiert haben, wird das mit der klimaneutralen Republik nichts werden – und Deutschland verliert im internationalen Wettbewerb der Standorte den Anschluss. Um aufzuholen, müssen wir ab sofort und Jahr für Jahr Hunderte Milliarden Euro zielgerichtet einsetzen. Damit das in Zukunft besser funktioniert, müssen wir erkennen, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist. Warum wurden Brücken, Straßen, Schienen, Schleusen, Wehre nicht frühzeitig repariert, sodass sie im Livestream wegen Baufälligkeit gesprengt werden müssen? Warum wurde insgesamt schlicht zu wenig investiert? »Der Rückgang der jährlichen öffentlichen Investitionen zwischen 1980 und 2005«, so der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministerium, »dürfte im Wesentlichen haushaltspolitisch bedingt gewesen sein.«47 Statt langfristig zu investieren, haben die Regierungen der letzten Jahrzehnte gespart, »bis es quietscht«, wie es der ehemalige Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit ausdrückte.48 Doch das war ausgesprochen kurzsichtig, denn aus lauter Sorge um den Haushalt wurde der Nutzen von Investitionen in politischen, administrativen und gerichtlichen Entscheidungsprozessen regelmäßig zu gering und deren Kosten als zu hoch eingeschätzt, wie es im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats heißt. Jahrzehntelang erschien es sinnvoller, Staatsschulden abzubauen und Ausgaben zu kürzen, als in Infrastruktur zu investieren.

Der langfristige Nutzen von Infrastruktur zahlt sich politisch kaum aus

Allerdings ist das mit den Investitionen für Politiker:innen gar nicht so einfach. Denn während die Kosten sofort zu Buche schlagen und für alle sichtbar sind, stellt sich der Nutzen von Investitionen oft erst nach vielen Jahren ein – wenn die investierenden Politiker:innen damit keine Stimmen mehr gewinnen können, weil ihre Karrieren längst beendet sind. Das lässt es wenig attraktiv erscheinen, Wähler:innen von der Notwendigkeit von Investitionen zu überzeugen. Vor allem, wenn die Kassen leer sind und Sparen der allgemeine Imperativ zu sein scheint, ist es verlockend und kurzfristig politisch vorteilhaft, Investitionen aufzuschieben.

Das hat viel zu tun mit unserer Art, Aufmerksamkeit zu verteilen. Der Ökonom Martin Hellwig, lange Zeit Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, argumentiert, die Debatte über Investitionen in Infrastruktur sei entweder zu allgemein, sodass sich niemand betroffen fühlt, oder zu spezifisch, sodass sich nur sehr wenige betroffen fühlen. Für den Wahlkampfslogan »Mehr Erhaltungs- und Ersatzinvestitionen jetzt!« braucht es Mut. Geht es hingegen um Rentenerhöhungen und Steuererleichterungen, fühlten sich große Massen angesprochen, entsprechend groß sei die Aufmerksamkeit.49

Angemessene Aufmerksamkeit und die entsprechende Bewertung von Infrastrukturausgaben werden zusätzlich durch deren zeitliche Dimension erschwert: Die langen Zeiträume passen nicht zum Rhythmus der Bewertung politischer Leistung durch Wahlen. Monsterbaustellen wie die Sanierung der Gleisnetze oder das Bildungssystem sind in den vier Jahren einer Legislaturperiode nicht zu stemmen. Die Kosten schlagen kurzfristig zu Buche, der versprochene Nutzen hingegen wird auf Jahre kaum spürbar sein. Auch im folgenden Jahr warten wir wahrscheinlich noch auf unpünktliche Züge. Wenn sich dann in zehn oder zwanzig Jahren die Pünktlichkeitswerte womöglich verbessert haben, sind die politisch dafür Verantwortlichen längst im Ruhestand.

