BENDER - Überschrittene Grenzen - Roberto Sastre - E-Book

BENDER - Überschrittene Grenzen E-Book

Roberto Sastre

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Friedwart Bender, der Rollstuhl fahrende Privatermittler bekommt diesmal eine echte Herausforderung. Er stößt auf Menschen, die besondere Begabungen haben, Begabungen, die sich nicht auf Anhieb wissenschaftlich erklären lassen. Dem Computerspezialisten und eingefleischten Realisten wird kräftig an den Grundfesten seines Weltbilds gerüttelt. Seine ganze Technik nutzt ihm nur bedingt. Wird er daran scheitern? Oder ist er neugierig genug, um einen Blick über den Zaun zu riskieren? Und haben die toten Kinder mit Downsyndrom etwas damit zu tun, die im Mittelmeer-Raum auftauchen? Alles scheint mit einer Kinderklinik zusammenzuhängen - einer sehr speziellen Spezialklinik …

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Roberto Sastre

BENDER

Überschrittene Grenzen

Kriminalroman

Impressum:

1.Auflage

Deutsche Erstausgabe

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: Pixabay - CO0 Public Domain

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-684-0

MOBI ISBN 978-3-95865-685-7

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde,

als Eure Schulweisheit sich erträumen lässt.“

(Hamlet, William Shakespeare)

Kurzinhalt

Friedwart Bender, der Rollstuhl fahrende Privatermittler bekommt diesmal eine echte Herausforderung. Er stößt auf Menschen, die besondere Begabungen haben, Begabungen, die sich nicht auf Anhieb wissenschaftlich erklären lassen. Dem Computerspezialisten und eingefleischten Realisten wird kräftig an den Grundfesten seines Weltbilds gerüttelt. Seine ganze Technik nutzt ihm nur bedingt. Wird er daran scheitern? Oder ist er neugierig genug, um einen Blick über den Zaun zu riskieren?

Und haben die toten Kinder mit Downsyndrom etwas damit zu tun, die im Mittelmeer-Raum auftauchen? Alles scheint mit einer Kinderklinik zusammenzuhängen - einer sehr speziellen Spezialklinik …

Der Autor

Roberto Sastre ist in Deutschland geboren und führte als Computerspezialist ein einigermaßen geruhsames Leben, das nur von gelegentlichen Eskapaden des passionierten Rockmusikers unterbrochen wurde. Als ihn ein Kundenauftrag ins Ausland führte, packte ihn das Reisefieber. Einige Jahre lebte er in Lateinamerika, wo man seinen Namen kurzerhand verspanischte. Seit einem Unfall sitzt er querschnittgelähmt im Rollstuhl. Seine Abenteuerlust und den Spaß am Erzählen tobt er jetzt an der Tastatur aus.

Epilog

Ein Roman meines Kollegen Volker C. Dützer brachte mich auf die Idee, was wohl passieren würde, wenn Bender auf Phänomene stößt, die er sich mit dem, was er unter Realität versteht, nicht erklären kann. Sein Leben hat sich durch die Verletzung, die ihn in den Rollstuhl brachte, so verändert, dass er diese Realität als Anker benutzt, der ihn in diesem neuen Leben festhält. Was also würde passieren, wenn er feststellte, dass es Dinge zu geben scheint, die er sich mit all seinem Wissen nicht erklären kann. Zieht es ihm den Boden unter den Rädern weg, oder löst der Begriff: „Unerklärlich“ bei ihm eine Trotzreaktion aus?

„Unerklärlich? Gibt’s net, das muss sich erklären lassen!“

Das ist der Bender, den wir kennen.

Kennen wir ihn wirklich?

Und was noch viel spannender ist: Kennt er sich wirklich?

Überschrittene Grenzen

„So ein Idiot!“ Jenny war stinksauer. Dieser blöde Kevin aus der 7a hat sie schon wieder nach dem Turnen im Umkleideraum abgepasst. Mit ihren zwölf Jahren weiß sie schon lange, dass es zweierlei Menschen gibt. Und die ganze Sache mit der Fortpflanzung, das ist ihr auch klar. Wenigstens theoretisch. Auf dem Hof ihrer Oma, da hatte sie schon öfter gesehen, wie ein Hahn die Hühner bestieg. Einmal war sie auch dabei gewesen, wie ihre Tante dem Eber geholfen hat, sein Dings bei der Sau rein zu tun. Aber das hat nur ein paar Sekunden gedauert und war auch eher eklig gewesen. Wie Menschen so etwas schön finden können, das verstand sie nicht. Einmal hatte sie Sonntagabend so komische Geräusche aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern gehört. Sie dachte, die streiten sich, öffnete vorsichtig die Tür und spitzte durch den Türspalt. Was sie sah, verschlug ihr fast den Atem. Ihre Mutter saß auf ihrem Vater und schien ihn zu reiten. Er bäumte sich unter ihr auf, wie ein wildes Pferd, das seinen Reiter abwerfen möchte. Nur waren beide nackt und total nass geschwitzt. Und die Töne, die die beiden ausstießen – bäh! So etwas würde sie nie, nie im Leben mit einem Jungen machen. Egal, wie sehr sie ihn lieben würde. Mit ihrem Cousin Markus hat sie mal ein bisschen rumgeknutscht. Das war schön. Ganz neue Gefühle waren das gewesen. Richtige Schauder sind ihr den Rücken rauf und runter gelaufen – nicht schlimm, eigentlich hat es sogar gutgetan. Dann hat Markus versucht, ihr seine Zunge in den Mund zu schieben. Schon war der Zauber verflogen. Bäh! So etwas Perverses, igitt.

