BELIEVE - Siyanda heißt, wir wachsen - Sarina Grace Scott - E-Book

BELIEVE - Siyanda heißt, wir wachsen E-Book

Sarina Grace Scott

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Beschreibung

Eine Geschichte über eine Liebe, die stärker ist als der Tod, über die Macht der Träume und das, was man sehen kann, wenn man es sehen will – für alle Leser*innen von Cecilia Ahern & Guillaume Musso "›Danny ist tot, Kay!‹ ›Ja, verdammt, das weiß ich!‹ Sie reißt ihre Hand aus seiner und rutscht von ihrem Barhocker. ›Aber er ist trotzdem hier!‹" Danny stirbt mit nur vierundzwanzig Jahren bei einem Autounfall im südafrikanischen Busch. Er beobachtet den Kampf der Ärzte und die Verzweiflung seiner Verlobten, aber er kann nichts tun, denn er ist nicht mehr da. Ein Fremder holt ihn ab und bringt ihn an einen anderen Ort, denn das Leben ist nicht vorbei, wenn man stirbt – es geht weiter. Nur anders. Nachdem sie ihre große Liebe bei einem Autounfall verloren hat, kehrt die schwangere Kayleen Dannys Heimat Südafrika den Rücken und zieht nach London zu ihrem Vater. Weil sie sich ihm so ganz besonders nah fühlt, fängt sie an, Danny Briefe zu schreiben; manchmal hat sie sogar das Gefühl, ihn zu sehen, aber das glaubt ihr natürlich niemand. Marc hat Danny nie verziehen, dass dieser Kayleen bekommen hat – und doch fühlt er sich ohne seinen kleinen Bruder verloren. Dann verlässt Kayleen auch noch Südafrika, und Marc bleibt allein zurück. Erst als die quirlige Johanna in seinem Leben auftaucht, kann er wieder an die Zukunft glauben.

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Seitenzahl: 478

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Impressum ePUB

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Cornelia Franke

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: PNGTree

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Die Türen – Motto

Widmung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Epilog

Danksagung

 

Träumen heißt, hinter den Horizont zu blicken.

Afrikanisches Sprichwort

 

Diese Geschichte ist für alle, die daran glauben …… und für mich.

Kapitel Eins

Danny

Dunkelheit. Monotones Piepen. Mein Körper fühlt sich schwer an, meine Glieder sind steif und mein Kopf dröhnt. Was ist passiert? Wo bin ich hier? Bin ich allein? Unfähig mich zu bewegen, scheint mein Brustkorb mit jedem Atemzug enger zu werden und ich bin nicht in der Lage, zu sprechen, deshalb lausche ich angestrengt in den Raum. Das Piepen lässt nicht nach, seine Regelmäßigkeit erstickt jedes andere Geräusch. Warum verdammt noch mal ist es hier so dunkel? Meine Lider flattern, den kläglichen Versuch, die Augen zu öffnen, muss ich trotzdem aufgeben und zähle stattdessen die Sekunden zwischen den Tönen. Eins. Piep. Zwei. Piep. Drei. Piep. Leer. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Alles, was mich und meinen Körper beherrscht, sind diese schrecklichen Schmerzen. Und das Piepen. Vier. Piep. Fünf. Piep.

»Danny?«

Sechs. Piep. Sieben …

Moment, da ist eine Stimme? Ist jemand hier?

Acht. Piep. Neun. Piep.

»Danny?«

Zehn. Piep.

Da war sie wieder, und jetzt spüre ich einen leichten Druck auf meiner Hand.

»Danny, kannst du mich hören?«

Der Druck wird fester und hinter dem dunklen Vorhang meiner Lider wird es langsam heller.

»Danny?«

Es ist eine weibliche Stimme, die ängstlich und erschöpft klingt. Mit einem quietschenden Geräusch wird ein Stuhl geschoben, und der Druck auf meiner Hand lässt nach. Nein. Nicht weggehen. Ich blinzele angestrengt. Die einzige Lichtquelle im Raum ist eine schwache Lampe neben dem Bett.

»Kannst du mich hören?«, fragt die Stimme, und sanfte Finger streicheln über meine Wange. Sie sind eiskalt. Der Schleier vor meinen Augen bleibt. Mein Mund ist eine Wüste und meine Zunge klebt mir am Gaumen, deshalb versuche ich zu schlucken und benetze meine Lippen.

»Kay?« Meine Stimme klingt anders. So entfernt und angespannt.

»Ich bin hier«, flüstert sie mit einem erleichterten Seufzen und ihre zitternden Finger berühren wieder mein Gesicht. Nach und nach erkenne ich ihre zerzausten, blonden Haare und das wunderschöne, aber müde und verzweifelte Lächeln auf ihren Lippen.

»Ich …«, meine Stimme kratzt wie Sandpapier auf Holz und bricht dann ab, deshalb schlucke ich wieder, trotzdem bleibt mein Mund so ausgetrocknet wie der Crocodile River im Hochsommer.

»Ich hole dir etwas zu trinken.« Auf einmal erscheint mir das Piepen, das ich in den letzten Minuten erfolgreich verdrängt habe, wieder schrecklich laut. Piep. Eins. Piep. Zwei. Piep. Drei. Erschöpft schließe ich die Augen. Piep. Vier. Piep. Fünf.

 

In Gedanken sehe ich Kayleen am Strand vor mir. Ihre langen blonden Haare gleiten in sanften Wellen über ihre Schultern und ihre gebräunte Haut schimmert seidig in der Sonne. Sie riecht nach einer Mischung aus Sonnencreme und Salzwasser, ihre Augen sind wie ein tiefer See aus Schokolade. Ich höre das Gurgeln des Wassers, das sich wieder zurückzieht und das Kreischen der Möwen. Der Wind spielt mit ihren Haaren …

 

»Da bin ich wieder.« Ihre Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und sie greift vorsichtig nach meiner Hand. Piep. Eins. Piep. Zwei. Das Bild meiner schönen Freundin am Strand verschwindet und vor mir sitzt die erschöpft aussehende Kayleen. Bleich und mit Schrammen im Gesicht.

»Hier, bitte.« Behutsam schiebt sie mir einen Strohhalm zwischen die Lippen. Die kühle Flüssigkeit tut gut und meine Zunge fühlt sich nicht mehr so schwer an. Ich hebe den Blick, damit ich in ihre Augen sehen kann, und öffne den Mund. Kayleen nimmt den Strohhalm heraus und stellt das Glas neben dem Bett ab. Eine Welle der Erleichterung durchfährt meinen schmerzenden Körper.

»Was ist passiert?«, frage ich mit rauer Stimme.

Kayleen streichelt vorsichtig über meine Wange. »Wir hatten einen Unfall.«

Ich versuche, den Kopf zu drehen, aber jeder Millimeter an Bewegung tut höllisch weh.

»Du musst ruhig liegen bleiben, Danny«, haucht sie leise, aber bestimmt. Der Versuch eines Grinsens verstärkt die Schmerzen nur, deshalb lasse ich es bleiben und ein erschöpftes Stöhnen verlässt meine Kehle.

»Mein Kopf.«

»Ich weiß.«

»Was ist …« Das Sprechen fällt mir unheimlich schwer, deshalb benetze ich wieder meine Lippen. »… mit dir?«

»Es geht mir gut«, antwortet sie mit einem zuversichtlichen Lächeln und ich suche nach ihrem Blick. »Und dem Baby geht es auch gut«, fügt sie hinzu. Ein Glück. Eine tonnenschwere Last fällt mir von den Schultern und endlich spüre ich etwas Kraft in meiner Hand, damit ich ihre vorsichtig drücken kann.

»Es ist dein Baby, Danny.« Kayleens Mundwinkel wandern nach oben und es bilden sich wunderschöne Grübchen in ihren Wangen. »Es ist ein Dickkopf.« Sanft erwidert sie die Berührung, bevor sie ihren Kopf neben mir auf die Matratze sinken lässt.

»Ich liebe dich, Kay«, flüstere ich dicht an ihrem Ohr. Ich würde sie gerne an mich ziehen. Sie umarmen und küssen, stattdessen liege ich nur hier und halte ihre Hand.

»Ich liebe dich auch«, wispert sie erschöpft.

»Küss mich, Baby«, fordere ich mit überraschend fester Stimme und sie hebt den Kopf wieder an. Himmel, sie ist so schön. Eine Träne der Erleichterung löst sich aus ihren dichten Wimpern und kullert über ihre blasse Wange, meine Hand ist schwer wie Blei, aber ich schaffe es, sie anzuheben, um die salzige Flüssigkeit fortzuwischen. Vorsichtig legt sie ihre Lippen auf meine. Sanft. Ihre Zunge stupst in meinen Mund. Zärtlich. Ich schließe die Augen, um diesen Kuss zu genießen, als wäre es der Letzte. Liebevoll. Kayleen löst sich viel zu schnell von mir.

