BENDER - Filmriss - Roberto Sastre - E-Book

BENDER - Filmriss E-Book

Roberto Sastre

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Serie: Bender
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Friedwart Bender ist Mitglied einer Spezialeinheit der Frankfurter Polizei. Bei einem Einsatz trifft ihn ein Querschläger aus der Waffe eines Kollegen in den Rücken. Als querschnittsgelähmter Frührentner hält er es allerdings nicht lange aus. Mit seinem Computerwissen und den Kontakten aus seinem früheren Leben hat er als privater Ermittler ganz andere Möglichkeiten. Das Thema Computerkriminalität war schon in seinem alten Leben einer seiner Schwerpunkte, jetzt kann er sich seine Fälle aussuchen. Mit dem Geld aus der Unfallversicherung und seiner Abfindung richtet er sich ein Computerlabor ein, dass der Traum jedes Forensikers ist. Es bleibt sogar noch ein wenig übrig, um den Van, der für seine Bedürfnisse umgebaut wird, mit den wichtigsten Werkzeugen auszustatten, um vor Ort erste Auswertungen durchführen zu können. Denn von so einer dämlichen Querschnittlähmung lässt sich ein Bender doch nicht aufhalten. Vor allem, wer nimmt schon den Krüppel da hinten im Rollstuhl zur Kenntnis? Gibt es eine bessere Tarnung?

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BENDER

FILMRISS

Krimi

 

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

Foto: www.bjoernjansen.com

Bjørn Janssen Photography, Konstanz,

Modell: Janina Lara Seitle

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-185-2

MOBI ISBN 978-3-95865-186-9

 

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Das Buch

Friedwart Bender ist Mitglied einer Spezialeinheit der Frankfurter Polizei. Bei einem Einsatz trifft ihn ein Querschläger aus der Waffe eines Kollegen in den Rücken. Als querschnittsgelähmter Frührentner hält er es allerdings nicht lange aus. Mit seinem Computerwissen und den Kontakten aus seinem früheren Leben hat er als privater Ermittler ganz andere Möglichkeiten. Das Thema Computerkriminalität war schon in seinem alten Leben einer seiner Schwerpunkte, jetzt kann er sich seine Fälle aussuchen. Mit dem Geld aus der Unfallversicherung und seiner Abfindung richtet er sich ein Computerlabor ein, dass der Traum jedes Forensikers ist. Es bleibt sogar noch ein wenig übrig, um den Van, der für seine Bedürfnisse umgebaut wird, mit den wichtigsten Werkzeugen auszustatten, um vor Ort erste Auswertungen durchführen zu können. Denn von so einer dämlichen Querschnittlähmung lässt sich ein Bender doch nicht aufhalten. Vor allem, wer nimmt schon den Krüppel da hinten im Rollstuhl zur Kenntnis? Gibt es eine bessere Tarnung?

Der Autor

Roberto Sastre, Jahrgang 1957, IT-Trainer und passionierter Rockmusiker ist seit einem Unfall im Juni 2007 querschnittgelähmt. Davor lebte er einige Jahre in Lateinamerika, wo man seinen ursprünglich deutschen Namen nur schwer aussprechen konnte und ihn ins Spanische übertrug. Um den Unfall und seine Folgen zu verarbeiten, begann er zu schreiben. Die autobiografische Erzählung „Rollender Donner“, in der er seine Erlebnisse verarbeitete, bescherte ihm auf Anhieb einen Achtungserfolg. Dies ist der erste Roman von ihm.

Das Recht, über sich selbst zu bestimmen,

ist eins der Grundrechte der modernen Gesellschaft.

Ein Mensch kann nie jemandes Eigentum sein.

Vorwort

Dieses Buch ist von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Jedenfalls im Vergleich zu seinen Vorgängern. Für mich war es unglaublich, welche Reaktionen meine ersten beiden Bücher hervorgerufen haben. Dabei wollte ich eigentlich nur meinen Unfall verarbeiten, indem ich alles aufschreibe. Danach hat mich die Lust am Erzählen so richtig gepackt.

Diesmal musste es aber etwas anderes sein, ein Roman. Ziemlich schnell habe ich aufgegeben, mir ständig neue Namen auszudenken, was ich ziemlich mühsam finde. Viel leichter war es, von jedem, der mir begegnete, den Namen „auszuborgen“, leicht zu verändern und auf eine Liste zu schreiben. Immer, wenn ich für die Personen in meiner Geschichte einen Namen brauchte, hatte ich einen.

Der Protagonist hat mit mir nur so viel zu tun, dass er auch im Rollstuhl sitzt. Inspiriert dazu hat mich eine Persiflage auf eine Fernsehserie, „Das A-Team“. Einer der Darsteller fährt einen schwarzen GMC-Van mit einigen Extras und ist ein ziemlich kräftiges Kerlchen. In der Persiflage sitzt er im Rollstuhl. Jedes Mal ist, bis er sich hinten aus der Hecktür heraus geliftet hat, die Action schon wieder vorbei, was ihn natürlich gewaltig wurmt. Aber was wäre denn, wenn es einen Privatdetektiv im Rollstuhl gäbe? Dass der natürlich eine entsprechende Ausrüstung braucht, ist klar.

Die Geschichte selbst habe ich mir komplett ausgedacht. Die Orte, an denen das alles stattfindet, die existieren natürlich. Die Personen sind wirklich alle frei erfunden, bis auf eine. Diese Person wird sich bestimmt wieder erkennen. Na gut, ich hab ein bisschen übertrieben, aber ich weiß, dass du mir das nicht krummnimmst. Alle anderen, insbesondere die Bösen, die einfach in eine Detektivgeschichte gehören, sind rein fiktiv.

Wie alles begann:

Die Mitglieder des Seckbacher Kegelclubs Alle Neune treffen sich neben den Kegelabenden regelmäßig, zu dem, was sie als Mitgliederversammlungen bezeichnen. Ihre Frauen sagen schlicht Saufabende dazu. Als der 2. Vorsitzende in seiner Stamm-Videothek eine DVD mit dem Titel „Das Luder von der Kegelbahn“ entdeckt, hält er es noch für einen gelungenen Gag für das nächste Treffen, der bei seinen Kumpels auch prima ankommt.