Mit elf fingen ihre Brustwarzen an, sich anders anzufühlen. Wenn sie nachts mit den Händen darüber fuhr, tat das ein bisschen weh, fühlte sich aber auch wieder gut an. Dann fingen ihre Brüste an, zu wachsen. Jetzt, mit zwölf waren sie schon fast so groß, wie Tennisbälle. Wenn sich die Mädchen nach dem Turnen umzogen, dann verglichen sie immer, wer wie weit war. Laura aus der Parallelklasse hatte sogar schon ein paar Haare da unten. Sie selbst tastete jeden Morgen nach, aber da war noch nicht einmal ein Flaum zu spüren. Aber das Nachtasten, das gab auch ein gutes Gefühl. Manchmal streichelte sie sich da, mit einem ganz schlechten Gewissen. Frau Wachtel, ihre Religionslehrerin hatte einmal gesagt, dafür würde man in die Hölle kommen.

Jedenfalls haben Kevin und seine Kumpels irgendwann einmal die Tür vom Umkleideraum aufgerissen und sind laut lachend durch den Raum gepoltert. Jenny hatte gerade ihr Sporttrikot über den Kopf gestreift und stand nur im Schlüpfer da. Wie erstarrt, sah sie die Rüpel an und war vor Schreck wie gelähmt. Yasemine warf ihr schnell ein Handtuch über, aber die Jungs hatten schon genug gesehen. Laut lachend rannten wieder hinaus. Kevins Stimme hallte über den ganzen Gang „Jenny hat schon Titten, habt ihr das gesehen, die geile Sau.“

Yasemine und Laura brachten die weinende Jenny zur Vertrauenslehrerin, eine junge Frau, die mit „Schwester Johanna“ angeredet wurde. Schwester Johanna trug keine Tracht, wie andere Ordensschwestern, sondern Jeans, eine Bluse und einen cremefarbenen Blazer. Als einzigen Schmuck hatte sie am Revers ihrer Jacke eine feine goldene Brosche angesteckt, die eine stilisierte Blume darstellte. Bei einer großen Tasse Kakao und einer kleinen Schachtel Oreo-Keksen wurde Jenny langsam ruhiger. „Weißt du, Jenny? Jungs können manchmal so richtige Arschlöcher sein.“ Aus dem Mund der sehr gepflegten Frau klang das ziemlich provokant. „Aber so, wie sich dein Körper verändert, tut es der bei denen auch. Diese grobschlächtigen Kerle sind davon total überfordert, die kommen mit der Veränderung nicht so leicht klar, wie wir Mädchen.“

Jenny hatte den Vorfall schon fast verdrängt, als Kevin sie ein paar Tage später nach dem Turnen abpasste. „Du hör mal. Das mit letztens tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“ Er legte ihr den Arm um die Schultern und wollte sie an sich ziehen. „Nee, lass mal. Ist schon in Ordnung.“ Jenny schob Kevin energisch von sich. Irgendwas an seinem Benehmen störte sie. Sie wich in den leeren Umkleideraum zurück. Ihre Freundinnen behaupteten, Kevin würde jedes Mädchen herum kriegen. Irgendetwas sei in seinem Blick. Was für ein Quatsch!

„Jetzt stell dich nicht so an, ihr Weiber macht aber auch immer ein Gedöns.“ Er war ihr gefolgt und stieß mit dem Fuß die Tür des Umkleideraums zu. Mit einer schnellen Bewegung hatte er sie wieder eingefangen. Dann sah sie in seine Augen. Sie wirkten wie mit Gold gesprenkelt und schienen bis auf den Grund ihrer Seele sehen zu können. Die Welt wurde zum Hintergrund, es gab nur noch Kevin. Eigentlich war er doch gar nicht so schlimm. Seine Hände waren überall. Sie hielten sie fest, griffen unter dem Shirt nach ihren kleinen Brüsten. Dann spürte sie, wie sich eine Hand in ihre Jeans schob. Auf einmal war die Welt wieder da. Genauso wie diese tastenden, fordernden Tentakel.

Jenny fielen die Witze ein, die sie sich mit ihren Freundinnen immer erzählt hatte, wenn keiner zuhörte. Laura hatte da mal etwas erwähnt, das könnte funktionieren.

„He, nicht so stürmisch“, raunte sie Kevin zu. Genau da, wo sie seine Hand absolut nicht haben wollte, da glitt bei ihm jetzt ihre Hand hinein. Kevin erstarrte. Jenny war, als müsste sie in das Ekligste greifen, dass sie je in der Hand gehabt hatte. Dann spürte sie etwas Warmes, Lebendiges und drückte mit aller Kraft zu, die ihr ihre Angst verlieh. Kevin stieß einen kurzen, erstickten Schrei aus. Als hätte ihm jemand die Beine weggezogen, saß er plötzlich auf dem Fußboden und hielt sich die Stelle zwischen seinen Beinen, die so furchtbar wehtat.

Nachdem Jenny sich bestimmt hundert Mal die Hände gewaschen hatte, klopfte sie an der Tür von Schwester Johanna. Die junge Frau sah sofort, dass etwas passiert war. „Komm rein. Willst du drüber reden?“ Jenny nickte und schaffe es genau bis zu dem Sofa, auf dem sie das letzte Mal Kakao getrunken hatten. Schon flossen wieder die Tränen.

Natürlich landete der Vorfall einige Tage später beim Schulleiter. Zu Jennys Entsetzen war Kevin mit seinen Eltern ebenfalls anwesend. Er hatte in paar unangenehme Stunden in der Notaufnahme verbracht. Eine sehr schmerzhafte Hodenquetschung, aber es würde keinen bleibenden Schaden geben. Seine Version war natürlich vollkommen anders. Jenny hatte ihn angemacht, in die Umkleidekabine gelockt und dann brutal überfallen. Als Kevins Eltern die zart gebaute Zwölfjährige sahen, fragten sie ihren Sohn, ob er sicher sei, dass so abgelaufen sei?

