Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern - Franz Stimmer - E-Book

Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern E-Book

Franz Stimmer

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Beschreibung

Beratung ist in der modernen Gesellschaft mit ihren Unsicherheiten ein Angebot, das in alle Lebensbereiche Eingang gefunden hat. Eine hohe Beratungsnachfrage hat ein wachsendes Beratungsangebot nach sich gezogen, das alle Lebensalter und alle Lebenslagen umfasst. In dem Lehrbuch wird eine übergreifende Systematik entwickelt, die der Orientierung in einem zunehmend unübersichtlichen Feld dient. Ebenso bunt wie die Anlässe ist die Vielfalt der Beratungsansätze. Grundlage des Buches bildet ein Beratungsmodell, in dem Theorien, Definitionen, begriffliche Abgrenzungen, Prozesse, Methoden sowie rechtliche Fragen differenziert systematisiert sind. Die verschiedenen Beratungsformen werden auf der Grundlage dieses Modells vorgestellt. Praxisbeispiele illustrieren die jeweiligen Beschreibungen.

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Franz Stimmer/Harald Ansen

Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern

Grundlagen – Prinzipien – Prozess

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021143-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030678-3

epub:    ISBN 978-3-17-030679-0

mobi:    ISBN 978-3-17-030680-6

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Beratungsangebote – Beratungsfelder

