Berichte von der Reichstagstribüne - Helmut H. Schulz - E-Book

Berichte von der Reichstagstribüne E-Book

Helmut H. Schulz

0,0

Beschreibung

Es gab keine Sperrklausel; dem zufolge bot das Parlament von Weimar ein buntes Bild aus kleinen und kleinsten Parteien und den großen Mehrheitsparteien. Was der Berichterstatter oben so sehr beanstandet, den Mangel an Wissen und Takt im Umgang der Parlamentarier miteinander und mit der Regierung, das erklärt sich aus der Ursprünglichkeit der Zusammensetzung des Parlamentes. Der Reichstag von 1919 war ein Neuling und musste seine Spielregeln neu erfinden. Die Revolution, die in den alten deutschen Ländern verschie-dene Kräfte und seltsame Koalitionen hervorgebracht hatte, brachte Frauen und Männer in den Reichstag, die in der Tat von ihren Frak-tionsführern gelenkt wurden. Während das Parlament Gesetze beriet, stand zum Beispiel Mitteldeutschland in hellem Aufstand und der so-zialdemokratische Reichswehrminister musste das Heer in die Auf-standsgebiet schicken; Freikorps und Rebellen lieferten sich Gefechte und gingen erbarmungslos mit ihren Gefangenen um.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 154

Veröffentlichungsjahr: 2014

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helmut H. Schulz

Berichte von der Reichstagstribüne

Aus einer vergessenen Publikation

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Zur Einführung

Die Hanswurste der Revolution

Noch einmal Russeninterpellation

Die Ehe auf Zeit

Zucht in Volk und Heer

Geßler

Der lautlose Aufschrei

Simons Expose

Gegen das Weltgericht über Deutschland

Der Präsident kann mir ...

Minister Simons

Kulturfragen

Etwas von der Popularität

Im Kommunistenkränzchen

Um die Sondergerichte

Eine geisterhafte Sitzung

Ein harmloser Staatsmann

Pensionsreife

Verspielt!

Einer der Dreihundert

Rechenlehrer und Finanzminister

Unser täglich Brot

Also Holzkomment

Die neue Flagge

Gewinsel

Schiffer in Not

Saisonbeginn in der Reichsredehalle

Schützt die Verfassung

Schimpfrecht

Reichstag und Papiermark

Das Erwachen im Reichstag

Familienkrach

Reichstags-Kehraus

Die Not der Städte

Mitgefühl

Schulkompromiß

Die Zwangsanleihe

Abgeordnetenflucht

Die Schulung der Beamten zur Revolte

Von Breitscheids Gnaden

Unsere Not

Um Ebert

Mehr Volk

Pharao und Joseph

Wir bauen auf

Bürger Kriegsminister

Das liebe Militär

Der Einzige

Opposition

Vor leeren Bänken

Die Einheitsfront

Kein einziger Mann

Sonst: Das Chaos

Die Zwei

Kardorffs Plattform

Polizei und Nothilfe

Kommune Debatte

Ist der Parlamentarismus eine Kunst?

Für die Revolutionsopfer

Der Stern von Genua

Der Unterwerfungstext

Trauertag

Nachbetrachtungen zum Parlamentarismus

Impressum neobooks

Vorwort

Der Reichstag ist eine sehr alte deutsche ständische Einrichtung; ab dem 12. Jahrhundert beriefen die deutschen Könige und Kaiser die Stände ein, um Gesetze zu beraten; der Reichstag in Permanenz wird 1663 in Regensburg abgehalten, allerdings mit Gesandten, ohne Plenum. Der Reichstag besaß drei Kollegien; die hohen Fürsten, sieben davon Kurfürsten, die den Kaiser wählten, unter Vorsitz eines Reichskanzlers, die Bank des Adels, etwa 100 an der Zahl, die Geistlichkeit und der Stände. Der Reichstag erließ Gesetze, den sogenannten Reichsabschied.