Neben der Aufmerksamkeitsökonomie und der Langfristigkeit von Investitionen wird die politisch sinnvolle Bewertung von Investitionen erschwert durch mangelnde Repräsentanz junger Menschen. Denn wenn der Nutzen von Infrastrukturausgaben erst in einigen Jahren zu verbuchen sein wird, sollten über Brücken, Wasserstoffnetze und neue Glasfaserleitungen auch jene abstimmen, die zahlen, sondern auch jene, die sie am längsten nutzen werden. Durch den demografischen Wandel, die Alterung der Gesellschaft und das fixe Mindestwahlalter von 18 Jahren wird jedoch die Gruppe der alten Wähler:innen immer größer: Fast 60 Prozent der Wahlberechtigten waren zuletzt über 50 Jahre alt.50 Sprich, das Wahlrecht und die Alterung der Gesellschaft mehrt die Macht derer, die Infrastruktur nur relativ kurz nutzen werden. Wohingegen jene Macht verlieren, die Schulen, Brücken und Schienen vielleicht sogar sehr gern bezahlen, weil sie selbst davon auch profitieren. Für Infrastruktur-Investitionen sind das keine guten Voraussetzungen.

Mehr politische Rendite können Politiker:innen zumindest kurzfristig erzielen, wenn sie das Geld in spektakuläre Leuchtturmprojekte stecken. Deren langfristiger Nutzen mag überschaubar sein, die kurzfristige Aufmerksamkeit hingegen ist sicher. Hinzu kommt, dass der Nutzen von Investitionen systematisch unterschätzt wird, meint der Volkswirtschaftler Martin Hellwig51 in einem Aufsatz für das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung.52

Doch warum ist das so? Laut Hellwig komme der Staat in Politik und Medien vor allem dann vor, wenn es um Steuern oder Sozialleistungen gehe: »Diese Themen bewegen Millionen, alle sind unmittelbar von ihnen betroffen, mit ihnen werden Wahlen – und Zuschauerquoten im Fernsehen – gewonnen und verloren.«53 Deshalb würden die Infrastrukturleistungen »zerquetscht zwischen dem Druck der Steuersenkungen und dem Druck der Sozialleistungen«. Wie könnte man nun die Wertschätzung für solche Güter politikwirksam zum Thema der öffentlichen Diskussion machen? Hellwigs Empfehlung: »Wir müssen uns darauf zurückbesinnen, dass der Staat nicht nur für Sozialleistungen zuständig ist, sondern auch für öffentliche Güter, von der Sicherheit und dem Rechtswesen über Bildung und Kultur bis zur Verkehrsinfrastruktur.«54

Doch dieser Bewusstseinswandel hin zu mehr Wertschätzung für Investitionen in Infrastruktur ist aus vielerlei Gründen eine komplexe Aufgabe. So werden öffentliche Leistungen nicht immer von jenen bezahlt, die diese Leistung nutzen. Ob Parks, Schwimmbäder oder Straßen: Nicht alle Menschen nutzen diese Einrichtungen. Die Nützlichkeit von Investitionen lässt sich hier also nicht so leicht nachweisen wie im Privaten, wo Menschen für eine Dienstleistung oder eine Ware zahlen, und den Nutzen, den sie dieser Ware beimessen, in Euro und Cent ausdrücken.

Die Unterbewertung der Infrastruktur dürfte zu einem guten Teil auch darin wurzeln, wie Menschen ausdrücken, was ihnen öffentliche Leistungen wert sind. Sie können das nämlich nicht direkt über den Preis tun, den sie zu zahlen bereit sind, sofern der Staat nicht ausnahmsweise eine Gebühr für die Nutzung einer öffentlichen Einrichtung erhebt. Die Bewertung von Infrastruktur erfolgt nur indirekt, nämlich über Wahlen. Das sei zwar immer noch der beste Weg, Feedback der Bürger:innen einzuholen, meinen führende Ökonom:innen, weil Kosten und Nutzen öffentlicher Güter durch den Markt nicht sinnvoll zu messen seien,55 aber der Zusammenhang zwischen einer sanierten Eisenbahnstrecke und der Wahlentscheidung für eine bestimmte Partei ist so diffus, dass es sich politisch kaum auszahlt, die Sanierung voranzutreiben.