3 Gesellschaft und Beratung

3.1 Moderne Gesellschaft

3.1.1 Komplexität

3.1.2 Individualisierung und Pluralisierung

3.1.3 Technologisierung, Bürokratisierung und Verrechtlichung

3.1.4 Soziale Mobilität

3.1.5 Lebensweltliche Segmentierung

3.1.6 Bevölkerungsentwicklung

3.1.7 Armut und soziale Ausgrenzung

3.1.8 Neue Solidarität

3.2 »Moderne« Persönlichkeiten

3.3 Sozialrecht – Beratungspflicht

3.3.1 Rechtliche Grundlagen

3.3.2 Pflicht zur Beratung

3.4 Beratungsbedarf

3.4.1 Epidemiologie

3.4.2 Zahlenbeispiele

4 Grundverständnis von Beratung

4.1 Beratungsbereiche

4.1.1 Ziel professioneller Beratung

4.1.2 Beratungskontinuum

4.1.3 Beratung und Psychotherapie

4.2 Beratungsanlässe – Beratungsthemen – Beratungsbedürfnis

4.3 Beratungsformate

4.4 Organisation von Beratung

4.5 Beratung: Profession – Disziplinen

4.6 Prinzipien und Prozess: Ein Modell

5 Prinzipien beraterischen Handelns

5.1 Prinzip »Verständigungsorientiert handeln«

5.1.1 Verständigung als Beziehungsmodus

5.1.2 Verständigung versus Erfolgszentrierung

5.2 Prinzip »Sinn verstehen«

5.3 Prinzip »Bestätigen«

5.4 Prinzip »Ressourcen fördern«

5.4.1 Empowerment

5.4.2 Methoden-Tools

5.5 Prinzip »Kontext stabilisieren«

5.6 Prinzip »Mehrperspektivisch denken und handeln«

5.6.1 Subjektorientierte Soziologie

5.6.2 Elemente der Mehrperspektivität

5.7 Prinzip »Motivieren«

5.7.1 Motivationale Basis: Bedürfnisse

5.7.2 Motivation als Prozess

5.7.3 Motivierende Gesprächsführung

5.8 Prinzip »Moralisch handeln«

5.8.1 Ethik und Moral

5.8.2 Ethiken

5.9 Prinzip »Netzwerkorientiert denken und handeln«

5.9.1 Theoretische Konzepte

5.9.2 Netzwerktypen

5.9.3 Unterstützung und Konflikt

6 Zirkulärer Beratungsprozess

6.1 Zugänge zur Beratung

6.2 Erstkontakt

6.3 Erstgespräche

6.3.1 Ziele

6.3.2 Freiwilligkeit und angeordnete Beratung

6.3.3 Stabilität und Instabilität

6.3.4 Beziehung und Ort

6.3.5 Komplexität

6.3.6 Zuständigkeit, Arbeitsbündnis und Protokoll

6.4 Soziale Diagnostik: Datenerhebung – Beschreibung – Analyse – Diagnose

6.4.1 Datensammlung und Situationsbeschreibung

6.4.2 Situationsanalyse

6.4.3 Soziale Diagnosen – Diagnostizieren

6.4.4 Diagnostische Moral

6.4.5 Drei Fallbeispiele

7 Tools: Verfahren der Situationsanalyse

7.1 Biographie

7.1.1 Narrationen

7.1.2 Lebenslinien: Das Life-Events-Diagramm

7.1.3 Biographischer Zeitbalken

7.1.4 Genealogie: Das Genogramm

7.2 Netzwerkorientierte Verfahren

7.2.1 Beziehungsnetzwerke

7.2.2 Rollennetzwerke

7.2.3 Gruppenbezogene Netzwerke

7.3 Mehrperspektivorientierung: Person-in-Environment-System (PIE)

7.4 Persönlichkeitsanalyse: Gießen-Test

7.5 Verhaltensanalyse

7.6 Ressourcenanalyse

7.7 Krisenanalyse

8 Ziele

8.1 Zielfindung

8.2 Regeln der Zielformulierung

8.3 Methoden-Tools

9 Hypothesen

9.1 Hypothesenbildung

9.2 Beratungsrelevante Hypothesen

10 Interventionen: Beratungsansätze und -methoden

10.1 Konzept – Methode – Verfahren

10.2 Einzelberatung

10.2.1 Klientenzentrierte Beratung

10.2.2 Tiefenpsychologische Beratung

10.2.3 Verhaltensberatung

10.2.4 Systemische Beratung

10.2.5 Ressourcenorientierte Beratung

10.3 Beratung in Gruppen

10.3.1 Soziale Gruppe

10.3.2 Themenzentrierte Interaktion (TZI)

10.3.3 Psychodramatische Beratung

11 Soziale Beratung

11.1 Grundverständnis

11.2 Arbeitsbeziehung

11.3 Soziale Diagnose und Hilfeplanung

11.4 Intervention zur sozialen Sicherung

12 Evaluation

13 Beratungsrecht

13.1 Schweigepflicht

13.2 Anzeigepflicht

13.3 Zeugnisverweigerungsrecht

13.4 Weitere Rechtsfragen

14 Kompetenzenprofil

14.1 Strukturorientierte Kompetenzen: Wissen/Kennen

14.2 Prozessorientierte Kompetenzen: Vermögen/Können/Gestalten

15 Beratung von Fachkräften

15.1 Supervision in der Beratung

15.2 Coaching

16 Exkurs: Beratung – ein Beruf, eine Profession, eine Disziplin?

16.1 Beratung als Beruf

16.2 Beratung als Profession

16.3 Beratung als Disziplin

Literatur

1         EINLEITUNG

»Dialog … Dialog … D i a l o g …« – mit diesen Worten soll Thales von Milet (* um 624 v. Chr.; † um 547 v. Chr.) verstorben sein.

»Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern« umfasst ein vielfältiges Themenspektrum (Kap. 2), was eine Schwerpunktsetzung in mehrfacher Hinsicht erforderlich macht, um ein einführendes Lehrbuch nicht zu überfrachten. Grundlegend ist die Orientierung an den transversalen Themen der Beratung über die unterschiedlichen Ansätze hinweg: Grundverständnis, Prinzipien und Prozess. Dieser Teil wird erweitert durch die Darstellung einzelner Ansätze in ihrer je eigenen Ausrichtung und wechselseitigen Ergänzung; dies in einer so ausführlichen Form, dass jeweils deren Axiologie, Theorie und Praxeologie als notwendige Teile eines methodisch Ganzen berücksichtigt werden. Nicht aufgenommen wurde eine detaillierte Darstellung einzelner Beratungsbereiche (Kap. 2), was der Intention des Buches widersprechen würde. Zudem gibt es dazu viele je differenzierte Veröffentlichungen und Sammelbände (z. B. Nestmann u. a. 2007). Allerdings sind die vielen Beispiele in diesem Buch auf unterschiedliche Beratungsfelder bezogen.