»Du solltest dich ausruhen, Danny.«

Ich bin müde, meine Glieder schmerzen, der Kopf dröhnt, als würde er fast zerbersten, und das monotone Piepen ist auch noch da. Piep. Eins. Piep. Zwei. Piep. Drei. Auf einmal habe ich schreckliche Angst, sie zu verlieren. Sie nie mehr wiederzusehen, deshalb suche ich wieder ihren Blick und drücke vorsichtig ihre Hand.

»Bleibst du bei mir?«

»Natürlich.« Sie lächelt. Diesmal optimistisch, weil alles gut werden wird. Kayleen lässt ihren Kopf auf die Matratze sinken und streicht mit den Fingerspitzen über meine Haut. »Ich bin bei dir.«

Wie schön sie ist. Zärtlich schiebe ich eine Strähne ihrer blonden Haare hinter ihr Ohr. Kayleen lächelt im Schlaf und kräuselt die Nase. Ihr Atem ist gleichmäßig und entspannt. Sie wacht nicht auf, obwohl das Piepen der Monitore zunimmt. Und schneller wird. Es kommt mir auch eindringlicher vor. Die Anzeigen flackern bedrohlich, aber ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Plötzlich wird die Tür aufgestoßen. Eilige Schritte. Stimmen. Viele Stimmen. Eine Schar von Schwestern, Pflegern und Ärzten stürmt ins Zimmer. Kayleen wacht auf und wird zur Seite gedrängt. Mit schnellen Handgriffen werden die Monitore und Maschinen abgeklemmt und das Bett nach draußen geschoben. Kayleen folgt ihnen auf wackeligen Beinen. Nein, Moment mal. Da stimmt was nicht. Sollte ich nicht in diesem Bett liegen? Warum sehe ich, wie es weggebracht wird?

Der Raum wirkt jetzt größer und ohne das gleichmäßige Piepen irgendwie leblos. Es ist kalt. Was passiert hier? Mein Blick wandert über die jetzt dunklen Monitore, den Nachttisch mit dem Wasser und dem Strohhalm. Am Stuhl baumelt Kayleens Handtasche und ich stehe immer noch wie angewurzelt da. Meine Schuhe sind dreckig, von der Arbeit auf der Farm, meine Hose hat ein Loch am Knie und das Shirt trägt noch kleine Farbspritzer von den Renovierungsarbeiten im Kinderzimmer letzte Woche. Irritiert taste ich mit beiden Händen meinen Körper ab. Ich habe keine Schmerzen mehr. Keine schweren Glieder. Ich bin allein in dem Raum, in dem zuvor das Bett und die piependen Geräte waren. Wer ist das in dem Bett und warum ist Kayleen ihm nach draußen gefolgt?

Mit wenigen Schritten erreiche ich die immer noch offene Tür. Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an die plötzliche Helligkeit auf dem Flur gewöhnt haben. Das Bett wird durch eine große milchige Glastür geschoben. Kein Zutritt – OP steht drauf, trotzdem taumelt Kayleen hinterher.

»Wir müssen erneut operieren!« Ein weiterer Arzt eilt dazu und das Bett verschwindet hinter der geschlossenen Tür. Jetzt ist Kayleen allein im Flur. Operieren? Wen denn? Ich bin doch hier. Angestrengt starrt sie auf den Schriftzug, ohne mich zu bemerken. Eine Krankenschwester führt sie zu den bunten Sitzplätzen, die wahrscheinlich die sonst so sterile Umgebung auflockern sollen.

»Kommen Sie, Miss, setzen Sie sich.« Erschöpft lässt sich meine Freundin auf einen der quietschenden Plastikstühle sinken.

»Ich werde Ihnen ein Glas Wasser holen«, sagt die Schwester und huscht zurück in das Zimmer, aus dem sie gekommen ist. Die Uhr an der Wand zeigt zehn Minuten nach Mitternacht. Was passiert hier? Irritiert fahre ich mir durch die Haare. Ich kapier’ das nicht. Ich greife nach Kayleens Hand, doch sie ist viel zu geschockt, um sich zu rühren, deshalb lege ich meinen Arm um ihre zierlichen Schultern. Ihr ganzer Körper zittert wie Espenlaub, sie reagiert überhaupt nicht auf mich und starrt apathisch geradeaus.

»Hier bitte sehr, Miss.« Die Krankenschwester reicht ihr ein Glas Wasser.

»Was ist passiert?«, fragt Kayleen mit bebender Stimme, während sie nervös auf ihrer Unterlippe kaut. Vorsichtig streichelt die Schwester Kayleens Hand.

»Ich weiß es nicht genau, ich glaube, es gab eine Blutung in seinem Gehirn.« Auf ihrem Namensschild steht Rose. Sie ist jung, vielleicht etwas älter als ich. Was denn für eine Blutung? Verwirrt fasse ich an meinen Kopf. Da ist kein Blut.

»Kay, Baby, ich bin hier. Bitte sieh’ mich an.« Ängstlich gehe ich vor ihr in die Knie. Ihre zittrige Hand hält das Wasserglas und ihr Blick ist auf etwas gerichtet, das weit hinter mir liegt. Um sicherzugehen, dass dort niemand steht, drehe ich mich kurz um. Was ist hier los?Ist das alles nur ein Traum? Rose kümmert sich liebevoll um Kayleen, streichelt ihren Arm und spricht beruhigend auf sie ein. Ich strecke meinen Zeigefinger aus und tippe Rose an. Nichts. Sie bemerkt es nicht mal. Ich greife nach Kayleens eiskalten Händen. Nichts. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Mit einem letzten Blick zurück zu den beiden Frauen steuere ich die Kein Zutritt – OP-Tür an, und weil niemand versucht, mich aufzuhalten, betrete ich einen nach Desinfektionsmittel riechenden Flur. Ärzte und Krankenschwestern huschen aufgeregt hin und her.

»Wir brauchen mehr Blut!«, ruft jemand. Eine OP-Schwester kommt auf mich zu, ich rechne schon mit einem direkten Rausschmiss, stattdessen betritt sie einen Raum zu meiner Rechten, nimmt eilig einige Blutkonserven aus einem Schrank und verschwindet wieder in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Ich folge ihr.

»Noch mal!«, fordert eine energische Stimme. Ein Arzt legt den Defibrillator an. Etwas in mir zuckt und ich schüttle verwirrt den Kopf.

»Er ist wieder da!«

Die Schwester aus dem Flur steckt eine Blutkonserve an den Tropf und mein Arm fängt an zu kribbeln. Die Monitore piepsen unaufhörlich, eine Assistentin tupft dem Arzt den Schweiß von der Stirn, und ich linse über seine Schulter. Oh scheiße! Das bin ich! Ich liege dort auf dem OP-Tisch. Auf der Brust ein frischer Schnitt, wahrscheinlich von der ersten Operation. Mein Bein ist eingegipst und aus meiner Hand ragen zwei Schrauben. Meine Augen sind geschlossen und in meinem Mund steckt ein Schlauch. Nur das Geräusch des Beatmungsgeräts und das unregelmäßige Piepsen des Herzmonitors verraten, dass ich noch am Leben bin. Der Anästhesist spritzt etwas in meine Vene und erst, nachdem sich der Herzschlag stabilisiert, beginnt der Arzt mit seiner Arbeit. Ein leises Summen schickt mir einen Schauer über den Rücken. Der schneidet meinen Kopf auf. Bei dem Gedanken bildet sich eine Gänsehaut an meinen nackten Armen und ich taste an meinen Hinterkopf. Nichts. Nur meine Haare. Sie sind zu lang, ich muss unbedingt mal wieder zum Friseur. Das gluckernde Geräusch, das jetzt zu hören ist, klingt gruselig, und dass, obwohl ich Tierarzt bin. Ich war schon bei Operationen dabei und musste selbst Blut absaugen, aber das hier ist mein Blut, deshalb schlucke ich angewidert. Der Arzt arbeitet konzentriert, seine Assistentin reicht ihm die Instrumente an, während in einer Schale immer mehr blutverschmierte Tücher und benutzte Werkzeuge landen. Mein Herzschlag wird kontrolliert, der Beatmungsapparat pumpt Luft in meine Lungen. Ein neuer Beutel Blut wird aufgehängt, was meinen Arm kribbeln lässt, und der Chirurg an meinem Kopf nimmt ein anderes Instrument entgegen. Jetzt riecht es verbrannt. Mir dreht sich der Magen um und ich hab’ schon Schiss, dass ich gleich hier in den OP kotze. Plötzlich wird es hektisch.

»Verdammt!«

Der Chirurg rutscht mit dem Stuhl zurück.

»Geplatzt!«

Auf seiner Brille, seinem Kittel und dem Mikroskop sind Blutspritzer, am Boden ist eine regelrechte Pfütze. Mir wird schwindelig und auf dem Monitor erkenne ich, dass mein Blutdruck immer weiter sinkt. Der Anästhesist spritzt wieder etwas in meine Vene.

