Beim zweiten Kuss wird alles besser  - - Nicola Doherty - E-Book

Beim zweiten Kuss wird alles besser - E-Book

Nicola Doherty

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Beschreibung

Ein hinreißender Roman über zweite Chancen, zweite Dates und zweite Küsse …

Zoe Kennedys Leben läuft momentan nicht gerade nach Plan. Von ihrem Job ist sie nicht sonderlich begeistert, von ihrem Freund David zwar umso mehr, der hat sie aber verlassen. Aus guten Gründen, das muss sogar Zoe einsehen, denn besonders nett war sie nicht zu ihm. Eines nachts liegt sie wach in ihrem Bett und wünscht sich nichts mehr, als noch einmal von vorn anfangen zu können. Und dann wacht sie am nächsten Morgen auf und ist fünf Monate in der Zeit zurückgereist. Jetzt hat sie die Chance, alles besser zu machen und die perfekte Freundin zu werden! Aber wie macht man eigentlich alles besser?

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Buch

Zoë Kennedys Leben läuft momentan nicht gerade nach Plan. Sie ist achtundzwanzig und Verkäuferin in London, wäre aber viel lieber Einkäuferin für eine der großen Modeketten. Von ihrem Job ist sie also nicht sonderlich begeistert, von ihrem Freund David, einem jungen Herzchirurgen, aber umso mehr. Doch er nicht mehr von ihr, denn er hat sie verlassen. Aus guten Gründen, das muss sogar Zoë einsehen, denn besonders nett war sie nicht zu ihm. Außerdem hatte er die Gelegenheit, nach New York zu gehen, was er dann auch – ohne sie – getan hat. Eines Nachts, nach einem Mädelsabend voller Tränen und Cocktails, liegt sie wach in ihrem Bett und wünscht sich nichts mehr, als noch einmal von vorn anfangen zu können. Und dann wacht sie am nächsten Morgen auf, liegt in Davids Bett und ist fünf Monate in der Zeit zurückgereist. Jetzt hat sie die Chance, alles besser zu machen, die perfekte Freundin zu werden und ihn nicht noch einmal zu verlieren! Aber wie macht man eigentlich alles besser?

Autorin

Nicola Doherty ist in Dublin aufgewachsen, ihre Ausbildung erhielt sie am Trinity College in Dublin und in Oxford. Sie war zehn Jahre lang im Verlagswesen tätig, erst als Assistentin eines Literaturagenten, dann als Lektorin bei Hodder, zuletzt als Werbetexterin.

Nicola Doherty

Beim zweiten Kusswird alles besser

Roman

Aus dem Englischen vonClaudia Geng

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Die Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel »If I Could Turn Back Time«bei Headline Review, London.

1. AuflageDeutsche Erstausgabe März 2016bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © 2013 by Nicola DohertyCopyright © 2016 für die deutsche Ausgabeby Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, MünchenUmschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.deRedaktion: Margit von CossartLH · Herstellung: samSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-16285-6V001www.blanvalet.de

Prolog

Uuups. Ich habe es schon wieder getan.

Es sollte eigentlich ein beschaulicher Weihnachtsdrink – Singular, nicht Plural – mit Rachel werden, aber stattdessen … Ich halte mir die Augen zu, rolle mich auf die Seite und versuche im Geiste nachzuvollziehen, was passiert ist. Kam dieser Türsteher tatsächlich mit uns in den anderen Nachtclub, oder bilde ich mir das ein? Und sind wir wirklich in eine Rikscha gestiegen? Ich erinnere mich verschwommen, dass Kira Jingle Bells gesungen und der Fahrer ein Rentier gemimt hat. Das Schlimmste war allerdings, dass ich wegen David heulen musste. Dabei habe ich mir nach dem letzten Mal geschworen, dass ich mich nie wieder über David auslasse, wenn ich betrunken bin.

Seltsamerweise fühle ich mich jedoch ganz gut. Ich teste vorsichtig, ob ich einen Kater habe, aber ich bin gesund und munter. Ich habe nicht einmal einen Brummschädel. Anscheinend habe ich ausnahmsweise einmal daran gedacht, einen halben Liter Wasser zu trinken, bevor ich gestern Abend ins Bett gefallen bin.

Gott, hier drinnen ist es so heiß wie in der Sahara. Ich habe wohl die Heizung angelassen. Ich kann mir bereits die Nachricht vorstellen, die Deborah, meine Mitbewohnerin, mir heute schicken wird: Zoë, würdest du in Zukunft bitte die Heizung nachts abstellen? Das ist nämlich sehr teuer. PS: Ist das deine Tasse, die auf dem Sideboard steht? Falls ja, empfehle ich dir, sie zu spülen.

Gähnend taumle ich aus dem Bett, um den Radiator auszuschalten. Seltsam, er ist gar nicht an. Ich beschließe, das Fenster zu öffnen – ein Schwall kalter Luft wird belebend auf mich wirken. Ich ziehe den Vorhang auf, doch statt eines schneebedeckten Vorgartens, einer Puderzuckerhecke und matschiger Gehwege empfangen mich ein strahlend blauer Himmel, eine sonnenbeschienene Straße und grüne Bäume.

Ich schüttle den Kopf und reibe mir die Augen. Ist es möglich, dass der ganze Schnee über Nacht geschmolzen ist? Aber was ist mit den Bäumen und der Sonne? Eine junge Frau schlendert an unserem Haus vorbei, in – ich gehe ganz nah an die Scheibe heran, um genauer hinsehen zu können – einem kurzen roten Sommerkleid. Und ihre Beine sind nackt. Ich keuche auf.

Und dann wird mir bewusst, dass das nicht das Einzige ist, was nicht stimmt.

Ich bin nicht in meinem eigenen Schlafzimmer.

Ich bin in einem Zimmer, von dem ich dachte, ich würde es niemals wieder von innen sehen.

Ich mustere die vertraute Umgebung: ein großer zweitüriger Schrank mit einer ausgeklappten Schreibplatte, die leer ist bis auf einen Kamm, eine Flasche Sonnenmilch und eine Sonnenbrille, ein Doppelbett mit dunkelblauen, weiß paspelierten Bezügen, ein Tennisschläger und ein Stapel alter Ausgaben des British Medical Journal. Ich bin in Davids Zimmer!

Mit Herzklopfen setze ich mich auf das Bett und greife nach der Decke. Sie ist echt. Ich träume nicht. War ich gestern Abend so betrunken, dass ich zu David gegangen bin? Ist es möglich, dass wir uns irgendwie versöhnt haben und ich es verdrängt habe? Oder … Grundgütiger … bin ich etwa hier eingebrochen?

Aber was ist mit dem Wetter los? Eigentlich haben wir Weihnachten, draußen hingegen sieht es aus, als wäre Hochsommer. Und wo zur Hölle sind meine Weihnachtseinkäufe?

Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so verstört. Entweder ich bin richtig schlimm verkatert, oder hier geht etwas total Verrücktes vor sich.

Kapitel 1

23. Dezember, 20.15 Uhr

»Was ist mit dem hier?«, fragt er mich und deutet auf einen anderen Ring. Dieser ist aus Platin und hat einen eingefassten Smaragdstein, nicht groß, aber wunderschön. Ich lächle und will das Schmuckstück gerade anprobieren, als er mich zurückhält. »Darf ich?«, fragt er galant und räuspert sich. Er nimmt den Ring und streift ihn vorsichtig über meinen Finger. »Ich möchte sichergehen, dass ich es richtig mache an unserem großen Tag«, fügt er schüchtern hinzu und lockert seine Krawatte. Er wirkt unglaublich nervös.

»Er ist hinreißend«, sage ich und drehe leicht meine Hand, sodass der Stein das Licht reflektiert. »Ein echter Klassiker. Ich denke, das ist der richtige.«

»Meinen Sie?«, erwidert er mit besorgter Miene. »Ich weiß nicht. Ich kann mir eher den runden Stein bei ihr vorstellen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, den ersten Ring noch einmal anzuprobieren?«

»Keineswegs.«

Geduldig streife ich den Smaragd ab und den Diamant über und halte dem Kunden die Hand hin, damit er den Ring begutachten kann. Er starrt konzentriert darauf, als würde das kostbare Stück geheime Botschaften aussenden, die ihm helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich habe ihm erklärt, dass dies normalerweise nicht meine Abteilung ist und dass er sich vielleicht lieber von unseren Schmuckexperten beraten lassen soll, aber er erwiderte, er habe bereits eine engere Auswahl getroffen und wolle die Ringe nur noch einmal an einer Frauenhand sehen. Ich bin froh, dass ich gestern meine Nägel lackiert habe. Ein Markennagellack ist das Mindeste, was diese Ringe verdienen.