Eine weitere Einschränkung betrifft die Beratungsformate (Abb. 2), von denen lediglich die »Personale Beratung« oder »Personzentrierte Beratung« behandelt wird, in deren Mittelpunkt Menschen stehen mit ihren körperlichen, psychischen, kognitiven und sozialen Möglichkeiten, ihren Lebensstilen/Lebensweisen, ihrer alltäglichen Lebensführung und in ihrer Abhängigkeit von ihren jeweiligen Lebenslagen und gesellschaftlichen und kulturellen Einbindungen; dies in Abgrenzung zur organisationsbezogenen und sozialraumbezogenen Beratung mit ihrem Fokus auf Veränderungen und eine humanere Gestaltung von Organisationen und Sozialräumen – natürlich auch mit Auswirkungen auf die dort tätigen Menschen.

Bei der Personalen Beratung wird wiederum eine verhaltensorientierte, lebensstilspezifische (Fokussierte) Beratung von einer verhältnisorientierten, lebenslagenspezifischen (Soziale) Beratung unterschieden.

Des Weiteren sind zwei übergreifende Sichtweisen grundlegend für die Aussagen in diesem Buch:

•  Die zentrale Bedeutung des Dialogs (Buber, Moreno) als handlungsleitendes Prinzip und

•  der Idealtypus (Weber) oder der Konstruierte Typ (Becker) als wissenschaftstheoretische Perspektive.

Das dialogische Prinzip (Kap. 5.1) ist, so die Annahme, die Basis jeglichen Handelns in der Beratung und bildet den Gegenpol zu einem erfolgsfixierten Vorgehen.

Die Konstruktion von Idealtypen ist eine wissenschaftstheoretische Perspektive, die von Max Weber im Rahmen seiner Verstehenden Soziologie eingeführt wurde, um die Vielfalt sozialer Erscheinungen – wie Beratung – erfassbar zu machen, indem die wesentlichen Aspekte des zu Beschreibenden, manchmal auch überbetonend, modellartig benannt werden, wohl wissend, dass die Realität komplexer, bunter und manchmal auch verwirrender ist und sie – als Realtypen – immer nur als mehr oder weniger stark den neutralen idealtypischen Formulierungen – als Grenzfall – annähernd vorstellbar ist. Das heißt, dass die Formulierungen und diversen Modelle in diesem Buch in diesem Sinn idealtypisch sind, für das praktische Handeln allerdings wegweisend.

Im Folgenden werden wesentliche Inhalte des Buches einleitend zusammengefasst:

Organisierte professionelle Beratung, unabhängig von der inhaltlichen und methodischen Ausrichtung, ist eine sozialgeschichtlich recht neue gesellschaftliche Reaktion auf überlastende Herausforderungen, die häufig mit gesellschaftlichen Lebensbedingungen von Menschen zusammenhängen. Die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Beratung wird auf unterschiedlichen Ebenen beleuchtet (Kap. 3). Zunächst geht es um Entwicklungen wie soziale Mobilität, Individualisierung, Komplexität und Armut, die den Alltag der Menschen belasten. Beratung ist insofern eine gesellschaftliche Veranstaltung, die dazu dient, die Folgen von überfordernden Lebensumständen aufzufangen. Der wachsende Beratungsbedarf dokumentiert diesen Zusammenhang eindrucksvoll. Zu den gesellschaftlichen Einflüssen gehören auch die Rahmenbedingungen, unter denen Beratung erfolgt, vor allem beratungsrechtliche Regelungen, die zu beachten sind.

Befasst man sich mit Beratung, fällt eine Begriffsvielfalt auf, die den Dialog über Beratung erschwert. Umfänglich wird das Grundverständnis der Beratung aufgegriffen (Kap. 4) und der Versuch unternommen, etwas Ordnung in die zuweilen verwirrende Diskussion zu bringen. Dafür werden Beratungsformate unterschieden und es wird eine erste Einordnung in den wissenschaftlichen Diskurs vorgenommen. Auf diese Grundlage des vorgestellten Beratungsverständnisses beziehen sich die weiteren Ausführungen.

Einen breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit Beratungsprinzipien ein (Kap. 5). Diese reichen von Verständigung über Sinnvermittlung, Bestätigung, Ressourcenorientierung, Empowerment, Kontextualisierung, Perspektivenvielfalt und Motivation, Netzwerkorientierung bis zu moralischen und ethischen Erwägungen. Die Beratungsprinzipien stehen für einen nicht-technologischen Zugang zur Beratung, sie stellen Berater_innen eine Reflexionsgrundlage zur Verfügung, die in vielen Beratungssituationen benötigt werden, um das eigene Handeln zu begründen.