Eine der Akteurinnen ist besonders eifrig bei der Sache. Man spürt geradezu, dass ihr dieser Job so richtig Spaß macht. Ihr junger, frischer Körper hat die Beweglichkeit einer aktiven Leichtathletin. Als ihr Kopf aus dem Schoß ihres Filmpartners auftaucht, zeigt die Kamera in Großaufnahme ihr Gesicht. Ein hübsches Gesicht. Mit einem offenen, fröhlichen Lachen, das die ganze Begeisterung für das, was sie da gerade tut, ausdrückt. Nur die leeren, abwesenden Augen, die passen so gar nicht dazu. Leicht verschwitzt strahlt ihnen das süße Gesicht der 14-jährigen Tochter des Vereinsschatzmeisters entgegen.

Filmriss

„Tja,Bender, so sieht das aus.“ Das sonst so fröhliche Gesicht meines alten Klassenkameraden zeigt tiefe Sorgenfalten. Für Michael Bergner, den Schatzmeister des Kegelclubs „Alle Neune“ hat mit einem Schlag sein gesamtes Weltbild einen tiefen Riss bekommen. Ich weiß noch, wie glücklich er war, als seine kleine Tanja geboren wurde. Als er dann das kleine Reihenhaus in dem Frankfurter Vorort angeboten bekam, ging für ihn ein Traum in Erfüllung. Tanja, die nicht lange allein bleiben sollte, konnte in einer Umgebung aufwachsen, die nicht von Autos dominiert wurde. In ein paar Minuten war man zu Fuß im Huthpark. Trotz der fast ländlichen Umgebung war man doch in der Großstadt. Und jetzt? Michael, den ich vor Kurzem noch mit seinen Kindern herum albernd auf der Dippemess getroffen hatte, war in den paar Wochen um Jahre gealtert.

„Wann hast du eigentlich zum letzten Mal geschlafen?“

„Geschlafe? Isch? Weiß net. Wie kommste dann jetzt da druff? Hallo, mei Tanja spielt in nem Porno mit unn wer weiß, in wie vielen noch. Die ist doch erst verzehn.“ Michael, der so stolz auf sein akzentfreies Deutsch war, verfälllt vor Aufregung in die Sprache unserer Kindheit.

„Heh heh, jetz machema halb lang.“ Ich habe für mich ein prima Antidepressivum entdeckt, Gummibärchen. Immer, wenn es mir schlecht geht, wenn ich mich über irgendetwas aufrege, ein paar Gummibärchen und schon sieht die Welt wieder anders aus. Aber hier muss ich stärkere Geschütze auffahren. Michael ist ja überhaupt nicht mehr ansprechbar. Aus dem Geheimfach unterhalb meines Sitzkissens hole ich die viereckige Flasche mit der Notfallmedizin heraus. Don Julio, Direktimport aus Jalisco. Das, was man hier in Deutschland unter der Bezeichnung Tequila verkauft, würde ein Mexikaner höchstens „Mata ratas“, Rattengift nennen.

Michael bekommt große Augen. Tja, in so einen Elektrorollstuhl kann man die tollsten Dinge nachrüsten. Nach dem zweiten Glas ist Michael wenigstens nicht mehr so fahrig und einigermaßen ansprechbar.

„Hast du denn mit Tanja schon gesprochen?“

„Kann ich nicht. Ich kann ihr noch nicht mal in die Augen sehen. Mensch, mei Tanja, die macht doch sowas net!“

Ich hatte bewusst vermieden, die DVD wieder aus dem Player zu nehmen. Mir waren bei dem billig gemachten Filmchen ein paar Dinge aufgefallen. Dazu müsste ich mir aber den Film noch mal genauer anschauen. Bei einer industriell gefertigten CD oder DVD ist nämlich das Presswerk, in dem die Scheibe hergestellt wurde, mit angegeben. Dieses Verfahren ist aber so aufwändig, dass es sich erst bei größeren Auflagen rentiert. Dieser Film wurde vermutlich gebrannt, also mit Laser auf die DVD geschrieben. Auch dabei hinterlässt die Software auf dem Medium bestimmte Spuren. Manchmal ersparen einem diese Spuren einen Haufen Laufarbeit. Na ja, mit Laufarbeit ist es bei mir sowieso nicht weit her.

* * *

Als Erstes muss jetzt Tanja mit einem Psychologen sprechen. Bei Pornofotos montiert man oft die Köpfe von beliebigen Menschen auf die Körper der Akteure. Mit einem guten Bildverarbeitungsprogramm ist das gar nicht so schwer. Und seit die Kamerahersteller so genannte Light-Versionen professioneller Software ihren Produkten kostenlos beilegen, hält sich inzwischen jeder dritte für einen verkannten Sachs oder Hamilton. Die Gesichter zu finden, ist ziemlich einfach. Meistens fotografiert man bei Sportveranstaltungen oder Festen einfach in die Menge. Das ist sogar legal. Als Teil einer Menschenmenge werden keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Da lassen sich dann genügend Gesichter in passendem Winkel mit entsprechender Mimik heraus schneiden. Das ist dann schon weniger legal. Richtig illegal wird es aber, wenn diese Gesichter in irgendwelche wilden Szenen, die man sich beliebig aus dem Internet laden kann, hinein kopiert werden. Die Betroffenen bekommen das erst dann mit, wenn diese Bilder wiederum im Internet auftauchen, nachdem die Bildbastler damit ihre Stammkunden beliefert haben.

