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Ein westdeutscher Korrespondent schreibt aus einem Ostberliner Hotel seinem westdeutschen Verleger Briefe, die die Wendezeit beschreiben. Helmut H. Schulz hat die Texte zeitnah verfasst. Sie dokumentieren und interpretieren subjektiv die Ereignisse zwischen Mauerfall und erster freier Wahl in der DDR. Zunächst fand sich kein Verleger. 1995 erschien das Buch, ergänzt um eine Chronik der Ereignisse, im Berliner Verlagshaus Gotthardt. Heute, 25 Jahre nach den Ereignissen, legen wir das lebendige "Geschichtsbuch eines Zeitzeugen" erneut vor.
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Seitenzahl: 305
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Helmut H. Schulz
Briefe aus dem Grand Hotel
Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
09.10.1989
05.11.1989
11.11.1989
21.11.1989
15.01.1990
16.01.1990
18.01.1990
19.01.1990
20.01.1990
21.01.1990
25.01.1994
27.01.1990
30.01.1990
02.02.1990
03.02.1990
07.02.1990
11.02.1990
14.02.1990
20.02.1990
22.02.1990
24.02.1990
04.03.1990
11.03.1990
13.03.1990
17.03.1990
20.03.1990
Chronik (verfasst 1995)
Impressum neobooks
Seit den achtziger Jahren standen die Forderungen im politischen Raum nach Reisefreiheit und der Versorgung mit Unterhaltungselektronik und Mobilität, also Autos, kurz, nach den Standards westlicher Lebensweise. Die Montagsdemonstrationen zu Leipzig etwa enthielten keine nationalen politischen Forderungen, sonder zielten auf die oben aufgezählten Forderungen. Die Bevölkerung der DDR war kein Staatsvolk, das den Staat trug. Hier erhebt sich die Frage nach dem Einfluss der Persönlichkeit auf den Geschichtsgang. Massen denken nicht, Massen folgen einem spontanen, augenblicklichem Gefühl, aber sie folgen auch einem Instinkt, der sie ungefähr leitet. Im Nachhinein wird, was geschehen ist, als politisch gedeutet und es wurde letzten Endes auch politisch; nach Marx, …wird zur materiellen Gewalt, wenn sie (die Idee) die Massen ergreift. Die reale Lage 1989 ist rasch hereingeholt; die Führungsmacht hatte sich aus der Mitte Europas zurückgezogen, mit der Erklärung der Bukarester Tagung der Warschauer Vertragsstaaten, das Warschauer Bündnis höre auf als Militärbündnis zu existieren (1987), und der Rede Gorbatschows vor der UNO Versammlung, das Zeitalter der Revolutionen sei zu Ende und die Periode friedlicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit beginne, war das Ende der Nachkriegsära einberufen. Logischerweise zerfielen die Staatlichen Strukturen.
Die Demonstranten hatten die Zeichen der Zersetzung gut und schneller verstanden als die Funktionsträger, die auf Befehle von oben warteten. Die befreundeten Staaten reagierten auf die Lage, indem sie die Grenzen zum Westen öffneten; die Führung der DDR kam mit der Deklaration von Reisefreiheit zu spät. Was folgte, war der stille oder friedliche Staatsstreich, die Besetzung der Ämter durch Zuruf. Die Kammer füllte sich auf diese Weise zu einem gesetzgeberischen Organ, die Minister ernannten sich selbst, indessen die Gruppe Modrow mit Bonn verhandelte, um den Staat in eine interimistische Konföderation zu überführen.
Das Volk gründete Parteien und Klubs, von allen Aktionen sollte sich die der Sicherung des Aktenbestandes des MfS als die zukunftsträchtigste erweisen, als staatsstiftend und übertragbar, woraus schließlich eine Reihe von Gesetze wurden, die Existenz der Stasiunterlagenbehörde ist bis über 2022 hinaus gesichert, womit selbst noch auf Rechtsstaatlichkeit überprüft werden kann, wer nach 2000 geboren wurde, was einer Groteske gleichkommt.
Eine gewisse Funktion übernahmen die sogenannten Runden Tische. Vorsitz führten schließlich kirchliche, also protestantische Beamte, die wenigstens in den formalen Regeln Bescheid wussten, eine Antragsflut aufriefen und formal erledigten. Die Bürgerrechtsgruppen konnten über den Protest hinaus keine politisch konstruktive Vorstellung des neuen Staates erzeugen. Nachdem die Modrow-Regierung den 18. März 1990 für die Volkskammerwahl vorverlegt hatte, endete die Bürgerrechtsbewegung; die berufenen Minister traten aus der Regierung aus, die ja immerhin gewählt war und somit rechtsstaatlich anerkannt, als die CDU die Mehrheit errungen hatte und eine Renaissance der PDS/SED ausgeblieben war. Nota bene, mit der Gesamtdeutschen Wahl war die Zustimmungserklärung zum Beitrittsakt verbunden; die Bonner Regierung übernahm die im März gewählten Mandatsträger mitsamt den Ministern in den neuen Staat, ohne dass einer gegen diese Prozedur öffentlich auftrat.
Sehr geehrter, lieber Herr Z., geschätzter Verleger,
Ihr Korrespondent ist nicht sicher, ob diese Zeilen noch das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben werden, nämlich auf dem Papier eines Ostberliner Nobelhotels, vor wenigen Jahren erbaut, in der, heute müsste ich sagen, Honecker-Ära. Grand Hotel ist ein hübsches Quartier für Valuta-Gäste, zumal für Ihren schwer arbeitenden Berichterstatter. Wohl möglich, dass ein hier beheimateter Bürger der Durchschnittsklasse den Prachtbau mit scheelen Augen ansieht; er wurde nicht für seinesgleichen errichtet. Der Eintritt ist ihm verwehrt. Jedenfalls aber hat Ihr Korrespondent einen vortrefflichen Blick auf die Mauer-Metro-pole mit ihren besonderen Lebensbedingungen. Verleger werfen ihr Geld nicht zum Fenster hinaus; kommen wir also zur Sache.