Während ich auf den kahlen Schädel des Kunden schaue, der sich über meine Hand beugt, lasse ich meiner Fantasie freien Lauf. Ich stelle mir vor, dass David derjenige ist, der mir den Ring über den Finger gestreift hat. Ich bin gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und treffe David auf der verschneiten Eingangstreppe an. Er ist von New York herübergeflogen mit dem Ring in seiner Tasche. Oder, nein … Er hat mich nach New York mitgenommen, um dort mit mir die Weihnachtsfeiertage zu verbringen. Wir sind den ganzen Nachmittag bei Tiffany, wo ich lauter Ringe anprobiere, bis wir das perfekte Exemplar finden. Dann fahren wir zu David nach Hause – er hat ein Apartment in der Upper East Side –, wo wir eine Flasche Champagner öffnen und unsere Eltern und ein paar Freunde anrufen. Ich fange an, mir die Reaktionen unserer Freunde auszumalen, beschließe dann aber, mir die Mühe zu sparen. Ich möchte mich auf David konzentrieren. Später kuscheln wir uns zusammen und beobachten den Schnee, der draußen fällt, während im Hintergrund leise Weihnachtsmusik läuft. »Dies hier ist das beste Weihnachtsgeschenk, das ich mir jemals hätte wünschen können«, sagt David und schaut mir tief in die Augen. »Für mich auch«, sage ich und erwidere seinen Blick.

»Das ist wirklich schwierig«, sagt mein Kunde nun. »Ich dachte, es wäre einfacher, wenn ich die Ringe an einer Damenhand sehe, ich bin mir allerdings immer noch nicht sicher, welcher davon meiner Freundin besser gefällt.«

Meine Augen huschen diskret zu der riesigen Art-déco-Uhr hinter ihm an der Wand. Zwanzig nach acht. Wir schließen um neun, und ich muss mich noch um andere Kunden kümmern – einer wartet bereits. Ich spüre, dass Karen, die Kassenaufsicht, mich vom anderen Ende des Verkaufstisches aus beobachtet.

»Haben Sie ein Foto von ihr?«, frage ich den Kunden.

Wahrscheinlich darf ich so etwas gar nicht machen, aber ein Bild von seiner Freundin würde mir eine Vorstellung von ihrem Stil vermitteln.

Der Kunde holt sein Handy hervor und zeigt mir das Foto von einer dunkelhaarigen jungen Frau, die in die Kamera lacht. Schwarze Bikerjacke, roter Totenkopfschal von Alexander McQueen.

»Der Smaragd«, sage ich. »Definitiv der Smaragd.«

Fünf Minuten später marschiert der Kunde glücklich davon, in der Hand das in leuchtend pinkfarbenes Seidenpapier eingeschlagene Samtkästchen. Ich schaue ihm hinterher und stelle mir vor, wie seine Freundin das Geschenk zur Bescherung öffnet.

Nachdem ich mich zu diesem Tagtraum habe hinreißen lassen, fühle ich mich noch schlechter, weil das nämlich nie passieren wird. Hauptsächlich deshalb nicht, weil David und ich uns vor drei Monaten und neunzehn Tagen getrennt haben.

»Zoë, würden Sie bitte die Theke aufräumen? Schnell.«

Karen steht jetzt direkt hinter mir, sie atmet mir praktisch in den Nacken. Heute ist sie besonders pingelig, weil jetzt in der Vorweihnachtszeit viele Leute aus der Zentrale hier sind, um im Verkauf auszuhelfen, und Karen möchte natürlich einen guten Eindruck machen. Auf der anderen Seite des Ganges, in der Mützen-, Schal- und Handschuhabteilung, steht Julia, unsere Chefeinkäuferin für Damenbekleidung, und selbst Mr. Marley, unser geheimnisvoller Geschäftsinhaber, soll angeblich persönlich an der Confiserietheke bedienen.

»Haben Sie für Weihnachten etwas Nettes geplant, Karen?«, frage ich, räume die Theke auf und lege neues seidenes Einschlagpapier unter der Kasse bereit.

»Nur das Übliche«, antwortet sie knapp. »Wie kommen Sie zurecht, Schätzchen?«, fragt sie dann. »Meine Güte, das ist hier der helle Wahnsinn, nicht?«

Ich bin überrascht von ihrer plötzlichen Anteilnahme, aber dann sehe ich, dass sie nicht mit mir gesprochen hat, sondern mit Louis, dem Chefeinkäufer für Herrenbekleidung, der gerade an unserer Theke vorbeikommt. Die beiden fangen an zu plaudern. Kurz darauf wirft Karen einen kurzen Blick auf mich, und beide senken ihre Stimmen. Früher hat mich diese Art Verhalten wahnsinnig gemacht, weil ich annahm, dass über mich getuschelt wurde, heute weiß ich, dass es nur allgemeiner Tratsch ist.

Während die beiden weiter miteinander flüstern, bediene ich den Kunden, der schon eine Weile wartet, und gönne mir dann eine kurze Pause. Ich streife meine Schuhe ab, um Beine und Füße kurz zu dehnen. Obwohl ich inzwischen jeden Tag flache Schuhe bei der Arbeit trage (was ich von mir nie gedacht hätte), habe ich Angst, Krampfadern zu bekommen.

Der Laden ist brechend voll mit Kunden, die noch schnell ihre Last-Minute-Geschenke besorgen wollen und bepackt sind mit Kartons und Einkaufstüten. Es herrscht eine Atmosphäre zwischen guter Laune und Hektik. Die Leute lächeln und plaudern miteinander, tauschen sich über ihre Anschaffungen aus. Es ist, als würden wir alle hinter der Bühne stehen und uns gemeinsam auf eine große Show vorbereiten. Have yourself a merry little Christmas ertönt aus den Lautsprechern, und die Miniaturtanne auf meiner Theke, geschmückt mit kleinen Orangen, die mit Gewürznelken gespickt sind, verbreitet einen köstlichen Duft.

Ich liebe Weihnachten, und zwar alles daran: meine Eltern in Dublin zu besuchen, gemütlich auf der Couch zu sitzen und mir alte Schwarz-Weiß-Filme im Fernsehen anzuschauen, zur Mitternachtsmesse in die Kathedrale zu gehen, um vier Uhr nachmittags Baileys zu trinken und alles zu essen, worauf ich Lust habe. Ich liebe dieses Gefühl, dass der normale Alltag vorübergehend aufgehoben ist und jeden Moment etwas Wundervolles passieren kann.

Allerdings werde ich in diesem Jahr Weihnachten nicht zu meinen Eltern fliegen. Ich muss nämlich an Heiligabend und am St. Stephen’s Day beziehungsweise Boxing Day, wie er hier in England genannt wird, arbeiten. Meine Eltern sind nicht begeistert (»Was für eine Art von Job erlaubt es dir nicht, an Weihnachten nach Hause zu kommen?«), und ich fühle mich schuldig deswegen. Aber wie ich ihnen erklärte, ist man mit achtundzwanzig mehr als alt genug, um Weihnachten ohne seine Eltern zu feiern.

»Hi, Zoë«, sagt jemand neben mir. »Wie läuft’s?«

Es ist Harriet, meine Kollegin aus der Damenbekleidung – sehr jung und sehr süß und mit Abstand die netteste Person, mit der ich zusammenarbeite.

»Hey! Bist du jetzt auch hier? Ich dachte, du wärst drüben bei den Schreibwaren.«

»Nein, Karen hat mir gesagt, dass ich mit ihr tauschen soll. Sie ist jetzt bei den Schreibwaren.«

»Jemand aus dem Einkauf hilft dort drüben aus, richtig?«

»Ja«, sagt Harriet und schaut verwirrt drein. »Was tut das zur Sache?«

»Na ja, Karen pflegt gern ihre Kontakte nach oben.«

»Ach sooo«, sagt Harriet, während sich auf ihrem runden, hübschen Gesicht langsam Erkenntnis breitmacht.

