Befreiung finden - Nadine Burke Harris - E-Book

Befreiung finden E-Book

Nadine Burke Harris

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Beschreibung

„Ein mächtiges – sogar unverzichtbares – Werk, um unsere schwerwiegendsten sozialen Missstände besser zu verstehen und wirksamer darauf zu reagieren.“ — NEW YORK TIMES Welche Verbindungen bestehen zwischen Kindheitstraumata und chronischem Stress im Erwachsenenalter? Wie können negative Erfahrungen in der Kindheit schwere Krankheiten wie Bluthochdruck, Morbus Basedow, Herzerkrankungen, ADHS oder sogar Alzheimer hervorrufen? Die renommierte Kinderärztin Nadine Burke Harris ist diesen Fragen in beeindruckender Weise auf den Grund gegangen. Es war Diego – ein Junge, der nach einem sexuellen Übergriff aufgehört hatte zu wachsen –, der die jahrzehntelange Arbeit am Center for Youth Wellness in San Francisco ins Rollen brachte. In Befreiung finden erzählt Burke Harris, wie sie durch die Behandlung betroffener Kinder die Langzeitauswirkungen von Missbrauch, elterlichem Suchtverhalten, Vernachlässigung und Scheidung aufdeckte. Die erstaunliche Erkenntnis ihrer Arbeit ist, wie tief unser Körper von Kindheitstraumata geprägt werden kann: Sie verändern unsere biologischen Systeme und halten ein Leben lang an. Aber das Buch gibt Hoffnung: Sechs Werkzeuge – Schlaf, psychische Gesundheit, gesunde Beziehungen, sportliche Betätigung, Ernährung und Achtsamkeit durch Meditation — sind entscheidend, um Befreiung von negativen Kindheitserfahrung zu finden. Damit klärt dieser Ratgeber nicht nur über schwere soziale Missstände auf, sondern bietet Betroffenen auch praktische Hilfe. „Ein mitreißender Weckruf! Dieses hochaktuelle, provokative Buch beweist zweifelsohne, dass das Leben von Millionen von Menschen davon abhängt, dass wir uns endlich mit den langfristigen Folgen von Kindheitstraumata und toxischem Stress auseinandersetzen.“ — MICHELLE ALEXANDER, JURISTIN, BÜRGERRECHTLERIN UND BESTSELLER-AUTORIN

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NADINE BURKE HARRIS

Befreiungfinden

Wie Sie die langfristigenAuswirkungen vonKindheitstraumata heilen

Impressum

Nadine Burke Harris

Befreiung finden

Wie Sie die langfristigen Auswirkungen von Kindheitstraumata heilen

1. deutsche Auflage 2020

ISBN 978-3-96257-145-0

© Narayana Verlag, 2020

Titel der Originalausgabe:

The Deepest Well: Healing the Long-Term Effects of Childhood Adversity

Copyright © 2018 by Nadine Burke Harris. All rights reserved.

Book Design by Michaela Sullivan

CYW Adverse Childhood Experiences Questionnaire reprinted by permission of Center for Youth Wellness

Übersetzung aus dem Englischen:Annegret Hunke-Wormser

Coverlayout: Narayana Verlag GmbH

Coverabbildung: Shuttertock, antart

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970–0

E-Mail: [email protected]

www.unimedica.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

Sofern eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet werden, gelten die entsprechenden Schutzbestimmungen (auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind).

Die Empfehlungen in diesem Buch wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Für meine Patienten und die Gemeinschaft von Bayview-Hunters Point.

Danke, dass ihr mich mehr gelehrt habt, als jede Universität es jemals gekonnt hätte.

Inhalt

Anmerkung der Autorin

Einleitung

I DIE ENTDECKUNG

1. Irgendetwas stimmt einfach nicht

2. Geh zurück, um voranzukommen

3. Vierzig Pfund

II DIE DIAGNOSE

4. Das rote Auto und der Bär

5. Dynamische Störung

6. Küss dein Baby!

III DAS REZEPT

7. Das ACE-Gegenmittel

8. Stoppt das Massaker!

9. Sexiest Man Alive

10. Maximale Pufferung

IV DIE REVOLUTION

11. Die steigende Flut

12. Listerine

13. Im Rückspiegel

Epilog

Anhang 1: Wie sieht mein ACE-Wert aus?

Anhang 2: CYW-Fragebogen zu Kindheitsbelastungen für Kinder

Danksagung

Referenzen

Index

Anmerkung der Autorin

Alle Geschichten in diesem Buch sind wahr. Die Namen und Daten zur Feststellung der Identität einiger Personen wurden in einigen Fällen zum Schutz der Persönlichkeit geändert. Einige Begebenheiten wurden bereits in zuvor veröffentlichten Werken erwähnt.

Einleitung

EIN 43-JÄHRIGER MANN – nennen wir ihn Evan – wacht an einem ganz gewöhnlichen Samstag um 5 Uhr morgens auf. Seine Frau Sarah atmet leise neben ihm, in ihrer üblichen Schlafposition, den Arm über die Stirn gelegt. Ohne großartig darüber nachzudenken, versucht Evan, sich umzudrehen und aus dem Bett zu schlüpfen, um ins Badezimmer zu gehen, aber irgendetwas stimmt nicht.

Er kann sich nicht umdrehen und es fühlt sich an, als wäre sein rechter Arm taub.

Ups, ich muss wohl zu lange auf ihm gelegen haben, denkt er und macht sich auf das gemeine, heiße Kribbeln gefasst, das einsetzt, wenn das Blut erneut zu fließen beginnt. Er versucht, die Finger zu bewegen, um den Blutkreislauf anzuregen, aber keine Chance. Der schmerzhafte Druck in seiner Blase wird aber nicht von selbst verschwinden, also versucht er erneut aufzustehen. Nichts passiert.

Was zum …

Sein rechtes Bein liegt immer noch genau an der Stelle, an der es vorher gelegen hat, obwohl er versucht hat, es genauso zu bewegen, wie er es sein ganzes Leben lang bewegt hat – ohne darüber nachzudenken.

Er versucht es noch einmal. Nichts. Sieht so aus, als wollte es an diesem Morgen nicht kooperieren. Es ist seltsam, aber obwohl dein ganzer Körper nicht macht, was du willst, ist der Drang zu pinkeln im Moment ein viel größeres Problem.

„Hallo, Schatz, kannst du mir helfen? Ich muss pinkeln. Schieb mich einfach aus dem Bett, damit ich es nicht gleich hier mache“, sagt er zu Sarah, halb im Scherz, was den letzten Teil betrifft.

„Was ist los, Evan?“, fragt Sarah, hebt den Kopf und blinzelt ihn an. „Evan?“ Ihre Stimme wird lauter, als sie seinen Namen zum zweiten Mal ruft.

Er bemerkt, dass sie ihn zutiefst besorgt ansieht. Mit genau dem Gesichtsausdruck, mit dem sie den Jungs ansieht, dass sie Fieber haben, wenn sie mitten in der Nacht krank aufwachen. Was lächerlich ist, da alles, was er braucht, ein kleiner Schubs ist. Schließlich ist es fünf Uhr morgens. Ein langes Gespräch ist völlig unnötig.

„Liebling, ich muss einfach nur pinkeln“, sagt er.

„Was ist los? Evan? Was ist los?“

Sarah ist von jetzt auf gleich hellwach. Sie hat das Licht angemacht und schaut in Evans Gesicht, als würde sie eine schockierende Überschrift in der Sonntagszeitung lesen.

„Alles ist gut, Schatz. Ich muss nur pinkeln. Mein Bein ist einge-schlafen. Kannst du mir schnell helfen?“, sagt er.

Er denkt, dass er, wenn er etwas Druck auf seine linke Seite ausüben kann, seine Position ändern und die Blutzirkulation wieder in Gang bringen kann. Er muss es einfach nur aus dem Bett schaffen.

In genau diesem Moment wird ihm klar, dass nicht nur sein rechter Arm und sein rechtes Bein taub sind – auch sein Gesicht ist taub.

Die ganze rechte Seite ist gefühllos.

Was ist los mit mir?

Dann fühlt Evan etwas Warmes, Nasses an seinem linken Bein.

Sein Blick geht nach unten und er sieht, dass seine Boxershorts durchnässt sind. Urin sickert in das Bettlaken.

„Oh mein Gott“, schreit Sarah. In dem Moment, als sie sieht, dass ihr Mann das Bett nässt, erkennt Sarah den Ernst der Lage und beginnt sofort zu handeln. Sie springt aus dem Bett und Evan hört, wie sie zum Schlafzimmer ihres Teenagersohns rennt. Er hört einige gedämpfte Worte, die er durch die Wand nicht verstehen kann, und dann ist sie wieder bei ihm. Sie sitzt neben ihm auf dem Bett, hält ihn fest und streichelt sein Gesicht.

„Du bist okay“, sagt Sarah. „Alles wird gut werden.“ Ihre Stimme ist sanft und beruhigend.