Was bei Fotos ziemlich einfach ist, ist bei bewegten Bildern wahnsinnig aufwändig. Erst ab 16 Bildern pro Sekunde ist eine einigermaßen flüssige Bewegung zu erkennen. Üblicherweise arbeitet man mit 24 Bildern pro Sekunde. Das heißt, pro Sekunde Film müssen 24 Bilder bearbeitet werden. Das auf der DVD ist definitiv Tanja. Nicht nur das Gesicht stimmt, auch das Muttermal auf ihrer Hüfte ist unverkennbar. Und dass man sie bis zu Halskrause unter Drogen gesetzt hatte, dazu war nun wirklich kein Hochschulstudium nötig, um das zu erkennen. Jetzt ist aber erst mal Schadensbegrenzung angesagt. Jetzt muss ich etwas tun, das ich normalerweise nie tun würde. Zu seinem eigenen Schutz muss ich Michael anlügen. Eine Person so in einen Film hinein zu montieren, wie auf der DVD, dazu wäre ein Aufwand nötig gewesen, der das Budget solcher Billigfilme mehrfach überschritten hätte. In einer Diskothek unerfahrenen Teenagern etwas in ihr Getränk zu schütten, ist viel einfacher und billiger. Bei manchen Drogen ist das Erinnerungsvermögen einfach ausgeschaltet. Das Opfer wacht morgens total verkatert in seinem Bett auf und glaubt an einen Filmriss. Das Üble ist, dass sich beim Drehen natürlich kein Mensch schützt. Professionelle Pornodarsteller achten extrem auf ihre Gesundheit. Ihr Körper ist schließlich ihr Kapital. Mit einer Geschlechtskrankheit können sie höchstens noch in Billigproduktionen mitspielen. Zusammen mit Anfängern oder eben Jugendlichen, die man mit Drogen willenlos gemacht hat. Und so schließt sich der Kreis. Allerdings sind von Drogen Vergiftete ziemlich passiv. Entweder man hat eine neue Droge entwickelt, oder Tanja hat wirklich freiwillig mit gemacht. Der Spaß, den sie an der Sache hatte, war ja nun unübersehbar. Tanja muss unbedingt untersucht werden, physisch und psychisch.

„Micha, ich glaube, dass man Tanja reingelegt hat. Bitte lass mir die DVD hier. Ich will mal nachprüfen, ob das keine Fälschung ist.“ Es ist unglaublich, was meine Worte bewirken. Ist seine Tanja doch nur Opfer? Keine Täterin? Michael wirkt sofort ruhiger.

„Na klar, behalt den Dreck ruhig bei dir“, seine Stimme kann die Erleichterung nicht verbergen. „Mensch, was bin ich froh! Da muss ich gleich...“

„STOP!“

Sein Redeschwall versiegt abrupt. Fragend sieht er mich an.

„Pass auf. Bitte sprich mit deinen Vereinskameraden. Die müssen jetzt absolut die Klappe halten. Kein Wort zu niemand, vor allem nicht zu Tanja. Ich rufe dich an, sobald ich kann. Tanja muss aber auf jeden Fall mit jemand sprechen. Ich kenne da eine speziell geschulte Psychologin. Außerdem muss ich wissen, wie dein Freund an das Video gekommen ist. Auf dem Cover ist nämlich kein Vertrieb angegeben. Die DVD ging bestimmt nicht normal über die Theke.“

„Ja aber, wenn Tanja gar nichts dazu kann?“

„Genau deswegen muss sie mit der Psychologin sprechen. Lass' dir was einfallen. Sollte der Film nämlich echt sein, dann braucht Tanja alle Hilfe, die sie kriegen kann und zwar sofort, nicht erst in ein paar Tagen. Wenn der Film ein Fake, also eine Fälschung ist, dann hat Tanja vielleicht unbewusst etwas mitbekommen, das uns weiter hilft. Das könnte die Psychologin herausfinden, die ist schließlich darin geschult.“

Als Michael gegangen war, brauche ich erst einmal eine gute Portion meiner Notfallmedizin. Mensch, Tanja, wo bist du da nur rein geraten? Man kann mit Drogen eine Menge anstellen, und hier waren stark enthemmende Präparate eingesetzt worden. Einen Menschen dazu zu bringen, dass er etwas tut, das ihm widerstrebt, und dann noch mit echter Begeisterung, diese Droge muss erst noch erfunden werden. In dem Alter machen viele ihre ersten Erfahrungen. Ich selbst habe mit 15 meine ersten zarten Tastversuche gestartet. Wobei das Wort Tastversuche sogar wörtlich genommen werden kann. Wollen wir das Thema nicht vertiefen. Tanja war jedenfalls über die ersten Tastversuche definitiv schon hinaus. Aber das war eine Sache, die betrifft nur Tanja und ihre Eltern. Ich muss erst einmal telefonieren.

„Elsbeth“ „Ja, Chef?“ „Telefon, Nina Möller in der Psychologischen Fakultät“ „Bleib dran“

* * *

Wie schon gesagt, in so einen Elektro-Rollstuhl kann man eine Menge einbauen. In der Reha habe ich Steffen kennen gelernt. Der ist total abgedreht, hat die schrägsten Ideen und ich mit meinem E-Rolli muss dann immer herhalten. Mit dem Ergebnis, dass dauernd meine Akkus leer sind. Bis Steffen auf die Idee mit der Brennstoffzelle kam. Hätte mich fast meinen Rollstuhl gekostet. Da mein Sitzfleisch einen leichten Brandschaden davon getragen hatte, habe ich das erst mal in der Klinik checken lassen. Steffen war mit verlegenem Gesicht und meinem lädierten Rollstuhl abgezogen. Zwei Tage, bevor ich aus der Klinik entlassen werden sollte, grinste Steffen zur Tür herein. „Überraschung!“ Mit einem leisen Pfeifen surrte er, meinen Rollstuhl im Schlepptau zur Tür herein. „Also, das mit der Brennstoffzelle, das war nix. Ich sag nur, Apollo 13. Jetzt haste ne Mikroturbine. Da gibt’s ein neues Lagermaterial. Spezialkeramik. Braucht keine Schmierung, keine Kühlung. Pfeift e bissi, aber des krieg ich noch weg. Von null auf fuffzich in 2,6 Sekunden. Alle 4 Wochen ne Campinggasflasche. Un noch e klaa Überraschung hab ich dir nei gemacht.“

Ich hatte irgendwann einmal mit KI, künstlicher Intelligenz herum probiert. Außer einer selbst lernenden Datenbank, die wenigstens die Entwicklungskosten wieder hereingebracht hatte, war aber nichts dabei herausgekommen. Steffen hatte irgendwann mal bei mir den Quellcode für die Lernfunktionen gefunden. „Kann ich mir das einmal genauer anschauen?“ „Na klar, die Algorithmen sind sowieso veraltet.“

Von wegen veraltet. Mein altes Notebook, dem ich irgendwann einmal eine Handy-Karte eingebaut hatte, verschwand in den unendlichen Tiefen meines Rollstuhls. In der Kopfstütze versteckten sich fortan ein Mikrofon und ein winziger Druckkammerlautsprecher. Mit Sprachein- und Ausgabe hatten wir beide schon herumgebastelt, aber das mit den KI-Funktionen zu koppeln, das konnte nur Steffen einfallen. „Sach mir ma n Name“ „Hä?“ „En Name halt, was der grad so eifällt.“ „Elsbeth?“ Bevor ich den Mund zu klappen konnte war es heraus.

