Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ob das einem intellektuell kräftig Eingeschränkten, aber nicht Dummen, gelingen kann, von der Gesellschaft trotz seiner auch körperlichen Einschränkungen für voll genommen zu werden, will Cem Paul wissen. Darum hat er sich mit seinem Pflegevater gemeinsam daran gemacht, von seinem Leben, seinen Erfolgen und seinen Nöten zu erzählen. Es gibt allerlei Lebenshindernisse aus seiner Sicht zu kritisieren, er möchte aber eigentlich nicht meckern, sondern Anstöße geben für Verbesserungen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 73
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Meine Herkunft
Familienleben
Das Haus im Norden
Kindergartenkind
Erste Schulzeit
Integrative Grundschule
Hauptschulzeit
Meine Zeit in den Werkstätten
Auf zum Neubeginn
Das Medizinische und die Therapien
Meine rechtliche Situation
Weitere Betreuungen
Heil- und Hilfsmittelversorgung
Die Kostenträger und ihre Nutznießer
Meine privaten Beziehungen
Die Betroffenen und die Aktivisten
Mein Name ist Cem Paul. Ich bin mit einem Grad von 80 schwerbehindert und bekam die Merkzeichen „B“, „G“ und „aG“. Genaueres später. Ich habe eine große Menge zu erzählen. Über das, was ich in meinen gut zweiunddreißig bisherigen Lebensjahren erlebt und erreicht habe, über das, was mich ärgert, und über das, was mich freut und sogar glücklich macht.
Selbst aufschreiben kann ich das nicht so gut. Also musste mein Pflegevater mit mir alles zusammenstellen und für mich formulieren, was ich ihm erzähle oder erzählt habe. Überarbeitet haben wir schließlich jeden Satz, sodass ich guten Gewissens behaupten kann: „Das ist meine Geschichte und meine Sicht der Dinge.“ Nur eben in seiner Erzählweise aufgeschrieben.
Die ersten Jahre kenne ich natürlich nur aus Berichten der Erwachsenen meines Umfeldes und aus denen meiner Geschwister. Egal, ich erzähle auch von dieser Zeit. Also los geht’s!
Als ich im November 1991 im Elisabeth-Krankenhaus in Essen/Ruhr geboren wurde, kam ich nicht alleine. Ich hatte einen bei mir. So steht in jedem Arztbericht: „Zwillingsgeborener 1“. Was zumeist nicht drin steht ist, dass wir beide nicht das errechnete Ende dieser zweiten Schwangerschaft unserer Mutter abwarten durften. Weil mein Zwillingsbruder im Mutterleib in Lebensgefahr schwebte – eindeutig diagnostiziert – wurde unsere Geburt vier Wochen zu früh eingeleitet.
Natürlich waren wir beide zu leicht und zumindest wärmebettbedürftig. Aber immerhin ging es meinem Bruder, den unsere Mutter „Cengiz“ nannte, nach erledigtem erstem Bick in die Welt und ordentlichem Gebrüll doch erfreulich gut. Unsere türkischen Vornamen verdanken wir beide der Tatsache, dass unser Erzeuger ein freundlicher türkischer Jüngling war, der jedoch mit dem Zustandekommen unserer knapp drei Jahre älteren Schwester Natascha nichts zu tun hatte.
Die wurde während jener Zeit bei Oma „geparkt“, in der Mama in der Klinik war. Zuerst stationär fast drei Wochen, dann täglich mehrere Stunden, um uns versorgen zu lernen und dem Personal zu helfen. Soweit Mama das in Erinnerung hatte, hat unser Erzeuger uns zweimal in der Neugeborenenstation besucht. Und das, obwohl Cengiz dort sechs Wochen und ich sogar dreizehn Wochen zugebracht haben. Mein Bruder entwickelte sich problemlos, ich jedoch bekam in der Nacht zu meinem einundvierzigsten Lebenstag völlig überraschender Weise ein diffuses Hirnbluten an der Innenwand des äußeren linken Großhirnlappens.