Bis zur Stunde werden die Leute diesseits und jenseits der Grenze und wir mit ihnen durch Kurzfilme der westlichen Medien über die Lage unterrichtet. Es mag Leute geben, die an den geschnittenen Film glauben wie an geoffenbarte Religion; Ihr Korrespondent gehört nicht zu ihnen. Wir haben noch die empörte Feststellung des Staatschefs im Ohr, von einer beispiellosen Hetze, die gegen die DDR entfacht worden sei, eine Bemerkung aus der - vermutlich letzten - Rede anlässlich des obligatorischen Staatsaktes zum Gründungstag. Dieser Auffassung kann sich Ihr Korrespondent noch weniger anschließen. Wir müssen wohl zustimmen. Die mehr oder minder gewissenhaften Recherchen unserer Kollegen an den TV-Sendern spielen eine wichtige Rolle bei der Unterrichtung der Leute über das sie Angehende, angesichts der dauernden Abwesenheit ihrer eigenen Journaille. Enthüllungen mögen für den Apparat der DDR alles andere als angenehm sein, gleichwohl sind sie keine Hetze. Unser Herr Pleitgen ermahnte denn auch alle zu größter Sorgfalt, weil das Westfernsehen in der DDR die höchste Glaubwürdigkeit genieße. In der Tat steht der Klassenkämpfer hüben wie drüben vor einer neuen Situation; durch die Präsenz und den Einfallsreichtum nimmermüder Neuigkeitenjäger hat er so etwas wie einen Gegenspieler vor sich, dessen Waffen er nie genau einschätzen kann.
Der Abend scheint heute ruhig, nach dem Fackelzug vorgestern und einigen Straßenfesten unter stiller Teilhaberschaft der Polizei. Über die sicherlich abgehörten Telefone, solche Finessen sind heute weltweit üblich und dem Korrespondenten gewohnt wie die tägliche Rasur, hörten wir, dass zu Leipzig die bisher größte Demonstration ablaufe, bei der sich die Streitkräfte überdies maßvoller verhalten sollen, als an den Vortagen. Genaueres wissen wir nicht. Korrespondenten dürfen nicht nach Leipzig hinein. Sie sehen, dass wir so etwas wie den kleinen Belagerungszustand haben, einen, den niemand mehr ausruft, der dennoch besteht. Die Filme aus der Stadt Leipzig sind Videos; fragt sich, wie lange diese Verbindungen noch ungestört bleiben. Im Grand Hotel leben wir also wie in einer belagerten Festung, weniger in Wirklichkeit, als in unserer Einbildung. Die Stimmung ist panisch-gedrückt, man ist bereit zur Flucht, als könnte das Haus jederzeit gesprengt werden, und ist andererseits begierig, Augenzeuge einer Katastrophe zu sein, die sich auch noch über Druckpressen und Schneidetische trefflich zu Geld machen lässt. Die älteren Herrschaften unter uns entsinnen sich noch der Tage des 17. Juni 1953 und halten es nicht für ausgeschlossen, von ihren Fenstern aus einen guten Schnappschuss zu machen, wenn ein russischer Panzer zum Beispiel einen jugendlichen Steinewerfer zu Brei zermalmt, was ein hoch bezahltes Fotodokument ergeben könnte. Nur dürfen Sie dabei nichts Schlechtes denken, denn es geht natürlich um die Menschenwürde, nicht um die des Zermalmten, sondern um die Abstraktion dieser Würde. Nicht zum ersten Mal beobachte ich, wie schwer man sich als Miterlebender dem Ereignis, über das nüchtern reflektiert werden soll, auf Dauer entziehen kann. Bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten an den Vortagen, als sich der greise Führer, Generalsekretär, Staatsratsvorsitzende und Chef aller Sicherheitsorgane des kleinen Landes vor einem Dutzend geladener Partei- und Landesfürsten als erfolgreichen Staatsmann feiern ließ. Unter der Hand ist hier ein anachronistischer Personalkult am Leben erhalten worden, nicht weit entfernt vom Pomp des rumänischen Theokraten. Deshalb versagten wir es uns auch, dem Fackelzug aus Anlass des Jahrestages der DDR beizuwohnen. Es handelt sich um ein bei uns in Deutschland höchst beliebtes Ritual, mit einem Beigeschmack von düsterer Verschwörung, von reinigendem Feuer. Ihr Korrespondent hat sich umgesehen in der Welt, und er müsste lange suchen, um ein ähnliches Szenarium beschreiben zu können. Einer unserer Chauffeure, die für Leute wie uns beschäftigt werden, um uns herumzufahren und unter Kontrolle zu halten, erklärte am Tag nach der heroischen Fackelei diplomatisch: "Da ham Se watt vasäumt!" Leider ist beim Berliner nie auszumachen, wann er seine Empfindung ausdrückt und wann er die Clownsgrimasse zieht; wer das Temperament der Leute kennt, der stellt sich darauf ein. Es handelt sich um eine tief sitzende Skepsis, die sich von Generation zu Generation vererbt und an der keine Ideologie bislang etwas zu ändern vermocht hat. Fontane nennt den sprachlichen Ausdruck dieser Haltung gelegentlich: Berlinismen.
Als Gast des Hauses Grand Hotel kann man sich nicht beklagen; die Küche blieb gut, der Service auch, aber es ist das alte Lied, und es klingt überall gleich: Solange kein Kanonendonner gehört wird, ist alles im Lot. Dennoch zogen wir uns lieber auf unsere Zimmer zurück, belauerten die Bildschirme und Telefone, hoffend, dass die Nacht für eine Überraschung gut war. Bei unserem Whisky oder Cognac verspürten wir ein aufgeregtes Unbehagen, aber es fielen in der Nacht vom 9. zum 10. Oktober keine Schüsse, nicht in Nähe des Grand Hotel, und übrigens hätte man uns wohl im Ernstfall gebeten, das Haus zu räumen, und uns in sicheren Fahrzeugen bis an die nahe Grenze, als der Peripherie der ganzen Aufführung, expediert. So wird es bei einigermaßen diszipliniert veranstalteten Revolutionen und Konterrevolutionen in der Regel gehalten. Die Mehrzahl der Theater spielen, die Cafés sind durchgehend geöffnet, und früher kam sogar noch der Milchmann ins Haus, brachte der Lehrjunge des Bäckers den Beutel mit Brötchen, während draußen eine Epoche zu Ende ging, für die gerade Herrschenden immer eine Bel-Epoque. Immerhin schätzen Augenzeugen, dass zu Leipzig mehrere Hunderttausend Menschen auf den Beinen waren; kein Zweifel, es ist kurz vor zwölf für das neue Tausendjährige Reich Honeckers, oder es ist sogar schon später. Ich halte Sie auf dem Laufenden; die Sache ist spannend genug.