Diese Institution blieb im Großen und Ganzen bis 1871, dem Gründungsdatum des neuen Reiches, erhalten, obschon die Reichsstände nicht mehr zusammentraten. Eine Reichverfassung trat in Kraft und zum ersten Mal hatte das Reich kein ständisches Parlament, sondern ein Parteienparlament, in das Abgeordneten in ihren Wahlkreisen nach einem komplizierten Wahlrecht hinein gewählt wurden, entsprechend den Parteien, die aus der Revolution 1848, den Reichseinigungskriegen und der Proklamation des Kaiserreiches, hervorgegangen waren, im Wesentlichen die Konservative und die Freisinnige Partei. Die Landtage existierten weiter. In den folgenden Jahrzehnten kam die Sozialdemokratische Partei hinzu und wuchs nach Aufhebung der Sozialistengesetze schnell zu einer parlamentarischen Kraft an. Ab jetzt schien den Sozialdemokraten der Weg zum Sozialismus geebnet, das Hineinwachsen auf gesetzlichem, rechtsstaatlichem Weg in den Sozialismus ersetzte die marxistische Lehre vom Klassenkampf.

Damit stand die Sozialdemokratie vor einem Dilemma; die proletarische Masse hielt an der Revolution fest; ihre Führer - nun die Rechten genannt - suchten Schluss zu den bürgerlichen Kräften, was 1918/1919 zur Großen Koalition führte. Zwar hatten die deutschen Führer der Sozialdemokratie sogar noch der III. Internationale Treue zugeschworen, aber 1914 den nationalen Schwenk vollzogen und den Kriegskrediten zugestimmt. Erst als der Krieg verloren war, spaltete sich die Linke als USPD von der SPD ab.

Das neue Parlament 1919, aus den Wahlen zur Nationalversammlung und der Weimarer Verfassung hervorgegangen, wurde nun auch anderen Parteien geöffnet. Es gab keine Sperrklausel; dem zufolge bot das Parlament von Weimar ein buntes Bild aus kleinen und kleinsten Parteien und den großen Mehrheitsparteien. Was der Berichterstatter oben so sehr beanstandet, den Mangel an Wissen und Takt im Umgang der Parlamentarier miteinander und mit der Regierung, das erklärt sich aus der Ursprünglichkeit der Zusammensetzung des Parlamentes. Der Reichstag von 1919 war ein Neuling und musste seine Spielregeln neu erfinden. Die Revolution, die in den alten deutschen Ländern verschiedene Kräfte und seltsame Koalitionen hervorgebracht hatte, brachte Frauen und Männer in den Reichstag, die in der Tat von ihren Fraktionsführern gelenkt wurden. Während das Parlament Gesetze beriet, stand zum Beispiel Mitteldeutschland in hellem Aufstand und der sozialdemokratische Reichswehrminister musste das Heer in die Aufstandsgebiet schicken; Freikorps und Rebellen lieferten sich Gefechte und gingen erbarmungslos mit ihren Gefangenen um.

Aber auch in den Folgejahren arbeitete der Reichstag nicht viel besser; die letzten Regierungen vor der Berufung Hitlers zum Reichskanzler waren Müller, Brüning, Papen, in letzter Stunde auch kurzfristig Kurt von Schleicher, der mit dem Ansinnen einen Staatsstreich zu inszenieren, um die Reichswehr gegen die Nazis einzusetzen, beim Reichspräsidenten abblitzte. Regiert wurde ohne Reichstag auf dem Wege der Notverordnung nach dem Artikel 48. Die legale, verfassungstreue Berufung Hitlers zum Reichskanzler war eine Folge des Versagens bürgerlicher Politiker, auch unter dem Druck der Siegermächte.