»Wir verlieren ihn!«

Verzweifelt versuchen die Ärzte, die Blutung zu stoppen. Ich schwanke rückwärts und das Regal hinter mir klappert, als ich mich daran festklammere. Das hier ist mein Kampf mit dem Tod. Mein Blick verschwimmt. Ich kämpfe gerade um mein Leben. Mein Körper da auf dem Tisch. Blutverschmierte Tücher. Klemmen. Wieder der Geruch nach verbranntem Fleisch. Der Arzt hebt kurz den Kopf, damit die Schwester ihm erneut die Stirn abwischen kann. Sein Blick sagt mir, dass ich diesen Kampf längst verloren habe.

»Das könnt ihr nicht machen!«, rufe ich verzweifelt, und rüttele panisch an den Schultern der Krankenschwester, die den Blutbeutel geholt hat. »Ich bin hier!«

»Hört nicht auf!«, schimpfe ich weiter, während Tränen der Wut über meine Wangen rinnen. »Ich werde das schaffen!«

Es ist hoffnungslos. Niemand hört mich. Der Arzt sieht zum Monitor, dann zu seinem Anästhesisten und beide schütteln den Kopf. Ein durchdringender Ton klingt durch den Raum. Eine flache Linie. Das war’s. Aus. Vorbei. Verloren. Der Schwindel ist weg. Das Kribbeln im Arm hört auf. Ich bin tot. Mein lebloser Körper wird mit einem Tuch abgedeckt und die Ärzte verlassen den OP.

Ich bin gestorben.

Aber warum bin ich immer noch hier? Verwirrt schüttle ich den Kopf. Der Körper auf der Trage wird weggebracht, und ich sehe mich um. Die Ärzte sind weg. Eine Krankenschwester räumt auf. Gleich kommt die Putzkolonne und wischt mein Blut vom Boden. Wieder dreht sich mein Magen um. Ich bin tot. Wie in Trance trotte ich zurück zur Tür, auf der Zutritt verboten steht. Die Uhr an der Wand zeigt Viertel nach fünf und Kayleen ist auf den Stühlen eingeschlafen. War ich so lange weg? Es waren doch nur ein paar Minuten? Eine Tür knallt. Rose verlässt das Schwesternzimmer, setzt sich neben Kayleen und legt vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter, um sie zu wecken und ihr zu sagen, dass ich nicht zurückkommen werde. Verzweifelt raufe ich mir die Haare. Scheiße.

»Ich bin hier!«, will ich rufen, aber kein Ton verlässt meine Kehle. Kayleen reibt sich die müden Augen.

»Miss McCreaven?« Der Arzt, der mich operiert hat, kommt jetzt auf sie zu. Er hat seinen blauen OP-Überzug gegen einen sauberen weißen Kittel getauscht.

»Ja, das bin ich«, haucht sie müde und steht auf wackeligen Beinen auf. Ich will sie stützen, aber sie bemerkt mich nicht. Wie auch. Ich bin ja gar nicht da.

»Was ist mit Danny? Wo ist er?«

»Ich bin hier, Baby.« Sie hört mich nicht. Natürlich nicht. Der Arzt nimmt seine Brille von der Nase und steckt sie in die obere Hemdtasche.

»Es tut mir leid, Miss McCreaven. Wir haben getan, was wir konnten.«

Das glaube ich ihm nicht. Ich habe es gesehen. Sie haben mich aufgegeben.

»Was soll das heißen? Wo ist Danny?« Jetzt wird sie ungeduldig. Es ist ein seltsames Gefühl, dabei zu sein, wenn über den eigenen Tod gesprochen wird.

»Miss McCreaven, wir konnten die Blutung nicht stoppen.«

»Was meinen Sie? Ist er …?« Sie schüttelt fassungslos den Kopf. »Das kann gar nicht sein.«

»Mr Gilbert hat es nicht geschafft.«

»Warum?« Hilflos kämpft sie gegen die aufsteigenden Tränen, während ich hier bloß herumstehe und nichts tun kann.

»Kommen Sie mit, Miss McCreaven, setzen Sie sich.« Der Arzt legt seinen Arm um ihre Schultern und führt sie zurück zu der Stuhlreihe.

»Warum?« Kayleen fängt an zu weinen.

»Niemand weiß, warum manche Dinge passieren, Miss. Vielleicht hat Gott noch andere Pläne mit Ihnen?«

»Welche anderen Pläne denn?« Irritiert starre ich ihn an und balle meine Hände zu Fäusten. »Wir wollen heiraten! Wir bekommen ein Baby!« Energisch stapfe ich mit dem Fuß auf.

»Was soll er denn für Pläne haben?«, fragt jetzt auch Kayleen. »Ich will bei Danny sein! Wir gehören doch zusammen.« Wieder schüttelt sie den Kopf und starrt den Doktor mit großen Augen an.

»Ich bin hier!« Diesmal schreie ich, trotzdem hört mich niemand.

»Sie sollten sich jetzt ausruhen, Miss McCreaven. Schwester Rose wird Ihnen ein Zimmer geben, damit Sie schlafen können.«

Energisch springt sie auf, doch ihre Beine halten ihrem Gewicht nicht stand und knicken unter ihr zusammen. Reflexartig strecke ich meine Arme aus, allerdings ist es der Doktor, der ihren Sturz abfangen kann. Rose eilt herbei und gemeinsam bringen sie Kayleen weg.

»Warum kann ich nichts tun?«, schluchze ich verzweifelt und ziehe energisch an meinen Haaren, um zu überprüfen, ob ich noch irgendetwas spüre.

»Ich bin doch hier!«, schimpfe ich weiter, weil die Tränen unaufhaltsam über mein Gesicht laufen.

»Was passiert hier?« Erschöpft sinke ich in die Knie.

»Warum verdammt bin ich noch hier?«

»Du solltest sie jetzt gehen lassen, Danny. Sie braucht Ruhe.«

Was? Wer hat das gesagt? Müde hebe ich den Blick und drehe ich mich um. Da steht ein Mann. Wo kommt der denn auf einmal her? Was macht er hier?

»Wer sind Sie?«, schluchze ich. Er trägt Jeans und ein hellblaues Hemd. »Was wollen Sie?«

Langsam reicht er mir eine Hand, um mir beim Aufstehen zu helfen.

»Komm mit, Danny!«

Er kennt meinen Namen? Woher kennt er meinen Namen? Sein Griff an meinem Arm ist fest.

Irritiert starre ich ihn an. »Bin ich wirklich tot?«

Kapitel Zwei

Marc

Die Sonne ist noch nicht richtig aufgegangen, trotzdem ist es schon warm, als ich an diesem Morgen mein Zimmer verlasse. In den Bäumen zwitschern die Vögel und ein leichter Wind pustet den roten Sand über den Vorplatz. Ich nehme meinen Hut vom Haken und schließe die Tür. Heute wird eine neue Gruppe Touristen aus Europa ankommen. Ich nenne sie Flüchtlinge, weil sie aus ihrer eigenen Welt flüchten, um sich im afrikanischen Busch wilde Tiere anzusehen. Die Wildnis lernen sie dabei allerdings nicht kennen. Die Schritte meiner Stiefel klopfen auf der Veranda und knirschen im Sand auf dem Weg zum Aufenthaltsraum der Ranger. Ich brauche dringend einen Kaffee. Im Gästebereich ist es noch ruhig, genauso bei den Elefanten. In der letzten Nacht sollte eigentlich ein Junges geboren werden, wahrscheinlich ruht sich die zahme Elefantenmutter Luna noch aus. Neben der Tür zum Aufenthaltsraum steht ein Eimer mit Obst und Gemüse für die Elefanten, das bedeutet wohl, dass Danny noch nicht im Bett war. Die Tür quietscht und ich hänge meinen Hut neben der Tür auf.

»Morgen Marc!« Der Boss schnürt sich gerade die Stiefel, während aus seinen Haaren Wasser auf das beigefarbene T-Shirt tropft und es im Raum nach diesem unverkennbaren Duschgel riecht, das nur Ewan benutzt. Ich hätte nicht damit gerechnet, so früh jemand anderes als Jason, den Piloten, der mich nach Johannesburg fliegen wird, hier anzutreffen.

»Was machst du denn hier?«, frage ich deshalb und schließe die Tür, bevor ich zur Kaffeemaschine schlurfe.

»Das Gleiche wie du, ich brauchte dringend einen Kaffee«, antwortet der Boss grinsend, und stellt sein anderes Bein auf der Bank ab. Ich greife zuerst nach einer Tasse aus dem Regal und dann nach der Kanne mit dem schwarzen Gebräu, das mich hoffentlich aufweckt.

»Ist bei den Elefanten alles gut gegangen?«, frage ich, während mir der Kaffeeduft in die Nase steigt und Ewan nickt. Wir alle nennen ihn nur Boss, weil er schon am längsten hier arbeitet. Es hat ihm aus dem kalten, grauen Schottland nach Südafrika verschlagen. Seinen Akzent, mit dem er die anderen immer zum Lachen bringt, hat er allerdings nie abgelegt.