Neben bestimmten Eigenschaften von Investitionen in Infrastruktur tragen aber auch politische Strukturen dazu bei, dass viel zu wenig investiert wird. Der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums sieht vor allem zwei Problemfelder, die sinnvolle Investitionen in öffentliche Infrastruktur behindern: die finanzielle Situation der Kommunen und die Rahmenbedingungen für Investitionen.56

Arme Kommunen können nicht so investieren wie nötig

Eine zentrale Ursache für den miserablen Zustand großer Teile der deutschen Infrastruktur sieht der wissenschaftliche Beirat darin, dass viele Kommunen, also Landkreise, Städte, Gemeinden und Bezirke, schlicht zu wenig Geld zur Verfügung haben. Doch sie sind es, die bestimmen, ob eine Schule saniert wird, ob mehr Busse, Straßenbahnen oder U-Bahnen fahren sollen und ob ein neues Schwimmbad gebaut wird. Sind die Kassen leer, wird gespart. Dabei greift es zu kurz, den klammen Kommunen vorzuhalten, sie müssten besser wirtschaften: Kommunen können ihre Kassenlage nur zu einem sehr geringen Teil selbst beeinflussen, weil sie auf ihre Einnahmen kaum und auf die Ausgaben nur teilweise Einfluss nehmen können. Die Steuereinnahmen der Kommunen stammen zum Großteil aus der Gewerbesteuer, die stark mit der Konjunktur schwankt. Der Rest der kommunalen Einnahmen stammt zu einem guten Teil aus der Einkommenssteuer, bei deren Verteilung die Kommunen jedoch nicht mitreden dürfen. Sie können letztlich nur hoffen, dass Bund und Länder auf eigene Einnahmen verzichten und stattdessen den Kommunen einen ausreichenden Anteil am Steueraufkommen zuweisen.

Auf der Ausgabenseite sind die Spielräume der Kommunen ähnlich eng: Sie haben sehr viele gesetzlich zwingende Ausgaben, die sie ebenfalls nicht beeinflussen können, beispielsweise für das Bürgergeld. Daher sitzen viele Kommunen zwischen Baum und Borke, sodass der Anreiz hoch ist, da zu sparen, wo Ausgaben nicht zwingend gesetzlich festgelegt sind – vor allem eben bei Investitionen in Infrastruktur: Die am stärksten überschuldeten Kommunen, darunter die Städte Pirmasens und Kaiserslautern sowie mehrere Städte im Ruhrgebiet, weisen gleichzeitig die niedrigsten Investitionsquoten auf, wie der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums feststellt.57 Alleine könnten die betroffenen Kommunen ihre Schuldenlast nicht abtragen.58 Daher müssten die Städte von Belastungen befreit werden, über die diese nicht selbst bestimmen können.59

Der kommunale Geldmangel führt in einen Teufelskreis

Wenn Kommunen das Geld ausgeht, sparen sie oft am Verwaltungspersonal. Beispielsweise haben die Kommunen zwischen 1995 und 2015 in den Bereichen Bau, Wohnungswesen und Verkehr die Zahl ihrer Vollzeitkräfte de facto um etwa 40 Prozent reduziert.60 Das führt in einen Teufelskreis: Wenn Stellen in Bauämtern aus Geldnot gestrichen werden und jahrelang unbesetzt bleiben, führt das zu schlechterer Planung, schlechterer Bauüberwachung, mehr Fehlern und höheren Baukosten. Ohne die nötigen Fachkräfte sind viele Kommunen nicht mehr in der Lage, »umfangreiche Bauinvestitionen ohne große Verzögerungen zu planen und durchzuführen«, wie der Wissenschaftliche Beirat schreibt.61 Selbst wenn also ausreichend Geld für Investitionen bereitstehen sollte, kann es oft nicht ausgegeben werden, weil es an den nötigen Fachkräften fehlt.

Das ist für viele Kommunen und Landkreise besonders bitter, weil der Bund in den letzten Jahren mehrfach kurzfristig Geld aus sogenannten Sondervermögen bereitgestellt hat, um Investitionsprojekte zu fördern.62 Arme Kommunen profitieren hiervon aber oft gar nicht, weil sie nicht mehr das nötige Personal haben, um das Geld überhaupt ausgeben zu können.