Harriet ist eigentlich ein schlaues Mädchen – sie studiert –, aber sie bekommt nicht immer mit, was hier intern abgeht. Sie kann sich glücklich schätzen.

Plötzlich entdecke ich an der Theke gegenüber eine meiner ehemaligen Erzfeindinnen aus der Schule, Kerry-Jane Murphy. O Gott. Sie ist bestimmt für einen Weihnachtsbummel aus Dublin herübergekommen. Sie trägt eine ärmellose Steppweste über einem Rollkragenpullover aus Kaschmir und Schaffellohrenschützer um den Hals. An ihren Händen, die in Lederhandschuhen stecken, baumeln Einkaufstüten von Jo Malone, Petit Bateau und Liberty. Ihr Haar ist noch blonder als früher, ihr Gesicht ist mit Selbstbräuner zugekleistert, und ich glaube, sie hatte eine Baby-Botox-Behandlung. Ich drehe mich schnell weg und halte verzweifelt nach Kundschaft Ausschau, aber zum ersten Mal an diesem Tag ist gerade nichts los. Ich starre stirnrunzelnd auf die Registrierkasse, während ich so tue, als wäre ich mit etwas beschäftigt, das große Konzentration erfordert, und bete, dass Kerry-Jane weitergeht, ohne mich wahrzunehmen.

»Zoë Kennedy?«

Beim Klang ihres unverkennbaren South-Dublin-County-Akzents hebe ich den Kopf und heuchle Begeisterung sowie Erstaunen.

»Kerry-Jane! Hi!«

»O mein Gott!«, sagt sie, nur dass es in ihrem seltsamen Dialekt wie »U moin Goad!« klingt. »Du … arbeitest hier?«

»Ja, ganz richtig«, erwidere ich fröhlich. »Normalerweise arbeite ich in der Damenabteilung, momentan helfe ich hier unten aus, weil so viel Betrieb ist.«

»Aber … was ist passiert? Ich dachte, du arbeitest bei Accenture.« Sie sagt das in einem Ton, als würde ich auf der Straße betteln.

»Ich habe die Firma im Januar verlassen …«

»Ooh.« Sie nickt. »Hat man dich …« Sie macht eine Geste, als würde sie sich die Kehle aufschlitzen, was vermutlich für das Wort »entlassen« stehen soll.

»Nein, ich habe selbst gekündigt. Ich wollte unbedingt in die Modebranche …«

Sie zuckt zurück. »Und dann bist du hier gelandet? Im Verkauf?«

Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich selbst im freien Fall auf dem polierten Marmorboden im Verkauf aufschlagen.

»Vorerst ja. Ich hoffe, dass ich das als Sprungbrett für …«

»Ich meine, versteh mich nicht falsch, das Marley ist ein schönes Kaufhaus. Ich hätte bloß nie gedacht, dass ich dich einmal an der Kasse antreffen würde, weißt du? Du warst immer so ehrgeizig.« Sie kichert. »Hey, hast du schon gehört, Sinead Devlin hat ihr eigenes Accessoirelabel gegründet. Die Leute sind ganz verrückt nach ihren Sachen. Harvey Nichols will ihre Kollektion in sein Sortiment aufnehmen, und auch die Vogue hat schon darüber berichtet. Sinead war auf unserem letzten Klassentreffen. Warum bist du nicht gekommen?«

Um Leuten wie dir aus dem Weg zu gehen? Wenn ich von all denen, die mir von Sinead Devlins Erfolg berichtet haben, ein englisches Pfund bekommen hätte, dann wäre ich jetzt … nun, dann hätte ich jetzt ein hübsches Sümmchen beisammen. Tatsächlich habe ich versucht, mit Sinead in Kontakt zu treten, aber sie hat sich nie zurückgemeldet.

»Oh, ich war verhindert. Wie geht es dir eigentlich? Suchst du etwas Spezielles?«

»Mir geht es bombig! Kein Grund zur Klage. Ich mache nach wie vor PR und betreue überwiegend Luxusmarken. Und – wahrscheinlich hast du es schon gehört – Ronan hat mir einen Heiratsantrag gemacht.« Sie streift ihren linken Handschuh ab und zeigt mir einen protzigen Klunker in einer Pavé-Fassung. »Die Hochzeit ist nächstes Jahr im Juli, in der Nähe von Avignon. Das ist in Südfrankreich. Weißt du was? Warum kommst du nicht zu unserer Afterparty? Ein Flug nach Avignon kostet nicht die Welt. Vielleicht lernst du dort ja deinen Traummann kennen … Oder hast du gerade eine feste Beziehung?« Ihre braunen Knopfaugen leuchten gespannt auf – sie weiß, dass ich Nein sagen werde.

»Äh … nein. Ich war bis vor Kurzem mit jemandem zusammen, es hat nicht funktioniert.« Warum erzähle ich ihr das?

»Oooh«, sagt sie mit falschem Mitgefühl. »Es ist bestimmt schwer für dich, Männer kennenzulernen, solange du hier arbeitest, stimmt’s? Hör zu, ich würde ja gern noch länger mit dir plaudern, aber ich muss weiter. Ich will unbedingt noch zu L’Occitane, um ein Geschenk für Ronans Mom zu kaufen. Pass auf dich auf, okay? Ich hoffe, dass alles so läuft, wie du es dir wünschst.«

Damit streckt sie die Hand über die Theke, um meinen Kopf zu tätscheln – wirklich, sie tätschelt meinen Kopf –, und rauscht dann in einer Chanel-Wolke davon. Ich bin noch sprachlos, als sie einen Augenblick später wieder auftaucht, um eine letzte spitze Bemerkung abzuschießen.

»Sorry, Zoë, wo finde ich hier die Hermès-Abteilung? Ronan braucht eine neue Krawatte.«

Mit einem zuckersüßen Lächeln zeige ich in die falsche Richtung.

Was für ein Miststück! Der Sinn meines Umzugs nach London bestand darin, Leute wie Kerry-Jane hinter mir zu lassen und in Ruhe eine neue Karriere zu starten, um dann zwei Jahre später mit Glanz und Gloria in die Heimat zurückzukehren, als Chefeinkäuferin für ein renommiertes Modehaus oder mit einer eigenen Boutique. Nun wird diese Zimtzicke Gott und der Welt erzählen, dass Zoë Kennedy bei Marley an der Kasse arbeitet. Tja, na und? Ich hatte Glück, dass ich diesen Job hier bekommen habe, und es gibt zahlreiche Aufstiegsmöglichkeiten, selbst wenn sich noch nichts Konkretes ergeben hat. Wie kann Kerry-Jane es sich überhaupt noch leisten, zum Shoppen mal eben nach London zu fliegen? Ich dachte, in Irland wären alle pleite. Eine Hermès-Krawatte, dass ich nicht lache. Wahrscheinlich will sie nur die Preise der Schlüsselanhänger vergleichen.

Ich habe Kerry-Jane seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr gesehen, und mir wird bewusst, dass sie mich an irgendjemanden erinnert. An jemanden, den ich sehr, sehr unsympathisch finde … An wen nur? Oh, natürlich: an Jenny. Das ist eins der Dinge, die ich am meisten bedaure. Ich hätte niemals so eifersüchtig auf Davids beste Freundin sein dürfen.

»Verzeihung? Verzeihung?«

Ich zucke schuldbewusst zusammen, als ich die alte Dame vor mir wahrnehme, die sich auf einen Gehstock stützt und darauf wartet, von mir bedient zu werden. Sie ist so klein, dass ich sie beinahe übersehen hätte. Sie ist wahrscheinlich schon über achtzig, hat silberblau getöntes Haar und trägt eine große eckige Brille.

»Entschuldigung, dass ich Sie habe warten lassen. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Oh, nicht der Rede wert. Ich suche Manschettenknöpfe für meinen Patensohn«, sagt sie mit zittriger Stimme. Sie braucht ziemlich lange, um ihre Sätze zu Ende zu bringen, sodass ich mich bereits frage, ob sie einen Schlaganfall erlitten hat.