„Was ist los, Liebling?“, fragt Evan und sieht seine Frau an. Als er zu ihr aufblickt, dämmert ihm, dass sie nichts von dem verstehen kann, was er sagt. Er bewegt seine Lippen und Worte kommen aus seinem Mund, aber sie scheint sie nicht zu verstehen.

Genau in dem Moment läuft vor seinem inneren Auge ein lächerlicher Cartoon-Werbespot von einem tanzenden Herzen ab, das zu einem dummen Lied auf und ab hüpft.

Gesichtslähmung. Hüpf, hüpf.

Armschwäche. Hüpf, hüpf.

Sprachschwierigkeiten.

Zeit für den Notruf. Lernen Sie die Anzeichen eines Schlaganfalls

zu erkennen. Handeln Sie SCHNELL!

Verdammter Mist!

• • •

Obwohl es noch so früh ist, kommt Evans Sohn sofort an die Tür und reicht seiner Mutter das Telefon. Als die Blicke von Vater und Sohn sich treffen, sieht Evan einen Blick so voller Angst und Sorge, dass sich das Herz in seiner Brust zusammenzieht. Er versucht, seinem Sohn zu sagen, dass alles in Ordnung kommen wird, aber der Gesichtsausdruck seines Sohnes macht deutlich, dass sein Versuch, ihn zu beruhigen, alles nur noch schlimmer macht. Marcus’ Gesicht ist angstverzerrt und Tränen beginnen, über seine Wangen zu laufen.

Sarah telefoniert mit der Notrufzentrale, ihre Anweisungen sind klar und energisch. „Ich brauche sofort einen Krankenwagen, sofort! Mein Mann hat einen Schlaganfall. Ja, ich bin mir sicher! Er kann seine gesamte rechte Seite nicht bewegen. Die eine Gesichtshälfte ist gelähmt. Nein, er kann nicht sprechen. Er ist völlig wirr. Was er sagt, ergibt keinen Sinn. Beeilen Sie sich. Schicken Sie bitte sofort einen Krankenwagen!“

• • •

Die Ersthelfer, ein Team von Sanitätern, sind innerhalb von fünf Minuten da. Sie klopfen an die Tür und klingeln. Sarah rennt nach unten und lässt sie herein. Ihr jüngerer Sohn schläft noch in seinem Zimmer und sie hat Angst, dass der Lärm ihn aufweckt, aber zum Glück rührt er sich nicht.

Evan starrt an die Deckenleiste und versucht, sich zu beruhigen. Er spürt, dass er langsam wegdämmert und sich immer weiter von der aktuellen Situation entfernt. Das bedeutet nichts Gutes.

Das Nächste, was er weiß, ist, dass er auf einer Trage die Treppe hinuntergetragen wird. Als die Sanitäter den Treppenabsatz erreichen, legen sie eine Pause ein, um die Positionen zu wechseln. In diesem Bruchteil einer Sekunde blickt Evan nach oben und erhascht den Blick eines der Sanitäter, der ihn mit einem Ausdruck ansieht, dass ihm ganz kalt wird. Ein Blick des Erkennens und des Mitleids, der besagt, armer Kerl, das habe ich schon einmal gesehen und es bedeutet nichts Gutes.

Als sie durch die Tür gehen, fragt sich Evan, ob er jemals wieder in dieses Haus zurückkommen wird. Zurück zu Sarah und seinen Jungs. So wie der Sanitäter ihn angesehen hat, könnte die Antwort auch Nein lauten, denkt Evan.

Als sie die Notaufnahme erreichen, wird Sarah mit Fragen über Evans Krankengeschichte bombardiert. Sie erzählt ihnen jedes Detail über Evans Leben, das sie für wichtig hält. Er ist Computerprogrammierer. Er macht jedes Wochenende Touren mit seinem Mountainbike. Er spielt unglaublich gern Basketball mit seinen Söhnen. Er ist ein wunderbarer Vater. Er ist glücklich. Bei seiner letzten Vorsorgeuntersuchung sagte der Arzt, alles sähe sehr gut aus. Schließlich bekommt sie zufällig mit, wie einer der Ärzte Evans Fall mit einem Kollegen am Telefon bespricht: „43 Jahre alt, männlich, Nichtraucher, keine Risikofaktoren.“

Was aber Sarah, Evan und sogar Evans Ärzte nicht wussten, war, dass es sehr wohl einen Risikofaktor gab. Einen ziemlich großen sogar. Tatsächlich war die Wahrscheinlichkeit, dass Evan einen Schlaganfall erleiden würde, mehr als doppelt so hoch wie bei einer Person ohne diesen Risikofaktor. Was niemand in der Notaufnahme an diesem Tag wusste, war, dass ein unsichtbarer biologischer Prozess seit Jahrzehnten am Werk war, der Evans Herz-Kreislauf-System, sein Immun- und sein Hormonsystem in Mitleidenschaft gezogen hatte. Ein Risikofaktor, der ohne Weiteres zu der jetzigen Situation geführt haben konnte. Dieser Risikofaktor mit all seinen möglichen Auswirkungen war während der regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen der letzten Jahre nie zur Sprache gekommen.

Das, was Evan einem erhöhten Risiko aussetzte, irgendwann mit einer halbseitigen Lähmung (oder einer der zahlreichen anderen Krankheiten) aufzuwachen, ist keine Seltenheit. Es ist etwas, dem zwei Drittel der Bevölkerung ausgesetzt sind, etwas, das so alltäglich ist, dass es niemand sieht.

Was ist gemeint? Blei? Asbest? Irgendein giftiges Verpackungsmaterial?

Gemeint sind Belastungen in der Kindheit.

Die meisten Menschen würden nicht vermuten, dass ein negatives Erlebnis in ihrer Kindheit irgendetwas mit einem Schlaganfall, einer Herzerkrankung oder Krebs zu tun haben könnte. Aber vielen von uns ist bewusst, dass ein Kindheitstrauma emotionale und psychische Auswirkungen haben kann. Wir wissen, wie die schlimmsten Konsequenzen für die Unglücklichen (einige sagen die „Schwachen“) aussehen: Drogenmissbrauch, wiederkehrende Gewalt, Inhaftierung und psychische Probleme. Aber für alle anderen ist ein Kindheitstrauma die schlechte Erinnerung, über die mindestens bis zur fünf-ten oder sechsten Begegnung niemand spricht. Das ist doch nur Drama, Ballast.

Belastungen in der Kindheit sind eine Geschichte, die wir zu kennen glauben.

Kinder erleiden Traumata und Stress in Form von Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt und Angst seit Anbeginn der Zeit. Fast ebenso lange haben Eltern sich betrunken, wurden verhaftet oder haben sich scheiden lassen. Die Menschen, die klug und stark genug sind, sind in der Lage, sich über die Vergangenheit zu erheben und mithilfe der Kraft ihres eigenen Willens und ihrer Widerstandsfähigkeit den Sieg davonzutragen.

Sind sie es wirklich?

Wir alle haben Geschichten wie die von Horatio Alger gehört, in denen es um Menschen geht, die eine schwere Kindheit überwunden haben oder, besser noch, gestärkt aus ihr hervorgegangen sind. Diese Geschichten sind in unserer kulturellen DNA tief verankert. Im besten Fall zeichnen sie ein unvollständiges Bild dessen, was Kindheitsbelastungen für Hunderte Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten (und Milliarden auf der ganzen Welt) bedeuten, die früh in ihrem Le-ben Stress ausgesetzt waren. Häufiger schwingt in diesen Geschichten ein moralischer Unterton mit, der bei all jenen, die ein Leben lang mit Belastungen in der Kindheit zu kämpfen haben, ein Gefühl der Scham und der Hoffnungslosigkeit hervorruft. Aber ein immens großer Teil der Geschichte fehlt.

20 Jahre medizinische Forschung haben ans Licht gebracht, dass Kindheitsbelastungen buchstäblich unter die Haut gehen, indem sie bei den Menschen Veränderungen bewirken, die in ihrem Körper jahrzehntelang überdauern. Sie können die Entwicklung eines Kindes nachhaltig stören und die Physiologie beeinflussen. Sie können chronische Entzündungen und hormonelle Veränderungen hervorrufen, die ein Leben lang anhalten können. Sie können die Art und Weise verändern, in der die DNA gelesen wird und wie Zellen sich vervielfältigen, und sie können das Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfall, Krebs, Diabetes – ja sogar Alzheimer – drastisch erhöhen.