Der Staat investiert zum falschen Zeitpunkt

Neben dem armutsbedingten Personalmangel wirkt noch eine politische Dynamik, die der kontinuierlichen Sanierung der Infrastruktur in Deutschland im Weg steht: Wenn der Staat in Infrastruktur investiert, dann meist zum falschen Zeitpunkt – nämlich, wenn gerade Geld in der Kasse ist. Warum das falsch ist? Gerade bei Gemeinden, die überwiegend von Grund-, Gewerbe- und Einkommenssteuer leben, steigen die Einnahmen, wenn die Konjunktur insgesamt gut läuft. Genau dann ist aber auch die Nachfrage der Wirtschaft und der Bevölkerung nach Personal und Material am größten. In diesen Phasen sind also Fachleute und Baustoffe nicht nur schwerer zu bekommen, sondern auch besonders teuer.

Dieser Effekt könnte abgefedert werden, wenn öffentliche Stellen stattdessen antizyklisch investierten, also gegensätzlich zur Entwicklung der übrigen Wirtschaft. Bund, Länder und Kommunen sollten besonders dann investieren, wenn es der Wirtschaft nicht so gut geht. Dann wäre allen geholfen: Die Wirtschaft würde in der Flaute besonders von öffentlichen Aufträgen profitieren, Arbeitsplätze könnten erhalten werden, und der Staat würde von kurzen Lieferzeiten und niedrigen Preisen profitieren.

Doch dazu müssten öffentliche Auftraggeber die entsprechenden Milliarden gerade dann in Infrastruktur investieren können, wenn die Wirtschaft stagniert und die Steuereinnahmen überschaubar sind. Wenn die Investitionen nicht aus Steuern zu bezahlen sind, bleiben zur Finanzierung nur Kredite. Aber um die Staatsverschuldung tobt seit vielen Jahren ein erbitterter Streit.

Woher soll das Geld kommen? Schuldenbremse und Schwarze Null

Der politische Diskurs in Deutschland wurde spätestens seit den 1990er-Jahren von der Vorstellung bestimmt, dass Staatsschulden generell von Übel seien und zumindest gedeckelt, wenn nicht ganz eliminiert werden müssten. Aus diesem Gedanken wurde die sogenannte »Schuldenbremse« geboren, die schließlich 2011 ins Grundgesetz aufgenommen wurde.63 Artikel 109 schreibt seitdem verbindlich vor, dass der Bund – von engen Ausnahmen abgesehen – pro Jahr nicht mehr als 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an neuen Schulden aufnehmen darf.64 Wenn die Steuereinnahmen also in einem Jahr voraussichtlich nicht reichen, um alle geplanten Projekte zu bezahlen, darf der Bund sich zwar Geld leihen, aber nicht mehr als 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also des Gesamtwerts aller Waren und Dienstleistungen, die die deutsche Volkswirtschaft zuletzt im Jahr produziert hat.65 2019 hätte die Schuldenbremse zum Beispiel neue Schulden von zwölf Milliarden Euro erlaubt.

Die Regelung der Schuldenbremse im Grundgesetz erlaubt, dass der Bundestag in Krisenzeiten die Obergrenze für neue Schulden aufhebt. Er muss jedoch zugleich einen Plan aufstellen, wie diese neuen Schulden »konjunkturgerecht« zurückgezahlt werden. Der Bundestag machte von dieser Möglichkeit wegen der Folgen der Corona-Pandemie und danach wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine Gebrauch. So nahm die Bundesregierung 2022 neue Kredite in Höhe von rund 115 Milliarden Euro auf66 – deutlich mehr, als die Grundregel der Schuldenbremse im Grundgesetz erlaubt.

Die Ausnahme von der Schuldenbremse ergibt Sinn, denn in Krisenzeiten ist die feste Deckelung neuer Schulden nicht hilfreich. Hätte der Bund die Folgen der Corona-Pandemie nicht mit Milliardensummen abgemildert, beispielsweise für großzügige Regelungen zur Kurzarbeit, hätten die Lockdowns Millionen von Entlassungen nach sich gezogen, was erhebliche volkswirtschaftliche Schäden verursacht hätte. Doch schon seit 2023 hat die Ampel die Schuldenbremse wieder scharf gestellt67 und will so zur alten Dynamik zurückkehren: Wenn’s brennt, geben wir Geld aus, um den Brand zu löschen. Ist die akute Krise aber überwunden, wird der Geldhahn wieder zugedreht. Ob das wirklich Sinn ergibt?