»Sicher. Haben Sie an etwas Bestimmtes gedacht?«

Es dauert eine Weile, um ihr Einkaufsbudget zu ermitteln und die richtige Auswahl zu treffen, aber schließlich entscheidet sie sich für zwei hübsche quadratische Manschettenknöpfe aus Silber, die ich als Geschenk einpacke. Sie bezahlt in bar aus einem abgegriffenen kleinen Portemonnaie, das mit Blumen bestickt ist. Es ist so altmodisch, dass es mir irgendwie das Herz bricht. Die knotigen Hände der alten Dame zittern ein wenig, als sie das Geschenketui in ihre laminierte Einkaufstasche steckt. Es juckt mir in den Fingern, ihr zu helfen, aber ich schaffe es, mich zu beherrschen – vielleicht möchte sie keine Hilfe. Als sie fertig ist, hebt sie den Kopf und schenkt mir ein unerwartet süßes Lächeln.

»Vielen Dank, meine Liebe«, sagt sie. »Frohe Weihnachten.«

»Das wünsche ich Ihnen auch«, erwidere ich mit einem warmen »Ich habe eine Kundin glücklich gemacht«-Gefühl, das mich Kerry-Jane vergessen lässt. Es ist mir egal, wenn die Leute behaupten, einkaufen mache nicht glücklich – ich weiß, dass das Gegenteil der Fall ist. Als ich die Theke aufräume, bemerke ich das kleine bestickte Portemonnaie, die Kundin hat es vergessen.

»O nein!«

»Was ist?«, fragt Harriet.

»Die Kundin hat ihr Portemonnaie liegen lassen. Ich laufe ihr rasch nach, okay?«

»Okay«, erwidert Harriet vertrauensvoll.

Offensichtlich hat sie vergessen, dass wir unsere Kasse nicht verlassen dürfen, ganz zu schweigen von dem Laden selbst, außer im Gebäude bricht ein Feuer aus oder so, und selbst dann würden wir wahrscheinlich noch Karen um Erlaubnis fragen müssen. Aber ich werde mich beeilen.

»Ich bin gleich zurück.« Ich schnappe mir das Portemonnaie und renne durch den Laden, vorbei an der Kosmetikabteilung und den Accessoires, vorbei an den Taschen und Schals, vorbei an dem uniformierten Türsteher und der großen Blumendekoration im Eingangsbereich. Draußen bleibe ich kurz stehen und schaue nach links und nach rechts.

Ich kann die alte Dame nirgendwo entdecken. Es ist natürlich längst dunkel, und auf der Regent Street drängeln sich die Menschen, strömen in die Geschäfte hinein und wieder heraus, betrachten die hell erleuchteten Schaufenster oder bummeln einfach nur umher und blicken staunend zur Weihnachtsbeleuchtung hoch, die an illuminierte Halsketten erinnert und die gesamte Straße säumt. Auf der Straße und auf den Gehwegen liegt Schnee, und ich trage nur einen dünnen, kurzärmligen Angorapullover (schwarz, wie Marley es vorschreibt, aber mit einem Schlüssellochausschnitt hinten). Es ist bitterkalt, dennoch gebe ich nicht auf. Die alte Dame kann noch nicht weit gekommen sein. Ich tippe, dass sie eher in Richtung Piccadilly Circus gegangen ist als in Richtung Oxford Circus. Ich drängle mich an jemandem in einem Weihnachtsmannkostüm vorbei, um besser sehen zu können, und entdecke prompt eine kleine Gestalt, die sich quälend langsam auf dem Gehweg voranbewegt. Rasch sprinte ich los, im Zickzack durch die Menschenmassen.

»Entschuldigung!«, rufe ich keuchend, als ich die Kundin schließlich eingeholt habe. »Verzeihung?« Sie hört mich nicht, also muss ich sie überholen. »Hallo! Sie haben Ihre Geldbörse vergessen …«

»Ach, du meine Güte. Wie dumm von mir. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ohne mein Portemonnaie wäre ich verloren.«

Sie nimmt die Geldbörse und verstaut sie sorgfältig in ihrer Einkaufstasche, während ich bibbernd meine Arme reibe. Wir stehen mitten in der Menschenmenge, direkt neben einem Röstkastanienstand. Von dem Duft läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte in der Mittagspause gerade einmal Zeit, ein halbes Sandwich hinunterzuschlingen.

»Es überrascht mich nicht, dass der Service bei Marley so gut ist. Das ist nämlich ein ganz besonderes Kaufhaus«, sagt die alte Dame. »Vor allem die Schaufenster. Früher sagte man immer …« Nein. Echt jetzt? Will sie wirklich hier herumstehen und sich in Erinnerungen ergehen? Spürt sie nicht die Kälte? Nachdem mir kurz vom Rennen warm geworden ist, fühle ich mich nun, als würde ich von eisigen Messerklingen attackiert. Ein Typ von der Wohlfahrt sieht aus, als wollte er uns ansprechen, überlegt es sich dann aber anders. »… und wenn man sich in der vierten Adventswoche vor das Schaufenster stellt und einen Wunsch ausspricht, wird er in Erfüllung gehen.«

»Ist das nicht reizend«, sage ich, ohne richtig zuzuhören.

Die Menschenmenge wogt an uns vorüber, eine Frau, die mit Einkaufstüten bepackt ist, zwängt sich an uns vorbei und wirft meine neue Freundin beinahe um. Ich strecke rasch meine Hand aus, um die alte Dame zu stützen.

»Diese vielen Menschen sind ganz schön beängstigend«, sagt sie mit erschrockener Miene.

»Soll ich Ihnen ein Taxi besorgen?«

»Oh, ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten.«

»Sie bereiten mir keine Umstände.« Als es mir schließlich gelingt, ein Black Cab heranzuwinken, haben meine Zähne angefangen zu klappern. Ich helfe der Frau in den Wagen und wiederhole ihre Adresse für den Fahrer.

»Frohe Weihnachten!« Ich winke ihr durch das Fenster zu.

»Frohe Weihnachten«, erwidert sie und hebt ihre zittrige Hand. »Und vergessen Sie nicht, sich etwas zu wünschen.«

Ich eile zurück in den Laden, in der Hoffnung, nicht zu lange weg gewesen zu sein. Eins der Mädchen aus der Parfümabteilung, das mein Namensschild übersieht, kommt auf mich zugeschossen und sprüht mich mit einem blumigen Duft ein, bevor ich es verhindern kann.

An meinem Verkaufstisch laufe ich Karen direkt in die Arme.

»Soso, Zoë, Sie haben also beschlossen, sich eine kleine Pause zu gönnen und ein bisschen frische Luft zu schnappen?«

Karen trägt ein starres Lächeln im Gesicht, damit die Kunden denken, dass wir einen netten kleinen Plausch führen, aber ich weiß es besser.

»Tut mir leid.« Ich mache mir nicht die Mühe, die Sache zu erklären.

»Sie wissen, dass Sie Ihren Arbeitsplatz auf keinen Fall verlassen dürfen. Unter keinen Umständen. Und haben Sie vergessen, dass Sie Geschäftseigentum im Wert von mehreren tausend Pfund um den Hals tragen?« Meine Hand wandert zu dem Diamantanhänger auf meinem Dekolleté. Die Kette hatte ich tatsächlich vergessen. »Ich hätte erwartet«, fährt Karen fort, »dass jemand, der früher mal einen hohen Posten als Management Consultant hatte, sich ein bisschen professioneller verhält und nicht einfach davonläuft …«

Ich nicke und versuche, ein angemessen bedauerndes Gesicht zu machen, bis es vorbei ist. Ich wünschte, Karen würde mir ihre Predigt nicht mitten im Laden halten. Trotz ihres manischen Grinsens müssen wir auf die Kunden wirklich merkwürdig wirken.

Als Karen mich endlich hinter meine Theke zurückgehen lässt, sieht mich die arme Harriet ganz zerknirscht an. »Es tut mir so leid, Zoë«, sagt sie. »Ich habe versucht, dich zu vertreten, aber es hat nicht funktioniert. War Karen sehr sauer?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ja, sie hat mir ordentlich die Meinung gegeigt. Keine Sorge, es war nicht deine Schuld.«

»Die Meinung gegeigt?« Harriet macht ein verwirrtes Gesicht.