Diese neue Wissenschaft gibt den Geschichten von Horatio Alger, die wir alle so gut zu kennen glauben, eine überraschende Wende. Wie die Studien zeigen, werden Jahre später, nachdem sie Belastungen auf erstaunliche Weise überwunden haben, selbst stabile Persönlichkeiten, die sich aus eigener Kraft hochgerappelt haben, von ihrer Biologie überrumpelt werden. Trotz harter Kindheit haben viele Leute gute Noten erzielt, haben ein College besucht und Familien gegründet. Sie haben getan, was sie tun sollten. Sie haben die Belastung bewältigt und sich ein erfolgreiches Leben aufgebaut – und dann sind sie krank geworden. Sie hatten einen Schlaganfall. Oder bekamen Lungenkrebs oder eine Herzkrankheit oder sind in eine Depression gefallen. Da sie hochriskante Verhaltensweisen wie Trinken, übermäßiges Essen oder Rauchen gemieden haben, haben sie keine Ahnung, woher ihre gesundheitlichen Probleme kommen. Sie haben sie mit Sicherheit nicht mit der Vergangenheit in Verbindung gebracht, weil sie die Vergangenheit hinter sich gelassen hatten. Richtig?

Tatsache ist, dass Menschen wie Evan, die negative Kindheitserfahrungen durchlebt haben, trotz all ihrer Bemühungen immer noch einem größeren Risiko für chronische Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs ausgesetzt sind.

Aber warum? Wie entsteht aus einer Stressbelastung in der Kindheit ein Gesundheitsproblem im mittleren Lebensalter oder sogar im Ruhestand? Gibt es wirksame Therapien? Was können wir tun, um unsere eigene Gesundheit und die unserer Kinder zu schützen?

Im Jahr 2005, als ich meine Facharztausbildung als Kinderärztin in Stanford beendet hatte, wusste ich nicht einmal, dass ich diese Fragen stellen musste. Wie alle anderen auch kannte ich nur den einen Teil der Geschichte. Aber dann – entweder war es Zufall oder Schicksal – bekam ich erste Einblicke in den Teil der Geschichte, der noch erzählt werden muss. Es begann genau dort, wo man erwarten würde, ein hohes Maß an Belastungen vorzufinden: in einer einkommensschwachen, afroamerikanischen Gemeinschaft mit geringen Ressourcen inmitten einer wohlhabenden Stadt mit allen Ressourcen der Welt. Ich gründete in Bayview-Hunters Point in San Francisco eine kommunale Kinderklinik. Tag für Tag wurde ich Zeuge, wie meine kleinen Patienten mit unermesslichem Stress und traumatischen Erlebnissen zu kämpfen hatten. Als Mensch hat mich das in die Knie gezwungen. Als Wissenschaftlerin und Ärztin bin ich wieder aufgestanden und habe angefangen, Fragen zu stellen.

Meine Reise hat mir – und ich hoffe, dies wird auch auf Sie zutreffen – eine völlig neue Perspektive auf die Geschichte der Kindheitsbelastungen gegeben – die ganze Geschichte, nicht nur die, die wir zu kennen glauben. Die Seiten in diesem Buch werden Ihnen helfen, besser zu verstehen, wie sich Belastungen in der Kindheit in Ihrem Leben oder im Leben von jemandem, den Sie lieben, auswirken können. Außerdem werden Sie, was noch wichtiger ist, Werkzeuge zur Heilung kennenlernen, die bei einem Menschen oder einer Gemeinschaft beginnt, aber die Kraft besitzt, die Gesundheit ganzer Nationen zu verändern.

I

Die Entdeckung

1

Irgendetwas stimmt einfach nicht

ALS ICH DAS UNTERSUCHUNGSZIMMER im Child Health Center in Bayview betrat, um meinen nächsten Patienten zu treffen, musste ich einfach lächeln. Mein Team und ich hatten uns sehr bemüht, die Klinik so einladend und familienfreundlich wie möglich zu gestalten. Der Raum war in Pastellfarben gestrichen und hatte einen farblich passenden Bodenbelag im Schachbrettmuster. Cartoons von Tierbabys marschierten über die Wand über dem Waschbecken in Richtung Tür. Wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man meinen können, sich in einem Untersuchungszimmer in einer Kinderklinik im wohlhabenden Stadtteil Pacific Heights in San Francisco statt im sozial benachteiligten Bayview zu befinden, was aber genau der Fall war. Wir wollten, dass unsere Klinik ein Ort war, an dem die Menschen sich wertgeschätzt fühlten.

Als ich über die Schwelle trat, starrte Diego gebannt auf die Giraffenbabys. Was für ein süßer Junge, dachte ich, als er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete, mir ein Lächeln zuwarf und mich durch einen Wust aus zotteligem schwarzen Haar prüfend anblickte. Er thronte auf dem Stuhl neben seiner Mutter, die seine dreijährige Schwester auf dem Schoß hielt. Als ich ihn bat, auf den Untersuchungstisch zu klettern, hüpfte er gehorsam auf den Tisch und ließ seine Beine vor- und zurückschwingen. Als ich seine Patientenakte öffnete, sah ich sein Geburtsdatum und schaute ihn wieder an – Diego war ein Süßer und ein Kleiner.

Ich blätterte die Akte schnell durch und suchte nach objektiven Da-ten, die meinen ersten Eindruck bestätigen würden. Ich trug Diegos Größe in die Wachstumskurve ein, dann überprüfte ich sie nochmals, um sicherzugehen, dass ich keinen Fehler gemacht hatte. Die Größe meines neuesten Patienten lag auf der 50. Perzentile eines Vierjährigen.

Was völlig in Ordnung gewesen wäre, wenn Diego nicht sieben Jahre alt gewesen wäre. Das ist merkwürdig, dachte ich, weil Diego ansonsten wie ein völlig normales Kind aussah. Ich rollte auf meinem Stuhl zum Tisch hinüber und zog mein Stethoskop aus der Tasche. Als ich näherkam, konnte ich verdickte, trockene Überreste von Ekzemen in den Falten seiner Ellbogen erkennen und hörte beim Abhören seiner Lunge ein deutliches Fiepen. Die Krankenschwester in Diegos Schule hatte ihn zur Beurteilung in Bezug auf eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hierhergeschickt, ein chronisches Krankheitsbild, das durch Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität gekennzeichnet ist. Ob Diego zu den Millionen Kindern gehörte, die von ADHS betroffen waren, blieb abzuwarten, ich konnte aber schon jetzt sehen, dass seine vorrangige Diagnose eher anhaltendes Asthma, Ekzeme und Wachstumsstörung lauten würde.

Rosa, Diegos Mutter, beobachtete nervös, wie ich ihren Sohn untersuchte. Ihre Augen waren auf Diego gerichtet und voller Sorge. Der Blick der kleinen Selena wanderte durch den Raum, während sie all die glänzenden Geräte betrachtete.

„Sollen wir Englisch oder lieber Spanisch sprechen?“, fragte ich Rosa.

Erleichterung huschte über ihr Gesicht und sie beugte sich nach vorn.

Nachdem wir – auf Spanisch – den Fragebogen zur Krankengeschichte, den sie im Wartezimmer ausgefüllt hatte, durchgesprochen hatten, stellte ich ihr dieselbe Frage, die ich immer stelle, bevor ich zu den Ergebnissen der körperlichen Untersuchung übergehe: Gibt es irgendetwas Bestimmtes, dass ich wissen sollte?

Ihre Stirn legte sich sorgenvoll in Falten.

„Er hat Schwierigkeiten in der Schule und die Krankenschwester hat gesagt, ein Medikament könne helfen. Stimmt das? Welches Medikament braucht er?“

„Wann haben Sie bemerkt, dass er Probleme in der Schule hat?“, fragte ich.

Nach einer kleinen Pause veränderte sich ihr Gesichtsausdruck von angespannt zu weinerlich. „¡Ay, Doctora!“, sagte sie und fing an, ihre Geschichte in einem Sturzbach spanischer Wörter zu erzählen. Ich legte meine Hand auf ihre Hand und bevor sie weiterreden konnte, steckte ich meinen Kopf durch die Tür und bat meine medizinische Assistentin, Diego und Selena in das Wartezimmer zu bringen.

Rosas Geschichte war keine fröhliche Geschichte. Zehn Minuten lang erzählte sie mir, dass Diego sexuell missbraucht worden war, als er vier Jahre alt war. Rosa und ihr Mann hatten einen Untermieter aufgenommen, um die horrende Miete in San Francisco ein wenig erträglicher zu machen. Er war ein Freund der Familie, jemand, den ihr Mann von seiner Arbeit in der Baufirma kannte. Rosa bemerkte, dass Diego anhänglicher und verschlossener wurde, nachdem der Mann zu ihnen gekommen war, aber sie hatte keine Ahnung, warum, bis sie eines Tages nach Hause kam und den Mann mit Diego in der Dusche vorfand. Sie hatten den Mann zwar sofort rausgeworfen und bei der Polizei Meldung erstattet, aber der Schaden blieb.

Diego bekam Probleme in der Vorschule und blieb in den Jahren darauf schulisch immer weiter zurück. Was das Ganze noch verschlimmerte, war die Tatsache, dass Rosas Mann sich die Schuld gab und die ganze Zeit über wütend zu sein schien. Während er immer schon ein wenig mehr getrunken hatte, als ihr lieb war, wurde es nach dem Vorfall noch viel schlimmer. Ihr war klar, dass die Spannungen und das Trinken ihrer Familie nicht guttaten, wusste aber nicht, was sie dagegen tun konnte. Ihre Äußerungen über ihren Gemütszustand ließen mich stark vermuten, dass sie an einer Depression litt.