Noch strenger als die Schuldenbremse begrenzt die »Schwarze Null« staatliche Investitionen. Die »Schwarze Null« beschreibt das Ziel, dass staatliche Haushalte ausgeglichen sind: Der Staat soll also am besten gar keine neuen Schulden machen, sondern pro Jahr nur so viel ausgeben, wie er durch Steuern einnimmt. Dieses Ideal ist zwar keine verbindliche gesetzliche oder gar verfassungsrechtliche Pflicht, sondern nur ein politisches Ziel bestimmter Parteien, geht aber noch einen Schritt weiter als die Schuldenbremse: »Während die Schuldenbremse immer noch Neuverschuldung zulässt, wenn auch in stark begrenzter Höhe, muss bei der Schwarzen Null der Haushalt ausgeglichen sein. Das heißt: Die Ausgaben dürfen die Einnahmen nicht überschreiten.«68 Dieser Fall war in Deutschland 2014 erstmals seit 45 Jahren eingetreten. Bis 2020 wurde »eisern« daran festgehalten, schreibt der DGB.69

Zur Begründung wird vielfach darauf verwiesen, wir dürften nicht auf Kosten unserer Kinder leben und ihnen keine Schulden vererben. Richtig daran ist natürlich, dass es in der Regel Geld kostet, wenn der Staat sich Geld leiht. Doch zur Frage, ob sich Schulden lohnen, gehört immer auch der Blick darauf, was wir für das Geld bekommen. Vielleicht sind die auf Kredite zu zahlenden Zinsen gut investiert, wenn wir dafür Ladesäulen an jeder Ecke und Wärmepumpen in jedem Haus bekommen? Vielleicht tun wir unseren Kindern sogar einen Gefallen, wenn wir zwar Schulden hinterlassen, das Geld aber investieren in gerechtere Schulen und eine klimaneutrale Gesellschaft mit vorbildlichem Bahnnetz, CO2-neutraler Industrie sowie einer digitalen Verwaltung?

Für den Ökonomen Lukas Haffert70 beruht die suggestive Kraft der Schwarzen Null weniger auf ökonomischen Erwägungen; der ausgeglichene Haushalt scheine vielmehr vor allem eine psychologische Wirkung zu haben:71 Unter einem ausgeglichenen Haushalt können sich alle etwas vorstellen, während die Deutschen seit Jahrzehnten mit Schulden nichts Gutes verbinden. Das dürfte auch etwas mit dem bis zur Groteske verzerrten Bild der »schwäbischen Hausfrau« zu tun haben, die angeblich nur ausgibt, was sie zuvor angespart hat. Diese Erzählung blendet aus, dass kluge Schwäbinnen immer schon Kredite aufgenommen haben, beispielsweise, um das Geld in ihr Häusle oder mittelständisches Unternehmen zu investieren. Warum sollte es der Staat nicht ebenso halten? Laut Haffert lässt sich als weiterer Grund für den politischen Erfolg der Schwarzen Null die spezifische politische Konstellation der Großen Koalition ausmachen, nämlich ein Bündnis zweier inhaltlich ausgezehrter, aber aneinander gebundener Volksparteien.72 Wenn Regierungsparteien sich nicht mehr auf gemeinsame Projekte einigen können, sparen geht immer. Der ausgeglichene Haushalt als politischer Minimalkompromiss – das können wir uns nicht mehr leisten.

Kritik an zu viel Sparsamkeit

Kritiker:innen sehen in der Angst vor Schulden und vor allem in der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse eines der größten Hindernisse für die Sanierung der deutschen Infrastruktur. Die Schuldenbremse mache keinen Unterschied zwischen sinnvollen Schulden, die für Investitionen genutzt werden und so den Kapitalstock erhöhen, und konsumtiven Schulden, die nur genutzt werden, um laufende Ausgaben zu decken und etwa die Rentenerhöhung zu bezahlen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner dagegen ist einer der lautesten Verfechter der Schuldenbremse. Warum? Fragen wir ihn doch mal.