Beratung ist eine Variante des methodischen Handelns, deren Etappen in einem zirkulären Prozess angesiedelt sind (Kap. 6). Das methodische Vorgehen erstreckt sich vom Erstkontakt über den Aufbau einer Beratungsbeziehung, die Fallanalyse und Zielentwicklung sowie die Hilfeplanung bis zur Auswahl beraterischer Interventionen sowie deren Umsetzung und End-Evaluation. Dieser Prozess verläuft selten linear. Immer wieder ist je nach Beratungsverlauf die Rückkehr in frühere Etappen erforderlich, deshalb ist hier auch die Rede von einem zirkulären Prozess.

Unabhängig davon, welcher Beratungsrichtung man folgt, sind umfängliche Situationsanalysen erforderlich, die einen Eindruck in bestehende Probleme vermitteln. Nicht selten müssen die hier aufgenommenen Instrumente (Kap. 7) je nach Ausgangs- und Problemsituation kombiniert eingesetzt werden. Auf dieser Basis ist eine gezielte Auswahl beraterischer Interventionen möglich. Für die Beratung sind insbesondere Zugänge tauglich, die dazu beitragen, biographische Entwicklungen, die Qualität sozialer Netze, die Person-Umwelt-Beziehungen, die Persönlichkeit, das Verhalten und die vorhandenen sowie aktivierbaren Ressourcen zu erfassen bzw. zu rekonstruieren.

Ein weiteres übergreifendes Element der Beratung findet sich in den Zielen, die als Bindeglied zwischen den Situationsanalysen und der Auswahl von Beratungsansätzen fungieren (Kap. 8). Ziele stehen für einen Zukunftsentwurf, sie haben, gemeinsam mit Ratsuchenden entwickelt, eine motivierende Funktion, sie erlauben es überdies, den Gang der Beratung zu evaluieren und bei Bedarf Korrekturen vorzunehmen. Die Ausrichtung der Beratung an dynamischen Zielen erfordert eine regelmäßige Auseinandersetzung über die bereits erreichten und noch zu realisierenden Schritte der Problemlösung.

Aus den Zielen können die in Frage kommenden Beratungsansätze nicht unmittelbar abgeleitet werden, davor stehen noch Annahmen über die weitere Entwicklung, die in Form von Hypothesen formuliert werden (Kap. 9). Hypothesen enthalten Vermutungen über den bisherigen und den zukünftigen Verlauf der beratungsrelevanten Probleme. Die Offenlegung der theoretisch fundierten, auf die konkreten Situationen bezogenen Hypothesen trägt zu einem transparenten Beratungsprozess bei. Wie die Ziele müssen auch die Hypothesen fortlaufend hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit im Licht des je erreichten Zustandes überprüft werden.

Mittlerweile liegen zahlreiche Beratungsvarianten vor, die sich teilweise nur graduell, in anderen Fällen fundamental voneinander unterscheiden. In Bezug auf die Einzelberatung und die Gruppenberatung werden breit rezipierte und erforschte Ansätze aufgenommen (Kap. 10). In den Ausführungen über die Klientenzentrierte Beratung, die Tiefenpsychologische Beratung, die Verhaltensberatung, die Systemische Beratung und die Ressourcenorientierte Beratung werden jeweils die zentralen wissenschaftlichen Grundlagen referiert, ehe methodische Aspekte in den Mittelpunkt gestellt werden. Das gilt auch für die gruppenbezogenen Verfahren, hier die Themenzentrierte Interaktion und das Psychodrama.

Die Soziale Beratung (Kap. 11) nimmt insoweit eine Sonderstellung ein, als in ihr ausdrücklich auf das System der sozialen Sicherung in vor allem armutsgeprägt prekären Lebenslagen zurückgegriffen wird. Die Soziale Beratung ist in diesem Zuschnitt eine Variante der fallbezogenen angewandten Sozialpolitik.