Seitdem heißt der Notebook in meinem Rollstuhl Elsbeth. Manchmal habe ich selbst das Gefühl, mit dem Rollstuhl zu reden. Über die GSM-Karte kann Steffen ihn sogar fern warten. Glaube ich jedenfalls. Manchmal, wenn ich morgens in meinen Rollstuhl gesetzt werde, kommt es mir so vor, als würde er ein bisschen anders reagieren, als am Abend vorher. Meistens besser.

* * *

„Ja, Möller“, früher waren wir einmal Kollegen gewesen. Nach so manchem heftigen Einsatz durften wir bei ihr antreten, zum Dachboden aufräumen, wie wir das nannten. Erst hielten wir das Ganze für einen schlechten Scherz unserer vorgesetzten Dienststelle. Jedes Mal, wenn ein paar Tropfen Blut zu sehen waren, durften wir bei der Dachdeckerei antreten. Aber nachdem ein Geiselnehmer, nur, um uns zu zeigen, dass er es ernst meint, uns den noch warmen Körper eines achtjährigen Mädchens quasi vor die Füße geworfen hatte, war ich dankbar, dass man Ninas Stelle geschaffen hatte. Und dann diese Stimme! Ninas Stimme lies immer noch eine leichte Gänsehaut meinen Rücken herunter rieseln. Hätten wir uns unter anderen Umständen kennen gelernt, dann wäre vielleicht sogar aus uns etwas geworden. Aber so, als Kollegen. Da waren wir zu sehr Profis, um mehr daraus werden zu lassen. Was uns aber nicht daran hinderte, jedes Mal, wenn wir uns sahen, die Funken sprühen zu lassen. Grenzen sind eine feine Sache, speziell, wenn man sie sich selbst setzt. Das gibt einem dann auch die Sicherheit, immer wieder bis an diese Grenzen zu gehen.

„Hier ist der Schrecken der Witwen und Waisen.“

„Bender, du alte Nase, hast du mit deinem Rolli wieder die Radarfahnder geschockt?“

Noch nicht einmal meine Mutter nennt mich Friedwart. Sie sagt entweder „Sohn“ oder „Kleiner“. Früher hat sie mal „Großer“ gesagt. Aber seit ich im Rollstuhl sitze, bin ich nur noch der Kleine. Stimmt ja eigentlich auch. Ein rollender Meter zwanzig. Der Letzte, der Friedwart zu mir sagte, hat zwangsläufig eine zeitweise Vorliebe für Puddings, Suppen und Brei entwickelt.

„Nina, ich hab da 'ne ziemlich üble Sache. Würd' ich aber ungern am Telefon bereden. Wann hast du denn Mittag?“

„Wenn du da bist.“

Während des Telefonats bin ich schon mit dem Aufzug in die Tiefgarage unterwegs. Das ist der Vorteil, wenn auf dem Nachbarhaus die nächste Mobilfunkstation steht. Da hast du sogar in der Tiefgarage noch ein Netz.

„Elsbeth, Auto aufmachen und Lift raus.“

„OK, Chef. Lift fährt aus.“

* * *

Vor Jahren gab es einmal eine Fernsehserie, das A-Team. Vier Vietnam-Veteranen, die zu Unrecht irgendeiner schlimmen Geschichte beschuldigt wurden, halfen, obwohl sie als Deserteure gejagt wurden, auf ziemlich spektakuläre Weise anderen aus diversen Klemmen. Eins der Highlights dabei war das Auto von B. A. Barracus, gespielt von dem Wrestler Mr.T. Ein GMC-Vandura, schwarz mit roten, nach vorne spitz zulaufenden Streifen. Das wäre schon eine heiße Sache gewesen, aber ein Karbon-Verbund-Aufbau auf einem Mercedes Vito-Chassis kommt dem schon recht nahe. Schwarz mit den typischen roten Streifen. Hinten hat er einen Lift eingebaut, der meinen Rollstuhl in die Kabine hebt, in der Seitentür eine Klappe, die ziemlich schnell ausgeklappt werden kann. Es ist immer doof, wenn man endlich einen Parkplatz gefunden hat und dann nicht aus dem Auto raus kommt. In den Seitenwänden ist mein kleines Computerlabor untergebracht. Der Bordcomputer ist inzwischen auch nicht mehr ganz original. Nachdem wir festgestellt hatten, dass die Sprachsteuerung vom Rollstuhl eine ziemlich einfach zu realisierende Geschichte ist, haben wir ins Auto auch ein klein wenig Programmierarbeit gesteckt. Glücklicherweise gibt es von verschiedenen Herstellern schon Sprachsteuerungen für Behinderte, da konnten wir uns so einiges abschauen. Normalerweise hat man einen Autoschlüssel mit Funksteuerung für die Zentralverriegelung und die Fenster. Dann haben der Lifter, die Standheizung und noch ein paar andere Zubehörteile jeweils eine eigene Fernbedienung. Anfangs habe ich mir die alle mit Schlüsselbändern umgehängt. Sah aus wie ein Faschingsprinz. Die ganzen Frequenzen und Codes herauszufinden, war für Steffen keine große Sache, reine Fleißaufgabe. Jetzt macht Elsbeth das für mich und ich habe wieder die Hände frei.

Mit dem Rollstuhl rolle ich direkt hinter das Lenkrad. Die Elektronik merkt, wenn ich in Reichweite bin, zieht den Rollstuhl in Parkposition und verriegelt ihn. Dabei legt sich der Sicherheitsgurt um mich und hakt ein. Gleichzeitig fährt der Lift ein und die Hecktür schließt sich. Ein Druck auf den Starter und der 8 Zylinder Turbodiesel lässt ein wohliges Brummen hören.

Wie ich das Ganze finanziert habe? Der Basisumbau war eine Wiedereingliederungshilfe, wie es in Amtsdeutsch so schön heißt. Und so, wie ich in unserer Einheit der Computerspezialist war, hatten wir auch einen Autoschrauber. Bernd, aus dessen Sig-Sauer die 9 mm Blei kamen, die mein Leben so drastisch veränderten. Es war ein Unfall, für einen Querschläger kann kein Mensch etwas. Die Kollegen haben es ihm gesagt, Nina unterhält sich regelmäßig mit ihm. Ich habe ihm gesagt, ich muss ihm nicht verzeihen, es war ein Unfall, es gibt nichts zu verzeihen. An guten Tagen glaube ich das sogar selbst. Aber Bernd besteht darauf. Alles was er so in die Finger bekommt, ich habe es als Erstes verbaut.