Besuch bei Christian Lindner

Im Bundesfinanzministerium in Berlin-Mitte warten wir im Besprechungsraum mit Blick über die Leipziger Straße. Noch 20 Minuten, der Minister wird sich etwas verspäten. Die Wände sind mit dunklem Holz getäfelt. In den Regalen stehen Pageturner wie die Festschrift 100 Jahre Umsatzsteuer in Deutschland 1918–2018.

Dann betritt der Finanzminister den Raum, schüttelt Hände und schaut auf unsere Jeans: »Ah, Casual Friday«, sagt Lindner. »Dann hätte ich ja auch keinen Anzug anziehen müssen.«73 Er scheint ein wenig ungehalten, bietet aber an, dass wir aufgrund seiner Verspätung 15 Minuten dranhängen können. Wir setzen uns an den runden Konferenztisch von Putin’schen Ausmaßen und starten die Aufnahme.

Herr Minister Lindner, kein deutscher Politiker steht so sehr auf der Schuldenbremse wie Sie. Warum?

Er muss nicht lange überlegen, ehe er zwei Argumente nennt: »Erstens ist es eine Frage der Generationengerechtigkeit.« In einer alternden Gesellschaft würden immer weniger Menschen Steuern zahlen. Da sei es ungerecht, wenn zukünftige Generationen immer höhere Schulden tilgen müssen, die wir heute anhäufen. Zweiter Punkt: Schulden kosten Geld, nämlich Zinsen. Und die steigen gerade wieder. »2021 hat der Bundeshaushalt vier Milliarden Euro gezahlt für die Schulden der Vergangenheit« – also Zinsen. »Für 2023 werden wir deutlich über 30 Milliarden Euro einplanen müssen – für die Schulden der Vergangenheit.« Sein Fazit: Wir können uns neue Schulden nicht leisten.

Aber was ist, wenn wir das Geld dennoch unbedingt ausgeben müssen, um Schlimmeres zu verhindern? Die Bundeswehr ist in einem desolaten Zustand. Vielen Schulen ist anzusehen, dass ihnen nicht nur ein WLAN fehlt. Straßen und Brücken zerbröseln.

Der Finanzminister stimmt uns zu. »Aber diese Situationen haben wir, obwohl es damals noch keine Schuldenbremse gab.« Schuld am beklagenswerten Zustand der Infrastruktur sei also nicht die Schuldenbremse, denn diese und auch die Schwarze Null seien ja erst zehn Jahre alt. Das Geld, für das wir jetzt Zinsen zahlen, sei nicht in Infrastruktur geflossen, sondern in Konsum und Umverteilung. Sinnvolle Investitionen seien auch mit der Schuldenbremse möglich. Es reiche, das vorhandene Geld umzulenken: »Das Stichwort heißt: Prioritäten setzen.«

Doch ganz wird Christian Lindner diesem Anspruch selbst nicht gerecht. Denn auch er wird die Schuldenbremse allenfalls auf dem Papier einhalten, weil er die Gelder dafür bereitstellt, dass die Bundesregierung viele Milliarden pro Jahr in die Bundeswehr investiert. Diese Investitionen trotz angezogener Schuldenbremse beruhen auf einem Buchhaltungstrick: Wichtige Investitionen werden nur möglich sein, weil Lindner die Schulden dafür über sogenannte »Sondervermögen« aufnimmt, also mittels separater Schuldentöpfe, die nicht direkt Teil des Bundeshaushalts sind, sodass die Schuldenbremse hier nicht greift. Die 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr, die Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 in seiner Zeitenwende-Rede über einen Zeitraum von fünf Jahren versprochen hatte, werden beispielsweise durch Schulden finanziert, die jede Schuldenbremse sprengen würden. Diese Milliarden tauchen deshalb im normalen Haushalt nicht auf. Stattdessen verbucht Lindner diese neuen Schulden als Sondervermögen – treffender wäre: Sonderschulden Bundeswehr. Noch größer fällt der Schuldentopf zur Finanzierung von Maßnahmen wie Strom- und Gaspreisbremse aus, die die Bundesregierung beschlossen hatte, um die Folgen der Energiekrise abzumindern: Der sogenannte Wirtschaftsstabilisierungsfonds Energie führte zu Krediten von 200 Mrd. Euro – vorbei am normalen Bundeshaushalt für 2022, für den das Finanzministerium lediglich eine Nettokreditaufnahme von 115 Milliarden Euro meldet.74