„Ja doch!“

„Und ob, es war wirklich dieses Mädchen gewesen?“

„Ihr könnt mich alle mal!“ Damit stürmte Kevin aus dem Raum. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sah Jenny direkt an. „Und du, du wirst dich noch umgucken.“Der Direktor sah Kevins Eltern an, dann fiel sein Blick auf das bebende Mädchen. „Jenny, ich kenne deine Geschichte von Schwester Johanna und wir alle kennen Kevin. Dann habe ich hier einen ärztlichen Befund aus der Unfallklinik vorliegen. Hat euch irgendjemand gesehen, der eine der beiden Geschichten bestätigen kann?“

Jenny schüttelte den Kopf. „Dann bleibt mir nichts anderes übrig. Wenn Kevins Eltern auf eine Anzeige gegen die Schule verzichten und auch gegen dich, dann verwarne ich dich hiermit. Die Verwarnung bleibt für drei Jahre in deiner Schulakte.“Kevins Eltern nickten gleichzeitig. Sie hatten das wohl schon öfter erlebt. Jenny konnte es nicht fassen. Da hatte dieses Riesenarschloch versucht, ihr wehzutun, und sie war jetzt die Böse?

Schwester Johanna wartete vor dem Büro des Direktors auf Jenny. Sie nahm sie wortlos in den Arm und brachte sie erst einmal in ihr Büro. Erst vor ein paar Tagen hatte Jenny erfahren, dass es eine Vertrauenslehrerin gab. Jetzt war ihr Büro für sie schon fast eine Art Zuhause.

*

Die Biologiestunde zog sich mal wieder hin. Langweiliger Kram, das wusste sie schon alles. Im Trakt gegenüber wurde die Mittelstufe mit Physik traktiert. Trakt – traktiert, fast hätte Jenny wieder einen Klassenbucheintrag wegen unmotivierten Kicherns bekommen. Diese Vertretungslehrerin war aber auch unmöglich.

Da saß auch Kevin, dem Jenny in der letzten Zeit aus dem Weg gegangen war. Protzig und breitbeinig thronte er in der obersten Reihe der wie in einem Hörsaal aufsteigenden Bänke. Grinsend sah er herüber, als er Jenny entdeckte. Sie machte sich ganz klein, aber er hatte sie schon gesehen. Jenny fühlte das Brennen seines Blicks sogar auf die Entfernung. Und wieder war ihr die Welt egal. Es gab nur noch sie beide. Ihre Hand fuhr wie von selbst an die Stelle, an der sie sich manchmal heimlich streichelte. Sofort war das schöne Gefühl wieder da, aber diesmal viel intensiver. Es füllte ihr ganzes Wesen aus. Irgendwo in ihrem Hinterkopf war noch eine Winzigkeit der Zwölfjährigen, die einfach nur Kind sein wollte. Sie spürte dieses Klebrige, Schleimige, mit dem sie das Bild von Kevin immer verband. Das Kind in Jenny wusste, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Es packte dieses Ekelpaket mit Armen, die stark wie zwei Kräne waren. „Raus aus meinem Kopf!“, brüllte ihre Gedankenstimme den Eindringling an und stieß ihn mit Wucht von sich.

Das Klirren des Fensters riss sie in die Wirklichkeit zurück. Wie in Zeitlupe sah sie, wie Kevin, der durch das Fenster gesprungen sein musste, nach unten fiel. Sein Gesicht zeigte keine Angst, nur die Frage, was passiert sei. Dann sah er Jenny direkt an und verstand.

„Was ’ast du, Mon Cher?“Schon eine ganze Weile drücken Lisa und ich uns vor einer Entscheidung. Haben wir jetzt eine Beziehung, oder haben wir keine? Wir wohnen faktisch zusammen in der kleinen Zweizimmerwohnung, die mir der Orden als Notunterkunft zur Verfügung gestellt hat. Meine große, rollstuhlgerechte Eigentumswohnung im Frankfurter Osten suche ich praktisch nur noch zum Lüften und Staub wischen auf. Dabei habe ich mir sie voll auf meine Bedürfnisse umbauen lassen. Die Küche lässt sich komplett aus dem Rollstuhl bedienen. Die Hängeschränke fahren elektrisch herunter, die Arbeitsplatten und der Herd sind unterfahrbar. Der Backofen ist so eingebaut, dass ich bequem dran komme. Im Bad ist alles optimal für mich angepasst, ich habe sogar einen Deckenlifter, der mich auf die Toilette und in die Badewanne hebt. Die Dusche ist durch eine Glaswand vom Bad abgetrennt und mit einem speziellen Duschrollstuhl befahrbar.