»Das ist nur so ein Ausdruck. Das bedeutet, dass sie mich zur Minna gemacht hat.«

»Zur Minna?«

Während ich versuche, ihr zu erklären, dass »zur Minna machen« gleichbedeutend ist mit »scharf rügen«, denke ich: Karen hatte recht. Mein Verhalten war wirklich impulsiv und dumm. Genau so habe ich mich David gegenüber verhalten … Aber bevor ich anfangen kann, mich wieder hineinzusteigern, stürze ich mich in die Arbeit, fest entschlossen, meine Vorgabe bis zum Geschäftsschluss zu erfüllen.

Als ich das Gebäude verlasse, nehme ich mir einen Moment Zeit, um die Schaufenster zu betrachten. Obwohl ich jeden Tag daran vorbeikomme, bergen sie für mich immer noch einen wahren Zauber. Jedes präsentiert ein üppiges, fabelhaftes Kaleidoskop an schönen Dingen: Schuhe und Gläser und Teller und Armbanduhren, Handschuhe und Schals, goldene Christbaumkugeln und Silberglöckchen. Auf der Gebäudeseite zur Regent Street sind die Märchenlandschaften aufgebaut. Mein Lieblingsmotiv ist das Schneewittchenschaufenster, in dem die Hexe ein bodenlanges schwarzes Armani-Kleid trägt und der Jäger einen grauen Glencheckanzug. Auf der Gebäudeseite, die nach Soho führt, zeigen wir die vier Jahreszeiten.

Mein Favorit ist der Sommer. Die Szene stellt einen Mann und eine Frau dar. Er trägt ein weißes Poloshirt und eine verwaschene Jeans (Ralph Lauren) sowie einen Picknickkorb voller Delikatessen aus unserer Lebensmittelabteilung. Sie trägt ein langes weißes Kleid von Theyskens’ Theory und einen großen dunkelblauen Schlapphut. Sie stehen auf einem grünen Rasen vor einer umwerfenden gemalten Kulisse – blühende Bäume, ein tiefgrüner See und ein strahlend blauer Himmel mit ein paar wenigen weißen Schäfchenwolken. Das Paar sieht hinreißend aus, es ist der perfekte Sommertag, und der Park wirkt paradiesisch.

Mir ist bewusst, dass es verrückt ist, aber die männliche Schaufensterpuppe erinnert mich an David. Sie hat dieselbe selbstbewusste Haltung und sieht die weibliche Puppe so an, wie David mich früher angesehen hat. Ich spüre, dass mir die Tränen kommen, und ich zwinkere sie rasch wieder weg.

Was macht David wohl gerade? In New York ist es jetzt kurz nach vier nachmittags – wahrscheinlich ist er im Krankenhaus und operiert oder macht Visite oder hält Sprechstunde. Manhattan muss sehr weihnachtlich sein. Ich stelle mir vor, wie David die Fifth Avenue entlanggeht, voll bepackt bis unter beide Arme, oder vor Macy’s steht und dem Weihnachtsmann von der Heilsarmee einen Dollar in die Hand drückt, bevor er sich wieder der gertenschlanken Schönheit/Krankenschwester an seiner Seite zuwendet und ihr einen Weihnachtskuss gibt.

Um mich abzulenken, denke ich an meine Eltern, die früher, als ich noch ein Kind war, immer mit mir zu Brown Thomas in die Grafton Street gegangen sind, um die Schaufenster dort zu betrachten. Ich war jedes Mal völlig überwältigt: von all den Spielsachen und der Dekoration und besonders von den beweglichen Figuren. »Hat Santa das alles gemacht?«, fragte ich meinen Dad. Er erklärte mir, dass Santas Elfen zwar ein bisschen mitgeholfen haben, aber dass die meisten Spielsachen von normalen Menschen hergestellt worden seien. »Wie die Puppenhäuser von deinem Dad oder die Spielplatzgeräte, die seine Firma baut«, fügte meine Mutter hinzu. »Wenn du Santa nett bittest, kannst du alles, was in diesem Schaufenster steht, haben«, sagte Dad, Mum ignorierend, die ihm zweifellos hinterher den Marsch geblasen hat, weil er mir so eine Idee in den Kopf gesetzt hatte.

Das erinnert mich an die Worte der alten Dame über Wünsche und wie man sie in Erfüllung gehen lassen kann. Natürlich ist das Quatsch, aus einem Impuls heraus schließe ich dennoch kurz die Augen und murmle ganz leise: »Ich wünsche mir, dass ich David zurückbekomme.«

Dann öffne ich die Augen wieder und verdrehe sie vor meinem Spiegelbild in der Scheibe. Wie idiotisch. Ich setze mich in Bewegung und gehe zügig die Beak Street entlang, froh darüber, dass niemand mich gesehen hat.

Kapitel 2

Ich bin mit Rachel in der Nähe der Old Compton Street verabredet, in einer seltsamen kleinen Kneipe, über die wir vor ein paar Wochen zufällig gestolpert sind. An der Decke baumeln weiße Lichterketten, alle Lampen und beide Kamine sind mit Lametta geschmückt, Nat King Cole singt Chestnuts roasting on an open fire, und das Personal trägt Weihnachtsmannkostüme und Rentiergeweihe. Es ist, als wäre man in der Hütte des Weihnachtsmanns oder als wäre man in dem Zimmer einer besonders eifrigen Weihnachtselfe.

Das Lokal ist brechend voll mit Einkaufstouristen und Büroangestellten, aber ich entdecke Rachel schließlich in einer Ecke. Ein paar Männer, die in ihrer Nähe stehen, mustern ihre langen Beine und ihre schlanke Gestalt in dem Rollkragenpullover und dem schwarzem Bleistiftrock. Rachel bekommt davon nichts mit. Ihr glatter dunkler Schopf ist über ihr Blackberry gebeugt, während ihre Daumen über die Tastatur fliegen. Gleich darauf sehe ich, dass zwei Frauen aufstehen und sich zum Gehen wenden. Ich stürze mich auf die freien Plätze und winke Rachel hektisch zu, bis sie auf mich aufmerksam wird und zu mir herüberkommt.

»Du bist ein Schatz«, sagt sie, umarmt mich kurz und nimmt dann neben mir Platz. »Auf dich ist halt immer Verlass, wenn man eine Sitzgelegenheit braucht.«

»Wie herrlich, mal die Beine zu entlasten …« Mit einem Seufzen strecke ich meine Beine aus, bevor ich mich aus meiner feuchten Wildlederjacke schüttle.

»Du hörst dich an wie meine Mutter«, sagt Rachel und grinst.

»Ich weiß. Oooh, hübsches Oberteil.«

»Danke. Hab ich heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit bei Gap gekauft. Ich bin in den letzten zwei Wochen nicht dazu gekommen, meine Wäsche zu waschen, was ich meinem reizenden Arbeitgeber zu verdanken habe.«

Sie verdreht die Augen zum Himmel. Ich lächle. Rachel kann mir nichts vormachen. Sie mag sich darüber beklagen, dass sie ihre Seele an eine Wirtschaftskanzlei verkauft hat, aber ich weiß, dass sie ihren Job liebt. Ich befühle ihren Ärmel.

»Darf ich? Mm, schön weich. Merino-Kaschmir-Mix?«

Ein leichtes Gefühl der Genugtuung überkommt mich, als Rachel nickt. Ich lerne in meinem Job dazu. Vor einem Jahr hätte ich das nicht gewusst.

»Und? Gibt es irgendwas Neues in deinem aktuellen Fall?« Der Fall klingt nicht besonders spannend – es geht um einen Eigentümerstreit über jede Menge Öltanker, ausgerechnet Öltanker! –, für Rachel ist es dennoch eine große Sache.