Dies für mein ganzes folgendes Leben bedeutsame Ereignis nennen die Fachärzte „intraventrikuläre Hämorrhagie III. Grades“ mit der blöden Dauerfolge „frühkindliche periventrikuläre Leukomalazie“. Heute weiß ich: als periventrikuläre Leukomalazie bezeichnet man eine Schädigung des Gehirns beim Neugeborenen im Bereich der weißen Substanz um die Hirnventrikel. Ursächlich ist eine Minderentwicklung der Arterien des Gehirns in der Schwangerschaft oder eine Infektion. Beides kann zur Sauerstoffminderversorgung führen und Äderchen platzen lassen (= Hämorrhagie).
Die Folge ist, dass ein ganzer Bereich des Gehirns völlig und auf Dauer ausfällt. Das führt zu Lähmungen und intellektuellen Einschränkungen, im Extremfall zum Verlust der Fähigkeit ganzer Organgruppen. Mir wird gesagt, ich hätte in gewisser Weise Glück gehabt. Zwar bin ich „Triparetiker“, also sind drei Extremitäten gelähmt. Aber immerhin kann ich die linke Hand fast ganz normal nutzen, aber ohne Rollstuhl kann ich mich mit Stützen nur extrem kurze Strecken fortbewegen. Oft lästig für mich ist meine intellektuelle Einschränkung.
Der Kinderneurologe, den wir Kinder „Fischi“ nennen durften, erwartete nach Erstellen eines sorgfältigen Elektroenzephalogramms (EEG), dass ich zahlreiche Krämpfe erleiden müsse. Musste ich aber nicht. Erst im Erwachsenenalter stellten sich verhältnismäßig leichte Krampferscheinungen ein. Davon aber sicher noch später. Jetzt erst mal genug Medizinisches.
Da unsere Mama nicht damit rechnen konnte, dass unser Erzeuger mit ihr zusammenziehen würde, sie aber auch kaum in der Lage war, alleinerziehend zwei einigermaßen normal entwickelte Kleinkinder und ein schwerbehindertes zu versorgen – auch war ihre Wohnung im zweiten Stock und nur über Treppen erreichbar –, teilte sie dem Oberarzt der Station in der Klinik und einigen Schwestern ihre Sorgen mit.
Der Oberarzt setzte alles in Bewegung, eine Lösung für mich zu finden, die unsere Mama entlasten könnte. Aus guter Erfahrung mit einem behinderten Kleinkind, das einige Monate zuvor in eine Pflegefamilie gekommen war, war es sein Plan, auch für mich eine Pflegefamilie zu finden.
Dann im Januar 1992 besuchten genau diese Pflegeeltern wegen und mit diesem Dennis nochmals die ihnen wohlbekannte Neugeborenenstation. Dort zeigten ihnen die Schwestern das vor zwei Monaten geborene Zwillings-Kerlchen Cem, das wie beschrieben eine Behinderung erworben hatte, und für das die Stadt Essen eine Pflegefamilie suchte.
Der Pflegevater war der Vorsitzende im jungen „Bundesverband behinderter Pflegekinder e. V.“ und versprach Hilfe. Dieser Bundesverband brachte schnell nacheinander drei Familien bei, mit denen aber ein Pflegeverhältnis aus je unterschiedlichen Gründen nicht zustande kam. Schließlich beschloss diese Familie selbst, mich aufzunehmen, und beide beteiligten Jugendämter willigten ein.
Meine Pflegemutter erzählte immer gerne: „Wir fuhren mit Michi (einem 1988 geborenen behinderten Pflegesohn) nach Essen, um deine damals allein erziehende Mutter kennenzulernen und sie um ihr Einverständnis zu bitten. Diese Begegnung hat uns alle, sowohl die Sozialarbeiter aus Essen als auch deine Mutter als auch uns, nachhaltig bewegt. Mit Tränen in den Augen entschloss sie sich, uns dich Bürschlein mitzugeben und nun ihre Zwillinge getrennt aufwachsen zu lassen. Noch in derselben Stunde holten wir dich aus der Klinik.“
So kam ich Stadtkind Cem aufs Land, in ein kleines Dreihundert-Seelen-Dorf im Taunus. Dort im Haus lebten außer den Pflegeeltern der knapp zweiundzwanzig Jahre alte, auf seinen Studienplatz wartende Alex, und ein weiterer neunzehnjähriger leiblicher Sohn Steffen, Zivi beim Roten Kreuz, ein auch neunzehnjähriger Pflegesohn, in Ausbildung, und sein vierzehnjähriger leiblicher Bruder, dazu die leicht körperbehinderte siebenjährige Pflegetochter Tamara, der sechsjährige Adoptivsohn Benjamin und die kleinen fast gleichaltrigen schwerbehinderten Pflegesöhne Michael und Dennis.