Wenn ich wollte, könnte ich 23 Stunden am Tag alleine in der Wohnung zurechtkommen. Mein Computerlabor treibt jedem Computerforensiker den Neid ins Gesicht. Selbst das Labor, das das Frankfurt Institute of Advanced Studies auf dem Riedberg betreibt, hat keine bessere Ausstattung. Die Computerermittler, die für das Polizeipräsidium arbeiten, kriegen jedes Mal lange Zähne, wenn wir uns für einen Fall bei mir treffen. Früher einmal habe ich viel mit ihnen zusammen gearbeitet. Da war ich auch noch bei der Bereitschaftspolizei und gehörte einer Sondereinheit zur Terrorabwehr an. Neben unserer Kampfausbildung musste jeder von uns noch mindestens eine weitere Aufgabe erfüllen. Klein Fritzchen glaubt vielleicht, dass wir uns den ganzen Tag von Hauswänden abseilen, oder Türen und Fenster einschlagen. Der schnelle Zugriff wird natürlich in allen möglichen Variationen geübt, aber auch das Leben eines Bereitschaftspolizisten besteht nicht nur aus Leute umhauen und Autos driften lassen. Mindestens genauso viel Zeit haben wir Gesetze gepaukt, Erste Hilfe geübt oder uns um unsere Zweitjobs gekümmert. Natürlich haben wir versucht, uns Aufgaben heraus zu suchen, die uns liegen. So hatten wir Sanitäter oder Rettungsassistenten, wie sie heute heißen. Autoschrauber waren genauso nötig wie Sprengmeister. Sogar ein Koch und zwei Buchhaltungsexperten gehörten zu unserer Truppe. Man weiß ja nie, wen man verhaftet oder beschützen muss. Meistens waren wir, bis die uniformierten Kollegen kamen, auf uns gestellt. Da war es schon wichtig, dass niemand die Chance erhält, irgendwelche Spuren zu vernichten. Mich haben schon immer Computer interessiert und so wurde ich der EDV-Experte unserer Einheit – neben der Kampfausbildung. Häufig habe ich mit den Informatikern der anderen Dienststellen zusammen gearbeitet. Die Universität in Frankfurt hat ebenfalls ein Informatik-Institut, das mit der Polizei und der Justiz zusammenarbeitet. Man kennt sich eben und hilft sich gegenseitig.

Bis zu diesem unseligen Tag, als ein Querschläger aus der Waffe eines Kollegen mein Leben als „Killermaschine“ beendete. Lange, lange habe ich mit dem Schicksal gehadert. Irgendwann kam dann die Erkenntnis: Entweder ich mache Schluss mit diesem Dahinvegetieren oder ich mache Schluss mit diesem Dahinvegetieren. Entweder ich knalle mir die Birne weg oder ich greife wieder an. Die Neugierde siegte. Mit einer Konzession als Privatermittler und der Abfindung meines bisherigen Brötchengebers fing ich an, mir wieder ein Leben aufzubauen.

Gleich beim ersten Fall ging es richtig zur Sache. Mein Patenkind wurde unter Drogen gesetzt und spielte bei einem Porno mit. Die Hintermänner der Sache waren tief ins organisierte Verbrechen eingebunden. Entsprechend heftig waren die Reaktionen, als sie merkten, dass sich ein neuer Ermittler einschaltete.

Dann wollte ich eigentlich nur ein paar Hacker unschädlich machen, was mich durch halb Europa führte und ein paar Mal fast ans Leben ging.

In beiden Fällen war ein geheimnisvoller Orden mit im Spiel. Inzwischen ist dieser Orden, der bis auf die Zeit der Kreuzritter zurückreicht, mein Hauptauftraggeber. Im Hauptsitz des Ordens, einem Kloster in der Nähe von Speyer, hat man mir eine kleine Wohnung eingerichtet, die ich mir mit Lisette de la Montagne teile. Lisa, wie wir sie nennen, habe ich bei meinem ersten Fall kennengelernt. Sie gehörte der Organisation an, gegen die ich ermittelte. Ich konnte sie dort herausholen und dabei auch gleich beweisen, dass Menschen, die für ihre Fortbewegung einen Rollstuhl verwenden, nicht automatisch asexuelle Wesen sind. Wir wohnen faktisch zusammen, haben fantastischen Sex. Nur das Wort „Beziehung“, das traut sich keiner von uns auszusprechen. Vielleicht liegt das daran, dass wir beide viel zu lange fremdbestimmt gelebt haben. Die Freiheit geht uns über alles. Im konventionellen Sinne ist das keine Lösung, aber von Konventionen halten wir beide nicht viel. Und noch funktioniert es.

„Bender? Was ist los?“ Kein Mensch, der seine Vorderzähne noch braucht, spricht mich mit meinem Vornamen an, auch Lisa nicht. So verwuschelt und schlaftrunken sieht sie einfach süß aus. Draußen ist es noch dunkel. Lisas Hand liegt auf meiner Schulter. Hat sie mich wirklich geschüttelt? „Was ist mit dir, mon chér? Du ‘ast ganz schlimm gestöhnt.“

„Du, das mache ich manchmal im Bett.“

„Ja, aber nischt, wenn isch neben dir liege und schlafe.“ Immer, wenn Lisa sich aufregt, kommt ihr französischer Akzent durch. „Und pitschenass bist du auch, lass mal sehen.“ Ihre Hand verschwindet unter meiner Bettdecke. „Non, du ‘ast nur geschwitzt, kein Pipi gemacht.“

Bin ich wach? Schlafe ich noch? Während mir Lisa ein frisches Unterhemd anzieht, versuche ich, mich in der Realität zurechtzufinden. War das jetzt ein Traum? Träume ich vielleicht immer noch? Mein durchgeschwitztes Hemd muss kein Zeichen dafür sein, dass ich jetzt wach bin. Das hat sich alles so echt angefühlt. Nein, das muss ein Traum gewesen sein. Ich kann die dünnen Stelzen mit der Hand ertasten, die früher mal meine Beine waren. Meine Hände spüre ich aber nicht auf den Beinen. Eben noch habe ich mich auch fortbewegt. Bin ich gelaufen? Gefahren? Jedenfalls kann ich mich nicht an einen Rollstuhl erinnern. Dann muss das eben ein Traum gewesen sein und jetzt bin ich wach. Na gut, wach ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber ich scheine nicht mehr zu schlafen. Lisa schaut mich ganz besorgt an. „Bist du wieder besser?“

„Ich weiß noch nicht so genau. Bitte halt mich einfach fest, ja?“ Nur langsam komme ich in Lisas Armen wieder zur Ruhe. So etwas Verrücktes habe ich noch nicht erlebt.