»Die Kritik muss ich aushalten«, sagt der Finanzminister und räumt ein: Hinter der Kritik »steckt auch ein nachvollziehbares Argument«. Doch er rechtfertigt diese kreative Buchführung mit dem Argument »Zweckbindung«: Würden die Milliarden einfach im normalen Haushalt verbucht, könnten sie im Prinzip auch genutzt werden, um Wahlgeschenke oder ein höheres Bürgergeld zu bezahlen. »Deswegen haben wir gesagt, wir schreiben ein Sondervermögen ins Grundgesetz. Denn dadurch haben wir eine ganz klare Zweckbindung.« Und was genau ändert das? »Diese 100 Milliarden Euro Schulden versickern nicht irgendwo für irgendwas, werden nicht umdefiniert in dies oder jenes, sondern sie sind für die Bundeswehr.«

Das stimmt, macht aber klar: Auch Christian Lindner könnte ohne Umgehung der Schuldenbremse sinnvolle Investitionen nicht stemmen. Ja, seine Spezialschulden sind zweckgebunden. Aber es bleiben Schulden, die mit Schuldenbremse eigentlich nicht möglich wären.

Was sagt die Wissenschaft zur Schuldenbremse?

Das Beispiel illustriert, dass selbst überzeugte Schuldengegner wie Lindner ums Schuldenmachen nicht herumkommen; sie nennen es nur anders und schummeln die Schulden an der Schuldenbremse vorbei. Hier drängt sich die Frage auf, was von einer Schuldenbremse zu halten ist, die man offensichtlich umgehen muss, damit der Staat seine Aufgaben noch erfüllen kann. Wissenschaftler:innen fragen konkret: Trägt die Schuldenbremse eine Mitschuld an der gegenwärtigen Infrastruktur-Misere?

Diese Frage beantwortet die Volkswirtschaft unterschiedlich. Das Münchner ifo-Institut befragte im Oktober 2019 dazu 120 Volkswirt:innen.75 Davon gaben 37 Prozent an, die Schuldenbremse behindere öffentliche Investitionen, etwa in das Bildungssystem oder in die Verkehrsinfrastruktur. 41 Prozent dagegen sahen das Problem der mangelnden öffentlichen Investitionen nicht als Folge der Schuldenbremse, sondern als Konsequenz mangelnder Planungs- und Durchführungskapazitäten. Eindeutiger urteilten die Ökonomie-Professor:innen, die das Wirtschaftsministerium beraten: »Der Grund für den schlechten Zustand der öffentlichen Infrastruktur und das mäßige Investitionsniveau liegt nicht in der Schuldenbremse.«76 Die Investitionen seien schon vor der Schuldenbremse eingebrochen. Zudem sei privat finanzierte Infrastruktur wie digitale Netze, Gas- und Stromleitungen zwar nicht von der Schuldenbremse berührt, aber ebenfalls in keinem guten Zustand. Und schließlich hätten der Bund und viele Bundesländer »ausreichenden Spielraum für zusätzliche Investitionen gehabt«, diesen aber nicht genutzt.

Blicken wir jetzt nach vorn: Könnte eine gelockerte Schuldenbremse uns helfen, aus der Krise herauszukommen? Sollten wir die Schuldenbremse lockern oder gar abschaffen, um die massiven Kosten für Reparatur und Ausbau der Infrastruktur auch mit Schulden finanzieren zu können? Auch darüber herrscht in der Wissenschaft keine Einigkeit, weil die Nebenwirkungen schwer abzuschätzen sind. »Innerhalb des Beirats sind die Auffassungen über die Vorteilhaftigkeit der Schuldenbremse geteilt«, heißt es im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Wirtschaftsministeriums.77 Beide Lager sehen, dass auf politisch Verantwortliche starke Anreize wirken, Geld so auszugeben, dass es fürs aktuelle Wahlvolk schnell spürbare Ergebnisse bringt, während die Zinsen erst später anfallen und kommende Generationen belasten. Die Geister scheiden sich aber an der Frage, wie dieser politische Hang einzuhegen sei, das Wahlvolk auf Pump bei Laune zu halten und dafür kommende Generationen zahlen zu lassen.