Dass der Parlamentarismus in Deutschland keine Probleme lösen konnte, gehört zu den Erfahrungen des Wählers jener Zeit, der alle Augenblicke an die Wahlurne getrieben wurde. England, das große Beispiel aller gläubigen Parlamentarier, hatte seine bürgerliche Revolution dreihundert Jahre früher abgemacht, davor besaß es schon ein beinahe modernes Parlament, allerdings auch ein ständisches. König Karl I. hatte die Versammlung ausgesetzt, als sie ihm lästig wurde, schließlich das Parlament doch einberufen, aber die Parlamentarier rückten kein Geld heraus, sie verlangten die Bestrafung der Ratgeber des Monarchen, die sie für alle Missstände im Lande verantwortlich machten. Der Stuart Karl I. schickte sein Parlament wieder nach Hause. Darauf kam es in London zum Aufstand des Handelsbürgertums. Nach der Auflösung dieses sogenannten kurzen Parlamentes gingen auch die Schotten zum Angriff über; darauf wurde das Parlament ein weiteres Mal einberufen; das sogenannte lange Parlament tagte von 1640 bis 1653 und bildete den Sammelpunkt der Opposition gegen das Stuart-Regime. Der »neue Adel« gab den Ton an. In der Folgezeit bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges behauptete sich das Parlament, baute seinen Einfluss aus; der Monarchie wurde Stück für Stück Macht abgerungen. Kurz, ab 1640 besaß England einen beispiellosen wirtschaftlichen Vorsprung und eine große politische Reife der Stände, das House of Lords blieb der Monarchie ergeben und das Unterhaus Gesetzgeber. Der Bundestag ist ein Abklatsch und Fortsetzung des bürgerlichen Parlamentes der Weimarer Republik mit allen negativen Erscheinungen, die der Berichterstatter von 1922 feststellte. Korruption, Heuchelei, Habsucht und Verlogenheit der Amtsträger scheinen dem Parlamentarismus eigen; Feigheit und Dummheit zeichnen Kanzler und Minister aus, von Mal zu Mal scheinen sich Regierungen und Parlamentarier zu verschlechtern. Heute wie damals ist aus der Enttäuschung der Wähler die Abkehr oder Abscheu von den Parteien festzustellen, was irreführend als Politikverdrossenheit bezeichnet wird. Die Verfasser des Grundgesetzes nach 1945 standen in der Weimarer Republik als Politiker meist dem Zentrum nahe, und sie arbeiteten überdies unter Aufsicht der Besatzungsmächte, die ein ihnen genehmes Regime in Deutschland wünschten. Der Notverordnungsparagraf wurde gestrichen; um der Präsidialdiktatur den Weg zu versperren statteten sie das Amt des Präsidenten so schwach aus, dass ihm kaum mehr bleibt, als durch seine Unterschrift Gesetze zu bestätigen und öffentliche Reden zu halten. Ein im Bundestag gelesenes und beschlossenes Gesetz kann er nicht verhindern.

Was aus der Geschichte von Weimar zu lernen gewesen wäre, ist die Verhinderung der auf Machterhalt gerichteten Koalitionsregierungen, von den Parteiführern als Wählerwille umgedeutet. Mehrheiten sollten von Fall zu Fall im Parlament gesucht werden; die Praxis, Kabinette durch Absprachen mit dem politischen Gegner abzusichern, führte von Beginn an zu Koalitionen aus Parteien entgegengesetzter Richtungen. Das hat die Parteien so unglaubwürdig gemacht. Das Zentrum, heute die Christdemokraten, scheinen noch am stabilsten, wenn auch ihre Beliebtheit schwankt, die Sozialdemokratie, die im Glauben vieler ihrer Anhänger noch auf dem Boden der Bebelpartei steht, schwankt je nach Wetterlage bald mehr nach links – vor Wahlen – und nach rechts – in bürgerlichen Koalitionen, Verfassungstreue garantiert, aber ein so schwer traumatisiertes Volk kann auch einmal diese Treue aufkündigen. Der Bundestag darf sich auf die Nähe zum Reichstag der Weimarer Republik berufen, die Politiker aber sollten das System von Weimar nicht heiligsprechen. Geschichte ist Veränderung und neben den sogenannten Volksparteien halten sich schließlich noch die kleineren, ämtersüchtigen koalitionsbereiten Parteien. Verändern werden wir nichts; suchen wir Trost in dem alten Stormwort: »Der eine fragt, was kommt danach, der andere, was ist Recht, und darin unterscheidet sich der Freie von dem Knecht!«