Nicht vergessen darf ich die Hunde, die mich sofort in ihre zu bewachende Herde einbezogen und sich als brave Familienhunde stets gerne mit uns Kindern beschäftigten. Und wir uns gerne mit ihnen.
Schon die vorstehende Beschreibung zeigt, dass diese Familie ein bisschen außergewöhnlich gestrickt war. Die Pflegemutter, die von allen Kindern „Mutti“ genannt wurde, war vor ihrer Ehe auf leichten Umwegen bis zur Kindergartenleiterin aufgestiegen, aber sofort nach der Geburt ihres ersten Kindes aus dem aktiven Berufsleben ausgeschieden. Als junger beamteter Pfarrer konnte ihr Mann, von allen Kindern „Vati“ genannt, als alleiniger Verdiener die Familie ernähren. Die Kinderschar wuchs sehr schnell und setzte sich schon nach zwei Ehejahren aus zwei leiblichen und einem Adoptivsohn zusammen. Einige Zeit lang waren es drei leibliche und zwei adoptierte Kinder. Dann kam das erste Pflegekind ins Haus. Mutti sagte immer: „So übe ich meinen erlernten Beruf zu Hause aus.“
Als ich in die Familie kam, hatte Vati seine Einsätze als Gemeindepfarrer schon lange gegen den langfristigen Einsatz als Berufsschulpfarrer eingetauscht. Unser Vorteil war, dass seine Arbeitszeit ziemlich geregelt war. Ganz hübsch aufwändig indessen war seine ehrenamtliche Tätigkeit als Vorsitzender des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder, vor Allem, weil nach der „Wende“ unglaublich viele behinderte Kinder aus ehemaligen DDR-Heimen in Pflegefamilien untergebracht werden mussten. 1995 beendete er diese Funktion, was für uns einige Entspannung bedeutete. Trotz seiner Doppelbelastung hatten wir aber immer beide Elternteile verfügbar. Und unsere Eltern konnten sogar ihre Hundezucht gut betreiben.
Ich wurde nach meiner Ankunft ohne Probleme in das Alltagsgeschäft meiner Pflegefamilie eingeordnet. Mutti hatte zwei Familienhelferinnen verfügbar, die ihr zeitraubende Haushaltstätigkeiten durchaus kompetent abnahmen. In von ihnen selbst organisiertem Wechsel war eine von ihnen fast täglich für einige Stunden im Haus.
Noch lange Zeit vor meinen ersten eigenen Erinnerungen gab es allerlei einschneidende Ereignisse.
Mein Erzeuger zog doch mit Mama zusammen und wurde zum Papa für meine leiblichen Geschwister und mich. In unregelmäßigen Abständen besuchten uns die Vier mit Papas altem PKW, und allmählich entwickelte sich ein freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis zwischen meinen beiden Familien. Heute weiß ich, das gibt es nur sehr selten. Deshalb betrachte ich es nach wie vor als ein besonderes Geschenk.
Mein Pflegebruder Dennis verstarb im Sommer 1992, wenige Wochen später schon kam ein neuer schwerbehinderter Pflegebruder ins Haus, Niklas. Der war ein knappes halbes Jahr jünger als ich, blind und stark intellektuell eingeschränkt. Meine Pflegeeltern erfuhren später, dass er gar kein Kleinhirn im Kopf hatte.
Uns drei schwerbehinderte Kinder konnten die erwachsenen Familienmitglieder vorerst noch über die Treppe ins völlig ausgebaute Dachgeschoss tragen, aber mit Michi wurde das allmählich ein Kraftakt. Eine volle Einbeziehung des Obergeschosses musste auf Dauer sichergestellt werden. Im September ließen