In den Hinweisen auf den zirkulären Prozess wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Beratungsprozess evaluiert werden muss, um mögliche Fehlentwicklungen rechtzeitig zu entdecken und die Weichen neu zu stellen (Kap. 12). Unterschieden werden eine formative, also prozessbegleitende Evaluation und eine summative Evaluation, die am Ende der Arbeit steht und den gesamten Verlauf bewertet. Die summative Evaluation dient im Ergebnis der Weiterentwicklung des untersuchten Beratungsansatzes, dessen jeweilige Stärken und Schwächen erkennbar werden. Gerade die enge Rückkoppelung der Beratung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die heute als fluide charakterisiert werden, erfordert eine ständige Weiterentwicklung, die ohne eine wissenschaftlich fundierte Evaluation nicht vorstellbar ist.

Ebenfalls übergreifend werden rechtliche Aspekte der Beratung erläutert (Kap. 13). Hierbei handelt es sich in erster Linie um Fragen der Schweigepflicht, der Anzeigepflicht und der Zeugnisverweigerung. Für eine auf Vertrauen basierende Beratung sind diese Regelungen besonders wichtig. Ratsuchende müssen sich darauf verlassen, dass Gesprächsinhalte nicht weitergegeben werden – und wenn doch, können sie sich dagegen rechtlich zur Wehr setzen.

Der komplexe Beratungsprozess erfordert umfängliche Kompetenzen, die sowohl auf der Strukturebene als auch der Prozesssteuerungsebene liegen (Kap. 14). Damit verbundene Fragen sind beratungsschulenübergreifend bedeutsam. Sie unterstreichen die hohen Anforderungen an Berater_innen, die neben ihren spezifischen Fertigkeiten auch eine Vorstellung darüber brauchen, wie ein Beratungsgespräch auf den genannten Ebenen gestaltet werden soll.

Berater_innen sind in der unmittelbaren Beratung auf sich verwiesen. Es wäre vermessen, Beratung zu betreiben, ohne sich regelmäßig über die Beratung austauschen zu können, in einigen Ansätzen wäre es sogar ein Kunstfehler, keine Supervision durchzuführen (Kap. 15). Heute werden »Supervision« und »Coaching« unterschieden. Üblich ist es mittlerweile, Supervision für die psychosoziale Beratung zu reservieren und Coaching der Beratung von Führungskräften zuzuordnen.

Abschließend steht die Frage im Raum, inwieweit bei Beratung schon von einer Beratungswissenschaft als Grundlage gesprochen werden kann (Kap. 16). Die Einordnung der Beratung in die Themen »Beruf«, »Profession« und »Disziplin« ist gegenwärtig virulent. Das sich abzeichnende Ziel besteht darin, eine eigenständige Beratungswissenschaft zu konzipieren, deren erste Konturen schon erkennbar sind.

Auch Autoren brauchen Beratung und konstruktive Kritik. Dafür danken wir Dr. Peter Busch für erste Diskussionen bei der Entstehung dieses Bandes, Fabio Casagrande (M.A. Soziale Arbeit) für die sorgfältige Gestaltung der Abbildungen und Dipl.-Sozialpäd. Antje Kohlschmidt für die konsequenten Korrekturarbeiten.

2         BERATUNGSANGEBOTE – BERATUNGSFELDER

»Beraten« und »beraten werden«, »einen Rat geben«, »jemandem etwas raten«, »einen Rat holen« und ähnliche Begriffe gehören zum alltäglichen Sprachgebrauch. »Beratung« bezeichnet darüber hinaus aber ein spezialisiertes Interaktionsmedium in vielen Arbeitsfeldern der modernen Gesellschaft (Kap. 3). Daraus resultiert eine lange Reihe von Beratungsangeboten durch Einrichtungen der öffentlichen und freien Träger sowie von privatwirtschaftlich organisierten Beratungspraxen (dort häufig als »Coaching« angeboten):

•  Allgemeine Lebensberatung

•  Altenberatung

•  Ausländerberatung

•  Beratung für Alleinerziehende

•  Beratung für Dialysepatienten

•  Beratung für Herzkranke

•  Beratung für Trauernde

•  Beratung von Kriminalitätsopfern

•  Beratung von Missbrauchsopfern

•  Berufsberatung

•  Berufslaufbahnberatung

•  Chat-Beratung

•  Drogenberatung

•  Eheberatung

•  Eignungsberatung

•  Erziehungsberatung

•  Familienberatung

•  Feministische Beratung

•  Freizeitberatung

•  Führungskräfteberatung (Coaching)