Es grüßt Sie, Ihr ***
Lieber Herr Z.,
heben Sie diese Briefe gut auf, sie könnten so etwas wie historische Dokumente werden, die Begleitmusik zur Götterdämmerung dieses Staates DDR, geliefert von einem Außenseiter, der an nichts glaubt, und den niemand mehr hinters Licht führen kann, ausgenommen ein Verleger. Ihr Korrespondent ist kein Prophet; er verfolgt lediglich bei wachem Verstand den beschleunigten Gang der Geschichte, das Spiel des Allmächtigen Chronos, wie die Griechen einsichtig sagten, denen das Zeitliche, die Begrenztheit aller Politik wie allen übrigen Strebens bewusst war. Wir beide, Sie und ich, hatten uns dahin verabredet, über die nahe Zukunft, über die Perspektiven Osteuropas zu orakeln, nachdem Gorbatschow von einem "europäischen Haus" gesprochen hat, in das er die Staaten seines Machtbereiches einzubringen gedenke. Er, und wir mit ihm, dachten uns die Lösung dieser Aufgabe vielleicht denkbar einfach, jedenfalls aber vollkommen reinlich, diplomatisch-logistisch, begleitet von Verbrüderungsküssen und Flötenklängen.
Es hätten sich die Staatsmänner der Welt im Strahlenkranz des ewigen Friedens auf den schönsten Plätzen der Welt zu den schönsten Dinners der Welt treffen wollen, um, ordensgeschmückt zurückgekehrt, ihren Völkern zu verkünden, dass nunmehr wirklich alles zum Besten stehe. Zum Lohn für ihre Mühe wollten sie allesamt in die Geschichtsbücher eingehen. Nun ist der "große Lümmel", wie Heine das Volk respektvoll und nicht ohne berechtigte Panik genannt hat, dazwischengekommen, und die Leute rufen: "Wir sind das Volk!" Ich bin beim Thema. Gorbatschow ist die eigentliche Leitfigur allen Geschehens hier wie in Osteuropa überhaupt. Seine wirkliche Rolle ist heute jedoch kaum schon zu erfassen. Und am Ende kennt er sie selber noch nicht. Er ist Emporkömmling und trotz allem liberalen Gestus ein Nachkomme der Stalin-Ära. Ohne ihn würde es allerdings das Zutrauen der Leute in die eigene Kraft vielleicht nicht geben. Die Dinge eskalierten seit dem April, über den Sommer, als die Warschauer Verbündeten dem Exodus der DDR nicht nur gleichmütig zusahen, sondern Kapital aus der dummen und kurzsichtigen Isolierung ihres deutschen Bruderstaates schlugen und sich bei ihren künftigen westlichen Koalitionären, den Verbündeten von morgen, einleckten. Der innere Zerfall der UdSSR war anscheinend überall spürbar und zeigte Folgen. Ich muss jetzt nicht hinzusetzen, dass es natürlich um die höchsten menschlichen Werte geht und um Geld; unter uns können wir wohl bei der nüchternen Betrachtung von Tatsachen verharren. Bei einem Kurzauftritt in der Straße Unter den Linden richtete Gorbatschow ein paar aufmunternde Worte an die verzweifelten Fragesteller wie: "Verliert nicht den Mut!" Dass bestraft werde, wer zu spät komme, und zwar vom Leben, war einer seiner anderen Geistesblitze; davon haben Sie, als einer Banalität sicher schon hundertfach gehört. Fragen Sie lieber nicht nach, wer da straft und wen, und weshalb dieser oder jener zu spät gekommen sein könnte. Jedenfalls sollte dem Gorbatschow das Bad in der Menge, das ihn zunehmend begeistert, von seinem Busenfreund, dem Landesvater Honecker, trotz feuchter Bruderküsse auf Mund und Wangen, meist allerdings auf die Wangen, eine Sitte, die sich in Europa durchzusetzen scheint, eigentlich verwehrt werden. So will es die Fama, und manches spricht dafür. Spontane Auftritte von Spitzenpolitikern waren hier nie Sitte und weckten eher das Misstrauen in die Bündnistreue dessen, der nach Massenbegeisterung gierte, die nicht vom Politbüro gemacht worden war.
Dicht neben dem Grand Hotel steht eines der berühmtesten Opernhäuser des Kontinentes. Man braucht nur wenige Schritte zu gehen, um die Deutsche Staatsoper Unter den Linden, kaum weniger berühmt als die Komische Oper, zu erreichen, und am Schiffbauerdamm hat das Berliner Ensemble noch immer seinen Sitz, Brechts Stammhaus. Für alle diese Bühnen können wir Karten beim Empfang des Hotels erhalten, aber wir Korrespondenten haben keine Zeit fürs Sprechtheater oder für noch so vorzügliche Opernaufführungen; denn vor unserer Tür hat ein Jahrhundertschauspiel Weltpremiere. Wir erleben gerade den zweiten Akt und haben soeben erfahren, was der liebenswürdige Regent, von dem einer unserer bekannteren Publizisten, bei Gelegenheit Leiter der Bundesvertretung in Ost-Berlin, behauptete, jener gewinne viel bei näherer Bekanntschaft (und er muss ihn Wohl sehr gut gekannt haben, wenn ihm solche Bemerkung leicht und wie selbstverständlich von den Lippen fließt und in einem gedruckten Text verewigt wird), seinen Untertanen zugedacht hatte. Das Medienpersonal wird indessen immer mehr zu einer geschlossenen Gesellschaft aus alternden Damen und Herren, die sich die Bälle freundlich zuspielen und einander in seriösen Sendungen wie auf einer amerikanischen Party mit Sie und beim Vornamen anreden. Gleichwohl hatte dieser liebenswürdige Herr Honecker keine sehr gute Stunde, als er die Parole Konterrevolution ausgab.