Ich versicherte ihr, dass wir Diego helfen konnten, was das Asthma und die Ekzeme betraf, und dass ich mich mit dem ADHS-Problem und der Wachstumsstörung befassen würde. Sie seufzte und wirkte zumindest ein wenig erleichtert.

Wir saßen einen Augenblick dort und sagten nichts, während meine Gedanken auf die Reise gingen. Von Anfang an, seit wir die Klinik im Jahr 2007 eröffnet hatten, hatte ich die Vermutung, dass mit meinen Patienten etwas Medizinisches passierte, das ich nicht ganz verstehen konnte. Es begann mit der Flut von ADHS-Fällen, die an mich überwiesen wurden. Wie bei Diego auch kamen die Symptome der meisten meiner ADHS-Patienten nicht einfach so aus dem Nichts. Sie schienen im Höchstmaß bei den Patienten aufzutreten, die mit irgendeiner Art von Lebenskrise oder Trauma zu kämpfen hatten. Da waren zum Beispiel die Zwillinge, deren schulische Leistungen nachließen und die in der Schule in Raufereien verwickelt wurden, nachdem sie zu Hause Zeuge eines versuchten Mordes geworden waren, oder die drei Brüder, deren Noten schlagartig schlechter wurden, nachdem die Scheidung ihrer Eltern eine derart heftige, erbitterte Wende genommen hatte, dass gerichtlich festgelegt wurde, die Kinder in der Polizeistation von Bayview in die Obhut des jeweils anderen zu übergeben. Viele Patienten nahmen bereits ADHS-Medikamente ein, einige sogar antipsychotische Medikamente. Einer Reihe von Patienten schienen die Medikamente zu helfen, aber bei vielen war das ganz eindeutig nicht der Fall. In den meisten Fällen konnte ich die ADHS-Diagnose nicht stellen. Die Diagnosekriterien für ADHS gaben vor, dass ich andere Erklärungen für ADHS-Symptome (beispielsweise tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Schizophrenie oder andere psychotische Störungen) ausschließen musste, bevor ich die Diagnose ADHS stellen konnte. Aber was wäre, wenn die Antwort differenzierter ausfallen würde? Was wäre, wenn die Ursache dieser Symptome – die mangelnde Impulskontrolle, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, die Schwie-rigkeit, still zu sitzen – nicht direkt eine psychische Störung wäre, sondern ein biologischer Prozess, der sich so auf das Gehirn auswirkte, dass die normale Funktion gestört war? Waren psychische Störungen nicht einfach biologische Störungen? Der Versuch, diese Kinder zu behandeln, fühlte sich an, als würde man Puzzleteile, die nicht zusammengehörten, mit Gewalt zusammensetzen. Die Symptome, Ursachen und Behandlungen kamen der Sache nahe, aber nicht nahe genug, um wirklich zufriedenstellend zu sein.

Ich ging in Gedanken noch einmal alle Patienten wie Diego und die Zwillinge durch, die ich im vergangenen Jahr gesehen hatte. Ich musste sofort an Kayla denken, eine Zehnjährige, deren Asthma besonders schwer unter Kontrolle zu bringen war. Nach dem letzten Anfall setzte ich mich mit der Mutter und meiner Patientin an einen Tisch, um Kaylas Medikation bis ins kleinste Detail zu überprüfen. Als ich Kaylas Mutter fragte, ob es vielleicht noch andere Asthmaauslöser geben könne, die wir noch nicht festgestellt hatten (wir hatten von Haustierhaaren über Küchenschaben bis hin zu Reinigungsmitteln alles überprüft), erwiderte sie: „Nun, ihr Asthma scheint sich jedes Mal zu verschlimmern, wenn ihr Vater mit der Faust ein Loch in die Wand schlägt. Denken Sie, dass das etwas damit zu tun haben könnte?“

Kayla und Diego waren nur zwei Patienten, aber sie waren nicht allein. Tag für Tag sah ich Säuglinge, die teilnahmslos waren und merkwürdige Ausschläge hatten. Ich sah Kindergartenkinder, denen die Haare ausfielen. Epidemische Ausmaße von Lern- und Verhaltensproblemen. Kinder, die gerade mal 12 Jahre alt und depressiv waren. Und in besonderen Fällen, wie dem von Diego, hörten die Kinder sogar auf zu wachsen. Während ich mir ihre Gesichter in Erinnerung rief, ging ich eine Checkliste mit Störungen, Krankheiten, Syndromen und Lebensverhältnissen durch, die Arten von frühen Rückschlägen, die katastrophale Wellen im gesamten zukünftigen Leben dieser Kinder schlagen konnten.

Wenn Sie sich einen gewissen Prozentsatz meiner Patientenakten ansehen würden, würden Sie nicht nur eine Fülle medizinischer Probleme vorfinden, sondern eine Geschichte nach der anderen über herzzerreißende Traumata. Zusätzlich zu den Blutdruckwerten und dem Body-Mass-Index würden Sie, wenn Sie die Patientenakte bis zur sozialen Anamnese durchblättern würden, etwas lesen können über inhaftierte Eltern, wechselnde Pflegestellen, vermuteten körperlichen Missbrauch, dokumentierten Missbrauch und Familiengeschichten von Geisteskrankheit und Drogenmissbrauch. Eine Woche, bevor Diego zu mir kam, hatte ich ein sechsjähriges Mädchen mit Typ-1-Diabetes gesehen, dessen Vater bereits zum dritten Mal in Folge high war, als er zu mir in die Sprechstunde kam. Als ich ihn darauf ansprach, versicherte er mir, ich solle mir keine Sorgen machen, weil das Gras ihm helfen würde, die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Im ersten Jahr meiner Arbeit in der Klinik, in dem ich grob geschätzt 1000 Patienten behandelt habe, gab es nicht nur ein Kind, sondern zwei, bei denen ich Autoimmunhepatitis feststellen musste, eine seltene Krankheit, die weniger als drei von hunderttausend Kindern betrifft. Beide Fälle deckten sich insofern, als dass sie beträchtliche Belastungen in ihren Vorgeschichten aufwiesen.

Ich fragte mich wieder und wieder: Wo ist die Verbindung?

Wenn es nur eine Handvoll Kinder mit erdrückenden Belastungen und schlechtem Gesundheitszustand gewesen wäre, hätte ich es als Zufall werten können. Aber Diegos Situation war typisch für Hunderte von Kindern, die ich im vergangenen Jahr gesehen hatte. Der Begriff der statistischen Signifikanz ging mir immer wieder durch den Kopf. Tag für Tag fuhr ich mit einem Gefühl der Leere nach Hause. Ich tat mein Bestes, um diesen Kindern zu helfen, aber es war bei Weitem nicht genug. In Bayview grassierte eine tieferliegende Krankheit, die ich nicht festmachen konnte, und mit jedem Diego, der zu mir kam, wurde das nagende Gefühl in meinem Magen schlimmer.

• • •

Lange Zeit kam mir die Möglichkeit einer tatsächlichen Verbindung zwischen Kindheitsbelastungen und gesundheitlichen Schäden als Frage in den Sinn, die nur einen Augenblick verweilte, bevor sie wieder verschwunden war. Ich frage mich … Was, wenn … Es scheint, als ob … Diese Fragen tauchten immer wieder auf, aber ein Teil des Problems, diese einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen, bestand darin, dass sie in Situationen auftauchten, die Monate, manchmal sogar Jahre auseinanderlagen. Da sie in diesen vereinzelten Momenten nicht logisch oder harmonisch in mein Weltbild passten, fiel es mir schwer, die Geschichte hinter der Geschichte zu sehen. Später dann wurde mir klar, dass all diese Fragen einfach Hinweise auf eine tieferliegende Wahrheit gewesen waren, aber wie die Frau in einer Seifenoper, deren Mann sie mit dem Kindermädchen betrügt, verstand ich es erst im Nachhinein. Es waren weder Hotelrechnungen noch Parfümduft, die mich auf die Spur brachten, sondern viele winzige Signale, die mich schließlich zu der immer gleichen Frage führten: Wie konnte es passieren, dass ich das nicht gesehen hatte? Es war die ganze Zeit über direkt vor mir gewesen.

Ich lebte jahrelang in einem Zustand des Nicht-ganz-Verstehens, weil ich meine Arbeit so erledigt hatte, wie man es mir beigebracht hatte. Ich wusste, dass mein Bauchgefühl in Bezug auf diese biologische Verbindung zwischen Belastungen und Gesundheit nur eine Ahnung war. Als Wissenschaftlerin konnte ich derartige Assoziationen ohne handfeste Belege nicht akzeptieren. Ja, der Gesundheitszustand meiner Patienten war extrem schlecht, aber war das nicht typisch für die Gemeinschaft, in der sie lebten? Sowohl mein Medizinstudium als auch meine Ausbildung im öffentlichen Gesundheitswesen sagten mir, dass dies zutraf.