Ich war mit anderen in einem Raum. Wer das war, konnte ich nicht erkennen. Einer - oder eine? Nein ich glaube es war ein Er – saß auf einem Sessel oder auf einer Couch. Er schaukelte vor und zurück und sang dabei. Immer wieder: „Katze, Katze, Kaaatze. Katze, Katze, Kaaatze.“ Immer wieder dieselben drei Worte. Im selben Rhythmus schaukelte er vor und zurück, die Arme um sich geschlungen. Ein kleines Mädchen saß an einem Tisch und baute Kartenhäuser, eines komplizierter als das andere. Manche sahen aus, als würden sie der Physik widersprechen „Nein, du schläfst nicht. Bitte hilf uns.“ Diese Stimme! Ich weiß nicht, ob sie männlich oder weiblich war, jung oder alt. Ich hörte sie direkt in meinem Kopf. Dann hatte ich das Gefühl, jemand schüttelt mich an der Schulter.

Ich bin ein Mensch, den so schnell nichts aus der Bahn wirft. Aber dieses reale Empfinden, ganz und gar nicht, wie in einem Traum, das verpasst mir eine Gänsehaut. Wenn es kein Traum war, was war es dann? „Schschscht“, Lisa wiegt mich in ihren Armen, wie ein Baby. Sonst bin ich immer der Starke, der, der für alles eine Erklärung hat. Bender, ehemaliger SEK-Mann, Elitekämpfer mit einem IQ von deutlich über Zimmertemperatur, Hauptkommissar im Ruhestand, Kryptologe, Computerspezialist und –Forensiker, lizenzierter privater Ermittler mit Ausbildungsbefähigung, also alles in allem kein kleiner Dummer. Was ich mit meiner Ausrüstung nicht scannen, auswerten und analysieren kann, das gibt es nicht. Und meine Ausrüstung, die kann sich sehen lassen! Ja, ich behaupte wirklich, mit den Geräten, die mir zur Verfügung stehen, kann ich jedes Signal und jede Frequenz, egal ob optisch, akustisch, elektrisch, magnetisch oder als Kombination anmessen und nachweisen. Was meine Instrumente nicht erfassen, das gibt es nicht. Ich kann vielleicht nicht mehr laufen, aber deswegen bin ich noch lange nicht nutzlos. Mit meinem Team fühle ich mich jeder Situation gewachsen. Eigentlich ist es nicht wirklich mein Team, aber wir arbeiten viel und gerne zusammen.

Da ist einmal Steffen, unser technisches Genie. Er hört das nicht so gerne, sieht sich eher als Tüftler, als jemand, der gerne Sachen zum Laufen bringt. Ich glaube, die einzige Person, die sein breites Frankfurterisch komplett versteht, ist Elsbeth. Und die ist keine Person.

Elsbeth ist der Computer, der mich ursprünglich mal bei der Steuerung meines Elektro-Rollstuhls unterstützte. Steffen hat ihm eine eigene Persönlichkeit programmiert und die Fähigkeit, jedes erreichbare Kommunikationsmedium zu nutzen. Elsbeth ist dank des Fortschritts in der Miniaturisierung schon mehrmals in neue Computer umgezogen. Momentan residiert sie in einem Gehäuse von der Größe eines Smartphones, das in die Armstütze meines Rollstuhls eingeschnappt wird. Steffen hat einen von mir entwickelten Lern-Algorithmus so weit verfeinert, dass Elsbeth in gewissem Rahmen eigene Entscheidungen treffen kann. Wir haben uns inzwischen alle daran gewöhnt, dieses Hilfsmittel zu vermenschlichen. Als das Notebook, auf dem das Programm Elsbeth damals lief, einmal kaputt ging, war es uns, als hätten wir einen geliebten Familienangehörigen verloren. Natürlich hatte Steffen ein Back-up und Elsbeth war bald wieder da. Schneller, mit noch mehr Fähigkeiten und einem Hang zur Frechheit.

Steffen arbeitet gerne mit Kathrin Vollbarth zusammen, der IT-Leiterin des Ordens Unserer Lieben Frau Vom Rhein. Genau wie wir beide, sitzt sie auch im Rollstuhl. Ihre nicht behinderte kleine Schwester Sylvia ist ebenfalls eine Informatikerin der Sonderklasse. Dank ihrer Jugend und ihres Aussehens wird sie häufig unterschätzt, was schon ein paar Mal den entscheidenden kleinen Vorteil gebracht hat, der den Fall mit entschied.

Mein ehemaliger SEK-Kollege Bernd Tischler, aus dessen Waffe der Querschläger kam, der mir mein neues Leben bescherte, war und ist der Autoschrauber der Einheit. In seiner Freizeit bastelt er an meinem Van herum, in den mein mobiles Computerlabor eingebaut ist. Das Auto ist dem GMC Vandura von B.A. Barracus nachempfunden, einem Serienhelden aus den 80ern. Wo er die Gimmicks her holt, die er außerdem in mein Auto einbaut, weiß ich nicht, aber serienmäßig ist an der Kiste nichts mehr. Er hat sich mit Steffen angefreundet. Die zwei freuen sich jedes Mal, wenn bei meinem Auto die Inspektion fällig ist. So kurze Inspektionsintervalle hat vermutlich noch nicht mal die Formel Eins. Ich glaube, ich fahre das am besten und sorgfältigsten gewartete Straßenfahrzeug in der Geschichte des Automobilbaus. Trotzdem, wenn die beiden meinen Blechhaufen in den Händen hatten, fahre ich die nächsten Tage besonders vorsichtig. Das hat mir schon einige Ausritte in die Botanik erspart. Nicht, dass ich schreckhaft wäre, aber die beiden vergessen regelmäßig, mir zu sagen, welche Überraschung sie jetzt wieder eingebaut haben.