»Nun … wir haben es heute erst erfahren. Wir haben gewonnen!«

»O mein Gott! Gratuliere! Warte, ich besorge uns was zu trinken, damit wir darauf anstoßen können!«

»Nicht nötig. Dieses Zeug hier nennt sich White Christmas«, sagt Rachel und gießt mir aus einer Edelstahlkanne einen sehr gefährlich und gleichzeitig köstlich aussehenden, cremigen Cocktail ein. »Gott weiß, was da alles drin ist, aber es kommt gut.«

»Danke. Prost! Also, was heißt das jetzt für dich?«

»Na ja, das heißt hauptsächlich, dass ich den einen Kanzleipartner nun auf meiner Seite habe. Denke ich. Was gut für mich ist, um eines Tages Seniorpartnerin zu werden.« Sie grinst über beide Ohren, und ich freue mich sehr für sie, obwohl ich gleichzeitig ein bisschen neidisch bin. Rachel hat in ihrer beruflichen Laufbahn wirklich kluge Entscheidungen getroffen – im Gegensatz zu mir. Sie wollte Anwältin werden, also studierte sie Jura. Ich dagegen wollte in der Modebranche arbeiten, studierte aber Betriebswirtschaft und Französisch, weil das sicherer zu sein schien, und landete danach in einem ungeliebten Job, bevor ich mich schließlich im zarten Alter von siebenundzwanzig zu einem Karrierewechsel entschied. Und nun bin ich fast dreißig und trage immer noch ein Namensschild. Was für ein Mist. Ich nippe wieder an meinem Cocktail. »Freust du dich darauf, Weihnachten mit Kira zu feiern?«

Ich nicke. Rachel weiß, dass ich ein verwöhntes Einzelkind bin und dass es für mich etwas Neues ist, Weihnachten nicht bei meinen Eltern zu sein. Zum Glück bin ich woanders eingeladen: Ich werde mit meiner australischen Freundin Kira und ihren sechs Mitbewohnerinnen, die sich ein großes Haus nahe der Westbourne Grove teilen, feiern. Kira plant, einen großen Festtagsbraten zuzubereiten, und wir werden uns die Zeit mit Filmen und Trinkspielen vertreiben.

»Kira hatte eine richtig schlimme Grippe. Ich hoffe, es geht ihr wieder besser«, sage ich.

»Eine Grippe hält die doch nicht auf. Kira ist die unerschrockenste Person, der ich jemals begegnet bin, abgesehen von dir«, erwidert Rachel.

»Ich fühle mich in letzter Zeit gar nicht mehr so unerschrocken.« Ich erzähle Rachel von meiner Begegnung mit Kerry-Jane im Laden. »Sie hat mich gefragt, warum ich nicht zu unserem letzten Klassentreffen gekommen bin.«

»Mein letztes Klassentreffen war sehr seltsam«, sagt Rachel. »Alle sind verheiratet und haben zwei oder drei Kinder. Ich kam mir vor wie ein Freak. Eine hat sogar vier Kinder, kannst du dir das vorstellen?«

»Nein.«

Ich kann kaum auf mich selbst aufpassen, geschweige denn auf ein Baby. Ich höre die ersten Takte von Last Christmas. Noch nie habe ich darauf geachtet, welche Stücke an Weihnachten laufen, aber in diesem Jahr wird das Lied rauf und runter gespielt, und jedes Mal wenn ich es höre, muss ich an David denken. Ich versuche, mich zusammenzureißen, und richte meine Aufmerksamkeit auf das, was Rachel gerade sagt.

»Habe ich dir schon erzählt, dass ich im kommenden Jahr einen Fall in Manchester übernehmen werde? Es geht um einen großen Versicherungsbetrug. Tatsächlich ist die Sache ziemlich interessant, weil …« Sie unterbricht sich und sieht mich stirnrunzelnd an. »Warum guckst du so traurig?«

»Tu ich das? War mir nicht bewusst. Es ist nur …«

»Was?«

»David …«

»O Gott. Was ist mit David? Hast du was von ihm gehört?«

»Nein. David … hat seine Ausbildung in Manchester gemacht.« Plötzlich zerknautscht sich mein Gesicht, und ich schlucke Tränen. »Tut mir leid.« Ich fühle mich so erbärmlich. Ich habe mir geschworen, heute Abend nicht wieder von David anzufangen, geschweige denn in Tränen auszubrechen nach nicht einmal einem Glas.

»Zoë, du musst aufhören, dich wegen David so zu quälen. Es ist vorbei. Lass endlich los.«

»Ich weiß. Trotzdem muss ich immer daran denken, dass ich genau jetzt in diesem Moment bei David in New York sein könnte, wenn ich bloß ein paar Dinge anders gemacht hätte.«

»Na schön. Betrachten wir die Sache mal rein praktisch. Du hättest dort drüben nicht arbeiten dürfen ohne ein Arbeitsvisum. Und wenn du eines bekommen hättest … Es wäre ein großes Opfer für dich gewesen, alles aufzugeben für jemanden, den du noch nicht mal ein Jahr kennst. Außerdem hast du immer gesagt, du möchtest nur zwei Jahre in London bleiben und dann nach Dublin zurückgehen, oder? Wie passt New York da hinein? Und was hätten deine Eltern dazu gesagt?«

»Ich hätte mir schon was einfallen lassen. Ich hätte bei jeder Boutique und jedem Modegeschäft in New York angeklopft, bis ich einen Job gefunden hätte, legal oder illegal. Außerdem dauert Davids Praktikum nur ein Jahr, und er selbst hat auch davon gesprochen, dass er nach Irland zurückkehren möchte. Es hätte so perfekt sein können …« Meine Stimme bricht, und ich stütze den Kopf in meine Hände.

Rachel tätschelt meine Schulter. »Ich weiß, es ist hart. Glaub mir, ich weiß das. Aber so spielt das Leben«, sagt sie sanft. »Solche Dinge passieren nun einmal, man muss sie einfach akzeptieren.«

Ich hebe den Kopf. »Ich glaube das nicht. Ich habe das noch nie geglaubt. Ich denke, das Leben ist das, was man daraus macht.«

»So denkst du, ja, es gibt dennoch Grenzen. Nimm einfach mal Jay und mich als Beispiel«, erwidert sie. »Es ist nicht leicht, ihm jeden Tag in der Kanzlei zu begegnen. Ich wünschte, ich hätte mich nie auf ihn eingelassen. Das war die allerschlechteste Entscheidung des Jahres. Es ist leider passiert, und ich kann es nicht ändern.«

»Ernsthaft?« Rachel war – verständlicherweise – fuchsteufelswild gewesen, als sie dahinterkam, dass Jay eine heimliche Freundin hatte. Aber mir war nicht bewusst, wie sehr es sie getroffen hatte. »War das wirklich deine schlechteste Entscheidung in diesem Jahr?«

Sie nickt. »Das beziehungsweise dass ich mich in diesem Fitnessstudio angemeldet habe. Ich habe acht Trainingseinheiten bezahlt und war nur einmal da.«

Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Ich war Rachel keine große Hilfe, als die Sache mit Jay im September aufgeflogen ist. Rachel ist sonst immer so organisiert und souverän – sie besitzt sogar ein eigenes Apartment. Und sie zieht immer richtige Überflieger an: Banker oder Anwälte, alle gut aussehend, alle mit einem gewissen Glamour. Entweder sie haben einen Pilotenschein oder leben das halbe Jahr in Hongkong oder sind halb russisch und halb schwedisch oder so. Allerdings gehen Rachels Beziehungen nie lange gut. Ich verstehe das nicht.

»Hattest du mit Jay eigentlich noch mal privaten Kontakt?«, frage ich neugierig.

»Na ja … Versprichst du mir, dass du nicht lachst?«

»Ich tue mein Bestes.«

»Ich habe seinen Bart gesponsert für dieses Gesundheits-Charity-Dingsda, für das er sich jedes Jahr engagiert. Du weißt doch, die Jungs lassen sich Bärte wachsen und so, um Aufmerksamkeit zu erregen beim Spendensammeln für die Prostatakrebsforschung.« Sie sieht mich an, und wir fangen beide an zu lachen. »Ich weiß, ich weiß. Ich hatte einen schwachen Moment.« Sie stöhnt auf und legt den Kopf in ihre Hände.