Dass es einen Zusammenhang zwischen schlechter Gesundheit und armen Gemeinschaften gibt, ist gut dokumentiert. Wir wissen, dass sich nicht nur die Art und Weise, wie man lebt, auf die Gesundheit auswirkt, sondern auch, wo man lebt. Experten für öffentliche Gesundheit und Forscher bezeichnen Gemeinschaften als „Brennpunkte“, wenn sich die Gesundheitslage insgesamt im Vergleich zur statistischen Norm als extrem schlecht erweist. Die vorherrschende Meinung ist, dass gesundheitliche Ungleichheiten in Bevölkerungsgruppen wie Bayview auftreten, weil diese Menschen einen schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung, eine schlechte Versorgungsqualität und schlechtere Optionen haben, wenn es um Dinge wie Gesundheit, erschwingliche Nahrungsmittel und sicheres Wohnen geht. Als ich in Harvard studiert habe, um meinen Master in öffentlichem Gesundheitswesen zu machen, habe ich gelernt, dass das Beste, was ich zur Verbesserung der Gesundheit der Menschen tun konnte, darin bestand, eine Möglichkeit zu finden, diesen Gemeinschaften eine leichter zugängliche und bessere Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.

Noch während meiner Zeit als Assistenzärztin bot mir das California Pacific Medical Center (CPMC) in der Gegend von Laurel Heights in San Francisco meinen Traumjob an: die Entwicklung von Programmen zur Behebung von gesundheitlichen Ungleichheiten in der Stadt. Der Direktor des Krankenhauses, Dr. Martin Brotman, setzte sich persönlich mit mir zusammen, um sein Engagement für dieses Anliegen zu bekräftigen. In meiner zweiten Arbeitswoche kam mein Chef in mein Büro und übergab mir ein 147-seitiges Dokument aus dem Jahr 2004, in dem es um die Beurteilung der Gesundheit von Gemeinschaften in San Francisco ging. Sofort danach fuhr er in Urlaub und überließ mich mit wenigen Anweisungen meinen eigenen ehrgeizigen Ideen (im Nach-hinein war das von ihm entweder ein genialer Schachzug oder ziemlich verrückt). Ich tat, was jeder strebsame Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitswesen tun würde – ich sah mir die Zahlen an und versuchte, die Lage einzuschätzen. Ich hatte gehört, dass Bayview-Hunters Point in San Francisco, wo ein großer Teil der afroamerikanischen Bevölkerung der Stadt lebte, eine schutzbedürftige Gemeinschaft war, aber als ich mir das Gutachten von 2004 ansah, war ich sprachlos. In dem Bericht waren die Bewohner unter anderem nach Postleitzahlen gruppiert. Die Hauptursache für vorzeitige Sterblichkeit in 17 der 21 Postleitzahlenbereiche in San Francisco war die koronare Herzkrankheit, die in den Vereinigten Staaten die häufigste Todesursache überhaupt ist. In drei Postleitzahlenbereichen war es HIV / AIDS. Aber Bayview-Hunters Point war der einzige Postleitzahlenbereich, in dem die häufigste Ursache für vorzeitige Sterblichkeit Gewalt war. In der Tabelle direkt neben Bayview (94124) stand die Postleitzahl des Marina-Distrikts, eines der wohlhabendsten Bezirke der Stadt. Als ich mit meinem Finger die Zahlenreihen entlangfuhr, war ich bass erstaunt. Sie zeigten mir, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Lungenentzündung zu erkranken, für ein Baby in Bayview zweieinhalbmal höher war als für eines im Marina-Distrikt. Außerdem war die Wahrscheinlichkeit, dass es Asthma bekam, sechsmal höher. Und wenn das Kind dann größer wurde, war die Wahrscheinlichkeit, unkontrollierten Diabetes zu entwickeln, zwölfmal höher.

Das CPMC hatte mich eingestellt, um Ungleichheiten anzugehen. Und, weiß Gott, jetzt wurde mir klar, warum.

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Im Rückblick denke ich, dass es vermutliche eine Kombination aus Naivität und jugendlichem Enthusiasmus war, der mich beflügelte, in den zwei Wochen, in denen mein Chef nicht da war, einen Businessplan für eine Klinik im Herzen der Gemeinschaft mit dem stärksten Bedarf zu entwerfen. Ich wollte den Menschen in Bayview medizinische Leistungen vor Ort ermöglichen, anstatt sie zu bitten, zu uns zu kommen. Als mein Chef und ich Dr. Brotman den Plan überreichten, entließ er mich zum Glück nicht wegen überbordendem Idealismus. Stattdessen half er mir dabei, die Klinik Wirklichkeit werden zu lassen, was mich auch heute noch enorm beeindruckt.

Die Zahlen in diesem Bericht hatten mir eine ziemlich gute Vorstellung davon gegeben, womit es die Menschen in Bayview zu tun hatten, aber erst im März 2007, als das Bayview Child Health Center des CPMC seine Tore öffnete, wurde mir das gesamte Ausmaß bewusst. Zu sagen, dass das Leben in Bayview nicht einfach ist, wäre eine Untertreibung. Es ist eine der wenigen Gegenden in San Francisco, in denen Drogengeschäfte direkt vor den Augen von Vorschulkindern auf dem Weg zur Schule stattfinden und wo Großmütter manchmal in Badewannen schlafen, weil sie Angst vor verirrten Querschlägern haben. Es war immer schon eine raue Gegend, und das nicht nur wegen der Gewalt. In der Werft wurden in den 1960er-Jahren radioaktive Boote von der US-Navy dekontaminiert und bis in die frühen 2000er-Jahre wurden die toxischen Nebenprodukte aus einem nahegelegenen Kraftwerk routinemäßig in der Gegend deponiert. In einem Dokumentarfilm über die Rassenkonflikte und die Ausgrenzung dieser Nachbarschaft sagte der Schriftsteller und Sozialkritiker James Baldwin: „Dies ist genau das San Francisco, das für die USA angeblich nicht existiert.“

Meine tägliche Arbeit in Bayview führt mir vor Augen, dass diese Kämpfe real und allgegenwärtig sind, aber sie zeigt mir auch, dass dies nur ein Teil der Geschichte ist. Bayview ist der ölige Beton, auf dem du dir das Knie aufschürfst, aber es ist auch die Blume, die aus den Rissen im Beton wächst. Tag für Tag sehe ich Familien und Gemeinschaften, die sich liebevoll gegenseitig unterstützen, um einige der schlimmsten Erfahrungen durchstehen zu können, die man sich nur vorstellen kann. Ich sehe wunderschöne Kinder und ver-narrte Eltern. Sie kämpfen und sie lachen und dann kämpfen sie weiter. Aber egal, wie hart Eltern für ihre Kinder arbeiten, der Mangel an Ressourcen in der Gemeinschaft ist erdrückend. Bevor wir das Bayview Child Health Center dort eröffnet haben, gab es nur einen praktizierenden Kinderarzt für mehr als zehntausend Kinder. Diese Kinder haben mit schwerwiegenden medizinischen und emotionalen Problemen zu kämpfen. Genau wie ihre Eltern. Und ihre Großeltern. In vielen Fällen geht es den Kindern besser, weil sie Anspruch auf eine staatlich geförderte Krankenversicherung haben. Armut, Gewalt, Drogenmissbrauch und Kriminalität haben über Generationen für ein Vermächtnis schlechter Gesundheit und Frustration gesorgt. Und doch habe ich daran geglaubt, dass wir etwas verändern können. Ich habe meine Praxis dort eröffnet, weil ich nicht damit einverstanden war, so zu tun, als würden die Menschen in Bayview nicht existieren.

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Patienten wie Diego und Kayla waren genau der Grund, warum ich nach Bayview gekommen war. Solange ich mich erinnern konnte, wusste ich, dass ich mich auf dieses Problem konzentrieren wollte und dass dies die Menschen waren, denen ich helfen wollte. Ich hatte die bestmögliche medizinische Ausbildung erhalten, hatte einen Master in öffentlichem Gesundheitswesen und hatte Erfahrungen darin gesammelt, wie man mit schutzbedürftigen Gemeinschaften zusammenarbeitet, um den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verbessern. Nach jahrelangem Studium vertraute ich auf die vorherrschende akademische Sichtweise: Wenn man den Zugang der Menschen zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung verbessern würde, würde auch der Gesundheitszustand der Menschen allmählich besser werden. Ich wusste, wo ich ansetzen musste, und war bereit. Als ich in Bayview anfing, dachte ich, alles, was ich tun müsste, wäre, die Maschinerie in Gang zu setzen – den Menschen eine gute Versorgung zu bieten, diese auch erschwinglich zu machen und dann mitzuerleben, wie die Kinder immer gesünder würden. Es schien so einfach zu sein.