Hier und heute dreht sich nun aber wirklich alles um die Frage, was die Sicherheitskräfte, Polizei, Armee und vor allem die Besatzungsarmee tun werden. Der Kurzbegriff dafür heißt: Schießbefehl. Ein solcher Befehl könnte uns sowohl einer Katastrophe wie einer Befreiung rasch näher bringen; uns, das sind die Ostdeutschen, die sich blutig aus eigener Kraft zwar nicht befreien könnten, aber doch eine Wende erzwingen würden, die den Namen verdient, Wende wohin auch immer. Ob die NATO eingreifen würde, ist kaum einer Erörterung wert. Einem Blutbad im Osten würde sie mit größter Gelassenheit und ungeheurem Moralgeschrei beiwohnen und nach langem Palaver einige halbe Maßnahmen ergreifen, etwa ein Embargo zunächst androhen, dann beschließen und es in Kraft setzen, wenn die Zeichen schon wieder ganz anders stehen. Will sagen, dass die Interessengegensätze in Europa eher größer werden dürften, sollte sich in der Tat eine deutsche Einheit am Geschichtshimmel abzeichnen. Die deutsche Teilung ist den Europäern ein viel zu kostbarer Kriegsgewinn, als dass sie sie preisgeben wollten. Außer Durchhalteparolen und einigen Care-Ladungen hätte das westliche Bündnis den Ostdeutschen also nichts zu bieten.
Ich schrieb Ihnen schon meinen Eindruck. Bei längerem Aufenthalt hier und zur Objektivität angehalten, entwickelt Ihr Korrespondent Sympathie für die spezielle Mentalität dieser seiner Landsleute. Ihm wird plötzlich wieder bewusst, aus welchem Verbund er wie alle anderen herausgerissen wurde, und er ist heimlich versucht, diesen ethnischen Zusammenhang wiederzugewinnen. Hier aber stockt ihm bereits der Atem, er sieht die mannigfachsten Vorwürfe und Verdächtigungen seiner treuen Freunde und Verbündeten auf sich zukommen. Was bisher nur Aufgeregtheit ist, das könnte noch immer zum nationalen Aufbruch werden. Gemach, es wird ein langer Marsch werden, bei dem unsere Nachbarn - und wir haben Nachbarn bis an den Pazifischen Ozean - ein kräftiges Wörtchen mitreden dürften.
Also zur Sache, vieles deutet darauf hin, dass der Staatsratsvorsitzende für einen Schießbefehl haften muss, den eine Gruppe einflussreicher Leipziger Bürger verhindert haben will. Ganz klar ist der Ablauf jener Tage vor einigen Wochen bis heute nicht. Dass eine halbe Million Menschen mit Sicherheit etwas anderes sind als Konterrevolutionäre, ist gewiss.
Nichts scheint mir übrigens bezeichnender für den sklerotischen Zustand dieser Oligarchen, als ihr Umgang mit der Sprache. Sie nahmen das Verfallsdatum ihrer Heilslehre gar nicht wahr, wie sie das Gefühl für die reale Lage eingebüßt haben. Ob nun allerdings ein Hofkapellmeister und ein Laufjunge des Politbüros den Waffeneinsatz der Russen, und nur auf die Kontingente der Roten Armee kommt es an!, in Leipzig und anderswo verhindern konnten, scheint Ihrem Korrespondenten mehr eine Glaubensangelegenheit, als eine historische Gewissheit. Eigenartigerweise aber beginnen die Deutschen ihre Liebe zu den Russen hervorzuholen; lesen Sie wiederum bei Fontane nach: Die Russen haben kein Ehrgefühl und kein Mitgefühl. Aber wir haben ein Datum, einen Hinweis auf das, was hier mit dem Begriff "Wende" auf den Weg gebracht worden ist. In jener Nacht von dem 9. auf den 10. Oktober stand es auf der Kippe, der Befehl zu scharfem Schuss und Panzereinsatz überhaupt, vielmehr dessen strikte Befolgung hätte eine andere Welt geschaffen.
In unserer albern friedenstaumeligen und ruhesüchtigen Zeit ist es kaum vorstellbar, dass Waffen in größerem Stile noch eingesetzt werden. Sie sollen auch nur hochgehalten bleiben, damit sie jeder sehen kann und fürchten lernt. Begrenztere Kriege werden wir allerdings alsbald wieder kennenlernen. Das Politbüro jedenfalls, diese allmächtige Instanz, vor der Recht und Gesetz aufhören zu bestehen, hatte aus seiner Begeisterung für die chinesische Lösung im Sommer, dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, nie einen Hehl gemacht und sogar seinen Laufjungen, eben jenen, der sich rühmt, aus Einsicht den Panzeraufmarsch nach dem Muster des 17.Juni 1953 abgeblasen zu haben, mit der Mission betraut, die Glückwünsche des Politbüros in das abgelegene China zu tragen.
Ihr Korrespondent ist kein Politiker, aber er ist ein alter Fuchs, und Sie sollten es sich gut überlegen, ob Sie noch einmal einen Skeptiker mit der Mission betrauen, einen Schluss- und Siegesbericht abzufassen. Kein Politiker zu sein, das enthebt Ihren Korrespondenten der Pflicht, irgend jemandem zu Munde reden zu müssen, heißen sie nun "Bürger" oder "Staatsbürger" oder gar "mündige Bürger", wie es hier gestern aus Anlass einer Massenkundgebung aus berufenem Munde tönte; man glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Es handelt sich um eine der denkwürdigsten Veranstaltungen der Volksbewegung und zugleich eine der harmlosesten, sehr verschieden von den Aufführungen zu Leipzig und Dresden. Gerade wegen dieser Harmlosigkeit aber werden den Protagonisten der Veranstaltung Plätze in den vordersten Reihen der Revolution zugeschrieben werden.