Der Krieg hatte mir, solange er dauerte, selbst die Erinnerung an frühe Beobachtungen im Reichstage gelöscht, und während der Revolution stand ich weit in Feindesland an der Front. Ich geriet erst in der Weimarer Episode unserer neuen Geschichte wieder in die Heimat, machte die Tage der Nationalversammlung mit ihren ersten großen Redekämpfen über Monarchie oder Republik, über Annehmen oder Ablehnen der Versailler Ketten, mit der Auseinandersetzung zwischen Rot und Schwarzrotgelb, der Präsidentenwahl, der Verfassungsarbeit, mit. Es waren manchmal wirklich »große« Tage. Inzwischen haben die Kämpfe über Grundsätzliches ihr Ende gefunden, man glaubt nicht mehr recht daran, daß demokratische Republik und sozialistische Republik miteinander noch auf Tod und Leben ringen werden, alles ist in einen gewissen Beharrungszustand geraten und er heißt: Parlamentarismus. Auch das ist freilich, mit Jahrhundertmaß gemessen, wohl nur Episode, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß einst alle Völker - auch das deutsche - sich aufatmend von diesem System befreien werden... Es täuscht uns vor, daß das Volk regiere. Es regiert aber nicht einmal das Parlament, das vielmehr eine hin und her flutende Masse ist, die heute ja sagt und morgen nein, immer auf das Kommando einiger Weniger, denn in Wahrheit leben wir unter einer Oligarchie... Inzwischen ist das Parlamentariertum zu einer ganz nahrhaften Sache geworden. Man bekommt 10.000,- Mark monatlich, ferner eine durch Reichszuschüsse sehr verbilligte Verpflegung, darf überall im Reiche umsonst erster Klasse fahren, während früher der Kaiser jeden Kilometer auf Heller und Pfennig bezahlen mußte, und hat auch sonst gewichtige Vorteile. Oft genug ist man auch Parteisekretär oder Vertreter irgendeines Verbandes und bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament. Und schließlich: unter dem parlamentarischen System ist man ohne Rücksicht auf Vorbildung doch Ministeranwärter und hat Aussicht auf einen Lohn von mehreren hunderttausend Mark jährlich nebst Teuerungs- und Kinderzulagen sowie entsprechende Pension ...

NB. ... bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament;offenbar eine dem Parlamentarismus innewohnende Geschäftspraxis. Bis heute ist es keiner deutschen Regierung gelungen, den Missbrauch des Mandats zur persönlichen Bereicherung zu unterbinden. Groteskerweise werden kalt gestellte Minister Drahtzieher und Berater in gerade den Branchen, für die sie in der Regierung als verkappte Lobbyisten standen. Wie jüngst A. D. 2008 publik gemacht wurde, erstellten diese Berater sogar Referentenentwürfe für Minister, die diese nur noch als Gesetzentwürfe ins Parlament zur Lesung brachten. Immerhin aber wurde im Parlament von 1921 wenigstens das reale Einkommen des Abgeordneten offen gelegt, während sich die heutigen Abgeordneten mit Händen und Füßen sträuben, das Volk die Höhe ihrer Nebeneinkünfte wissen zu lassen. Und es sind Juristen wie Otto Schily, die sich auf den Schutz der Persönlichkeit berufen, wenn sie ihre Einkünfte verschleiern.

Im Preußischen Abgeordnetenhaus wird einem greisen Zentrumsabgeordneten ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet, dem Präsidenten die Glocke entrissen; eine bolschewistische Abgeordnete, Frau Wollstein, bläst aus Leibeskräften auf einer Trillerpfeife und stäubt in den Atempausen Nießpulver gegen die Reihen der nicht ganz knallroten Kollegen ...

Das sind doch nicht etwa Verlorene aus dem Abgrund, nicht etwa nur Ausbrecher aus dem Irrenhause oder - obwohl auch solche da sind - Mitglieder des Reichsbundes der Vorbestraften, sondern im großen und ganzen die Heldensöhne großer Vorfahren. Einer von diesen thront auf dem präsidialen Hochsitz, Herr Leinert aus Hannover an der Leine, der Mehrheitssozialdemokrat, der vor neun Jahren, als er noch nicht die Entwicklung zu Bratenrock und Oberbürgermeisterkette durchgemacht hatte, ebenso gegen das Präsidium tobte wie heute die Katz und Genossen. Damals - das war der erste große Skandal unserer diätengesegneten Zeit - mußte Herr Leinert samt zwei Genossen von Polizei über die Bänke gezogen und aus dem Saale geschafft werden; entsetzt sprang ein Westenknopf ab und flüchtete mit einem mächtigen Satz zu der Rechten. Das ist der große Schmerz des Brilliantenhoffmann, daß Leinert sich so verändert hat ...