Eine relativ grundlegende Versorgung konnten wir schnell in die Tat umsetzen und durch die Verwendung standardisierter klinischer Protokolle war unsere Klinik in der Lage, die Resultate in einigen Bereichen drastisch zu verbessern, beispielsweise die Erhöhung der Impfraten und die Verringerung der Zahl der Krankenhausaufenthalte aufgrund von Asthma. Eine Weile ging es mir also ziemlich gut. Aber dann, während ich Impfstoffe und Inhalationsgeräte verteilte, fing ich an, mich zu fragen: Wenn wir alles richtig machen, warum sehen wir dann keinerlei Hinweis darauf, dass wir die drastisch reduzierte Lebenserwartung in dieser Gemeinschaft spürbar verbessern können? Meine Patienten kamen immer wieder mit erneuten Erkrankungen zurück und ich hatte immer stärker das beklemmende Gefühl, dass auch ihre Kinder, wenn sie dann erst erwachsen wären, immer wieder zurückkommen würden. Trotz der umsichtigen Planung, trotz der guten Versorgung und trotz des Zugangs zu einer Gesundheitsversorgung, die besser war, als die Gemeinschaft seit vielen Jahren erlebt hatte, blieben nennenswerte Verbesserungen aus.

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Nachdem meine medizinische Assistentin Diego und seine Schwes-ter in das Wartezimmer gebracht hatte und Rosa mir einen Teil ihrer Geschichte erzählt hatte, saßen wir beide eine Weile in unsere eigenen Gedanken versunken. Ich konnte nur vermuten, welche Gedanken der Schuld, Sorge und Hoffnung ihr durch den Kopf gingen. Ungeachtet der vielen Gedanken, die uns durch den Kopf schwirrten, zeichnete sich ein hilfloses Lächeln auf unseren Gesichtern ab, als Diego schielend und herumalbernd durch die Tür schlüpfte. Rosa stand auf und ich nahm ihre Größe zur Kenntnis. Sie war eine kräftige Frau, aber nicht besonders klein. Diego dagegen war so klein, dass er noch nicht einmal in die Nähe der Wachstumskurve eines siebenjährigen Jungen kam. Ich erinnere mich, dass ich innerlich das Beurteilungs- und Behandlungsprotokoll für Wachstumsstörungen durchging. Was zu verstehen ist, weil es das ist, was Ärzte tun. Man steht vor einem Problem – anormale Entwicklung oder Krankheit – und versucht, es zu lösen. Aber dieses Mal tauchte eine einfache Frage auf: Was übersehe ich?

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Es gibt ein weithin bekanntes Gleichnis, das alle Studenten gleich am ersten Tag ihrer Ausbildung in der Schule für öffentliches Gesundheitswesen zu hören bekommen. Ende August 1854 kam es in London zu einem schweren Choleraausbruch. Das Epizentrum war die Gegend um die Broad Street im Stadtteil Soho, mit 127 Toten in den ersten drei Tagen und mehr als 500 Toten in der zweiten Septemberwoche. Damals war die vorherrschende Meinung, dass Krankheiten wie die Cholera und die Beulenpest durch ungesunde Luft hervorgerufen wurden. John Snow, ein Londoner Arzt, stand dieser „Miasma-Theorie“ skeptisch gegenüber. Durch die Befragung der Bewohner in der Nachbarschaft der Broad Street war er in der Lage, das Muster der Krankheit zu ermitteln. Die Vorfälle traten konzentriert im Bereich einer öffentlichen Wasserpumpe auf. Als Snow die örtlichen Behörden davon überzeugte, die Pumpe stillzulegen, indem sie den Handgriff der Pumpe entfernten, flaute die Epidemie ab. Damals wollte niemand Snows Hypothese akzeptieren, dass die Krankheit nicht über die Luft, sondern über den weitaus unangenehmeren Weg der Fäkalien verbreitet wurde, aber einige Jahrzehnte später sollte die Wissenschaft ihn einholen und die Miasma-Theorie wurde durch die Keimtheorie ersetzt.

Als angehende Kreuzritter der öffentlichen Gesundheit konzentrierten meine Mitstudenten und ich uns auf den spannenden Teil der Geschichte, den Teil, wo Snow die Miasma-Theorie ins Wanken bringt. Aber ich zog daraus auch eine weitere wichtige Lehre: Wenn 100 Menschen das Wasser aus demselben Brunnen trinken und 89 von ihnen Durchfall bekommen, kann ich ein Antibiotikum nach dem anderen verschreiben oder ich kann innehalten und fragen: „Was zum Teufel ist in diesem Brunnen?“

Ich war im Begriff gewesen, an dem Brunnen vorbeizugehen und Diegos Wachstumsstörung nach medizinischem Standard zu beurteilen, aber diesmal gab es etwas, das mich dazu brachte, diesen Fall anders zu sehen. Vielleicht war es diesmal extrem. Vielleicht hatte ich endlich genug Fälle gesehen, um die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen. Was auch immer der Grund war, ich wurde das bohrende Gefühl nicht los, dass Diegos schreckliches Trauma und seine gesundheitlichen Probleme kein bloßer Zufall waren.

Aber bevor ich in dem Brunnen nach Antworten auf Diegos Problem oder die meiner anderen Patienten suchen konnte, brauchte ich einige weitere Daten. Der erste Schritt in Diegos Fall bestand in der Anordnung einer Untersuchung des Knochenalters, das heißt, einer Röntgenaufnahme des linken Handgelenks, mit der die Skelettreife eines Kindes anhand der Größe und der Form der Knochen bestimmt werden kann. Nachdem ich ihm etwas Blut abgenommen hatte und seine Wachstumskurven von der Klinik, in der er zuvor behandelt worden war, angefordert hatte, gab ich Rosa die Überweisung für die Röntgenaufnahme und entließ meinen neuesten Patienten.

Tage später traf der Bericht des Radiologen ein. Er bestätigte, dass Diegos Skelettreife mit der eines Vierjährigen übereinstimmte. Aber Diegos Blutergebnisse wiesen weder niedrige Werte des Wachstumshormons noch irgendeines anderen Hormons auf, das dafür verantwortlich sein konnte, dass er aufgehört hatte zu wachsen. Einige wichtige Daten hatte ich bereits: Das Trauma war im Alter von vier Jahren passiert und er war seitdem nur noch sehr wenig gewachsen. Außerdem hatte er die Skelettreife eines Vierjährigen. Aber allem Anschein nach war Diego nicht unterernährt und es gab keinerlei Hinweise auf eine Hormonstörung. Es schien keine nachvollziehbare medizinische Erklärung für Diegos Körpergröße zu geben.

Als Nächstes rief ich Dr. Suruchi Bhatia an, eine pädiatrische Endokrinologin am California Pacific Medical Center. Ich schickte ihr den Röntgenbericht und Diegos Blutergebnisse und fragte sie, ob sie es für möglich halten würde, dass der sexuelle Missbrauch eines Vierjährigen bewirken könne, dass das Kind aufhöre zu wachsen.

„Ist Ihnen das überhaupt schon einmal begegnet?“, fragte ich und fasste damit endlich in Worte, was mir die ganze Woche über keine Ruhe gelassen hatte.

„Die weniger einfache Antwort? Ja.“

Oh Mann, das dachte ich. Nun muss ich wirklich herausfinden, was zum Teufel eigentlich los ist.

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Ich musste immer wieder daran denken, wie extrem dieses physische Anzeichen war. Wenn das im „Brunnen“ in Bayview eine Belastung war, hatte Diego eine hohe Dosis davon abbekommen, als hätte er einen ganzen Krug mit choleraverseuchtem Wasser ausgetrunken. Wenn ich herausfinden konnte, was mit Diego auf biochemischer Ebene los war, würde ich vielleicht erfahren, was mit all meinen Patienten vor sich ging. Vielleicht war es sogar der Schlüssel zu dem, was in der Gemeinschaft insgesamt vor sich ging. Ich musste eine Antwort auf vier wichtige Fragen finden: War es die Exposition (Trauma / Kindheitsbelastung) am Boden des Brunnens, die die Menschen krank machte? Wie? Konnte ich es beweisen? Und, noch wichtiger, was konnte ich medizinisch dagegen tun?

Ein unmittelbar auftretendes Problem, um diesem größeren Zusammenhang zwischen Belastung und schlechter Gesundheit auf den Grund zu gehen, bestand darin, dass es bisweilen eine überwältigend große Anzahl von Faktoren zu beachten galt – die unterschiedliche Erziehung meiner Patienten, ihre genetische Veranlagung, ihre Umweltbelastungen und natürlich ihre individuellen Traumata. Mir war bereits klar, dass es nicht so einfach werden würde wie die Bestimmung einer gemeinsamen Wasserquelle und einer bestimmten Bakterienart. Bei Diego hatte der Missbrauch als Katalysator fungiert, der (vermutlich) eine biochemische Kettenreaktion auslöste, die dann zu einem Wachstumsstillstand geführt hat. Aber alle möglichen unkontrollierten Dinge mussten auf hormoneller Ebene und auf Zellebene stattgefunden haben und auch weiterhin stattfinden, damit der Körper derart extrem reagierte. Dies herauszufinden, würde einiges an Arbeit erforderlich machen. Die nächsten Monate meines Lebens zogen an mir vorbei und alles, was ich sah, waren die Datenbank PubMed, Müsliriegel und müde Augen.