Inzwischen haben wir ein ganz merkwürdiges Verhältnis. Im Einsatz, da musste sich jeder blind auf den anderen verlassen können, das haben wir trainiert, immer wieder - und immer wieder neue Szenarien. Aber jede Eventualität kann man einfach nicht trainieren. Aus dem Polizeidienst musste ich damals ausscheiden. Jetzt werde ich als ziviler Berater immer dann angefordert, wenn es irgendwie mit Computern zu tun hat. Wobei, manche Kollegen haben immer noch Berührungsängste. Kann ich aber auch verstehen. In den Medien werden wir immer als seelenlose Kampfmaschinen dargestellt, die mit bloßen Händen töten können. Das mit den bloßen Händen, das ist schon richtig. Aber keiner von uns ist stolz auf dieses Wissen. Ich höre noch unseren koreanischen Ausbilder. „Der beste Kämpfer“, sagte er immer, „Der beste Kämpfer ist der, der nicht kämpft.“ Die meisten meiner Kollegen sind sogar ziemliche Sensibelchen. Wir haben gelernt, dass man einfach manchmal Gewalt anwenden muss, auch wenn man sie verabscheut. Gewalt ist immer das letzte Mittel. Aber wenn man sie anwenden musste, dann blitzschnell, und mit aller Härte. Unnötig würde keiner von uns jemand schaden.

Wenn ich heute in seine Bastelbude komme, wie er seine Werkstatt nennt, ist es fast, wie früher. Nur seine Augen, in Momenten, in denen er sich unbeobachtet glaubt, die folgen mir mit diesem Ausdruck, als wollte er sagen, wenn du wüsstest. Die 3 Gs, die hat man uns immer wieder eingebläut, geladen, gespannt und gesichert. Ja, er hatte seine Waffe entsichert gehabt. Natürlich hat er sie entsichert. Im Einsatz kann manchmal genau diese Sekunde entscheidend sein. Wie oft bin ich mit gezogener Waffe in ein Haus hinein. Ziehen, entsichern, das ist eine Bewegung, tausendfach geübt. Aber dieser traurige Ausdruck, der wird wohl noch eine ganze Weile in seinen Augen bleiben. Da hat Nina noch jede Menge zu tun.

Hätte Bernd damals einfach drauf gehalten, finaler Rettungsschuss, Lied aus, alle gehen nach Hause, wäre ich möglicherweise heute noch prima zu Fuß. Aber er hat versucht, den Angreifer unblutig zu stoppen. Mit einem tausendfach geübten Griff. Beim 1001. Mal prellte ihm sein Gegner die Waffe aus der Hand. Beim Aufprall löste sich der Schuss. Die Kugel streifte einen Metallträger und blieb in meinem Rücken stecken, was zwei Lendenwirbel dazu brachte, schärfsten Protest einzulegen, indem sie sich in Krümel verwandelten. Dumm gelaufen!

Hinterher hat es sich herausgestellt, es war ein harmloser Messegast gewesen. Ein mehrfacher Familienvater, der einige Tage Messestress mit ein paar Bierchen weg spülen wollte. Unsere Forensik konnte später eine Substanz in seinem Blut nachweisen, die diese Bewusstseinsveränderung ausgelöst hatte. Plötzlich, vollkommen ohne Vorwarnung, war er auf die anderen Gäste in der Bar losgegangen, mit einer erschreckenden Brutalität. Als die gerufene Streifenwagenbesatzung ihn festnehmen wollte, hatte er einem Beamten die Waffe entrissen und die Bardame als Geisel genommen. Tja, und wir hatten an diesem Abend Bereitschaft. Auch bei der Verhandlung kam nicht heraus, wie und warum er an diese Droge gekommen war. In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten, selbst ich hätte als Richter so entscheiden müssen. Aber mein Name wurde in der Verhandlung nicht einmal erwähnt.

Zu unserem eigenen Schutz wissen sogar unsere Freunde und Nachbarn nur, dass wir einen total langweiligen Job in irgendeiner Verwaltungsbehörde haben.

Hatten.

Ich jedenfalls hatte.

* * *

Aus meiner gemütlichen Altbauwohnung in der Homburger Landstraße musste ich ausziehen, der Aufwand, die behindertengerecht umzubauen, wäre immens gewesen. Die neue Wohnanlage in der Nähe der Unfallklinik hat zwar nicht so viel Charakter, aber es ist alles schon da. Lift, befahrbare Dusche, Notrufknopf im Schlafzimmer und im Wohnzimmer, Tiefgarage und das Schönste, eine unterfahrbare Küche, deren Bedienelemente auf Rollstuhlhöhe angebracht sind. Arbeitsplatte und Herd lassen sich sogar elektrisch verstellen – ein Traum. Für meine neuen Nachbarn bin ich der verrückte Technikfreak, der sich einbildet, privater Ermittler zu sein. Laut, auffällig, mit einem leichten Sprung in der Schüssel, aber harmlos. Willst du etwas verstecken, dann mache eine Schleife drum und stelle es mitten auf den Tisch.

Und jetzt bin ich auf dem Weg zu Nina Möller, ehemalige Kollegin, inzwischen gute Freundin, die einzige Person, die mir in Moment einfällt, um den Knoten zu entwirren.

„He, Bender, die Friedberger Warte ist mal wieder dicht. Geht aber immer noch am schnellsten. Die Alternativen sind noch mehr verstopft.“ Ich muss dringend mit Steffen reden. Die Kopplung von Elsbeth mit dem Bordcomputer vom Auto, das ist ja noch einigermaßen in Ordnung. Jetzt hat er aber noch eine Navigationssoftware mit eingebunden. Seitdem quatscht mir Elsbeth dauernd beim Fahren rein. Soll sie doch selber fahren, wenn sie alles besser weiß. Ja, im Kopf weiß ich, dass das alles nur bits und bytes sind, nur ein paar Computerprogramme, die allerdings ziemlich pfiffig miteinander interagieren. Aber wenn mir beim Fahren dauernd jemand rein redet, dann ist mir das so ziemlich egal, wer das ist. „Elsbeth, halt die Klappe, ich muss denken.“ Ich weiß zwar nicht, ob der Computer den Satz nicht als Anweisung interpretiert, und deswegen einfach nichts macht, oder nichts macht, weil genau das die Anweisung ist. Ist mir eigentlich auch egal, Hauptsache ich hab meine Ruhe.