Die ganze Revolution ist nur eine Lohnbewegung der Demagogen gewesen. Es ging nicht um Freiheit oder andere schöne Dinge, denn Freiheit haben wir heute weniger denn je. Ein ganzes Volk ist in Not und Verzweiflung gejagt worden, und die Maulaufreißer haben gut bezahlte Rollen bekommen. Das verdanken wir unserem Parlamentarismus. Nun ist, laut Verfassung, das Parlament unser Souverän. Statt des einen, schmählich verratenen und verbannten, haben wir jetzt ihrer 400 und mehr. Sie benehmen sich nicht gerade königlich, jedenfalls aber ganz nett parlamentarisch, was man so im Jahre 1921 parlamentarisch nennen muß ...

20. Januar 1921

Rudolf Virchow hat auf allen Anthropologenkongressen stets erklärt, der Proanthropos, das Zwischenglied zwischen Affe und Mensch sei noch nicht gefunden. Vielleicht wäre er schwankend geworden, wenn er noch die Revolution erlebt hätte. Daß er den Erich Mühsam nicht gekannt hat, bleibt ewig schade. Aber es laufen noch in Freiheit genug Hanswurste der Revolution herum, die als Studienmaterial sich trefflich eignen, ehe eine nüchtern gewordene Nachwelt ihr Andenken in Gelächter erstickt, Leute von ältestem, äffischem Uradel, für die es uns heutigen Proleten nur an Verständnis fehlt. Bayern räumt jetzt durch Volksgerichte - Bauer bleibt halt Bauer - gründlich unter diesen Exoten auf, diesen Edelsten aller Verkannten. Aber nicht alle sind faßbar. Erich Mühsam, das Pumpgenie aus dem Berliner Café Größenwahn, Erich Mühsam, der Dichter, der den Schnaps besang und Monarchie und Deutschtum fast so haßte, wie Kamm und Seife, sitzt allerdings auf Festung. Aber die Genossen von ihm sind als Abgeordnete immun; und sie reden nun in unserem Reichsparlament gegen den bayrischen Ausnahmezustand, der, weil er den Normalzustand wieder herbeiführen soll, diesen Ausnahmemenschen zuwider ist ...

Wie eine Heulboje bei schwerer See legt der kommunistische Abgeordnete Thomas los. Er ist sicher kein Proanthropos, an dessen Existenz ich überhaupt nicht glaube; er ist während des Krieges nicht etwa im Urwald auf Bäume geklettert, aber er ist die fünf Jahre hindurch in einer Irrenanstalt in Würzburg gewesen. Es scheint, daß er den Reichstag für eine Gummizelle hält ... Von der Konkurrenzfirma kommt der Unabhängige Abgeordnete Unterleitner zu Wort, der Schwiegersohn Eisners, der während des Krieges als reklamierter Schlossergeselle nach München ging und mit Eisner zusammen den Generalstreik vorbereitete, um Deutschlands Waffenniederlegung zu erzwingen. In Bayern erzählt man sich, das einzige Legimitationspapier, das er nach Ausbruch der Revolution bei seiner Ernennung zum Minister vorweisen konnte, sei der Entlassungsschein des Zuchthauses gewesen. Das ist nicht wahr; er kam nur aus dem Untersuchungsgefängnis ...

Nun richten im Reichstage die Unabhängigen auch an unsere Regierung die Frage, wie sie über Rußland denke; und warum wir keine normalen Beziehungen zu der Sowjetrepublik hätten. In bemerkenswert schlechtem Deutsch poltert der Abgeordnete Crispin, dem man mehr zugetraut hätte, seine Begründung herunter. Man könnte wohl eine deutsche Reichsmark von 1914 gegen einen Sowjetrubel von 1921 verwetten daß die Rede, die Crispin hält, von Krassin stammt, und da wollen wir über ihre Stilistik weiter nicht rechten. Wie Sauerbier bietet er russische Lebensmittel, russisches Kupfer, ja, sogar russische industrielle Konzessionen aus (Konzessionen? Das ist ja ganz kapitalistisch, ruft Helfferich), lockt und tobt, denn wenn wir mit dem Dorado drüben noch nicht einig seien, so sei daran nur die deutsche Regierungsangst vor dem Sozialismus schuld ...