Berlin war immer das Zentrum dieses Kunst- und Kleinstaates, der als Frucht hegemonialen Denkens und eschatologischer Erlösungshoffnung wie die berühmte Brotkrume vom Verhandlungstisch der Siegermächte abgefallen war, und genau solange wird die DDR existieren, wie die Bündnislagen der zu Ende gehenden Nachkriegszeit andauern. Dieser Staat DDR hielt die europäische Politik in Balance, und das hatten alle Deutschenfresser gut begriffen.
Es sei denen verziehen, die des Guten ein bisschen zu viel taten, als sie in großzügigster Weise Prädikate wie dieses vergaben: "Heldenstadt Leipzig"; obschon die Volksbewegung zu Leipzig in der Tat durch die Nähe der Gefahr die höheren Weihen ihrer Sendung empfing. Weshalb Leipzig, das hat seine besonderen Ursachen, und dass zu Schwerin in Mecklenburg ein schlauer Kopf an die Wand schrieb: "Norden, erwache!", zählt ebenfalls zu den untergeordneten Denkwürdigkeiten dieser Volksbewegung. Bei der Berliner Veranstaltung am 4. November, und ich habe einiges vorweggenommen, um uns in Stimmung zu versetzen, wie Sie natürlich gemerkt haben, war viel von Revolution die Rede. Es war keine, alles andere, nur keine Revolution, aber noch könnte es eine werden. Heutzutage denkt man solche Aufführungen nicht mehr an ästhetischen Teetischen aus, wie Anno dazumal, sondern man geht auf die Straße, spielt ein Stück Klassenkampf wie auf der Bühne. Ihr Korrespondent stand eingekeilt in der Menge und versuchte, sich die Neurosen dieses Volkes in seinem freundlichen Aufbegehren und seiner naiven Einfalt im Glauben an die Macht des Gedankens zu deuten. Er erlebte den zaghaften Rauschzustand eines als vage Möglichkeit begriffenen Sieges, eines Sieges, der sich nicht beschreiben, wohl aber fühlen ließ, was allemal die höchste Glückseligkeit zu sein scheint. Er hielt sich vor Augen: Diese Leute durften nicht lesen, was sie wollten, nicht hören, was sie interessierte und nicht reisen, wohin es sie zog? Ihre Briefe wurden beschnüffelt, ihre Kontakte zu anderen überwacht? Alles, was selbständig dachte, sah sich der Verfolgung ausgesetzt und zumindest im sozialen Leben benachteiligt, wenn nicht eingesperrt? Vortrefflich, deshalb war es eine Revolution des Verbalen, eine Befreiung des Wortes, der Erlösung aus der Sprachlosigkeit, wie Sie wollen. Endlich wurde einmal in aller Öffentlichkeit frei geredet. Welch ein erhabenes Gefühl! Aber Ihr Korrespondent ist wie gesagt ein alter Fuchs, er nahm sehr wohl den Spionagegeneral auf der improvisierten Bühne neben einigen Oberlaufjungen der Partei wahr; er sah die alten bürgerlichen Garden, die Führer der Block-Parteien, er roch den Mief des alerten und anschmiegsamen Schriftsteller- und Künstlervolkes, viele, sehr viele davon längst im Besitz dessen, was sie stellvertretend für die herbeigerufene Menge wie für sich selber einforderten. Diesen Eliten fiel in jener Stunde ganz gewiss eine Rolle zu, die jedoch bald zu Ende gespielt sein dürfte, oder die zum Zeitpunkt des Großen Redens überhaupt schon vorbei gewesen ist!
Häufig sehen wir nur den Schweif des Kometen, nicht den Kometen selber, und eine Bewegung der Geschichte wird als Schritt erst verstanden, wenn dieser schon getan ist. Übrigens war die Demonstration polizeilich angemeldet, dann verboten und hinausgeschoben und schließlich doch höchst amtlich genehmigt worden. Sie fand unter dem Schutze jenes Staates statt, den die aufschreiende Menge doch eigentlich mit den Palmwedeln des Friedens bekämpfte, was einen ganz erheblichen Unterschied zu den Montagsdemonstrationen in Leipzig ausmacht, die gegen Polizei und Staatssicherheit über die Bühne gingen und noch gehen. Ihr Korrespondent nimmt an, dass die Veranstalter den Behörden gegenüber bestimmte Zusicherungen gegeben haben, die Ruhe aufrechtzuerhalten. So ist es nicht nur in Diktaturen allgemein der Brauch. Wie auch immer, es bilden sich die ablösenden Formationen sichtlich heraus, die neuen Führungskräfte sind Spielarten der alten, deren Bündnisbindungen und Persönlichkeit bei Ihrem Korrespondenten einige Befürchtungen auslösten. Da der Anschein erweckt werden sollte, oder spontan als ein Bedürfnis der Massen entstand, es handelte sich um eine geschlossene Front der wahren Demokraten, müssen wir es einstweilen so hinnehmen. Ihr Korrespondent wurde jedenfalls das Gefühl nicht los, Zeuge eines gut inszenierten Stückes mit mehreren, einander ablösenden Regisseuren und fabelhafter Besetzung zu sein.