Mir ist nämlich gerade siedend heiß etwas eingefallen, oder eher aufgefallen. Der Typ, der meinen letzten Einsatz verursacht hatte, der war mit einer neuen Droge vergiftet worden. Was wäre denn, wenn diese Droge nicht das Bewusstsein verändert, sondern nur bestimmte Emotionen verstärkt. Wenn der in der Bar sich eine bestimmte Zeit, nachdem er die Droge zu sich genommen hat, von jemand sauer oder wütend gemacht worden wäre, dann wäre er genauso ausgerastet, wie er ausgerastet ist. So, und jetzt Tanja. In dem Alter ist sie voll in der Pubertät, ist mittendrin, ihre Sexualität zu entdecken. Gesetzt der Fall, es handelte sich um dieselbe Droge und sie würde unter ihrem Einfluss irgendwie stimuliert, dann hätte ich genau das Ergebnis auf DVD.

„Elsbeth, Telefon, Walther Lehmann.“ Amtsrat Walther Lehmann, mein ehemaliger Einsatzleiter hat den Rahmenvertrag mit unserer Dienststelle durchgedrückt, mit dem er mich schnell anfordern kann, ohne erst drei Vergleichsangebote einzuholen und das Ganze von den Pfennigfuchsern absegnen zu lassen. Es ist schon richtig, jemand muss darauf achten, dass unsere Steuergelder nicht sinnlos für irgendwelche Kinkerlitzchen aus dem Fenster geworfen werden. Bei Gefahr im Verzug kann ich aber auch nicht warten, welcher Rettungsdienst möglicherweise 2 Cent billiger pro gefahrenem Kilometer ist. Ich erwarte, dass, wenn ich einen Notruf absetze, jemand kommt. Und dafür gibt es Rahmenverträge. Wenn Walther einen Spezialisten braucht, schaut er, wer ist geeignet, wer davon verfügbar und ein paar Minuten später springt jemand ins Auto. Abgerechnet wird nach dem Einsatz.

„Lehmann“ mit einem gesprochenen Ausrufezeichen hinten dran. Walthers sonore Stimme lässt mich innerlich strammstehen. Ich könnte mich dafür ohrfeigen, aber jedes Mal muss ich mich erst einmal räuspern.

„Ähem, Bender, servus Walther. Ich bin auf dem Weg zu Nina und würde hinterher gerne bei dir rein schauen. Ich glaube, ich hab da was rausgefunden. Da müssten wir aber noch was recherchieren.“

„Bender, du hörst dich schon wieder an wie Columbo. Frag doch einfach, ob ich Zeit hab, dann sag ich, ist jetzt ganz schlecht und dann sagst du, ich brauch nur n paar Minuten, stell schon mal den Kaffee auf. Also, Klartext! Wichtig?“

„Kann ich dir noch nicht sicher sagen, aber wenn, dann richtig.“

„Alles klar, ich stell Kaffee auf.“

Das ist das Angenehme, wenn man sich schon länger kennt. Walther weiß genau, dass ich ihn wegen Kleinigkeiten nicht nerven würde. Außerdem hat er eins nicht verloren, seine Neugierde. Ich sehe genau vor mir, wie er sich jetzt zur Kaffeemaschine dreht, die hinter ihm auf dem Sideboard steht und gedankenverloren mit der Hand über die Borsten streicht, die er als Frisur bezeichnet. Über die teerartige Substanz, die von seiner Kaffeemaschine erzeugt wird, kursieren die wildesten Gerüchte. Sie weigert sich entschieden, auch mit Unmengen von Milch eine andere Farbe als schwarz anzunehmen. Bei den Mengen, die Walther davon verbraucht, hat schon einmal jemand behauptet, er wäre ein Cyborg und das Zeug wäre der Brennstoff für seinen Fusionsreaktor. Alles übertrieben! Wahr ist, dass wir damit schon so manche heftige Sonderschicht ohne Müdigkeitsausfälle überstanden haben. Ein einigermaßen guter Magen ist allerdings Voraussetzung.

Die Behindertenparkplätze sind mal wieder von allen möglichen Fahrzeugen zugestellt. Normalerweise würde ich jetzt die nächste Wache anrufen. Mit Abschleppgebühr und Bußgeld käme das auf knapp 500 Euro pro Falschparker. Da kann er sich überlegen, ob er das nächste Mal nicht doch ins Parkhaus fährt. Zumal das genau 150 Meter weg ist. Ich glaube, die Jahreskarte fürs Parkhaus kommt so um die 350 Euronen. Da ist locker noch ein Abendessen drin. Idioten, die müsste man alle anzeigen! Aber heute ist es mir zu doof, ich hab’ s eilig. Die Parkhausgebühren pack’ ich auf die Spesenabrechnung.

Im Parkhaus parke ich sicherheitshalber so, dass ich zur Wand rechts noch Platz habe, um die Klapprampe auszuklappen. Als ich den Zündschlüssel abziehe, gibt mir die Elektronik den Rollstuhl frei.

„Rechts oder hinten, Bender?“

„Was?“

„Willst du rechts oder hinten raus?“

„Wieso?“

„Ich kann an der Position des Fahrzeugs nicht eindeutig erkennen, wo du aussteigen möchtest, sonst hätte ich schon aufgemacht.“

Steffen, wir müssen unbedingt an unserer Kommunikation arbeiten. Manchmal macht er sich einen Spaß daraus, mich mit einer neuen Funktion zu überraschen. Was wäre gewesen, wenn ich nur einfach angehalten hätte, vor einer Bahnschranke beispielsweise?

Inzwischen bin ich durch die Hecktür ausgestiegen und fahre den Lift wieder ein. Die Tür schließt sich, und Alarmanlage und Wegfahrsperre schalten scharf. Das ist praktisch, das kann ich gebrauchen. Aber die Geschichte mit dem automatischen Tür Aufmachen, da muss Steffen noch mal dran. Verstehen kann ich ihn ja. Ich mag es nur nicht, wenn mein Auto schlauer ist, als ich.