An diesem Tag blieb ich bis spätabends in der Klinik und durchforstete Patientenakten nach Mustern, die ich vielleicht übersehen hatte. Schließlich stand ich auf und fing an herumzulaufen. Alle Patienten und Mitarbeiter waren nach Hause gegangen, also konnte ich un-gestört herumwandern. Ich schlenderte durch das Wartezimmer und hielt an, um mir mit einem Lächeln die Mini-Möbel und die bunten, auf den Teppich aufgedruckten Fußabdrücke anzusehen. Diese Dinge erinnerten mich einmal mehr daran, dass meine Patienten normale Kinder waren, ungeachtet dessen, was sie durchgemacht hatten oder durchmachen würden.

In meiner ersten Zeit im CPMC in Laurel Heights gehörte zu meinen Lieblingsaufgaben die Untersuchung von Neugeborenen. Die Untersuchungen der Neugeborenen in Bayview, die ich Jahre später durchführte, sahen nicht anders aus und ich stellte fest, dass ihre kleinen Herzen sich unter meinem Stethoskop genau gleich anhörten. Wenn ich meinen behandschuhten Finger in den Mund eines Säuglings steckte, setzte der gleiche wunderbare Saugreflex ein. Sie alle hatten oben auf ihrem Kopf die gleiche weiche Stelle, dort, wo sich die Schädelknochen noch nicht geschlossen hatten. Diese Babys kamen nicht anders auf die Welt als die, die in Laurel Heights geboren wurden, aber während der Untersuchungen der Neugeborenen in Bayview wusste ich, dass das Leben dieser Kinder der Statistik zufolge um zwölf Jahre kürzer sein würde als das Leben der Kinder in Laurel Heights. Nicht, weil ihre Herzen anders waren, oder weil ihre Nieren anders arbeiteten, sondern weil sich irgendwann in der Zukunft etwas in ihrem Körper verändern würde – etwas, das den Verlauf ihrer Gesundheit für den Rest ihres Lebens verändern würde. Am Anfang sind sie alle gleich, diese wunderschönen Bündel voller Potenzial, und zu wissen, dass sie es nicht immer sein werden, reicht aus, um einem das Herz zu brechen.

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Bevor ich mich auf den Heimweg machte, ging ich in das Untersuchungszimmer, schaltete das Licht ein und betrachtete die auf die Wand gedruckten Tiere – Löwen, Giraffen, Pferde und, seltsamerweise, ein einziger, einsamer Frosch. Mein Blick blieb dort hängen. Vielleicht war es die Tatsache, dass der Frosch so seltsam allein dort war, oder vielleicht war es nur die geheimnisvolle Weise des Gehirns, die Punkte zu verbinden, aber plötzlich erinnerte ich mich an das Hayes-Labor an der University of California, Berkeley. Als ich zwanzig Jahre alt war, habe ich viele Stunden dort verbracht, und Frösche spielten damals eine nicht unerhebliche Rolle. Das Hayes-Labor war ein Amphibien-Forschungslabor, in dem der einzigartige Dr. Tyrone Hayes die Auswirkungen von Corticosteroiden (Stresshormonen) auf Kaulquappen in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung untersuchte. Die Geister meiner vergangenen Forschungsarbeit überschwemmten mein Gehirn und trafen dort auf die Probleme, mit denen ich den ganzen Tag über zu kämpfen gehabt hatte: Alles, was ich während meiner Ausbildung gelernt hatte, sagte mir, dass Belastungen eine soziale Determinante eines schlechten Gesundheitszustands waren. Was aber nie untersucht worden war, war die Frage, wie sie sich auf physiologische oder biologische Mechanismen auswirkten. Es gab keine Forschungsarbeiten, auf die ich zurückgreifen konnte, um besser zu verstehen, wie sich die traumatischen Erfahrungen meiner Patienten auf die biologischen Vorgänge in ihrem Körper und auf ihre Gesundheit auswirken.

Oder vielleicht gab es sie doch.

Wenn ich herausfinden wollte, was mit Diego und all den kleinen Kaulquappen in Bayview los war, musste ich vielleicht an anderen Orten nach Hinweisen suchen.

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Geh zurück, um voranzukommen

WENN ES ZUTRIFFT, dass Eltern die ersten Lehrer eines Kindes sind, sagt die Tatsache, dass mein Vater Professor der Biochemie mit einem Hang zu lehrreichem Chaos war, vermutlich viel über mich aus. In den 80er-Jahren gab es eine Zeit, in der meine Eltern fünf Kinder unter zehn Jahren großzogen und wir ihnen vermutlich keine andere Wahl ließen, als auf kreative Mittel zurückzugreifen. Mein Vater, Dr. Basil Burke, ist ein jamaikanischer Immigrant, dem, wenn ich hier kurz mit meinem Dad prahlen darf, zur Hundertjahrfeier des Institute of Jamaica neben Bob Marley, der sie für seine Musik bekam, die Centennial Medal für Chemie verliehen wurde. Wenn er zu Hause auf meine Kinder aufpasst, weiß ich auch heute nicht, was mich erwartet, wenn ich zurückkomme. Eine geheimnisvolle kreideweiße Substanz, die jeden Zentimeter des Küchenherdes bedeckt? Ein sorgfältig in seine Einzelteile zerlegter Wasserfilter? Drei rohe Garnelen auf der Arbeitsplatte neben drei gekochten Garnelen? Mein Papa ist immer für eine Überraschung gut.

Ich wusste von klein auf, dass er nicht wie andere Väter ist. Als Biochemiker machte er, als wir Kinder waren, aus jedem unserer „Experimente“ eine Chance (ähm, Aufforderung), etwas zu entdecken. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam und meine vier Brüder und mich dabei antraf, wie wir uns mit wildem Entzücken gegenseitig mit spitzen Papierfliegern bewarfen, schrie er uns nicht an, sofort aufzuhören, bevor wir uns die Augen ausstachen. Stattdessen wurde er aktiv, befahl uns, Messungen auf dem Boden vorzunehmen und die Zeit unserer Würfe zu stoppen. Wenn man berechnete, wie lange ein Flugzeug von A nach B brauchte, konnte man seine Fluggeschwindigkeit bestimmen. Und da bekannt war, dass die Schwerkraft bewirkt, dass ein Gegenstand mit einer Beschleunigung von 9,8 Metern pro Sekunde im Quadrat zu Boden fällt, kann man den Auftrieb unter den Flügeln bestimmen und daraus dann den besten Winkel ableiten, mit dem man das Flugzeug werfen muss, um jemanden zu treffen. Im Nachhinein weiß ich, dass diese Art von Intervention im Grunde genommen eine brillante Erziehungsmethode war, weil meine Brüder unweigerlich anfingen zu stöhnen, ihre Waffen fallen ließen und das Weite suchten. Ich konnte jedoch nicht genug davon bekommen. Mein Dad wandte Physik, Chemie und Biologie auf einfach alles an, von der geronnenen Milch im Kühlschrank bis zum Curryfleck auf meiner Bluse, der sich auf mysteriöse Weise von gelb zu dunkelviolett verfärbte, wenn ich ihn mit einem Stück Seife bearbeitete. Während meine Mutter über den Gestank von saurer Milch oder eine ruinierte Bluse nicht allzu erfreut war, lernte ich etwas, das zu einem wesentlichen Bestandteil meiner späteren Weltsicht wurde: Hinter jedem Naturphänomen steckt ein molekularer Mechanismus – man muss ihn nur suchen.

Zehn Jahre später, während meines Praktikums im Hayes-Labor, wurde mir klar, dass ein Großteil dessen, was meinen Vater zu einem großartigen Wissenschaftler werden ließ, die intensive Freude an diesem Prozess war. Ich hatte mittlerweile begriffen, dass Wissenschaft, die man zu seinem Beruf gemacht hat, nicht dasselbe ist wie Sachen in die Luft zu jagen, wenn man ein Kind ist. Eine ganze Menge todlang-weiliger Tätigkeiten wie das Pipettieren und die Eingabe von Daten musste erledigt werden, sodass man leicht den Wald vor lauter Bäumen übersehen konnte. Aber die besten Wissenschaftler übersahen ihn nicht. Sie nutzen ihre Begeisterung und ihren Enthusiasmus als Brücke vom Banalen zur Offenbarung. Wenn man seine Experimente lediglich im Plug-and-Play-Verfahren angeht – entweder sie funktionieren oder sie funktionieren nicht –, verpasst man die Chancen eines glücklichen Zufalls. Gute Wissenschaftler arbeiten Tag für Tag an den Bedingungen für ihre Forschungsarbeit, indem sie Missgeschicke optimal nutzen. Wie der Curryfleck auf meiner Bluse kann ein misslungenes Experiment ein Tor zu einer unerwarteten Wahrheit sein. Als Kind habe ich gesehen, wie das funktioniert, indem ich meinen Dad beobachtete. Als Collegestudentin habe ich es von Dr. Tyrone B. Hayes gelernt.