Last but not least ist da noch Tanja, mein Patenkind und designierte Juniorpartnerin meiner Firma. Sie war in meinem allerersten Fall das Opfer. Inzwischen studiert sie an einer Elite-Uni Kriminologie und Psychologie mit einem Stipendium des Ordens. Ursprünglich hatte sie Informatik gewählt, aber das wurde ihr zu langweilig. Bei dem, was die liebe Tanja inzwischen so drauf hat, kann ich das verstehen. In den Semesterferien jobbt sie bei mir und jetzt gerade macht sie ihr Praxissemester, natürlich auch bei mir. Als Kind habe ich mit ihr Indianer gespielt, ihr das Spurenlesen und solch unnützes Zeugs beigebracht. Dass sie das unnütze Zeugs später prima gebrauchen konnte, das hätte seinerzeit keiner von uns geglaubt.

Das mit der Juniorpartnerin weiß sie noch nicht. Ich habe es zur Sicherheit testamentarisch verfügt. In unserem Beruf erreicht nicht jeder das Rentenalter. Obwohl, in Rente bin ich ja schon. Das Land Hessen zahlt mir das Ruhegehalt eines Hauptkommissars außer Dienst. Schließlich war das damals ein Arbeitsunfall. Faktisch bekomme ich fast mein altes Gehalt weiter. Den Rest legt die Berufsgenossenschaft drauf. Da kann man auch schon mal pro Bono arbeiten. Dem Orden habe ich noch keine Rechnung geschrieben. Also, geschrieben sind sie schon alle. Aber die liegen in meiner Schreibtischschublade ganz gut. Dafür habe ich ein unbegrenztes Spesenkonto - und wenn ich etwas an Ausrüstung brauche, dann muss ich nur danach fragen.

„Lisa, lass uns aufstehen und schauen, ob es in der Küche schon etwas gibt. Ich bin glockenhellwach.“

„Du möchtest wirklisch, dass isch disch jetzt wasche, onssiehe und mit dir nach einem petit déjeuner suche?“

„So ungefähr hatte ich mir das gedacht.“

„Mon cher, ´hast du schon mal auf die Uhr geschaut?“

„Du pass auf. Ich habe so einen Murks geträumt, ich kann keine Sekunde länger in diesem Bett liegen.“ Ich bin wirklich ein umgänglicher Mensch, aber manchmal geht mir Lisa ganz schön auf den Geist. „Ich weiß, du bist nicht meine Pflegerin. Dann ruf eine von deinen Mädels, damit sie mich rausholt. Wer hat denn Nachtdienst?“

Das packt sie bei ihrer Berufsehre. Klar, Lisa ist die Pflegedienstleiterin und keine Pflegerin. Irgendwo müssen wir das trennen. Wir haben etwas, das einer Beziehung ziemlich nahe kommt. ‚Friends with benefits‘, nennt man es im angloamerikanischen Sprachraum, Freunde mit Vorteilen. Das sagt schon alles. Meine Pflege wird üblicherweise von den Schwestern übernommen. Oh je, jetzt habe ich das Unwort gesagt. Die Damen sind zwar Ordensfrauen, aber bitte examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerinnen. Keine Schwestern! Ich lange zum Rufknopf, tue so, als würde ich nicht ganz dran kommen, recke mich.

„Das ist ja wohl die ´ö´e“, immer, wenn sie sich aufregt, hat Lisa noch mehr Probleme mit dem ‚H‘. „Dann ´ol isch disch eben aus die Bett.“

10 Minuten später sitze ich in meinem Rollstuhl, zupfe mir die Klamotten richtig. Eine Falte in der Hose kann für jemanden, der es nicht merkt, ziemlich übel sein. Ein fühlender Mensch merkt, dass da etwas unbequem ist. Also setzt er sich anders hin oder versucht das, was da so drückt, zu korrigieren. Unsensibel, wie ich bin, bleibe ich auf der Falte sitzen und schon habe ich einen Hautdefekt. Lisa grinst schon wieder, wir können uns nie lange böse sein. „Du siehst aus, wie ein Penner. Wer ´at disch denn ongessogen?“ Mit einem tiefen Seufzer legt sie Hand an. Zieht und zupft an mir, bis sie zufrieden ist. „So kannst du doch nicht auf die Straße gehen. Jetzt ist es besser. On y va?“

„Ja, lass uns sehen, was es in der Küche gibt.“ Die Küche des Klosters hat 24 Stunden geöffnet. Ein paar Abteilungen müssen ständig besetzt sein, die Pflegestation, die kleine Klinik. Auch die Computerleute kennen traditionell keine festen Dienstzeiten. Der Orden stammt zwar aus dem zwölften Jahrhundert, aber technisch ist er nicht nur auf dem neuesten Stand, er ist seiner Zeit sogar ständig ein Stück voraus. Als kirchliche Einrichtung ist er nicht verpflichtet, den Siegermächten des 2. Weltkriegs seine Entwicklungen bekannt zu geben. Irgendwer ist immer da und tüftelt an allem Möglichen herum. Die haben auch immer Appetit. So wundert sich die Küchenmannschaft nicht, als Lisa und ich zusammen auftauchen. Dass da zwischen uns etwas läuft, ist ein offenes Geheimnis. Wir machen auch keinen Hehl daraus. Die Küchenfee hinter der Bedienungstheke schenkt uns ein gutmütiges Grinsen – um die Uhrzeit. „Dienst oder könnt ihr nicht schlafen?“