•  Gesundheitsberatung

•  Internet-Beratung

•  Karriereberatung

•  Patientenberatung

•  Mail-Beratung

•  Mieterberatung

•  Migrationsberatung

•  Mitarbeiterberatung (Supervision)

•  Mobbing-Opfer-Beratung

•  Netzwerkberatung

•  Online-Beratung

•  Opfer- und Zeugenberatung

•  Organisationsberatung

•  Paarberatung

•  Rentenberatung

•  Schuldnerberatung

•  Schullaufbahnberatung

•  Schwangerschaftskonfliktberatung

•  Sexualberatung

•  Sozialberatung

•  Soziale Beratung

•  Sozialraumberatung

•  Studierendenberatung

•  Studienberatung

•  Suchtberatung

•  Telefonseelsorgeberatung

•  Trennungs- und Scheidungsberatung

•  Verbraucherberatung

•  Verhütungsmittelberatung

•  Vermittelnde Konfliktberatung (Mediation)

•  Wohnungslosenberatung

•  u. a. (vgl. auch Nestmann u. a. 2007, S. 207 ff., 857 ff.).

Eine solche Auflistung legt die Vermutung nahe, dass Beratung alle Lebensbereiche von Menschen in modernen Gesellschaften durchzieht. Sie signalisiert wechselwirkend dazu einen hohen Grad eines individuellen Beratungsbedürfnisses (Kap. 4.2) und ein erhebliches Ausmaß eines kollektiven Beratungsbedarfs (Kap. 3.4). Inwiefern diese Annahme zutrifft, wird in den erwähnten Kapiteln hinterfragt, ebenso die Bedeutung der Beratungspflicht, die in Deutschland sozialrechtlich verankert ist (Kap. 3.3).

Um die unsortierte Vielfalt von Beratungsangeboten zu strukturieren, sind Ordnungsmodelle zu entwickeln wie die der »Beratungsanlässe« bzw. »Beratungsthemen« (Kap. 4.2) und der »Beratungsformate« (Kap. 4.3). Hierzu gehört etwa auch ein Modell von Sander (1998 in Barabas 2003, S. 22), in dem »Problem-Erfahrungsfelder« (Lebenswelt-, Beziehungs- und Selbsterfahrungen) mit jeweiligen Lösungsangeboten verbunden werden. Solche Modelle bilden auch Teilaspekte einer künftig möglichen Beratungswissenschaft ab (Kap. 16).

3         GESELLSCHAFT UND BERATUNG

3.1       Moderne Gesellschaft

Wie kommt es, dass Menschen in die Lage geraten, sich in manchen Situationen nicht mehr selbst ausreichend helfen zu können? Neben individuellen körperlichen, kognitiven, psychischen und sozialen Problemen sind es – so die Annahme – die Struktur und die Dynamik moderner Industriegesellschaften, die durch ihr hohes Verunsicherungspotenzial quasi naturgegeben Beratungsbedürfnisse einzelner Menschen und Gruppen erzeugen, einen hohen Grad eines kollektiven Beratungsbedarfs bewirken und als Merkmal sozialstaatlicher Aufgaben Beratungspflichten bedingen.

Als beschreibende Kennzeichen moderner Gesellschaften werden häufig genannt: »Komplexität«, »Individualismus«, »Desintegration«, »Technologisierung«, »Bürokratisierung«, »Globalisierung« u. a. Diese Merkmale charakterisieren zunächst nur prägende Eigenschaften moderner europäischer Gesellschaften, wie sie sich seit der Renaissance in einem langen Prozess herausgebildet haben. Sie sind aber auch Anlass, der Frage nachzugehen, welche Konsequenzen sich daraus – wechselwirkend zu diesem Prozess der Modernisierung – für die Gesellschaftsmitglieder ergeben und inwiefern sich aus dieser Entwicklung das Potenzial für Probleme ableiten lässt, für Konflikte, die dann wiederum subjektiv ein Bedürfnis nach Unterstützung und eben auch nach Beratung auslösen. Und es ist auch danach zu fragen, wer die Gewinner und wer die Verlierer dieser Entwicklung sind. Dies und der allgemeine Blick auf die Gesellschaft und ihre Organisationen haben Konsequenzen für das praktische Beratungshandeln und für die Entwicklung einer Beratungswissenschaft jenseits allgemeiner Proklamationen.