»Aye, alles ok. Es ist ein gesunder Bulle, Andy und Jim haben mir geholfen.« Der Boss sieht mich an. »Hast du was von deinem Bruder gehört?«

Irritiert lasse ich die Kaffeekanne sinken. »Warum? Ich dachte, er wäre hier?«

Jetzt richtet sich Ewan wieder auf. »Nein. Ich hatte ihn angefunkt, aber er ist nicht gekommen. Ich fahre jetzt zu ihm nach Hause.«

Komisch, das passt gar nicht zu Danny. Er hätte sich die Geburt bei den Elefanten nie entgehen lassen.

»Meinst du, es ist etwas passiert?«, frage ich und setze die Tasse an die Lippen.

»Ich hoffe nicht«, murmelt der Boss mit seinem Messer in der Hand, bevor er sich bückt und es in die Halterung an seiner Wade steckt. »Aber was machst du so früh hier?«

»Boah. Ihh. Hast du die ganze Packung Kaffeepulver in den Filter gekippt?« Angewidert verziehe ich das Gesicht und öffne den Kühlschrank, um den Milchkanister herauszuholen.

Ewan grinst. »Nein, so wie immer.«

»Ja, genau. Wie immer schrecklich.« Zum Verdünnen des Gesöffs kippe ich Milch in meine Tasse. »Jason und ich holen neue Flüchtlinge am Flughafen ab«, erkläre ich dann.

»Neue Flirtobjekte, also?« Lachend bringt er seine eigene Tasse zur Spüle. Mein Kaffee ist durch die Milch zwar jetzt kalt, aber wenigstens trinkbar. Der Boss angelt nach seiner Jacke und setzt seinen Hut auf.

»Ich fahr’ zu Danny.«

Ich stelle die Milch wieder in den Kühlschrank und nehme einen weiteren Schluck aus meiner Tasse. Ewan hat gerade die Tür erreicht, als das Schrille Klingeln des Telefons die morgendliche Stille unterbricht.

»Nanu, wer will so früh was von uns?« Ich werfe einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es ist gerade mal sechs Uhr morgens. Der Aufenthaltsraum der Ranger ist bis auf Ewans Büro das einzige Zimmer mit Telefon.

Der Boss reißt den Hörer aus der Halterung an der Wand. »Ewan MacKinnon!«

Ich stelle die Kaffeekanne zurück auf die Heizplatte und lehne mich gähnend an den Küchentresen.

»Aye, da sind Sie richtig.«

Grinsend nehme ich einen Schluck Kaffee. Die anderen Ranger und ich versuchen immer wieder, seinen Akzent nachzuahmen, und jedes Mal hören wir uns an wie unser australischer Tierarzt Andrew, der sich darüber immer am meisten amüsiert.

»Sein Bruder ist hier. Marc Gilbert.« Jetzt dreht sich der Boss zu mir um und reicht mir das Telefon. »Hier für dich, das Krankenhaus. Ein Dr. Kerry.«

Ich nehme ihm den Hörer ab. »Ja? Hallo?«

»Mr Gilbert?«, fragt der Arzt mit freundlicher Stimme. Er hört sich jung an. »Sie sind der Bruder von Daniel Gilbert?«

»Ja, das bin ich.« Ich hebe meinen Kaffeebecher an. »Warum wollen Sie das wissen?«

»Ihr Bruder hatte heute Nacht, zusammen mit seiner Verlobten, Kayleen McCreaven, einen Unfall.« Jetzt lasse ich den Becher wieder sinken. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss, Mr Gilbert, wir konnten ihren Bruder nicht retten, er …« Mit einem klirrenden Geräusch zerschmettert die Kaffeetasse auf den harten Fliesen und der Boss dreht sich mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck zu mir um.

»Was soll das heißen? Was ist mit Danny?« Der Kaffee hat dunkle Flecken auf meiner Hose und den Möbeln hinterlassen.

»Ihr Bruder hatte schwerste innere Verletzungen…«, beginnt der Doktor aber ich lasse ihn nicht ausreden.

»Und Kayleen?«

»Miss McCreaven geht es gut, sie hat erstaunlicherweise nur leichte Verletzungen, allerdings steht sie unter Schock«, erklärt der Arzt ruhig. »Würden Sie bitte jemanden benachrichtigen, damit sie abgeholt werden kann?«

Ich kann nur nicken.

»Mr Gilbert, sind Sie noch dran?«

»Ja, ich …« Ich stocke. »Ich komme, ich äh … ich hole sie ab.« Mit zittriger Hand streiche ich mir durch die Haare.

»In Ordnung, ich warte auf Sie.«

Danny ist tot. Wieso ist er tot? Gestern haben wir uns doch noch wegen des Jeeps gestritten. Ich gehe in die Knie und fische unter der Spüle nach dem kleinen Besen und einer Schaufel. Danny wird nicht wiederkommen. Einfach so. Die Scherben klirren auf der Metallschaufel. Deshalb ist er nicht zur Geburt bei den Elefanten gekommen.

»Was ist mit Danny?« Mein Blick fällt auf Ewans staubige Stiefel. »Und Kayleen? Was ist passiert?« Ohne zu antworten, schütte ich die Scherben in den Mülleimer. Der Boss geht neben mir in die Knie und legt seine Hand auf meinen Arm.

»Marc! Um Himmels willen! Jetzt sag, was los ist?« Ich stelle die Schaufel und den Besen ab.

»Ein Unfall, Ewan. Sie hatten einen Unfall.« Wie mechanisch stehe ich auf und greife nach einem Handtuch, um die Kaffeeflecken zu beseitigen.

»Hör auf damit, Dana wird hier sauber machen.«

Ich seufze verzweifelt. »Ich muss Kayleen abholen. Ihre Mutter ist nicht hier.«

»Was ist mit Danny?«, fragt er wieder und zieht das Handtuch aus meinem Griff.

»Danny ist tot.« Ein komisches Gefühl, diese Worte auszusprechen. Tot. Das klingt so endgültig. So abschließend. So für immer.

»Wo ist Kayleen?«

»Pretoria.«

Ewan nickt. »Alles klar, komm. Wir nehmen den Helikopter.« Er öffnet die Tür. »Ich hole deine Gäste ab, so kannst du mit dem Arzt sprechen und dich um Kayleen kümmern.« Immer noch wie in Trance greife ich nach meinem Hut und folge ihm nach draußen. Mein Bruder ist tot. Der kleine Mistkerl macht sich einfach so aus dem Staub, dabei wollte er Kayleen doch heiraten. Sie wollten eine Familie gründen und … Geschockt bleibe ich stehen und Ewan dreht sich zu mir um.

»Was ist denn?«

»Das Baby? Was ist mit dem Baby?« Danny und Kayleen hatten sich so darüber gefreut. Meine Eltern sind ausgeflippt vor Freude. Und jetzt?

»Du wirst es erfahren, wenn du in Pretoria bist.«

Der Boss informiert Jason über die Planänderung und ich setze meinen Hut ab, bevor ich auf den Rücksitz des Helis steige. Jason nickt mir zu und Ewan nimmt neben ihm Platz, während ich schweigend die Kopfhörer aufsetze. Das ist nicht real, oder? Bestimmt wache ich gleich auf und es ist alles nur ein Traum. Danny ist nicht tot. Das kann doch gar nicht sein. Vor zwei Wochen ist er vierundzwanzig geworden. Der Motor startet mit einem lauten Dröhnen, die Rotoren beginnen, sich zu drehen und der aufgewirbelte Staub unter uns verhindert die Sicht auf die Farm. Erschöpft lehne ich meinen Kopf an die Scheibe und warte weiter darauf, endlich aufzuwachen. Der Helikopter überfliegt die kleine Stadt, in der auch Danny und Kayleen wohnen. In meinem Hals wächst ein riesiger Kloß, weil ich mich gedanklich berichtigen muss. Gewohnt haben. Sie haben dort gewohnt, weil Danny nicht mehr da ist. Ich schlucke, aber der Kloß bleibt. Über die Weiten des Buschlands marschieren einige Tiere zu den Wasserlöchern und die Sonne schiebt sich langsam über die Hügel. Mit geschlossenen Augen erinnere ich mich an unseren ersten gemeinsamen Trip nach Kapstadt. Kayleen hatte uns dazu überredet, unseren Streit auf dem Surfboard auszufechten. Danny hatte gewonnen. Nicht nur das Wettrennen, sondern auch Kayleens Herz. Dabei war ich es, der sie an ihrem ersten Tag hier abgeholt hat. Ich habe ihr alle anderen vorgestellt, sie mit auf Safari genommen und zu den Lagerfeuerpartys der Ranger gebracht. Sie war sechzehn, als wir uns kennengelernt haben und zwei Jahre später taucht Danny auf und nimmt sie mir weg. Für mich blieb immer nur der Part des Freundes. Des großen Bruders.

»Wir sind da!«

Ewans Stimme holt mich aus meinen Gedanken. Wie jetzt? So schnell? Ich blicke aus dem Fenster, während der Helikopter auf dem Dach des Krankenhauses in Pretoria landet.