Obwohl unsere Parlamentarier in dem ganzen Betriebe, das Tag für Tag aus Wahlvorbereitungen und übereilter Gesetzesmacherei besteht, kaum die Muße finden, überhaupt Zeitungen zu lesen, geschweige denn ernsthaft in Probleme der auswärtigen Politik sich zu versenken, so fühlen sie doch alle, daß die Frage:Wie denken Sie über Rußland?über kurz oder lang die Lebensfrage für uns sein wird. Um so dankbarer hören sie den Erklärungen des Außenministers Simons zu, der die Interpellation der Unabhängigen Sozialdemokratie beantwortet - denn er redet nicht nur, was ja alle in diesem Hause der Wiederholungen tun, sondern er hat auch etwas zu sagen. Ein seltenes, in seiner breiten Ruhe erquickendes Bild, das der Reichstag hier bietet; nicht mehr das Gequirle wie sonst, nicht mehr die hysterischen Zwischenrufe der vielen alten Weiber männlichen Geschlechts, sondern Stille und Aufmerksamkeit. Simons, die verkörperte Leidenschaftslosigkeit und Sachlichkeit, doziert. Man weiß, daß dieser Mann seine fixen Ideen hat, ein Ideologe des Völkerbundgedankens ist, voll väterlichen Stolzes die Arbeiten seines Sohnes, der übrigens Sozialdemokrat ist, im Sekretariat der Völkerbundliga verfolgt, und man weiß, daß unserem Außenminister nicht die Gabe verliehen ist, schöpferisch und herrisch zu sein, eigene Wege zu gehen und fremde Flegeleien abzuwehren. Es ist niederdrückend, wenn man so hört, was wir uns von der Sowjetregierung alles gefallen lassen, die unsere amtlichen Schreiben überhaupt nicht beantwortet und unsere Regierung en canaille behandelt. Simons stellte fest ... und was er feststellt, das geschieht mit der peinlichen und unwiderleglichen Genauigkeit des Beamten alter Schule, und mit der Gewissenhaftigkeit des ehemaligen juristischen Beirats im Auswärtigen Amt.

24. Januar 1921

Jeder tüchtige Kreissekretär würde, wenn man ihm das Stenogramm des ersten Tages der Russeninterpellation zur Entscheidung vorlegte, nach genauer Durchsicht am Schlusse vermerken: »Zu den Akten!« Und damit wäre die Angelegenheit weggelegt und erledigt.

Was soll noch der heutige zweite Tag? Wir sind ja alle von Neuhaus bis Zetkin, der einmütigen Ansicht, daß Handelsverkehr mit Rußland eine schöne Sache wäre. Nur darüber regen sich Zweifel, ob unsere Kontrahenten in Moskau überhaupt etwas zum Handeltreiben besitzen. Der unabhängige Sozialist Dr. Breitscheid macht am Rednerpult des Reichstages eine großartige Armbewegung und sagt: »Jawohl: Gold und Platin!« Man kann ihm einige intime Kenntnis schon zutrauen, denn die einzigen Leute in Deutschland, die russisches Gold gesehen haben, waren doch schließlich unsere Unabhängigen. Aber es diente nicht dem legitimen Handel; nach dem frohlockenden Bekenntnis des Abgeordneten Cohn im Dezember 1918 wurden davon die Kosten der unterirdischen Agitation im deutschen Heere an der Westfront und die Anschaffung von Waffen für den Umsturz bestritten. Der Abgeordnete von Kemnitz von der Deutschen Volkspartei, der in verschiedener Herren Länder von Lissabon bis Peking das Diplomatenhandwerk betrieben hat und auch die östlichen Pappenheimer kennt, sagt es gerade heraus:

»Der einzige Ausfuhrartikel Rußlands ist heute der Bolschewismus!«