Grundsätzlich gilt es, bei der Diskussion von Kennzeichen moderner Gesellschaften Einschränkungen zu beachten. Selbst wenn nur über europäische Gesellschaften nachgedacht wird, sind grundlegende Entwicklungen sicherlich vergleichbar, die Unterschiede jedoch teilweise auch gravierend, z. B. in der Sozialpolitik, im Sozialrecht, im Gesundheitswesen, in der Zuwanderungspolitik. Das heißt dann auch, dass neben dem Allgemeinen das Spezifische zu beachten ist, für das Thema dieses Buches also die »typisch« moderne Gesellschaft und die spezifisch deutsche Variante zugleich. Es geht im Folgenden darum, ausgewählte gesellschaftliche Grundlagen dahingehend zu befragen, inwiefern sie Hinweise geben für ein steigendes subjektiv empfundenes Beratungsbedürfnis und damit auch für einen gesellschaftlich erhöhten Beratungsbedarf.

Zwischen »Gesellschaft und Individuum« besteht natürlich kein unilinearer Bezug in Form direkter deterministischer Verknüpfungen. Es geht vielmehr darum, Anhaltspunkte zu finden, wie gesellschaftliche Prozesse menschliches Denken, Fühlen und Handeln in der Weise beeinflussen, dass sich ein zunehmendes Bedürfnis nach Beratung daraus ableiten lässt. »Gesellschaft« wirkt nicht unreflektiert auf ihre Mitglieder ein (zu Wechselwirkungen vgl. Kap. 5.6.1). Historische Gesellschaftsprozesse beeinflussen die Persönlichkeitsbildung, die Lebensstile und die Lebensführung über die jeweiligen Lebenswelten mit ihren je unterschiedlichen Lebenschancen und Lebensrisiken (Lebenslagen) (Kap. 5.6.2); dies verbunden mit vielfältigen Lebensformen, in die Menschen eingebunden sind und in deren Rahmen sie ihre Identität bilden und in (post-)modernen Zeiten immer wieder aufs Neue »erfinden« müssen.

Beim Thema »Individuum und Gesellschaft« sind im vorliegenden Themenzusammenhang zumindest zwei Stränge differenzierend zu beachten:

•  erstens, dass in ein und derselben Gesellschaft »vertikal« mehrere Generationen unterschiedlichen Geschlechts mit differenten historischen Wurzeln leben sowie verschiedene Alterskohorten (Jahrgänge oder Gruppen von Jahrgängen), die aufgrund der jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Situation und der damit zusammenhängenden Sozialisationsprozesse spezifische Verhaltensstrukturen und Einstellungsmuster entwickelt haben;

•  zweitens zusätzlich, dass zugleich »horizontal« differenzierte Lebenswelten nebeneinander existieren, teilweise sich korrespondierend ergänzend, teilweise aber auch konträr zueinander stehend und die darüber hinaus jede für sich genommen auch noch mehr oder weniger stark ausgeprägt in einzelne Segmente (s. unten) unterschieden sind.

Es kann dann auch unschwer abgeleitet werden, dass gleichzeitig wohl mehrere »Modulpersönlichkeiten« simultan in Erscheinung treten; dies wie in den Simultandarstellungen der Bildenden Kunst, wo auf demselben Gemälde zeitlich oder auch räumlich nicht identische Ereignisse in den Blick geraten. Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, dass es Menschen in einer scheinbar gleichen Gesellschaft, ja selbst in vordergründig homogen erscheinenden Lebenswelten gibt, die sich bezüglich ihrer Probleme und ihrer Beratungsbedürfnisse quantitativ wie qualitativ erheblich unterscheiden können: Wohnungslose, Suchtkranke, Psychiatriepatient_innen, Heimbewohner_innen, Führungskräfte, Slumbewohner_innen, Villenbesitzer_innen, Arme, Jugendliche, Alte, Lehrer_innen, Schüler_innen, Frauen, Männer etc. Noch bunter wird das Bild, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit ihren jeweils verschiedenartigen Sozialisationserfahrungen und Wertvorstellungen sowie Menschen aus zunächst fremden Kulturen, die jetzt in zweiter oder dritter Generation im Migrationsland leben, sich in derselben Umwelt befinden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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