»Was hat er dazu gesagt?«

»Ich bekam eine automatische Antwort. ›Jay und seine Mitstreiter bedanken sich für deine Spende!‹ Es war ein Weckruf.«

»Weißt du, Oliver und ich sind immer noch Facebook-Freunde. Er findet dich wirklich gut.«

Oliver ist Chirurg, ein wirklich liebenswürdiger Kerl und ein Freund von David. Er und Rachel haben sich mal an einem feuchtfröhlichen Abend geküsst, aber es entwickelte sich nichts daraus, zu seiner großen Enttäuschung.

Rachel verzieht das Gesicht. »Er ist zu nett.«

»Was meinst du mit zu nett? Ihr zwei habt euch doch ständig gestritten.« Jedes Mal wenn Rachel und Oliver sich begegnet sind, haben sie sich in eine hitzige Debatte über Themen wie Politik oder die Fuchsjagd oder die Frage, ob Frauen bei einer Heirat ihren Mädchennamen behalten sollten oder nicht, hineingesteigert.

Rachel zuckt mit den Achseln. »Er ist einfach nicht mein Typ. Und er ist so riesig … Ich möchte nicht gemein sein, aber es ist irgendwie unnormal, wie groß er ist. Außerdem hat er Segelohren.«

»Dafür kann er doch nichts. Er ist so ein lieber Kerl, und er hat total von dir geschwärmt. Warum gibst du ihm nicht einfach eine Chance?«

»Also gut. Lass uns einen Pakt schließen. Dein guter Vorsatz für das neue Jahr lautet: Du wirst über David hinwegkommen. Und sollte ich Oliver jemals wieder begegnen, werde ich ihm eine Chance geben. Abgemacht?«

»Abgemacht. Und jetzt hol ich uns Champagner, zur Feier des Tages!«

Ich winke Rachels Protest ab, gehe an die Bar und bestelle zwei Gläser Champagner. Es ist nicht gut, auf Cocktails Champagner zu trinken, aber was soll’s. Wir müssen schließlich auf Sachels Rieg anstoßen. Äh … Ich meine, auf Rachels Sieg. Ich bin ein bisschen beschwipst. Ich nehme die Champagnergläser und trage sie vorsichtig an unseren Tisch.

»Hallo, Ladys!«, sagt jemand hinter uns.

Ich drehe mich um. Es ist Kira, eingemummelt in einen bodenlangen schwarzen Steppmantel und einen dicken weißen Schal. Ihr kurzes blondes Haar lugt unter einer Mütze hervor. Kiras hübsches Gesicht sieht blass aus. Tatsächlich macht sie einen elenden Eindruck.

»Kira!«, rufe ich und umarme sie. »Wie geht es dir?«

»Ich fühle mich wieder einigermaßen wie ein Mensch«, antwortet sie. Sie setzt sich zu uns und schält sich aus ihrem Mantel wie eine Raupe aus ihrem Kokon. »Sorry, dass ich hier einfach so reinplatze … Ich musste mal raus.« Sie stößt ein rasselndes Husten aus. »Das ist der Winter«, fügt sie wehleidig hinzu. »Ich habe immer noch nicht genügend Abwehrkräfte aufgebaut.«

»Du bist eben ein Tropengewächs«, sagt Rachel. »Darfst du überhaupt schon wieder raus?«

»Vermutlich nicht, aber ganz ehrlich, wenn ich mir noch eine weitere Folge von Der Trödeltrupp ansehe, muss ich kotzen. Ich war nah dran, diesen einen Typen scharf zu finden.« Kira arbeitet als Trainerin in einem Fitnessstudio bei mir um die Ecke. Ich besuche ihre Kurse für Zumba und Bodypump, und im Laufe der Zeit haben wir uns angefreundet. Kira war großartig, als David mir den Laufpass gegeben hat. Sie hat mich von der Couch gezogen und gegen meinen Willen rausgeschleift. Wir haben ein paar wirklich lustige Abende miteinander verbracht. »Hey, wo hast du dein zweites Ich gelassen? Kommt es heute Abend nicht?«, fragt Kira mich.

Rachel fängt an zu lachen, während ich Kira stirnrunzelnd ansehe. »Harriet ist nicht mein zweites Ich. Sei nicht so gemein.«

»War bloß ein Scherz! Harriet ist ein nettes Mädchen. Kopiert sie immer noch deine Outfits?«

»Nein … Ich hab sie gebeten, es sein zu lassen.«

Tatsächlich habe ich deswegen immer noch ein schlechtes Gewissen. Ich habe Harriet eines Tages angesprochen, nachdem sie sich die gleichen grünen Schlangenlederballerinas zugelegt hatte wie ich, und sie war am Boden zerstört.

»Also, wo findet die Party statt?«, fragt Kira und reibt sich die Hände.

Sie und Rachel sehen mich an. Obwohl ich erst seit einem Jahr in London wohne, bin ich irgendwie zur Spezialistin für Partys, Bars und Clubs geworden – auch für die Leute, die schon länger hier leben. Was mich nicht wirklich stört. Einerseits würde ich jetzt am liebsten nach Hause gehen und im Bett Pralinen futtern, andererseits ist dies hier das letzte Mal, dass ich Rachel sehe, bevor sie über Weihnachten zu ihren Eltern nach Kildare fliegt. Ein bisschen werde ich noch durchhalten.

Vier Stunden später falle ich aus dem Taxi, voll wie eine Haubitze. Autsch. Wie konnte das passieren? Wir haben in Ruhe was getrunken, und dann kamen wir mit diesen Jungs ins Gespräch, und dann fing Kira an, mit einem von ihnen herumzuknutschen, und dann sind wir alle gemeinsam irgendwo anders hingegangen. Während das Taxi davontuckert, schaue ich zum Himmel hoch, der kalt und fern und voller Sterne ist. Dabei muss ich an diesen Zeichentrickfilm mit den Mäusen denken, in dem der kleine Mäusejunge In der Ferne singt. David ist auch da draußen in der Ferne. Ich stolpere die verschneite Eingangstreppe hoch und lasse versehentlich die Haustür zuknallen. Jetzt habe ich sicher Deborah geweckt, aber das ist Pech. Gleich darauf klettere ich in mein Bett, falle betrunken in den Schlaf und träume, dass David und ich zwei Mäuse in New York sind.

Und dann werde ich in Davids Apartment wach – in seinem Schlafzimmer.

Kapitel 3

Ich blicke mich um und sauge jedes vertraute Detail in mich auf: die weißen Wände, die abstrakten Kunstdrucke, den geschmackvollen hellen Teppich. Davids kostbarer Tennisschläger ist da, also muss sein Besitzer noch hier wohnen. Ist das möglich? Mir kommt die verrückte Idee, dass David nur so getan hat, als würde er nach New York gehen, und sich hier in Maida Vale versteckt gehalten hat, nur um Ruhe vor mir zu haben.

Ich muss ihn unbedingt sehen – falls er sich in London aufhält – und herausfinden, was zum Teufel hier los ist. Meine Hand zittert so stark, dass ich mehrere Anläufe benötige, um die Tür zu öffnen. Ich gehe nach oben in die Küche. Sie ist leer, allerdings hängt Kaffeeduft in der Luft, und in der Spüle steht eine benutzte Tasse. David muss noch hier wohnen.

Aber das kann nicht sein. David wohnt hier nicht mehr.

Was, wenn ich betäubt wurde oder entführt? Was, wenn Davids Nachmieter ein Foto von mir gesehen oder … – ich überspringe die Details – … und beschlossen hat, mich aufzuspüren, zu betäuben und hierherzuverschleppen?

Ich schnappe mir instinktiv ein großes Messer aus dem Abtropfständer neben der Spüle und umklammere fest den Griff. Sicherheitshalber. Ich stehe mit vorgehaltenem Messer auf dem oberen Treppenabsatz und drehe mich nach links und nach rechts, als ich hinter mir ein Geräusch höre. Ich fahre ruckartig herum und sehe einen fremden Mann vor mir, der gerade splitternackt aus dem Bad kommt.

»Uaaaaaaah!«, schreie ich. »Hilfe!« Ich fuchtle mit dem Messer vor dem Kerl herum.

»Hey! Warte! Es ist alles okay!«, ruft er.

Er streckt mir besänftigend seine Hände entgegen, was mich nur noch lauter brüllen lässt. Mit einem Mal scheint ihm bewusst zu werden, dass er nackt ist, und er stürmt zurück ins Bad, um gleich darauf wieder aufzutauchen, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Er ist sehr groß und sehr dünn – sein Bauch wölbt sich praktisch nach innen.