»Jason wird später hier warten und euch zurück zur Farm fliegen«, erklärt der Boss durch die Kopfhörer. Der Motor dröhnt weiterhin.

»Ok.« Mit gesenktem Kopf steige ich aus. Jason hebt zum Gruß die Hand und lässt den Helikopter wieder in die Luft steigen. Er hatte mich bereits über Funk angekündigt, deshalb nähert sich sofort ein Sicherheitsbeamter.

»Kommen Sie mit, Sir, ich bringe Sie nach unten«, brüllt er gegen den ohrenbetäubenden Lärm des Hubschraubers an. Ich nicke nur und folge ihm ins Gebäude.

»Dr. Kerry erwartet Sie bereits, wir haben allerdings nicht damit gerechnet, dass Sie so schnell hier sind«, sagt er mit ruhigerer Stimme, nachdem die schwere Metalltür hinter uns ins Schloss gefallen ist. Am Empfang meldet er mich an und verabschiedet sich mit einem freundlichen Nicken.

»Alles Gute, Mann!«

»Bitte warten Sie einen Moment, Mr Gilbert.« Die Mitarbeiterin an der Rezeption lächelt mir aufmunternd zu. Ich drehe mich um und beobachte den Eingangsbereich des Krankenhauses. Obwohl es noch früh am Morgen ist, herrscht bereits Trubel. In der Sofaecke neben der Tür sitzt ein Mann im Rollstuhl, seine Frau hält seine Hand und liest ihm einen Brief vor, aber sein Blick ist starr geradeaus gerichtet. So hätte Danny auch enden können. Als Pflegefall, der nichts von der Welt mitbekommt. Wäre das besser? Ein Leben als Pflegefall oder der Tod? Vor dem Kiosk stehen zwei junge Mädchen, eines davon humpelt an Krücken und ein Pfleger durchquert mit langen Schritten die Halle, um sich vor dem Haupteingang in der Sonne eine Zigarette anzuzünden. Eine Krankenschwester schenkt ihm im Vorbeigehen ein Lächeln. Sie hat ihre Jacke über dem Arm und einen Korb in der Hand. Wahrscheinlich beendet sie gerade ihre Nachtschicht und ich frage mich, ob sie vielleicht bei Danny war, als er gestorben ist. Hinter mir legt die Empfangsdame den Telefonhörer auf.

»Dr. Kerry ist sofort bei Ihnen, Mr Gilbert.« Sie lächelt wieder und widmet sich weiter ihren Unterlagen. Eine junge Frau fragt sie nach einer Zimmernummer und ein Pfleger versucht, mit einer wirklich schlechten Anmache ihre Telefonnummer herauszubekommen, aber sie lässt ihn abblitzen.

»Anfänger«, zische ich mit zusammengebissenen Zähnen. Sie grinst und ist eigentlich ganz süß. Unter anderen Umständen hätte ich dem Kerl mal gezeigt, wie man das richtigmacht.

»Mr Gilbert?« Vor mir steht ein Arzt mit dunklen Augen und Brille, der wahrscheinlich kaum älter ist als ich. Er streckt mir seine Hand entgegen. »Stephen Kerry.«

»Marc Gilbert«, stelle ich mich vor und drücke seine Finger wohl zu fest, weil der Doktor gequält grinst und seine schmerzenden Glieder kurz ausschüttelt.

»Ich habe erst heute Nachmittag mit Ihnen gerechnet, sind Sie geflogen?«

»Ja.«

Dr. Kerry nickt nur, wahrscheinlich weiß er, dass alle großen Reservate und Buschresorts über Helikopter und Flugzeuge verfügen. Doch normalerweise steht dieser Luxus einem Ranger nicht zur Verfügung.

»Bitte folgen Sie mir.« Er deutet zur Tür neben dem Empfang und wir betreten einen kahlen Flur. »Ich muss mich entschuldigen, unser Fahrstuhl in diesem Bereich ist außer Betrieb. Wir müssen zwei Stockwerke laufen.«

»Kein Problem.« Schweigend folge ich ihm durch das Treppenhaus nach oben und einen langen Gang entlang. Vorbei an geschlossenen Zimmern, eifrigen Reinigungskräften und Krankenschwestern, die den Arzt freundlich begrüßen. Es riecht nach Putzmittel und frischem Kaffee. Am Ende des Flures öffnet Dr. Kerry eine Tür.

»Bitte nach Ihnen, setzen Sie sich.« Er deutet auf einen Sessel vor dem Schreibtisch und nimmt selbst dahinter Platz. Mein Griff verkrampft sich um meinen Hut, den ich immer noch in der Hand halte.

»Was ist passiert?« Meine Stimme klingt komisch, deshalb schlucke ich wieder, aber der Kloß bleibt hartnäckig. Dr. Kerry nimmt seine Brille ab und mustert mich einen Augenblick.

»Ihr Bruder und seine Verlobte waren auf der Landstraße unterwegs zum Reservat. Die Polizei vermutet, dass er einem Hindernis ausweichen musste und in einem Schlagloch die Kontrolle über den Wagen verloren hat. Nach dem Aufprall gegen einen Baum hat sich der Wagen überschlagen und ist schließlich auf dem Feld in Richtung des Sabie Rivers zum Stehen gekommen.«

Scheiße. Danny ist zu schnell gefahren, dabei weiß er genau, dass die Straßen im Busch nicht zum Rasen ausgelegt sind, viele davon können nicht mal als Straßen bezeichnet werden. Es sind Pfade durch Dickicht, die entlang von steilen Abhängen oft nur in eine Richtung befahrbar sind, aber es passiert selten, dass zwei Fahrzeuge aneinander vorbeifahren müssen. Danny kannte den Pfad. Es ist der schnellste Weg zum Reservat. Manchmal muss man mit dem Wagen hinter einer Herde Impalas herfahren, oder ein Elefant kreuzt die Straße und bleibt in der Mitte stehen, weil dort die besten Früchte an den Büschen wachsen. Danny wusste das, wir beide haben die Ausbildung zum Ranger gemacht und kennen den Busch und all seine Tiere, trotzdem ist er zu schnell gefahren. Die Stimme des Arztes dringt wieder zu mir durch.

»Miss McCreaven war in der Lage auszusteigen«, sagt der Doktor jetzt und sieht mich eindringlich an. »Sie konnte über Funk die Ambulanz verständigen und die Erstversorgung vornehmen. Das örtliche Krankenhaus war nicht ausreichend ausgestattet, deshalb musste ihr Bruder hierher geflogen werden.« Er macht eine Pause, um zu überprüfen, ob ich überhaupt noch zuhöre.

»In einer Not-Operation konnten wir die Blutung in seinem Kopf zunächst stoppen und uns um seine leichteren Verletzungen kümmern.« Wieder sieht er mich ernst an. »Er hatte eine glatte Fraktur im rechten Bein und einen komplizierten Bruch der Hand. Einige Rippen waren gebrochen und haben den rechten Lungenflügel in Mitleidenschaft gezogen, was ihm das Atmen erschwert hat.«

Schweigend lausche ich dem Bericht.

»Nach der ersten Operation mussten wir abwarten. Ihr Bruder wachte auf und konnte sich mit Miss McCreaven verständigen, doch in den frühen Morgenstunden kam es zu erneuten Blutungen in seinem Gehirn und wir mussten noch mal operieren.« Dr. Kerry macht wieder eine Pause. »Mr Gilbert, wir haben alles getan, um ihren Bruder zu retten, allerdings machten es der Blutverlust und die wiederholten Komplikationen nahezu unmöglich. Es tut mir wirklich sehr leid.« Es ändert nichts, ob das nur so dahingesagt ist, damit ich mich vielleicht besser fühle. Danny ist tot. Weg. Er wird nicht wiederkommen. Mein Magen zieht sich zusammen, als würde eine eiskalte Hand ihn umschließen.

»Kayleen?«, frage ich mit kratziger Stimme, deshalb räuspere ich mich. »Wo ist sie?«

»Miss McCreaven steht unter Schock, körperlich geht es ihr gut.« Die dunklen Ringe unter den Augen des Arztes lassen ihn trotz der Sonnenbräune blass aussehen. Er hat eine anstrengende Nacht hinter sich. War er es, der Danny operiert hat?

»Was ist mit …« Ich muss mich wieder räuspern. »Kayleen, ähm …« Unsicher blicke ich in seine dunklen Augen. »Sie ist schwanger.« Aus Angst vor der möglichen Antwort halte ich die Luft an.

»Dem Baby geht es ebenfalls gut«, sagt er mit einem Lächeln. Sofort poltert ein riesiger Stein von meinem Herzen und ich stoße einen erleichterten Seufzer aus. Die eiskalte Hand lockert ihren Griff.