„Ich bin immer im Dienst und Lisa kann nicht schlafen. AUA!“, so ein Ellenbogen in die Rippen tut ganz schön weh. Lisa bestellt sich einen Café au lait, ich gebe meine Standardbestellung auf: „Kaffee. Schwarz. Viel.“

„Ich habe gerade Croissants aus dem Ofen geholt. Sind noch ganz heiß. Wollt ihr welche?“ Zwei Köpfe nicken synchron. „Alles klar, setzt euch hin. Ich bring‘s euch rüber.“

Am Tisch stütze ich die Ellenbogen auf, lege mein Kinn in die Hände und schaue Lisa versonnen an. „Schon wieder dieser Traum. Du weißt, ich glaube normalerweise nichts, was ich nicht beweisen kann. Dieser ganze Psychoquatsch, oder Para-Psychoquatsch, das ist mir alles suspekt. Aber so langsam – ich weiß nicht. Ich brauche einfach noch mehr Informationen. Ich weiß nicht, was ich von dem Thema halten soll. Aber dieser Traum, der wird jedes Mal deutlicher. Heute war er so real. Ich hatte wirklich das Gefühl, da zu sein.“

„Mon chèr. Der Orden `at ein paar Leute, die sich schon länger mit diese Sache – beschäften?“

„Beschäftigen?“

„Oui, beschäftigen. Das ist die richtige Wort. Warte noch eine kleine Zeit, dann telefoniere isch ein wenig. Jetzt schlafen noch alle.“

Na klar, die kleine Spitze konnte Lisa sich nicht verkneifen. Aber sie hat ja recht. Ohne Hilfe kriege ich den Kopf nicht frei. Es kommt mir so vor, als hätte jemand einen Weg gefunden, mir ohne Telefon oder Funk Nachrichten direkt in den Kopf zu senden. Gut, unser Körper und gerade das Gehirn produzieren genügend elektromagnetische Wellen. Ganz dumm bin ich ja auch wieder nicht. Aber wenn ich mir so ein EEG ansehe, das ist alles hoch kompliziert. Alpha-, Beta-, Gammawellen. Dann gibt es noch Deltawellen, die irgendwie mit dem Schlaf zusammen hängen und bestimmt noch einige mehr.Unser Denken hängt also mit elektromagnetischen Wellen zusammen. Wenn ich das richtig verstehe, dann sind sie eine Art Abfallprodukt davon. Vielleicht lässt sich über eine Art Rückkopplung auch eine Welle von außen, sagen wir einmal, einspeisen. Jedes Funkgerät funktioniert so. Ich muss nachher mal Kathrin fragen. Die beschäftigt sich neben ihren Computern auch mit Kommunikationstechniken. Vielleicht hat die schon mal was davon gehört. Aber jetzt lasse ich mir erst einmal mein frisches Croissant schmecken. Mit gesalzener Butter und englischer Orangenmarmelade. Hatte ich schon erwähnt, dass ich die englische Orangenmarmelade für die beste der Welt halte? Bestimmt.

„Elsbeth?“

„Ja, Bender?“ Das ist das Schöne an künstlichen Intelligenzen, die fragen nicht doof rum, wenn man mal außerhalb der üblichen Zeiten etwas von ihnen will.

„Sag mal, ist Kathrin schon wach?“

„Angemeldet ist sie und unter ihrem Account ist auch Datenbewegung. Soll ich sie mal anpingen?“ Ein Ping ist bei uns Datenfuzzys ein kleines Datagramm, das man an einen Computer schickt, um zu prüfen, ob die Verbindung OK ist. Wir schicken uns ab und zu kleine Botschaften übers Netz. Die tauchen kurz auf dem Bildschirm des Empfängers auf. Ist er da und hat Zeit, dann schickt er ein ‚OK‘ zurück, oder schreibt man möge sich später melden. Kommt keine Antwort, dann ist der andere nicht da oder zu beschäftigt, um zu antworten. Ein paar Sekunden später höre ich Kathrins Stimme aus den Lautsprechern in meiner Kopfstütze. „Ich mache Wartungsarbeiten, aber was bringt dich zu nachtschlafender Zeit in den Stuhl?“

Kathrin Vollbarth, die IT-Leiterin des Ordens, ist schon seit 4 Uhr früh in ihrer Klapperbude. Datenabgleiche, die tagsüber nicht gefahren werden können und andere Wartungsarbeiten müssen eben in die Ruhezeiten verlegt werden. Und Kathrin nimmt sich da nicht aus, bloß, weil sie die Chefin ist. Noch weniger, weil sie im Rollstuhl sitzt. Was sie von ihrer kleinen Truppe verlangt, das ist für sie ebenfalls selbstverständlich.

„Ich kann nicht schlafen. Sag mal, du kennst dich doch mit alternativen Kommunikationsformen aus?“

„Oh je, wenn du dich so geschraubt ausdrückst, dann hängt dir aber mehr als ein Bit quer. Von welchen Kommunikationsformen sprichst du denn?“

Ich schwöre, ich höre, wie ihre Mundwinkel an den Ohrläppchen anschlagen. Sie merkt, wie ich auf ein Thema zusteuere, vor dem ich mich bisher erfolgreich gedrückt habe. „Weißt du was? Ich habe gerade einen Sicherungslauf gestartet. Willst du zu mir rüber kommen, oder treffen wir uns im Kasino? Ich könnte sowieso gerade einen Kaffee vertragen.“

Mit Kasino meint sie den Speiseraum, in dem Lisa und ich gerade sitzen. Hört sich gleich viel wichtiger an. Für mich ist das die Küche, fertig. „Da bin ich schon.“

„Alles klar, bin gleich da.“ Ich ordere schon mal einen doppelten Cappuccino mit einem extra Espresso drin. Schließlich kenne ich die Vorlieben meiner Freunde. Lisa schaut mich mit schwarz unterlaufenen Augen an. „Weißt du was? Isch ´abe noch sswei Stunden, bis meine Dienst anfängt. Isch ´au misch noch mal in die Koje.“ Und weg ist sie.