»Bleib, wo du bist!«, kreische ich. »Ich hab schon die Polizei gerufen!« Ich weiß nicht, wo ich das plötzlich herhole, aber ich bin sehr zufrieden mit meiner Geistesgegenwart. »Wenn du näher kommst, schreie ich das ganze Haus zusammen und schneide dir deine Eier ab!« Ich halte das Messer auf eine bedrohliche Art hoch.

»Zoë! Hör auf!«

Ich erstarre mit offenem Mund.

»Ich bin Max, Davids Freund. Wir sind uns schon mal begegnet. Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«

Ich lasse das Messer sinken und starre ihn an. Groß, dichter rötlich brauner Haarschopf, braune Augen unter breiten dunklen Brauen. Ich erinnere mich nun wieder, sehr vage. Irgendein Abend in einem Pub. Der Kerl ist Arzt – nein, Wissenschaftler. Irgendein Studienfreund von David oder so. Aber offenbar war er damals bekleidet.

»Hat David dir nicht gesagt, dass ich auf seiner Couch übernachte?« Max bindet das Handtuch fester um seine Hüften und streckt mir wieder beschwörend seine Hände entgegen. »Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich dachte, du wärst bereits weg. Deshalb der … äh … FKK-Look.«

»Wo ist David?«, frage ich mit heiserer Stimme.

Max sieht mich ausdruckslos an. »Er ist vor einer Weile zur Arbeit gegangen.«

Das ist zu viel. »Er war hier? Und er ist wieder gegangen? Warum? Kommt er zurück? Was ist hier eigentlich los?«

Max starrt mich mit eigenartigem Blick an. »Zoë«, sagt er, »mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Warum kommst du nicht kurz ins Wohnzimmer, setzt dich auf die Couch und atmest ein paarmal tief durch? Und wenn du dich wieder ein bisschen gefangen hast, mache ich dir einen Tee, und dann können wir David anrufen. Ich glaub, ich hab dir einen Schock verpasst.« Er nimmt mir das Messer ab, sanft, aber bestimmt. Ich lasse mich von ihm zur Wohnzimmercouch führen und lasse mich hineinfallen. Mein Atem geht sehr schnell und flach.

»Hat dir die Theateraufführung gestern Abend gefallen?«, fragt Max.

»Ich war nicht im Theater! Ich war mit Rachel und Kira aus.« Oder nicht? Was zum Teufel passiert hier gerade?

»Ach wirklich?« Max grinst. »Na ja, jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass David hier in London ist. Ich dachte, ihr beide wärt gestern Abend in Hamlet gewesen. Ich kann mich natürlich auch täuschen. Ich hab gestern ziemlich viel gebechert, deshalb bin ich wahrscheinlich nicht der verlässlichste Zeuge.« Er beginnt, mir seinen Abend zu schildern, drei Pubs, ein Nachtclub und zum Schluss eine Afterparty mit einer Flasche Champagner, die noch in irgendjemandes Kühlschrank stand von Weihnachten 2007.

»Wir hatten Mühe, den Korken rauszubekommen, also blieb uns nichts anderes übrig, als den Flaschenkopf abzuschlagen. Dann hatten wir aber so viel Schiss wegen potenzieller Glassplitter, dass wir den Schampus durch ein Halstuch gefiltert haben«, erklärt er.

Ich überlege. Ich war tatsächlich mit David in Hamlet. Nur ist das Monate her. Es war im Sommer.

Ich kann sehen, dass der Himmel blau ist und die Bäume grüne Blätter tragen. Es ist warm und sonnig – ein Sommertag. Max hat eine gesunde Bräune.

»Welcher Tag ist heute?«, frage ich langsam.

»Donnerstag«, antwortet Max und schenkt mir erneut einen eigenartigen Blick.

»Donnerstag der Wievielte?«

»Äh … der … 22. Juli.«

Ich schüttle den Kopf. »Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein! O Gott, o Gott, o Gott!« Meine Atmung gerät nun total außer Kontrolle, ich fange an zu hyperventilieren und mit den Händen zu wedeln. Max wühlt hektisch herum, bis er eine Papiertüte findet. Ich stülpe sie mir rasch über den Mund und atme hinein.

»Das ist ein Trick, oder?«, keuche ich. »Du hast die Fenster präpariert. Mit einer Art Filter oder … einer Leinwand.«

Max schüttelt den Kopf. »Kein Trick.«

Ich beschließe, mich zu kneifen, um zu sehen, ob es hilft. Nicht wirklich, es tut nur weh. Und dann – keine Ahnung, was mich dazu veranlasst – beuge ich mich zu Max und zwicke ihn auch, nur um zu sehen, was passiert. Er brüllt empört auf und schlägt meine Hand weg. Er ist also wenigstens real.

»Hey! Lass das!« Er packt mich an den Schultern und sieht mir in die Augen. »Entspann dich. Atme ruhig durch. Hör zu, du hast einen Schock erlitten. Vielleicht eine Art Gedächtnisverlust oder so, ich weiß es nicht genau. Aber ich verspreche dir, alles wird wieder gut. Okay? Sieh mich an. Alles wird gut.«

Ich starre in seine ruhigen braunen Augen, und mir wird bewusst, dass er recht hat. Ich muss versuchen, mich zu beruhigen, oder zumindest so tun als ob. Ich atme ein paarmal tief durch, und Max löst langsam seine Hände von meinen Schultern.

»Tut mir leid«, sage ich. »Ich bin nicht verrückt. Ehrlich, ich fühle mich gut. Ich bin nur … Liegt hier irgendwo die Zeitung von heute? Ich würde gern einen Blick auf das Datum werfen. Wir haben doch 2010, richtig?«

Max zieht seine Augenbrauen hoch. »Ich lese keine Zeitung, aber …«

Er nimmt ein uraltes Handy mit einem gerissenen Display vom Couchtisch und hält es mir vor die Nase. Donnerstag, 22.07.2010. Während ich ungläubig auf das Handy starre, steht er auf, um den Wasserkocher anzustellen.

»Kommst du kurz allein klar? Ich will mich nur rasch anziehen«, sagt er. »Bin gleich wieder da.«

»Ja. Ja, ich komm klar.«

Er verschwindet, und ich atme erneut tief ein und aus. Ich spüre, dass meine Panik wieder hochkommt. Was, wenn ich zwinkere und mich plötzlich in … keine Ahnung … in der Wikingerzeit wiederfinde? Oder im alten Ägypten? Wie lange wird das hier so bleiben? Bin ich jetzt für immer zurück? Ich überlege, wen ich anrufen beziehungsweise um Hilfe fragen kann. Ich schätze, ich könnte mich an die Hotline des nationalen Gesundheitsdienstes wenden. »Hi, ich glaube, ich bin in die Vergangenheit gereist. Nein, nicht gravierend, nur sechs Monate. Was würden Sie mir empfehlen?«

»Nimmst du Milch oder Zucker?«

Max erscheint wieder auf der Bildfläche. Er trägt eine scheußliche ausgebeulte Jeans und ein verwaschenes lilafarbenes T-Shirt mit der Aufschrift: MAN OR ASTRO-MAN? Da er Davids Freund ist, hätte ich erwartet, dass er sich eher wie David kleidet – elegant, adrett –, aber er wirkt ziemlich gammelig. Nicht auf eine hipstermäßige Art, sondern auf eine »Ich hab mich im Dunkeln angezogen«-Art. Er hat mit einem Handtuch sein Haar trockengerubbelt, das jetzt ganz verstrubbelt ist.

»Nur Milch. Danke.«

Ich beobachte, wie er die Küchenschränke und den Kühlschrank durchsucht. Seine Arme und Beine sind sehr lang – er muss sich kaum strecken, um an das oberste Regal zu kommen. Ich frage mich, ob Harriet ihn sympathisch finden würde – sie steht auf große Männer. Dann muss ich laut lachen. Ich bin in die Vergangenheit gereist, oder ich habe meinen Verstand verloren, und trotzdem finde ich noch die Zeit, Leute miteinander zu verkuppeln.

ENDE DER LESEPROBE