Als ich draußen an den Behindertenparkplätzen vorbei rolle, sind die Damen vom Ordnungsamt schon fleißig am Schreiben und Telefonieren. Eine kennt mich vom Sehen. „Danke für den Anruf, da freut sich die Stadtkasse!“ Aus Elsbeths Lautsprechern dringt leises, melodisches Pfeifen. Erst bin ich sauer, dann muss ich doch grinsen. Wie Steffen das programmiert hat, das war nicht schlecht. Die Behindertenparkplätze sind in einer Online-Datenbank abgelegt. Mit dem GPS lässt sich die eigene Position feststellen. Die Belegung der Parkhäuser steht auch online. Aber wie er feststellt, dass die Parkplätze unberechtigt belegt sind, das muss er mir sagen. Der Anruf beim nächsten Revier ist dann kein Thema mehr. Allerdings kann ich diese Eigenmächtigkeit nicht ausstehen. Schon gar nicht von einem Computer. Da werde ich zu Hause mal Elsbeths Protokolle durchgehen.

Wahrscheinlich habe ich vorhin wieder vor mich hin geschimpft und Elsbeth hat es als Befehl genommen.

Dann steht sie vor mir, 170 cm geballte Weiblichkeit mit einem Paar Augen, in denen man sich verlieren könnte. Nina hat mir nach dem Unfall unheimlich viel geholfen. Für mich war das Leben zu Ende. In einem Moment bist du ein aktiver, sportlicher Mensch, im nächsten ein Krüppel, dessen Beine bei manchen Gelegenheiten wie von selbst zucken und das war’s. In langen Gesprächen hat sie mich wieder aufgebaut. Schritt für Schritt, die ersten, mikroskopischen Fortschritte haben wir gefeiert, als hätten wir Schlachten gewonnen. Als frischer Querschnitt verbringt man aus nachvollziehbaren Gründen anfangs relativ viel Zeit im Bett. Damit man sich nicht wund liegt, wird man alle paar Stunden umgedreht. Von ganz links nach halb rechts. Von halb rechts nach halb links. Von halb links nach ganz rechts. In die Mitte. Nach ganz links. Und so weiter. Morgens eine Stunde im Rollstuhl. Nach der Mittagsruhe vielleicht noch eine Stunde. Wenn es die Kraft erlaubt. Als ich mich das erste Mal ohne Hilfe im Bett gedreht habe, hat mich Nina auf den Balkon vor dem Zimmer geschoben. Dann hat sie aus ihrer Tasche eine Butterbrezel gezaubert, zwei Tassen und eine Thermosflasche Kaffee. Richtigen Kaffee, nicht diese geschmacklose Brühe, die es in Krankenhäusern gibt.

Also dem nach, was den Kostenträgern berechnet wird, muss der Krankenhauskaffee eine ganz spezielle Spezialröstung sein, bei der jede einzelne Bohne bei Vollmond von fair bezahlten äthiopischen Jungfrauen in einer mundgeklöppelten winzigen Kupferschale über einer Kerze geröstet wird. Und deren Wachs wird aus den Brustringen einer einzigen, eigens dafür gezüchteten südamerikanischen Biene gewonnen. Seinen bitteren Geschmack erhält er durch die Beigabe einer Essenz, die aus der Galle ungeborener Hamster gewonnen wird.

Auf dem Balkon, die Gesichter in der Sonne, feierten wir, dass ich es wirklich selbst geschafft habe, mich von ganz rechts nach halb links umzudrehen.

Ganz alleine.

Ohne Hilfe.

Für mich war das ein rauschendes Fest.

Ja, und jetzt brauche ich wieder einmal Ninas Hilfe. Dieser kleine Schmuddelfilm mag vielleicht ziemlich billig gemacht sein. Das Ding ist aber ein knallharter Porno. In gynäkologischen Lehrfilmen sind auch nicht viel mehr Details zu sehen. Ich werde mir die DVD noch einmal genauer ansehen müssen, aber ich bin schon jetzt sicher, dass da nicht mit Tricks gearbeitet wurde. Gut, bei den Close-ups, da wurde mit Sicherheit gedoubelt. Die Doubles, die waren zum Zeitpunkt der Aufnahmen definitiv über achtzehn. Als Allererstes muss Nina herausfinden, was Tanja von der ganzen Geschichte überhaupt mitbekommen hat. Dann wird sie Tanja in ihrer unnachahmlichen Sensibilität vorsichtig die ganze Wahrheit nahe bringen. Dabei wird sie versuchen, so viele Informationen, wie möglich über die Entstehung des Films herauszufinden. Je mehr Tanja weiß, desto einfacher für uns, die Leute hinter der ganzen Geschichte fest zu nageln.

Bei dem, was Nina sonst so zu hören bekommt, ist sie nicht allzu leicht zu erschüttern. Diesmal ist sie sichtlich beeindruckt. „Mensch, Bender, sieh zu, dass ich die Kleine so schnell, wie möglich zu sehen kriege. Aber jetzt muss ich doch noch einen Blick auf die DVD werfen. Hatte ja gehofft, dass es mir erspart bleibt.“

Es ist schon komisch, was so manche Menschen mit der Darstellung von nackten menschlichen Körpern für ein Problem haben. Keiner von uns wurde im Arbeitsanzug geboren und bis zu einem gewissen Alter haben Kinder auch ein vollkommen natürliches Verhältnis zu ihrem Körper und seinen Bedürfnissen. Aber irgendwann verlieren sie diese Unbefangenheit. Manchmal schließen sie aus dem Verhalten ihrer Eltern, dass Nacktheit etwas Schmutziges, ja etwas Böses sein muss. Geht es dann noch um Sexualität, ist es ganz aus. Es ist wichtig, dass Kinder ihren Körper, ihre eigene Sexualität möglichst unbefangen entdecken können. Sie sollen sich so frei wie möglich entwickeln. Nur so können sie erfassen, dass Sexualität etwas Wunderbares ist. Wird diese Entwicklung gestört, dann rächt sich das spätestens, wenn die Kinder erwachsen sind. Sie werden dann im Idealfall ihren Kindern vorleben, dass Sexualität ein Thema ist, über das man nicht spricht. Meistens geben sie dieses gestörte Verhältnis zu Nacktheit und Sexualität einfach weiter.

Das ist der zweite Grund, weswegen Nina mit Tanja reden möchte. Für mich ist der sogar noch wichtiger. Je frischer die Erlebnisse sind, desto kleiner wird die seelische Narbe, wenn rechtzeitig gehandelt wird.