»Wir haben einen Ultraschall gemacht und Miss McCreaven ein homöopathisches Beruhigungsmittel gegeben.«

»Kann ich zu ihr?«

»Natürlich, folgen Sie mir.« Dr. Kerry steht auf und setzt seine Brille wieder auf. Er öffnet die Tür und lässt mich zuerst nach draußen gehen. »Bitte, hier entlang.«

Im Treppenhaus hält er mir eine weitere Tür auf. »Werden Sie Miss McCreaven nach Hause bringen?«

»Ja«, antworte ich kurz. Sonst hat sie ja niemanden. Danny ist nicht mehr da und ihre Mutter interessiert sich einen Sch… Ich schüttle den Kopf. Egal. Wir steigen in einen anderen Aufzug und fahren drei Stockwerke nach oben. Der Flur wirkt kalt und steril, hier ist es still, mal abgesehen von einer einzelnen Krankenschwester, die in ihrem Zimmer sitzt und in einem Magazin blättert.

»Hier sind wir.« Dr. Kerry ist stehengeblieben und deutet auf eine Tür. Ich atme tief durch und klopfe mit meiner freien Hand an. Nichts. Verwirrt sehe ich den Doktor an.

»Vielleicht schläft sie noch, sie ist sicher erschöpft«, sagt er und öffnet zielstrebig die Tür, bevor er das dunkle Zimmer betritt und ich ihm langsam folge. Kayleen liegt mit geschlossenen Augen im Bett, die schwarzen Spuren auf ihren Wangen zeigen, dass sie geweint hat. Dr. Kerry kontrolliert ihren Puls und die Unterlagen der Schwester, bevor er mir zunickt.

»Lassen Sie sich Zeit, und rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen«, sagt er mit einem aufmunternden Lächeln.

»Danke.«

Er verlässt das Zimmer und schließt die Tür. Kayleens Bettdecke hebt und senkt sich mit ihren regelmäßigen Atemzügen und die eiskalte Faust um meinen Magen kehrt zurück. Soll ich sie aufwecken oder lieber schlafen lassen? Weiß sie überhaupt, dass ich komme, um sie abzuholen? Weiß sie, dass Danny tot ist? Ich entscheide mich dafür, sie schlafen zu lassen, und gehe stattdessen zum Fenster. Die Sonne steht jetzt hoch über dem Hügel hinter dem Union Building und wärmt mein Gesicht, aber die Kälte in meinem Inneren kann sie nicht vertreiben. Ein paar einzelne Schäfchenwolken ziehen langsam vorüber, auch hier in der Stadt wird es ein warmer Tag werden. Nicht so schwül und heiß wie im Busch, trotzdem sehr warm.

Ob Danny jetzt dort oben ist? Wo kommt man hin, wenn man stirbt? Sein Körper ist noch hier, oder? Im Krankenhaus. In einem Kühlschrank, oder ist das nur im Film so? Mein Magen dreht sich bei dem Gedanken an leblose und blasse Körper, die mit weißen Tüchern abgedeckt sind und einen Zettel am Fuß haben. Ich schüttle den Kopf, um die schreckliche Vorstellung zu vertreiben. Meine Gedanken rasen. Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf und trotzdem kann ich nicht klar denken. Etwas raschelt leise und dann höre ich ihre Stimme.

»Marc?« Ich drehe mich langsam zu Kayleen um. Sie setzt sich auf und sieht sich suchend im Raum um. Sie sucht nach Danny. Natürlich. Ich schlucke und trete an ihr Bett, um ihre Hand in meine zu nehmen. Sie ist eiskalt.

»Hallo Kay, wie fühlst du dich?«

»Es war kein Traum, oder?« Ihre traurigen Augen starren mich entsetzt an.

»Nein, leider nicht.«

»Danny?«, fragt sie leise. Scheiße, was soll ich antworten?

»Ist er …?« Sie beendet diesen Satz nicht. Wahrscheinlich, um das Unvermeidliche nicht aussprechen zu müssen, die Wahrheit verändert es allerdings nicht. In ihren Augen schimmern Tränen und sie legt ihre freie Hand auf ihren Bauch.

»Deinem Baby geht es gut, Kay«, sage ich mit leiser Stimme. Die Angst schnürt mir die Kehle zu, ich bekomme kaum Luft.

»Ich weiß.« Sie lächelt tapfer. »Es ist ein Dickkopf, so wie Danny.«

Das stimmt. Danny war ein Dickkopf, und er ist meistens damit durchgekommen. Nicht immer, manchmal habe ich auch gewonnen.

»Guten Morgen, Miss McCreaven, hier ist Ihr Frühstück«, trällert eine gut gelaunte Krankenschwester und stellt ein Tablett auf Kayleens Nachttisch.

»Ich habe keinen Hunger.« Die dunkelhäutige Schwester lässt sich nicht beirren und verschwindet wieder nach draußen.

»Hast du ihn gesehen?«, haucht Kayleen mit leiser Stimme.

»Nein, ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Ich auch nicht.« Ihr Blick fällt auf den kleinen Schlitz zwischen den Gardinen, den ich offengelassen habe. »Kannst du bitte das Fenster aufmachen?«

»Klar.« Zurück am Fenster streift ein leichter Windzug mein Gesicht. Es ist ein warmer Wind, aber auch er schafft es nicht, die Kälte zu vertreiben.

»Ob er jetzt dort oben ist?« Erschrocken drehe ich mich um, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass sie aufsteht. Kraftlos klammert sie sich am Stuhl neben dem Fenster fest, deshalb lege ich meinen Arm um ihre Schultern. Sie zittert.

»Bestimmt ist er das.« Wenn sie dieser Gedanke beruhigt, werde ich auch daran glauben, dass Danny dort ist. Irgendwo. »Du solltest dich wieder hinlegen, Kay.«

»Wissen deine Eltern Bescheid?«

»Nein«, antworte ich ehrlich, weil ich keine Ahnung habe, wie ich das bewältigen soll. Mum und Dad leben in Kapstadt. Zweieinhalb Flugstunden oder fast zwanzig Stunden mit dem Auto entfernt. Zu Weihnachten waren wir zuletzt dort, das war vor fast sechs Wochen. Und jetzt ist Danny nicht mehr da. Einfach so.

»Wir müssen es ihnen sagen.« Ihre leise Stimme klingt kräftig und entschlossen. Natürlich hat sie recht, aber können wir diesen Anruf nicht noch etwas hinauszögern? Irgendwie.

»Soll ich dich nicht zuerst nach Hause bringen?«

Kayleen schüttelt energisch den Kopf. »Nein. Wir müssen es jetzt tun.«

Kapitel Drei

Danny

Der komplett weiß gehaltene Flur kommt mir unheimlich lang vor. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so weitergehen, bis ich wie angewurzelt stehen bleibe.

»Wo bin ich?« Das ist auf keinen Fall das Krankenhaus.

Der Mann, der mich abgeholt hat, schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.

»Ich werde es dir zeigen, Danny. Komm mit.« Jetzt deutet er auf eine Tür, die genauso weiß ist wie der Rest hier. Nur zur Sicherheit drehe ich mich noch mal um, aber Kayleen, der Arzt und die Krankenschwester sind nicht mehr da, deshalb folge ich dem Mann.

»Setz dich«, fordert er mit ruhiger Stimme, nachdem er die Tür hinter uns geschlossen hat. Dieses Zimmer ist gemütlich eingerichtet, es gibt zwei altmodische Ohrensessel, auf einem kleinen Tisch stapeln sich ein paar Bücher. Der Schreibtisch ist ordentlich aufgeräumt und eine Tür führt zum Nebenzimmer.

»Wo sind wir hier?«

»Das ist dein Zimmer, Danny.« Energisch, aber nicht unfreundlich zeigt er auf den Sitzplatz, deshalb lasse ich mich hineinplumpsen und sehe ihn herausfordernd an. Ohne mich aus den Augen zu lassen, lehnt er sich ebenfalls in die weichen Polster zurück. Auf seinen Lippen liegt immer noch dieses Lächeln, das Hemd, das er über einem weißen Shirt trägt, ist offen und seine Füße stecken in braunen Flip-Flops. So sieht ein Familienvater aus, der an einem Sonntagmorgen gerade aufgestanden ist, um das Frühstück zuzubereiten. Seine dunklen Haare sind leicht gelockt und werden an den Schläfen langsam grau, seine Augen leuchten in einem tiefen Grün.

»Ich bin Alan«, stellt er sich endlich vor.

Aha.

»Ich bin beauftragt worden, dich abzuholen.«

Hä?

»Abholen?« Ich starre ihn an. »Wohin denn?« Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. »Warum? Was passiert hier?«

»Du befindest dich nicht mehr in deinem früheren Leben, Danny. Du bist jetzt bei uns und kannst die Menschen von hier aus beobachten und besuchen«, erklärt er und deutet auf das Fenster.

»Beobachten?« Verwirrt stehe ich auf. »Besuchen? Was bedeutet das? Wo ist Kayleen?« Angestrengt blicke ich aus dem Fenster, aber da ist nichts. Gar nichts.