Auffallend bleibt aber doch die Handlungsunfähigkeit der Machthaber, an der Spitze der greise Regent, der so viel gewinnt, wenn man ihn kennt, und der vor wenigen Wochen keck und verblendet erklärte, die Mauer bleibe noch hundert Jahre. Er dürfte kaum begriffen haben, weshalb den Bach hinuntergeht, was er für sein Lebenswerk hält. Da es nicht unsere Sache ist, an dieser Stelle die Überlebensperspektiven des untergehenden Staates DDR zu diskutieren, mag es bei der Feststellung bleiben, die kommunistischen Führer hätten nicht verstanden, die Macht zur richtigen Zeit zu teilen, sich den neuen Bedingungen anzupassen, um zu überleben. Falls es ihnen gelungen wäre, sich als ein europäischer Kleinstaat zu bewegen, sich aus den Zwängen des Warschauer Paktes zu lösen, ihn eventuell zu modifizieren, anstatt die Zeit mit albernen Hobbys wie Hasenhetze zu vertrödeln, würden sie sich in der Macht erhalten haben, denn im Grunde gab und gibt es zwischen ihnen und der demonstrierenden Menge keine so tiefen Meinungsverschiedenheiten, wie es sich die Politiker vorgaukeln.
Vergessen Sie diesen Gedankengang Ihres Korrespondenten, eines politischen Dilettanten, mein Freund. Die Situation fordert Spekulation geradezu heraus. Immerhin feierte Honecker noch seinen Scheintriumph zum Jahrestag des sozialistischen Staates am 7. Oktober, es war der Vierzigste, und Ihr Korrespondent könnte sich vorstellen, dass dem Staatschef die Lage zu dieser Frist sehr genau bekannt gewesen ist. Vielleicht nahm er Abschied, in einer ihm gemäßen Form trotziger Selbstbehauptung, der des kleinen Trompeters, eines Phantoms aus der Kampfzeit des jungen Erich und aus herber Enttäuschung, weil ihm keiner seiner zahlreichen Freunde helfend beisprang, da sie ihn doch eben auf roten Teppichen mit allem staatlichen Pomp und militärischen Zeremoniell empfangen und gefeiert hatten. Dem anheimelnden Bild eines "Vaters des Vaterlandes" steht aber doch sein erheblicher Wille zum Machterhalt gegenüber. Ich hänge Ihnen folgenden Bericht gleich an, um Papier zu sparen und die Wälder zu schonen.
Ihr Korrespondent saß dieser Tage in der "Erlöserkirche", die keine größere Beachtung verdiente, nicht als architektonisches Werk und noch weniger als Kirche, ohne dieses Tagesereignis. Aber das untere, niedere Kirchenpersonal hat in der Volksbewegung eine höchst eigenartige Rolle gespielt, die sich nicht in wenigen Sätzen beschreiben lässt. Sie öffneten beizeiten und sicherlich berechnend, und soweit es die Oberen angeht, manchmal maßvoll, öfter mit der Staatssicherheit rückversichernd kungelnd, ihre Türen den Verfolgten, den Mühseligen und Beladenen, von denen nur wenige jemals etwas von den zehn christlichen Geboten gehört haben dürften, und denen Gott eine Größe auf Zeit bleiben wird. Gleichwohl boten ihnen die Kirchen eine Rückzugsmöglichkeit, einen verhältnismäßig geschützten Raum, und vor allem boten sie den Leuten eine Möglichkeit, kleinere Organisationsstrukturen auszubilden, die sicherheitsdienstlich unterwandert werden konnten, eine tödliche Gefahr, wie tödlich und für wen tödlich, das werden wir höchstwahrscheinlich noch erleben und mit ansehen müssen. Es war ein Geben und ein Nehmen, wie Sie sehen. Um es gleich zu sagen oder zu wiederholen, es handelt sich beileibe um keinen verabscheuenswürdigen Sonderfall der Diktatur, nur fragt es sich, wie solche Überwachungen politisch gedeckt sind.
Bei der Veranstaltung, von der hier die Rede sein wird, hörten wir Sänger und Schauspieler, Sprecher verschiedener Gruppierungen, die sich ausnahmsweise auf einen Modus einigen konnten: Denn die Bewegung ist heute schon heillos zerrissen und zerstritten, obschon sie bemüht ist, Geschlossenheit vorzuführen. Bedeutung kommt ihr längerfristig kaum noch zu, ich wiederhole es. "Gegen Gewalt" lautete die Parole, und das Auditorium hielt Gerichtstag über die Sicherheitsorgane des Staates. Was zur Sprache kam, ist widerwärtig genug: Hinter Gefängsnistüren spielten sich üble Verhörszenen ab; an kein Gesetz oder Recht gebundene Untersuchungsbeamte verhörten stundenlang unter Gebrüll, mit Einschüchterung und Drohungen, körperlichem Angriff auf die "Zugeführten", Drangsalierungen, entwürdigendem Entkleiden; dies also gab es auch bei dem sich beschleunigenden Zerfall des Staates DDR, der als unumkehrbarer historischer Fortschritt gegolten hat.
Nachtrag.
In immer rascherem Tempo lösen sich die alten Machtstrukturen auf. Die sogenannten Blockparteien, die allesamt im Volk keinen guten Ruf genießen, wollen sich nun aus einem einträglichen jahrzehntelangen Bündnis mit der SED, der "führenden Kraft der Arbeiterklasse", entlassen. Daneben entstanden und entstehen noch und neuerdings ungehindert zahlreiche Bürgerrechtsgruppen, politisch schwer zu definieren, notorisch antifaschistisch, nur wenige davon werden Parteireife erreichen, obschon sie über einen gewissen Organisierungsgrad hinaus gelangen könnten. Satzungen, Statuten, Programme fehlen, entweder wegen Zeitmangel oder aus absichtlicher Unterlassung. Es ist eine offene Frage, ob etwa das "Neue Forum" überhaupt Partei sein oder werden will. Möglicherweise haben alle Gruppierungen nur Übergangscharakter und ihre Aufgabe mit der Zerstörung des abgestorbenen Apparates überhaupt erfüllt. Vielfach sind sie nicht einmal bündnisfähig, sondern bloß sektiererisch, lehnen Partei als überlebte Einrichtung ab und betrachten nach den Erfahrungen mit der Einheitspartei jedes Angebot zur Koalition mit Vorbehalt.