Kathrin und der Cappuccino treffen gleichzeitig ein. Mit einem Kopfnicken nimmt sie die kleine Geste zur Kenntnis. Wir müssen uns nicht dauernd Blümchen überreichen, dazu haben wir zu viel gemeinsam erlebt. Nach einem großen Schluck sieht sie mich über ihren Kaffeebecher an. „Erzähl!“

„Seit ein paar Tagen habe ich immer wieder denselben Traum. Erst habe ich mir nichts dabei gedacht, aber der Traum wird von Mal zu Mal intensiver. Heute hat er sich so realistisch angefühlt, als wäre ich direkt drin. Ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde. So langsam habe ich das Gefühl, dass an dem ganzen Quatsch, den du immer erzählst, doch etwas dran sein könnte. Geht das, dass man Mitteilungen direkt in das Gehirn von Menschen senden kann?“

Kathrin sieht mich ernst an, nimmt noch einen großen Schluck von ihrem Cappuccino. Dann nickt sie nachdenklich. „Im Prinzip ja. Jedenfalls können Menschen, die es lange genug trainieren, Botschaften als eine Art Bilder austauschen. Wenn es jemand gelingen würde, mit untrainierten Gehirnen Kontakt aufzunehmen, dann wäre das eine Sensation. Hast du mit jemandem außer mir schon darüber gesprochen?“

„Mit Lisa.“

„Die hält dicht. Gut. Also ich glaube nicht, dass du dir das alles nur einbildest. Ich kenne dich schließlich gut genug. Ich finde es übrigens toll, dass du damit zu mir gekommen bist. Danke.“

„Hör mal! Wenn ich zu dir kein Vertrauen mehr haben kann, zu wem denn dann, bitte?“

Kathrins Augen bedanken sich für das Kompliment. Dann runzelt sie die Stirn. „Mal sehen. Wir haben schon lange eine Arbeitsgruppe, die sich mit sogenannten Grenzgebieten der Wissenschaft beschäftigt. Na ja, Arbeitsgruppe ist vielleicht ein bisschen untertrieben. Die gab es schon vor der Inquisition. Damals haben sie noch Frauen, die sich mit Heilkunde auskannten, gerne auf den Scheiterhaufen gestellt. Der Klerus hatte ziemlich drastische Mittel, wenn es um die Erhaltung seiner Pfründe ging. Inzwischen haben unsere „Hexen“ so einiges an Wissen gesammelt. Vieles von dem, was man damals für Teufelswerk hielt, ist in schon lange in unsere tägliche Arbeit gewandert. Dabei rede ich nicht von Röntgen, Ultraschall oder so. Gerade in der Heilkunst werden heute Methoden angewandt, die einfach funktionieren. Das beste Beispiel ist die Hypnose, die immer mehr Zahnärzte verwenden.“

So ernsthaft, wie Kathrin über das Thema spricht, hört es sich eigentlich ganz sinnvoll an. Und sie ist nun wirklich keine Sektiererin. Dass es in einem über 800 Jahre alten Orden Menschen gibt, die sich mit außersinnlichen Phänomenen beschäftigen, hätte ich mir denken können. Ich glaube, außer an Waffentechnik und Atomphysik forschen die an so ziemlich allem herum. Nicht umsonst hat der Orden schon lange jede Menge akademische Förderprogramme. Er hat eigene Schulen. Seit ein paar Jahren sponsert er sogar eine kleine Eliteuniversität. Klein, aber mit anerkannten Abschlüssen.

„Lisa hat schon erwähnt, dass es da ein paar Leute gibt, die sich mit dem Thema beschäftigen. Aber aus deinem Mund klingt das ziemlich professionell.“

„Weißt du was?“, Kathrin trinkt ihren Cappuccino aus und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. „Wir lassen uns zwei Thermobecher füllen und fahren in meine Klapperbude. Da muss ich noch ein paar Sicherungsmedien wechseln und dann besuchen wir unsere Hexen mal. Bestimmt können die dir mehr sagen.“

Gesagt, getan. Die Sicherungsmedien, die Kathrin wechseln muss, entpuppen sich als kleine Kristallzylinder. Die Kristalle werden in einem speziellen Verfahren gezüchtet und dann von einem Roboter in die zylindrische Form geschliffen. Anschließend werden die Zylinder in ca. 1 mm dicke Scheiben geschnitten. Ein Nano-Laser schreibt die Daten dann in die Kristallscheiben. All das wird durch Automaten erledigt. Kein Mensch kann so präzise arbeiten. All das ist noch im Test, deswegen müssen die Automaten noch von Menschen befüllt und eingerichtet werden. Ob das Ganze je im industriellen Maßstab voll automatisiert wird, hängt von den Forschungsergebnissen ab. Eine Scheibe von 12 mm Durchmesser kann über vier Terabyte an Daten speichern. Die Zugriffszeiten liegen zwar momentan noch weit über denen von Speicherkarten, aber darauf kommt es weniger an. Das Ziel ist, Daten über lange Zeiträume dauerhaft zu speichern. Momentan gelingt das nur, indem die Daten mindestens einmal jährlich in großen Rechenzentren immer wieder umkopiert werden.