Dr. Hayes war das genaue Gegenteil eines typischen Berkeley-Professors. Als ich bei ihm gearbeitet habe, war er erst 27 Jahre alt und einer der jüngsten Professoren der naturwissenschaftlichen Fakultät. Er war nicht nur brillant, sondern auch mein einziger afroamerika-nischer Professor an der University of California, und er hatte einen üblen Sinn für Humor und ein ziemlich loses Mundwerk. Niemand nannte ihn Dr. Hayes. Er war einfach nur Tyrone. Dank ihm war unser Labor eines der coolsten im ganzen Gebäude.

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Das Hayes-Labor hatte sich auf die bahnbrechende endokrinologische Forschung mit Amphibien als Versuchstieren spezialisiert, also war natürlich jede freie Stunde in meinem letzten Jahr in Berkeley von Kaulquappen und Kröten bevölkert. Die Forschungsarbeit, an der ich mitarbeitete, sollte sich als eine der wichtigsten Pannen in Hayes‘ Arbeit erweisen. Hayes Experiment begann mit einer Hypothese über die sexuelle Entwicklung von Kröten und sollte Klarheit schaffen über die Auswirkungen verschiedener Arten von Steroidhormonen (Testosteron, Östrogen, Corticosteron) auf die Gonadendifferenzierung – im Grunde genommen, ob Kaulquappen sich zu männlichen oder zu weiblichen erwachsenen Kröten entwickeln würden. Hormone sind die chemischen Botenstoffe eines Organismus. Die Informationen, die sie über die Blutbahn weiterleiten, stimulieren eine Vielzahl biologischer Prozesse. Er setzte die Kaulquappen in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung unterschiedlichen Steroiden aus und stellte zu seiner Überraschung fest, dass diese keinerlei Auswirkungen auf die Gonaden hatten. Viel Zeit und viele Überlegungen wurden in diese Experimente investiert, aber am Ende wurde kein messbarer Unterschied festgestellt. Ein Flop, gelinde gesagt. Aber während ich Gewebeproben dreimal unter dem Mikroskop untersuchte, sah er sich die enttäuschenden Ergebnisse mit kreativem Blick immer wieder an. Er stellte fest, dass sich zwar keines der Steroide auf die sexuelle Entwicklung der Kaulquappen ausgewirkt hatte, einige der Steroide aber das Wachstum und die nachfolgende Metamorphose der Kaulquappen beeinflussten. Die erstaunlichsten Auswirkungen wurden beobachtet, als Hayes den Kaulquappen Corticosteron verabreichte.

Für Hayes war der Einfluss dieses Hormons auf das Wachstum der Kaulquappen so interessant, dass er in Erwägung zog, seinem Experiment eine völlig neue Richtung zu geben. Corticosteron ist ein Stresshormon von Tieren – das Äquivalent beim Menschen ist das Cortisol –, und so schlüpfte Hayes in das Gewand eines Frosches und versuchte, sich eine stressreiche Situation im Leben einer Kaulquappe vorzustellen. Was er sich einfallen ließ, war ziemlich einfach: Ein Teich trocknet immer mehr aus und plötzlich gibt es zu viele Kaulquappen und nicht genug Wasser. Er vermutete, dass eine Stressreaktion in dieser Situation eine erhöhte Anpassung bewirken könnte, was bedeutet, dass die Drüsen der Kaulquappe, wenn diese durch all die anderen rücksichts-losen Kaulquappen und den sinkenden Wasserspiegel hohem Stress ausgesetzt sind, Corticosteron ausschütten würden, was den Prozess der Metamorphose in Gang setzen und ihren Schwanz in Beine verwandeln würde. Jetzt konnte die frisch gebackene Kröte aus dem Teich springen und alle anderen vertrottelten Kaulquappen hinter sich lassen. Bingo! Anpassung.

Das war zumindest die Idee. Es stellte sich heraus, dass Hayes größtenteils richtig lag, aber wie immer, wurde es dort interessant, wo er falschlag. Wenn die zukünftigen Kröten in einem späten Stadium ihrer Entwicklung Corticosteron ausgesetzt waren, beschleunigte das die Metamorphose und ermöglichte es damit den Anpassungsfähigen, rechtzeitig aus dem Teich zu springen. Aber wenn die Kröten dem Steroid in einem frühen Entwicklungsstadium ausgesetzt waren, hemmte das sogar ihr Wachstum. Und es hatte andere unerwartete negative Auswirkungen, wie beispielsweise eine verminderte Immunfunktion, eine reduzierte Lungenfunktion, osmoregulatorische Probleme (Bluthochdruck) sowie eine beeinträchtigte neurologische Entwicklung. Wurden die Kaulquappen über einen längeren Zeitraum Corticosteron ausgesetzt, traten dieselben Probleme auf. Die Stressreaktion der Kaulquappen auf Überbevölkerung bestand nur dann in Anpassung, wenn es in der richtigen Phase ihrer Entwicklung passierte.

Warum wirkte sich die Belastung durch das Stresshormon so negativ auf die jüngeren Kaulquappen aus? Genau da wird es kompliziert. Ein hoher Corticosteronspiegel beeinflusst die Funktion anderer Hormone und Körpersysteme. Für die Kaulquappen brachte eine frühe und anhaltende Belastung durch Corticosteron alle anderen Hormonwerte und biologischen Prozesse aus dem Gleichgewicht. Die Folge war eine mangelnde Anpassung, was bedeutet, dass die Reaktion, anstatt der Kaulquappe dabei zu helfen, zu gedeihen und zu überleben, alles sehr viel schlimmer machte. In der Tat führte eine frühe Belastung nicht nur zu irreversiblen Entwicklungsstörungen, sondern schließlich sogar zum Tod. So kann sich der Corticosteronspiegel beispielsweise auf die Werte der Schilddrüsenhormone auswirken, die den Stoffwechsel regulieren. Im Fall der Kaulquappen schaltete das Corticosteron die Schilddrüsenhormone vollständig aus, weshalb die Kaulquappen nicht wuchsen und sich nicht bis zum Metamorphose-stadium weiterentwickelten. Corticosteron wirkt sich darüber hinaus auf die Produktion der Substanz Surfactant aus, die eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Lungen spielt, da sie die Sauerstoffaufnahme aus der Luft ermöglicht.

Da ich Kurse belegt hatte, die auf das Medizinstudium vorbereiteten, hatte ich in Anatomie und Physiologie gelernt, wie Hormone in einer Art Symphonie bei der Homöostase (das biologische Gleichgewicht des Körpers) zusammenwirken. Aber erst, als ich im Hayes-Labor gearbeitet habe, habe ich es richtig verstanden. Die unglücklichen Frösche dienten als wichtiger Anschauungsunterricht. Wenn die richtige Menge der einzelnen Hormone vorhanden ist, arbeiten sie zusammen, damit der Körper normal funktionieren kann, aber wenn einer dieser Hormonwerte verändert wird, gerät das sensible Zusammenwirken aus dem Gleichgewicht. Diese Art von Hormonstörungen kann direkte und indirekte Auswirkungen haben. So kann sich beispielsweise ein Anstieg der Corticosteroide direkt auf den Blutdruck auswirken, aber er kann auch indirekt das Wachstum und die Entwicklung beeinflussen, indem er verändert, wie andere Hormone ihre Arbeit tun. Wie Hormone sich gegenseitig beeinflussen können und wie kompliziert der menschliche Körper infolgedessen sein kann, ist von enorm großer Bedeutung.

Im Hayes-Labor hat mir außerdem die Pflichtlektion in evolutionärer Stressreaktion, die jedem am ersten Arbeitstag erteilt wurde, die Augen geöffnet. Es ist leicht (mehr oder weniger), sich die Auswirkungen der verschiedenen Hormoninteraktionen im Körper zu merken: wenn A und B, dann C. Wissenschaft im Unterricht ist eine nie enden wollende Abfolge von Ablaufdiagrammen, Infografiken, Formeln und Berechnungen. Das Was des menschlichen Körpers, wenn man so will. Wenn wir die Biologie aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie betrachten, wie Hayes‘ Kaulquappen es uns gelehrt haben, stehen wir vor etwas nicht weniger Wichtigem, dem Warum. Die meisten von uns kamen in das Labor mit einem Verständnis von biologischer Ursache und Wirkung des physiologischen Prozesses im idealen Anpassungszustand. Wir gingen wieder mit einer Faszination für die Entschlüsselung der Ursache und Wirkung in einem alles andere als idealen Zustand der Nichtanpassung.