Das alte Regime hat nach Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich und der Verweigerung einer militärischen Intervention der Russen keinen Handlungsspielraum mehr. Die Mauer könnte nicht geöffnet werden, ohne den Untergang der Cliquen zu beschleunigen. Andererseits war die Grenze dessen erreicht, was die Volksmassen noch tolerierten; der ihnen gepriesene Sozialismus war ihnen zum Kerker geworden, die immer schneller wachsenden wirtschaftlichen Probleme sichtlich nicht mehr lösbar. Der Staat stalinistischer Prägung war im Bewusstsein überlebt wie in der Wirklichkeit, nach Marx eine signifikante Untergangslage. Im Grand Hotel, Symbol selbstherrlichen Umganges mit Volksbesitz - hier hat das Wort deshalb Sinn, weil die sozialistische Wirtschaftsethik selbst diesen Begriff unterscheidend zum kapitalistisch-bürgerlichen Eigentum geprägt hat -, geht auch nicht mehr alles seinen gewohnten Gang. Manche Gäste sind geflüchtet, weil sie die Ruhe und Sicherheit vermissten, die hier bisher oberstes Gebot gewesen zu sein scheinen. Neu sind hinzugekommen, unter anderem, Bankenvertreter und Wirtschaftsfunktionäre; unter der Hand auch ein Staatssekretär, ganz anonym. Und selbstredend dürften sich die Agenten aller Geheimdienste herangedrängt haben, diese ganz unauffälligen Leute, die gleichwohl ein Kainsmal tragen, da man sie dermaßen leicht herauskennt. Leben Sie vorerst wohl, sobald es die Mühe lohnt, hören Sie von mir. Ich denke, dass sich in den nächsten Tagen der nächste Akt des Schauspiels ankündigen wird.
Ihr ***
Mein Herr, seit dem 9.11., abends oder sonstwann, sind die Grenzen zur Bundesrepublik und nach West-Berlin weit offen. Ihr Korrespondent kann dem Menschenstrom nur staunend zusehen, der sich in die Weststadt ergießt. Gestern noch verhasste Zöllner und Grenzpolizisten nehmen verblüfft und besänftigt Blumensträuße entgegen, von der Entwicklung überrollt, und winken die Menschenmassen gleichmütig durch rasch erweiterte Maueröffnungen ins "Freie". Jedermann kann sich beim "Volkspolizeikreisamt" einen Stempel in den Reisepass oder behelfsweise in den Personalausweis drücken lassen; das so gezeichnete Dokument berechtigt ihn zum Verlassen des Landes. Was bis gestern noch mit Gefängnis und gesellschaftlicher Ächtung bestraft oder per Todesschuss ein für alle Mal erledigt wurde, ist heute kein Staatsverbrechen mehr, sondern wird ermunternd gefördert. Punktum. - Sie haben sicherlich daheim am Fernseher erlebt, wie es aussieht, wenn die Geschichte einen ihrer skurrilen Einfälle praktiziert und brauchen keine Detailbeschreibungen meinerseits. Immerhin hielt es uns, also die schwer arbeitenden Korrespondenten und Bildberichter, nicht im Grand Hotel; wir zogen hinaus ins freie Leben sozusagen, das heißt, ins Berliner Leben.
Berlin ist eine Stadt, die aus vielen Einzelstädten häufig gegen deren Willen wie ein Flickenteppich zusammengesetzt wurde. Was die Stadt zusammenhält, ist der berlinische Geist der Skepsis, der Verneinung und der Frechheit, das Mundwerk, die Erklärung, Berliner zu sein. "Ich bin ein Berliner", das kann jeder Narr sagen, er wird sogleich von den Berlinern unter die Berliner eingemeindet, ist damit freilich noch lange nicht das, was die Berliner unter einem Berliner verstehen, es sei denn, jener bedient sich bewusst des berlinischen Gestus, was nicht jedem gelingt und auch nicht so leicht ist, wie es sich anhört. Sie können gut und unbelästigt in einer anderen deutschen Stadt, sagen wir in Frankfurt, leben, sich zehn oder zwanzig Jahre lang brav betragen, ohne die geringste Aussicht, jemals ein Frankfurter zu werden, oder ein Mainzer, wie Sie wollen. Man wird Ihnen unter Umständen sogar noch Kleidervorschriften machen. Das ist hier ganz anders.
Berlin war eine Zuzugsstadt; einen Berliner, dessen Großeltern bereits in Berlin geboren wurden, werden Sie nur mit Mühe finden. Es bleibt also beim Gehabe, was aus Zuzüglern oder Reisenden Berliner macht. Dieser Umstand äußert sich gelegentlich und vorläufig verbal. Da heißt es von einem Asiaten, "der is Chinese", zum Beispiel, und Chinese bleibt er auch dann noch, wenn er zwanzig Jahre lang im selben Haus gelebt und in guter Nachbarschaft ganz angenehm gelebt hat.
Der Berliner ist im Grunde konservativ. Tucholsky wie einige andere haben sich über den Charakter des Berliners getäuscht und folgerichtig nicht verstanden, wie ihnen geschah, als die besungene und gepriesene Herz-Schnauze-Kombination keine sanften Heinriche aus den Berlinern machte. Goethe war da weiter. Ihm waren sie ein raues Geschlecht, und er hat sich eher vor dem Berliner gefürchtet, als dass er ihn liebte.