Nina hat inzwischen die DVD eingelegt und gestartet. Glücklicherweise kommt diese Art Film ziemlich schnell zur Sache. Nina spult bis zu der Stelle, als Tanja das Gesicht voll ins Bild dreht, und drückt den Pausenknopf. Dann zoomt sie Tanjas Gesicht näher heraus und wieder weg. Groß, klein, groß, klein. „Mmhmmh, so etwas hatte ich mir gedacht. Schau dir mal den Verlauf der Schatten an. In der Vergrößerung ist es klar zu sehen. Der Schatten, den Tanjas Nase wirft, kommt aus einer etwas anderen Richtung, als der von Tanjas Kinn. Bei noch höherer Vergrößerung sieht man, dass Tanjas Gesicht eine andere Auflösung hat, als das Gesicht ihres Filmpartners. Bei starker Vergrößerung sind auf Tanjas Gesicht noch Details zu erkennen, während ihr Filmpartner schon verpixelt ist, also nur noch aus Klötzchen besteht, genauso, wie die Couch, auf der beide sich vergnügen. Den Hintergrund zoomt sie heraus bis auf Pixelgröße, der stimmt mit der Auflösung. Interessant ist der Körper, der ja von Tanja sein soll. Er hat die gleiche Auflösung, wie die Couch, auf der er liegt. Tanjas Gesicht wurde also auf diesen Körper montiert. Was ist aber mit ihrem Muttermal? Nina zoomt auf Tanjas Hüfte. Eindeutig echt. Dieses Muttermal kenne ich, seit ich Tanja als Babysitter gewickelt habe. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Warum hat man auf Tanjas Körper ihr eigenes Gesicht montiert? Und dann so ungeschickt, dass es geradezu ins Auge springt?

Nina greift zum Telefon, wählt. „Walther? Kannst du bitte mal zu mir kommen?“ Walthers markantes Organ ist deutlich zu hören, wenn ich auch nicht verstehe, was er sagt. „Ja, der ist hier bei mir. Bitte, du musst dir was ansehen.“

„Bin ja schon da“. Graue Borsten, darunter das berühmte Grinsen, das ich in all den Jahren nur zwei Mal nicht gesehen habe. Einmal davon war auf der Intensivstation, als mein Ich eine kurze Stippvisite in die Realität versuchte. „Hab mir schon so was gedacht.“

Er tippt an sein rechtes Ohr, in dem sich verschämt ein winziger Ohrhörer versteckt. Das stecknadelgroße Mikrofon verschwindet in seinem gewaltigen Schnurrbart.

„Das ist vielleicht ein Mist. Können die Sesselfurzer keine Sprachsteuerung einbauen. Zum Auflegen musst du eine Taste drücken. Steinzeit! Vorsintflutlich. Von wegen 21. Jahrhundert.“ Die kerzengerade Haltung kann nur kurz darüber hinwegtäuschen, dass diese sonore Stimme aus knapp anderthalb Metern Höhe kommt. Aber was Walther an Körpergröße fehlt, das macht er durch eine unglaubliche Energie wett. Gepaart mit einer Intuition, die sich nicht nur mit seiner jahrelangen Erfahrung erklären lässt, war Walther der beste Einsatzleiter, den das SEK jemals hatte. Wenn im Kopfhörer „Mutters“ unverkennbare Stimme zu hören war, dann fühlten wir uns unverwundbar. Oft genug hatte er im letzten Moment eine Einsatzplanung umgeworfen. Ich weiß noch, wir hatten einen Tipp bekommen, in einem Haus in Neu-Isenburg sollte ein Waffendeal über die Bühne gehen. Michael Heck, unser Sprengstoffexperte hatte schon seinen „Dietrich“ präpariert, eine kleine Menge Plastiksprengstoff, gerade genug, um das Türschloss zum Aufgeben zu überreden. Normalerweise verständigen wir uns ab da nur noch mit Handzeichen, wenn überhaupt. Oft genug haben wir die Abläufe ja geübt. Plötzlich war Mutters Stimme im Funk. „Abbruch, Abbruch.“

„Bitte bestätigen.“

„Haut ab, weg da.“ Wir spurteten los, in Richtung Straße. Keine Sekunde zu früh. Ich bekam einen furchtbaren Stoß in den Rücken, der mich auf die Straße schleuderte. Etwas flog über mich, taumelte gegen ein geparktes Auto, dessen Scheiben alle auf einmal platzten. Dann kam der Knall. Von wegen Knall. Ein Brüllen, als hätte sich die Erde aufgetan.

Dann war es still. Michael rappelte sich mühsam auf, formte mit den Fingern das „Alles Klar“-Zeichen. Die Haustür hatte sich um das geschmiegt, was eben noch ein Auto gewesen war. Jetzt sahen wir, dass es eine Stahltür war, die man mit Holzfurnier beklebt hatte. Da hätte Michaels „Dietrich“ kläglich versagt. Der Windfang, der die Tür gehalten hatte, war regelrecht zu Krümeln zerborsten. Die ganze Front des Hauses war weg, kein Zimmer hatte mehr eine Außenwand, nur im Zwischengeschoss zwischen dem Hochparterre und dem ersten Stock hing eine Toilette in der Luft. Die Wand war zwar weggeblasen worden, aber die Wasserrohre hatten die Druckwelle überstanden. Michael und ich sahen uns an. Der Anblick war aber auch zu skurril. Wir platzten heraus, lachten laut los. Irgendwie musste der Druck sich Bahn schaffen.

„Zwei von Einsatzleitung, kommen.“

„Vier von Einsatzleitung, kommen.“

„Verdammt, Bender, sag was“, aus Walthers Stimme war die Besorgnis deutlich herauszuhören, aber Michael und ich, wir kämpften mit den Lachsalven, konnten nicht aufhören. Jedes Mal, wenn einer von uns zu einer Antwort ansetzte, ging das Gelächter von Neuem los, der andere musste einfach mit lachen.

„Einsatzleitung von Eins kommen.“ Die ruhige Stimme von Hauptkommissar Ottmar Wurtz, unserem Einsatzleiter vor Ort, klang im Funk auf. Sachlich kam sein Bericht. „Eins und vier scheinen nicht verletzt, weiter Meldungen folgen. An alle, abzählen – Eins, in Ordnung.“