»Die Ärzte haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sie in ein Krankenhauszimmer gebracht, damit sie sich ausruhen kann.« Plötzlich steht er neben mir und legt seine Hand auf meine Schulter. Meine Aussicht gewinnt an Schärfe, Tiefe, Farbe, alles auf einmal, und plötzlich erscheint ein Krankenhauszimmer, in dem Kayleen in einem Bett liegt und schläft. Die schwarzen Spuren auf ihren Wangen zeugen von Tränen und ihre Hände sind auf ihrem Bauch gefaltet. Das Baby. Mein Baby. Ich schlucke. Eine Krankenschwester kontrolliert ihren Puls und zieht die Vorhänge vor dem Fenster zu.

»Was passiert jetzt?« Ich drehe mich wieder zu Alan um. »Mit ihr?«

»Dein Bruder wird sie abholen«, antwortet er ruhig.

»Mein Bruder?« Jetzt kapier’ ich gar nichts mehr. »Wieso denn Marc?«

»Der Arzt hat im Reservat angerufen und nur die Rangerstation erreicht. Kayleens Mutter ist nicht da, deshalb wird Marc sie abholen.«

»Und was passiert mit …« Ich breche kurz ab, weil es ein komisches Gefühl ist, sich selbst und den eigenen Körper als getrennt wahrzunehmen. »Mit mir?«

»Dein Körper kommt in den Keller des Krankenhauses, dort wird er gereinigt und der Arzt muss deinen Tod schriftlich festhalten«, erklärt Alan sachlich. »So viel zum Praktischen, den Rest willst du, glaube ich, nicht wissen.« Er zeigt wieder zum Fenster. Zwei Pfleger schieben eine Trage in den Aufzug und mein Magen krampft sich zusammen.

»Das bin ich, oder?« Es schnürt mir die Luft ab, deshalb öffne ich den Mund, um besser Luft zu bekommen.

»Dein Körper, ja.« Alan nickt. »Die Polizei hat den Unfall aufgenommen und wird deine Eltern benachrichtigen, damit sie …«

»Die Polizei? Warum denn die Polizei?«, unterbreche ich ihn.

»Es war ein Verkehrsunfall, Danny.« Er wendet sich von der Fensterfront ab. »Möchtest du bei deinen Eltern sein, wenn sie es erfahren?«

Irritiert drehe ich mich zu ihm um. »Geht das denn?«

Alan marschiert zu dem ordentlichen Schreibtisch, nimmt einen Zettel aus der Schublade und kritzelt etwas mit einem Stift darauf.

»Komm mit, ich zeige es dir.« Jetzt hat er die Tür, durch die wir gekommen sind, erreicht, und wartet, bis ich ihm folge. Ich bin immer noch verwirrt. Ich habe Kayleen gesehen. Durch dieses komische Fenster. Und ich habe mich selbst gesehen, oder meinen Körper, und jetzt soll ich zu meinen Eltern?

Zurück auf dem weißen Flur erkenne ich noch mehr Türen, die mir vorhin gar nicht aufgefallen sind. Gibt es noch weitere von diesen kleinen Zimmern? Noch mehr von solchen Fenstern ins Nichts, die plötzlich anspringen wie ein uralter Röhrenfernseher, der sich erst aufwärmen muss. Wohnen dort die Toten? Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken.

»Du gehst nach Kapstadt zu deinen Eltern«, erklärt Alan und holt mich damit aus meinen gruseligen Gedanken.

»Und du?«

»Ich werde hier warten.« Er deutet auf einen Aufzug.

»Was ist das?« Die Gittertür quietscht beim Öffnen.

»Das ist unser Fortbewegungsmittel, es funktioniert wie ein Lift, nur schneller.«

»Wirklich? Dieses klapprige Ding soll schnell sein?«

Alan reicht mir den Zettel, den er beschriftet hat, und schubst mich in die Kabine. Die Gitter quietschen wieder. »Du solltest dich beeilen.«

»Kann ich mit ihnen reden?« Alan schüttelt den Kopf.

»Können sie mich sehen?« Wieder ein Kopfschütteln.

»Werden sie wissen, dass ich da bin?«

»Nein, Danny, aber du wirst es wissen, und das ist schon eine Menge wert.« Er drückt auf einen Knopf und plötzlich ist er verschwunden, während ich im Wohnzimmer meiner Eltern stehe, als hätte mich eine riesige Hand am Kragen gepackt und mitten in der Szenerie abgesetzt.

Es ist noch früh am Sonntag. Die Sonne ist gerade aufgegangen, der Wind spielt mit den Vorhängen und trägt salzige Meeresluft hinein, draußen hört man die Vögel singen. Mechanisch setze ich mich in Bewegung und betrachte die Bilder an der Wand. Marc und ich als Kinder, in unserer Schuluniform, beim Abschlussball mit unseren Freundinnen. Holly sieht echt süß aus, aber wie Marcs Flamme hieß, habe ich vergessen. Ein anderes Bild zeigt uns bei den nationalen Surfmeisterschaften, damals habe ich den zweiten und Marc den dritten Platz belegt. Mein Bruder konnte noch nie gut verlieren und war stinksauer deswegen. Ein weiteres Bild zeigt mich zusammen mit Kayleen am Strand, aus meinen Haaren tropft Wasser auf ihre Schultern und ich habe beide Arme besitzergreifend um sie geschlungen. Vorsichtig nehme ich das Bild in die Hand. Nie wieder werde ich sie so festhalten können. Mein Blick verschwimmt und ich wische mir trotzig über die Augen, bevor ich das Foto zurück ins Regal stelle, und gedankenverloren durchs Haus streife. Im hinteren Bereich des Erdgeschosses liegen unsere alten Zimmer, hier hängen immer noch die Poster von Surfern und dem südafrikanischen Rugby-Team an der Wand. Auf dem Schrank liegt, etwas verstaubt, die Mütze, auf der der Kapitän der Nationalmannschaft unterschrieben hat. Voller Stolz habe ich damals dieses Autogramm all meinen Freunden gezeigt und damit geprahlt, dass ich durch Dads Chef in die VIP-Loge gekommen bin und nach dem Sieg die Mannschaft kennenlernen durfte.

Im Nebenzimmer hat Marc gewohnt und auf seinem Schreibtisch steht der Pokal, den er beim Surfen in Australien gewonnen hat. Einer der wenigen Wettkämpfe, in denen er besser war. Vor allem, weil ich nicht daran teilgenommen habe. Ich verlasse die beiden Zimmer, in denen die Zeit stehen geblieben ist. Als würden wir jeden Moment aus der Schule zurückkommen und unsere Eltern oder unser Kindermädchen in den Wahnsinn treiben, dabei wohnen wir beide schon seit Jahren nicht mehr zu Hause. Marc hat erst ein halbes Jahr in Kapstadt studiert und ist danach nach Pretoria gegangen. Als Ranger konnte er besser bei den Frauen landen, deshalb hat er seine Ausbildung schon während des Studiums begonnen. Ich habe auch in Pretoria studiert und den Job auf der Farm durch meinen Bruder bekommen, sonst wäre ich vielleicht nie dort gelandet.

Ich gehe durch den Flur, vorbei an der Bibliothek und durch den Eingangsbereich zur Küche. Dort riecht es nach frischem Kaffee, Brot und ich beobachte unsere Haushälterin Zulu dabei, wie sie das Frühstück für meine Eltern vorbereitet. Sie deckt den Tisch auf der überdachten Terrasse, wie sie es jeden Sonntag macht. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem sie nicht bei uns gearbeitet hat. Sie hat mit uns Hausaufgaben gemacht oder uns getröstet, wenn es in der Schule Probleme gab. Wenn der Lehrer meinen Spickzettel gefunden hat, weil ich mir die verdammten Französischvokabeln nicht merken konnte oder die Mathegleichung partout nicht in meinen Kopf wollte. Mum nannte sie immer die gute Seele des Hauses und sie hat so manchen Unfug von Marc oder mir gedeckt.

Über die hintere Treppe gelange ich ins obere Stockwerk, wo mein Vater gerade im Halbdunkeln ins Bad schleicht. Mum zieht sich die Bettdecke bis zur Nasenspitze und dreht sich genüsslich seufzend wieder um. Sonntag ist der einzige Tag in der Woche, an dem meine Eltern ausschlafen können und bei dem Gedanken an die furchtbare Nachricht, die sie heute bekommen werden, durchfährt mich ein kalter Schauer. Der Wecker piepst lautstark, deshalb eilt Dad zurück ins Zimmer, stößt sich dabei aber den Fuß an der Bettkante.

»Aua! So eine verdammte Scheiße!«

Mum setzt sich auf. »Was machst du denn, Pete?« Sie streicht sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht und blinzelt verschlafen, während Dad auf einem Bein zurück ins Bad hüpft. Es wird ihnen das Herz brechen, wenn sie gleich erfahren, dass ich sie nie wieder besuchen werde.