Hier ist selbstverständlich nicht vom Snob des Westens die Rede, der ein Neutrum ist, falls er weiblich, und ein Affe, wenn er zum männlichen Geschlecht gezählt wird. Was auf dem Ku-Damm als mondän und weltoffen gilt, gehört in die Kategorie des allgemeinen wie intellektuellen Zigeunertums, aber das hat mit dem Berliner nicht das Mindeste zu tun. Nun hat sich das literarische Berlin vorwiegend im Westen aufgehalten und gerudelt; daher kommen die Fehleinschätzungen des Grundcharakters der Berliner. Dies und manches andere Missverständnis macht diese Stadt zum Magneten für Hinz und Kunz. Also auch für Ihren Korrespondenten. Westberlin, wie es der Zufall von Ostberlin trennte, steht auf größerer Fläche, verweist auf einige Straßen und Gebäude, die für den Berliner ganz ohne Interesse sind. Der Ku-Damm blieb dem richtigen Berliner eine weit abgelegene Gegend, reserviert für den abenteuernden Ostelbier, falls er nicht die Friedrichstraße als brandenburgischer und von urwüchsigerer Erotik vorzog, oder die "Linden", die Meile der Garde wie der Regierung, und das Schloss gehörte sowieso dem Kaiser. Dennoch hat der ältere Berliner die wilhelminische Ära eher als eine Glanz- und Glückszeit des Deutschen Reiches empfunden; das drückt sich manchmal noch in wehmutsvollen Erinnerungen der Alten aus: "Kaisers Zeiten" oder "wie bei Kaisers". Sie können diesem Urteil vertrauen, die klassenkämpferisch orientierte Berichterstattung befasst sich nur ungern mit dem Kaiser Wilhelm und qualifiziert den Typus Berliner in der Regel als Untertan Heßling, nach Heinrich Mann, und Pfahlbürger ab.
Der Ostteil war übrigens nach der gewaltsamen Teilung der volkreichere, berlinerischere, wenn Sie wollen. Hier wohnte noch dicht bei dicht und nach Vätersitte, wer der Wärme und Solidarität nicht entraten mochte. Hier gedieh noch der Großstadtwitz wie eh und je: Eine Dame hält dem Fahrer eines Busses mit fragendem Blick ihren Fahrschein hin. Watt is, sagt der, soll ick rinbeißen? Nicht Jedermanns Geschmack? Nein. Sie sehen, es gibt Traditionen, wie sie sich bissiger nicht denken lassen. Vielfältig ist daher auch das Schichtenspektrum der Bewohner des Ostteiles.
Hier nämlich fanden zahlreich zugewanderte Dissidenten Duldung und Quartier wie nirgendwo anders; alleinerziehende Emanzen erkoren sich die Wahlgroßmutter für ihre anti-autoritär erzogenen Gören, wenn ihnen die eigene Mama in Kötzschenbroda entnervt den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Hier saß man in Wahlfamilien in den heruntergekommenen Küchen zusammen, soff billigen Rotwein aus Henkeltassen und Bier aus der "Pulle", brühte pausenlos Kaffee, paffte Zigaretten und redete, redete, man lebte. Alle Arten Sonderlinge, von sanft bis streitbar, ließen die Altsassen, Kleinstrentner, Gescheiterte, im Suff Verkommene gewähren und nach ihrer jeweils eigenen verschrobenen Fasson selig werden, wofür sich der Ausdruck: Stadt-Kultur bei den feinen Leuten des Feuilletons der Zeitung und der Medien eingebürgert hat. Hinzukommen werden die Amerikanismen, die "Streetworker" und die himmlischen Engelschöre helferisch gestimmter Sozialarbeiter, um dem Strich wie den Fixern unter die Arme zu greifen, sagen wir mal, das internationale Niveau.
Der Berliner ist hingegen nur mürrisch-duldsam, auch wenn er in der Regel genau erkennt, was da läuft, und weil er weiß: "dett det imma so jewesen und nich zu ändan is". Da sich alle diese Zugereisten zum Berliner ernannt hatten, wurden sie von den Alteingesessenen aufgenommen, wie schrullig sie auch auftraten. Dorthin also lenkten wir unsere Schritte, nämlich in eine Kneipe des Prenzlauer Berg, um aus den Quellen zu schöpfen, aus dem Born der Volksweisheit. Wir entdeckten einen älteren Mann, der ruhevoll sein Bier trank, gelegentlich eine Bemerkung zur politischen Lage einstreute und sich im Übrigen vertraulich mit dem Kneipier über völlig nebensächliche Dinge unterhielt, was in dieser Stunde immerhin verwunderlich war. Auf unsere Frage, ob er denn auch schon "drüben" gewesen sei, gab er zur Antwort: "Nee, wozu? Glooben Sie, dett die die Maua wieda zumachen könn?" Wir, Ihr Korrespondent und ein paar andere Meinungsforscher räumten ein, dass dieser Fall höchst unwahrscheinlich sei. "Morjen is ooch noch Zeit", sagte unser Informant tröstend. "Aba bei euch isset watt andert, ihr seid ooch zu jung, um det Berlin von früha zu kenn." Es stellte sich heraus, dass er als Rentner ohnehin längst in den Genuss des Verwandtenbesuches gekommen war und gar keine Eile nötig hatte. In der Tat aber traf er mit dem Hinweis auf unterschiedliche Generationserfahrung ins Schwarze.
Pflichtgemäß fuhren wir in die Renommierzone des Westens, dem Kurfürstendamm, dort sollte so etwas wie ein Volksfest ablaufen. Da Ihnen diese Fete per Übertragung frei Haus geliefert wurde, zusammen mit der von Geistesstärke und Gemütstiefe zeugenden Bemerkung des OB Momper: "Wir sind das glücklichste Volk der Welt", womit sich dieser famose Herr übrigens auf staatsmännisch glattem Parkett bewegt, da der Führer Adolf Hitler die Österreicher anlässlich des Anschlusses ebenfalls als ein glückliches Volk bezeichnet hat, sollte sich Ihr Korrespondent wieder dem politischen Teil der Aufführung zuwenden. Sei es, wie es sei, das glücklichste Volk der Welt strebt zu Hunderttausenden in den Westen, kassiert zwischen hundert und hundertfünfzig Mark Begrüßungsgeld. Diese Sachbezeichnung ist von einem Beamtengehirn erdacht, wer sonst käme auf solchen Blödsinn und kauft sich vorerst einmal Freiheit. Das Volk könnte aus dieser Erfahrung weitergehend die Lehre ziehen, dass Freiheit eine Frage der Geldmittel ist und weniger der Gesinnung, aber Sie und ich und unseresgleichen, wir werden uns hüten, diese Wahrheit einem größeren Publikum zugänglich zu machen, nicht wahr? Zola hat sie übrigens entdeckt und aufgeschrieben. Damit sei es genug der Berichterstattung.