Das Team Schuldenbremse argumentiert, dies könne nur mit einer absoluten Begrenzung der Schulden auf eine bestimmte Höhe funktionieren. Befürworter:innen der Schuldenbremse lehnen es daher auch ab, diese gezielt zu lockern, um höhere Schulden für »Investitionen« zuzulassen. Es sei zu schwer abzugrenzen, was eigentlich »Investitionen« seien, für die mehr Schulden gemacht werden dürfen. Auch der Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, spielt eher im Team Lindner: »Die Schuldenbremse abzuschaffen lohnt sich nicht.«78 In der Corona-Krise habe die Bremse ihre Flexibilität bewiesen. Die Obergrenze der Neuverschuldung wurde vom Bundestag für die Zeit der Krise aufgehoben und ein Tilgungsplan beschlossen. Auch sei es hilfreich gewesen, dass der allgemeine Schuldenberg des Landes durch die langjährige Politik der Schwarzen Null niedrig gewesen sei: »So entstand der Spielraum, die Schulden zu erhöhen und die Wirtschaft zu stützen, ohne dass Zweifel an der Solidität der Staatsfinanzen aufkamen«, schreibt Fuest. Wie Lindner argumentiert er, dass die öffentlichen Investitionen gerade im ersten Jahrzehnt des Jahrtausends besonders niedrig waren – als es die Schuldenbremse noch gar nicht gab. Dagegen seien die Investitionen seit 2014, dem ersten Jahr der Schwarzen Null, etwa doppelt so schnell gestiegen wie das Bruttoinlandsprodukt. Es sei daher nicht erkennbar, dass notwendige öffentliche Investitionen durch die Schuldenschranke verhindert wurden.79 Zwar sei es richtig, öffentliche Investitionen auszuweiten. Das verhindere die Schuldenbremse aber nicht: »Wenn dafür Spielräume in den Haushalten fehlen«, weil die Schuldenbremse bremst, »können aber Bundesunternehmen wie etwa die Deutsche Bahn mit öffentlichen Mitteln für Investitionen ausgestattet werden.« Schulden sollen also da gemacht werden, wo die Schuldenbremse es nicht merkt: in Schattenhaushalten. Auf diese Möglichkeit wies auch Wirtschaftsminister Robert Habeck im August 2023 in unserem Sommerinterview ausdrücklich hin.

Gegner:innen der Schuldenbremse argumentieren dagegen, die Neigung der Politik, kurzfristige Wohltaten auf Pump zu finanzieren, führe vielleicht zu mehr Staatsschulden. Dass mit dem Geld jedoch mitunter Wohltaten und nicht langfristig sinnvolle Projekte bezahlt würden, liege am Verlangen des Wahlvolks nach schneller Bedürfnisbefriedigung, an dem die Schuldenbremse sicher nichts ändern könne. Und wenn die Menge der Schulden eng begrenzt sei, führe das nicht dazu, dass die Politik das Geld nachhaltiger investiere – eher im Gegenteil: Die begrenzten Schulden würden dann erst recht eingesetzt, um das heutige Wahlvolk bei Laune zu halten. Einige Ökonom:innen wollen die harte Schuldenbremse daher abschaffen, aber gleichzeitig Mechanismen einbauen, die verhindern, dass die Spielräume für mehr Schulden missbraucht werden. Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung und das Institut der deutschen Wirtschaft kommen in einer gemeinsamen Studie zu dem Schluss, eine Modifikation der Schuldenbremse würde helfen, die nötigen Investitionen zu schultern und sie vor allem verlässlich für die nächsten zehn Jahre zu sichern.80 Denn nur wenn Wirtschaft und Kommunen längerfristig sicher planen könnten, investierten sie in neue Projekte und mehr Personal. Die Volkswirtschaftler:innen fordern, die Schuldenbremse durch eine »goldene Regel« zu modifizieren: Sie würde Schulden für Investitionen zumindest bis zu einer bestimmten Höhe erlauben. Denn über Kredite finanzierte Investitionen »erhöhen zwar den Schuldenstand, aber gleichzeitig den Vermögensbestand einer Volkswirtschaft. Das Nettovermögen wird so nicht geschmälert.«81