Ich wende mich ab, als Mum auch ins Bad tapst, und gehe zurück nach unten. Über die Terrasse und durch den Garten gelange ich ins Strandhaus. Es ist ein Extrahaus mit separatem Zugang zum Strand, das meine Eltern gelegentlich vermieten. Hier haben Kayleen und ich meistens übernachtet, wenn wir zu Besuch waren. Kayleen hat es geliebt. Stundenlang konnte sie auf dem Balkon sitzen und aufs Meer schauen. In der Ecke hat Dad ihr eine Hängematte angebracht, in der sie oft über ihren Büchern eingeschlafen ist. Wenn der Wind vom Meer zu stark wurde, hat sie sich gern die rote Decke übergeworfen und sich in die weichen Kissen gekuschelt. An den Wänden im Wohnzimmer hängen Landschaftsfotografien von der Kapregion und dem Tafelberg. Mum hat sie gemacht. Manchmal kommt sie auch hierher, um zu lesen, und auch sie hat dabei immer die Zeit vergessen. Der Sand auf den Holzplanken sollte unter meinen Schritten knirschen, und die kleine Stufe zur Tür klang immer hohl, wenn man darauf getreten ist, aber heute ist nur der Wind und das Meer zu hören. Ein paar Möwen kreischen in der Ferne. Auch die Tür quietscht nicht, als ich eintrete, und das Rascheln der Vorhänge, wenn ich diese streife, kann sicher nur ich hören. Ich bin einfach nicht da.

Im Vorbeigehen streiche ich über die Möbelstücke und sehe mir jedes Zimmer noch mal genau an. Zulu hat frische Handtücher auf den Betten abgelegt und im Bad ist ein Körbchen mit allem Notwendigen zusammengestellt. Bestimmt erwarten meine Eltern Gäste.

»Guten Morgen, Zulu!«, höre ich die Stimme meiner Mutter gut gelaunt über die Terrasse klingen, deshalb drehe ich mich wieder zum Haupthaus um.

»Guten Morgen, Mrs Gilbert, haben Sie gut geschlafen?«

»Ich hatte einen schlimmen Traum, aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was es war«, sagt meine Mutter. Als ich zurück auf die Terrasse trete, schenkt Zulu ihr gerade Tee ein und Dad kommt aus dem Haus.

»Morgen Zulu!« Er drückt Mum einen Kuss auf die Wange, schnappt sich seine Morgenzeitung und setzt sich auf seinen Platz. Alles ist wie immer. Der Duft nach Brot und Kaffee vermischt sich mit dem von Mums fruchtigem Tee, salziger Meeresluft und den Blumen im Garten. Wann wird die Polizei mit ihrem Auftauchen diese Idylle zerstören?

Seufzend beobachte ich das Frühstück meiner Eltern. Mum erzählt Zulu von einem neuen Rezept und Dad liest einen kurzen Artikel in den Finanznachrichten vor. Besuchen und Beobachten – das hat Alan gesagt. Wird es jetzt immer so bleiben, dass ich alles beobachte wie ein Geist? Meine Eltern haben keine Ahnung, dass ich hier bin, und das fühlt sich echt scheiße an.

Das Klingeln des Telefons unterbricht die morgendliche Stille, mir wird augenblicklich übel, und trotz der Sonne ist es schrecklich kalt. Ist das die Polizei? Oder das Krankenhaus? Ich warte angespannt. Zulu eilt mit wallenden Gewändern und klappernden Armreifen zurück ins Haus, um das Gespräch anzunehmen.

»Oh. Hallo Kayleen«, höre ich sie sagen und Zulu dreht sich zur Tür, bevor sie zurück auf die Terrasse kommt. Kayleen? Wieso ruft sie denn an? Sie sollte doch schlafen.

»Wie geht es euch? Was macht dein Baby? Wann kommt ihr mal wieder zu uns?«, fragt Zulu aufgeregt. Sie hat sich genauso wie meine Eltern über unser Baby gefreut und ich weiß von Mum, dass sie angefangen hat, etwas zu nähen. Als sich Zulus Stimme verändert, halte ich angestrengt die Luft an.

»Natürlich, warte einen Moment.« Mit bedächtigen Schritten tritt sie auf meinen Vater zu. »Mr Gilbert, es ist für Sie. Es ist Kayleen.« Dad legt seine Zeitung zur Seite und nimmt das Gespräch an.

»Hallo Kayleen! Wie geht es dir?« Ich höre nicht, was sie ihm sagt, aber Dads Gesicht wird blass und er schluckt angestrengt. Oh Scheiße. Meine Mutter legt ihr Messer zur Seite. Am liebsten würde ich sie in meine Arme ziehen.

»Mum?« Meine Stimme gleicht einem Flüstern. Wie kann ich ihr klarmachen, dass das es mir gut geht? Geht es mir gut? Kann man meinen Zustand überhaupt so beschreiben?

»Mum, ich liebe dich und es tut mir leid.« Die Tränen schmecken salzig, als sie meine Lippen erreichen. Meine Mutter hört mich nicht und Dad hat das Gespräch inzwischen beendet. Mit starrem Blick lässt er das Telefon sinken. Fuck.

»Was ist Pete?« Mum starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an, auch ihr ist jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Jetzt sag endlich, was los ist?«

»Kayleen ist im Krankenhaus.« Der Schock steht ihm ins Gesicht geschrieben. Verzweifelt raufe ich mir die Haare, bis es wehtut. Warum verdammt noch mal kann ich nichts tun?

»Oh Gott!« Mum schlägt erschrocken die Hände vor ihren Mund. »Was ist passiert? Ist mit dem Baby alles in Ordnung? Was ist mit Danny?«

»Sie hatten einen Unfall«, antwortet Dad mit ruhiger Stimme.

»Danny?«, hakt sie leise nach. Haben Mütter ein Gespür für so etwas? Weiß sie es längst, bevor er es ausgesprochen hat? Scheiße, ist mir schlecht. Mein Vater steht auf und legt seine Arme um sie, dann fängt Mum an zu weinen. Sie weiß es. Ganz bestimmt.

»Danny ist tot.« Er streichelt sanft über ihren Rücken und Zulu, die sich in die Küche zurückgezogen hat, kommt zurück nach draußen, aber Dad schüttelt nur den Kopf. Zulu schließt kurz die Augen und faltet die Hände. Sie weiß es sicher auch.

»Komm mit, El.« Er hilft Mum beim Aufstehen und bringt sie ins Schlafzimmer. Ich folge ihnen langsam. Mein Magen dreht sich und mir ist schwindelig. So eine verdammte Scheiße. Warum, bin ich hier und doch nicht da?

»Das kann nicht sein, Pete? Warum Danny?«, fragt Mum schluchzend, nachdem sie sich aufs Bett gesetzt hat.

»Ich weiß es nicht, Schatz. Kayleen ist selbst noch neben der Spur. Marc ist jetzt bei ihr und wird sie nach Hause bringen. Ich rufe ihn später an.« Er drückt sie sanft in die Kissen.

»Und Danny?« Mit Tränen in den Augen sieht sie ihn an.

»Ich werde nach Johannesburg fliegen und ihn nach Hause holen.« Er deckt sie zu.

»Ich bin hier«, flüstere ich. Aber es hilft nichts, sie können mich nicht hören.

»Kayleen? Was ist mit Kayleen?« Mum putzt sich die Nase und Dad streichelt über ihre Wange. Meine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Pudding. Kayleen hat den Horrorunfall mit nur leichten Verletzungen überlebt, wahrscheinlich hatte sie einige Schutzengel mehr als ich. Tränen rinnen über meine Wangen, trotzdem wische ich sie nicht weg. Zum Luftholen muss ich den Mund aufmachen, dabei höre ich mich an, wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Körperlich hat sie lediglich ein paar Prellungen, aber natürlich ist sie völlig fertig und traumatisiert«, erklärt Dad ruhig. »Dem Baby ist nichts passiert.« Mum weint stumme Tränen und Dad holt ihr aus dem Badezimmer eine Beruhigungstablette. »Du solltest dich ausruhen, El.« Er reicht ihr die Tablette und ein Glas Wasser.

In der Zwischenzeit setze ich mich auf das Bett und greife nach Mums Hand. Oder denke ich nur, dass ich das tue? Sie merkt es ja doch nicht, sondern nimmt ihre Tablette mit einem Schluck Wasser.

»Ich bin hier, Mum.«

Dad streichelt ihre Schulter und verlässt das Zimmer, aber ich bleibe sitzen. Mit starrem Blick lehnt sie sich in ihre Kissen und betrachtet gedankenverloren die Vorhänge. Ihre Tränen hinterlassen, genau wie bei Kayleen, dunkle Spuren auf ihren Wangen.

»Es tut mir leid, Mum«, hauche ich wieder.

»Warum, Danny?«, flüstert sie, deshalb starre ich sie erschrocken an. Hat sie mich gehört?

»Ich weiß es nicht«, antworte ich leise. Sie hebt ihre Hand und ich habe für einen kurzen Moment das Gefühl, als würde sie meine Wange streicheln. Hat sie geträumt? Oder ich? Haben wir beide geträumt? Ich lehne mich zu ihr und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn.