Augusta - Ihre Ehe mit Wilhelm I. - Helmut H. Schulz - E-Book

Augusta - Ihre Ehe mit Wilhelm I. E-Book

Helmut H. Schulz

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Beschreibung

Die Nachwelt hat der ersten Kaiserin Preußen-Deutschlands keine Kränze geflochten. Was wir heute über sie wissen, stammt aus den zeitbedingten oder politisch bestimmten Urteilen ihrer Gegner. Bismarck hielt die Kaiserin Augusta für seine schlimmste Feindin, was zutrifft. Wilhelm I., ihr Herr Gemahl, misstraute ihrer Aktivität, nicht aber ihrem Urteil. Sie wollte den Gang der deutschen Geschichte gegen alle Widerstände in der ehrenwerten Familie in einem historischen Augenblick mitgestalten, als Preußen am Scheideweg stand. Anders als ihre Vorgängerin auf dem blauen Kornblumenthron Preußens, der Königin Luise, wurde sie in Berlin nicht geliebt, höchstens auf Grund ihrer Stellung respektiert. Zuletzt galt sie nur noch als gefährlich schrullig.

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Seitenzahl: 586

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Helmut H. Schulz

Augusta - Ihre Ehe mit Wilhelm I.

Eine Biografie

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

VORREDE

DER 9. MÄRZ 1888

DER FÜRSTENHOF ZU WEIMAR

1811 GEBURT UND ERZIEHUNG

BRAUTWERBUNG

BERLINER SALONS, ÄSTHETISCHE TEES

DAS SCHWEDTER PALAIS

PROFUNDE TRISTESSE

DIE WACHT AN DER SPREE

DIE REVOLUTION, DIE REUE UND DER RÜCKFALL

ENGLAND UND WILHELMS RÜCKKEHR

ERZIEHUNG EINES KAISERS – FRIEDRICH III.

DER STAATSSTREICH UND DAS ABGESAGTE KAISERTUM

DIE PREUSSEN SIND ÜBERALL

DIE HEITEREN TAGE VON KOBLENZ

KÖNIGIN FÜR EINEN TAG

DER AKT HÖHERER WEIHE

EINIGKEIT UND RECHT UND FREIHEIT

DER DÜPPELER SIEGESMARSCH NACH KÖNIGGRÄTZ

RACHE FÜR SADOWA

DIE KAISERIN AUGUSTA

NACHREDE

Impressum neobooks

VORREDE

Die Biografien der Kaiser und Könige füllen Bibliotheken, und eine unermüdliche Forschung fügt dankenswerterweise schon Bekanntem immer neue Details hinzu. Von den Frauen dieser Herrscher erfährt man eher am Rande. Mythisch und gewaltig sind sie in vorgeschichtlicher Zeit; dann werden sie bloß drapierte Puppen. Bei Eintritt ins heiratsfähige Alter einer Majestätskandidatin fällt das Auge des Historikers auf die betreffende Dame; er bereichert unsere Kenntnisse über ihr geringfügiges Eigenleben um einigenota bene, und beendet ihre Vita mit der Liste ihrer Kinder. War sie hierin erfolgreich, hat sich ihr Lebenszweck immerhin erfüllt. Über die Mätressen der jeweiligen Potentaten wissen wir vergleichsweise mehr; vielleicht sind sie interessanter, verwegener, besitzen mehr Individualität und größeren Ehrgeiz, mag sein. Natürlich lassen sich auch die staunenswerten Ausnahmen finden, wie die Königin von Saba, wie Kleopatra, die englische Elisabeth und ihrer Gegnerin Maria Stuart. Bei genauerem Hinsehen halten sich möglicherweise Regenten und Regentinnen die Waage, nur dass diese mit Zungenfertigkeit erreichten, was Männer mit dem Schwert erwerben mussten. Nun, das sind bloße Hypothesen. In den Zeiten des Schwertadels und des Raubrittertums scheinen die Frauen in der Tat bedeutender, rücksichtloser und also androgynergewesen zu sein, um dem kuriosen Vokabular neuer Gelehrsamkeit ein Modewort zu entlehnen. Das Leben und energische Wirken verschiedener Herzoginnen und Kurfürstinnen könnte leicht zum Beweis dieser Behauptung herangezogen werden. Dann verschlechtert sich die Lage für den Berichterstatter wieder. Von der Gemahlin des Soldatenkönigs wissen wir, dass sie immerhin versuchte, innerhalb ihrer Möglichkeiten, die Kinder vor diesem Vater zu schützen. DerAlte Fritzhielt gar nichts von Frauen, am allerwenigsten von Ehefrauen; er hatte ein Menge anderer, ihn stärker fesselnder und wichtig erscheinender Beschäftigungen als die der Unterwerfung unter das dynastische Zeugungsregime und den damit verbundenen Unsicherheiten der Erbfolgen; inzestische Schwachköpfe fand er unter seinesgleichen übergenug. Der Monarchenphilosoph beherzigte den Rat Diderots, lieber einen fertigen jungen Menschen als Sohn zu adoptieren, anstatt einen Kretin zu erzeugen. Friedrich II. wählte seinen Nachfolger selber aus, was freilich auch schief ging, weil ihm dieser verstarb, ein wahrhaft aufgeklärter Monarch zwar, aber in diesem Falle nicht eben sehr erfolgreich. Der Nachfolger des Nachfolgers, also des abgeschiedenen Kronprätendenten, hielt wiederum zu viel von Frauen, er zeugte auch zahlenmäßig ausreichend Kinder, denen ein König hätte entnommen werden können. Dieses Verfahren scheint also doch eher zum Ziele zu führen, als das der Wahlverwandtschaft. Bei einem Monarchen kommt es auf die persönlichen Gaben auch nicht an. Bis endlich mit derKönigin Luiseeine weibliche Persönlichkeitundeine Herrscherin an die preußische Öffentlichkeit trat, eine Märchenkönigin, ein Gemisch aus mecklenburgischer Seelenplatte, wie man kürzlich von einem Kabarettisten auf eine zeitgenössische Ministerin gemünzt, sagen hören konnte, und gemütvoller Wahlhessin; eine Königin, kindlich einfach, menschlich gütig, mit so vielen Fehlern wie nur möglich, und wie sie auch gewöhnliche Untertaninnen haben durften. Deshalb stiftete man ihr auch einen Bund. Allerdings erweckte Luise wegen ihrer persönlichen wie gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften das Mitgefühl wie den Argwohn der Nachwelt, die nicht unbedingt als königinnenhaft anzusehen sind. Dies ist ein historisches Dilemma; es entdeckt zu haben, oblag den Berliner Hofschranzen. Zu Berlin tragen allerlei Örter und Straßen Luises Namen, wie die ihrer späteren kaiserlichen Nachfolgerinnen. Letztere sind alle in Nähe des Berliner Kaiserdammes zu suchen, wenn man überhaupt nach ihnen sucht, und sich nicht bloß mit dem Namensschild am Straßenpfahl begnügt, aha, noch eine Kaiserin. Ihre Vorläuferinnen gaben der alten Friedrichstadt als Straßenort für ihre Namen den Vorzug. Woraus zu folgern ist, dass die Stadt Berlin zuvor hinter dem Brandenburger Tor endete.

Auch die Zarin Katharina, um einen Blick außer Landes zu werfen, fiel aus dem Rahmen des Gewöhnlichen; wegen eines skandalösen Liebeslebens, dessen Details uns heute ganz geläufig und beinahe Unterrichtsstoff in den Elementarklassen der Einheitsschulen geworden sind, wo kleine Mädchen und Jungen unter Anleitung eines Reformpädagogen lernen müssen, wie man ein Kondom über einen hölzernen Phallus bringt. Ob die Kleinen für solche Leistung Zensuren bekommen, war dem Fernsehbericht leider nicht zu entnehmen. Deutsche Gründlichkeit macht’s möglich. Der Liberalität sind eben keine Grenzen gesetzt. Victoria, aus englischem Urstoff gemacht, eine Königin, nach welcher ein ganzes Zeitalter benannt wurde, dasVictorianische, analog zumWilhelminischen, scheint im Gegensatz zu Katharina eine stillere Herrscherin gewesen zu sein. Übrigens kam auch auf sie eines Tages der Titel:Kaiserin, nämlich von Indien. Ihr Enkel Wilhelm zwo wurde von seinen britischen Verwandten alsMister Willybezeichnet. Ob seine Großmutter mitMiß Victoriaangesprochen wurde, ist hingegen nicht überliefert. Das Verhältnis der Völker zu ihren Königinnen und Kaiserinnen scheint indessen zufriedenstellend gewesen zu sein. Die deutschen Märchen benutzten ja auch die zutrauliche Anrede:Frau KöniginoderHerr König, während sie den pommerschen Kossäten leicht schwärmerisch als:Bäuerleinbezeichnen. Dieser lebte ungefähr so oder nur etwas darüber wie sein Schwein im Koben, wovon sich heutzutage Jedermann in einem der zahlreichen Dorfmuseen überzeugen kann, und sich schaudernd fragen darf, was die am Abend ohne Fernseher gemacht haben mögen. Nun, ganz einfach, Kinder.

Als der vorletzte Kaiser von Österreich-Ungarn, Franz Joseph II. zu Grabe getragen wurde, 1916, also mitten im Kriege, was ihm das demokratische Elend der Ersten Republik wie die Bedeutungslosigkeit des Exils erspart hat, befanden sich haufenweise schwarz verschleierte Damen im Trauerzug auf demWiener Ring; eine schier unübersehbare Menge wandelnder Figurinen, wie die Muselmaninnen von Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gehüllt. Anscheinend handelt es sich um ein bestimmtes Zeremoniell der Hoftrauer, eine sozusagen abgeschwächte Form der Witwenverbrennung. Der Film, der jüngst entdeckt worden war und sogleich zur Konservierung von solchen, sonst flüchtigen Bildern genutzt wurde, hat uns diese merkwürdige Art höfischen Trauerns überliefert. Wichtig genug, da die Tiefenforscher menschlicher Seelen allgemein beklagen, dass wir zu wenig trauern, uns zumindest ungenügend bewusst sind, welche Schuld wir etwa als Christen, mit den neronischen Verfolgungen auf uns geladen haben, ohne an eine Entschuldigung zu denken. Mohammedaner, Buddhisten und Anhänger verschiedener Naturkulte sind besser dran. Als der Kolporteur sich vorgenommen hat, den Lebenslauf der Kaiserin Augusta von Deutschland nachzuerzählen, und diese Filmsequenz sah, fiel ihm eine höchst persönliche Antwort auf die Frage ein, was es denn noch für einen Sinn hat, die Geschichte einer Fürstin aufzuschreiben, die lieber Kaiserin als Königin sein wollte, und die eigentlich nur Klatsch und Häme hinterließ. Einst, in nun schon ziemlich grauer Vorzeit, lud der Vater dieses Bücherschreibers zu einem so genanten Familientag. Dergleichen war recht beliebt. Aus allen Himmelsrichtungen eilten die lieben Verwandten herbei, Onkeln und Tanten, Vetter und Base soundso, mehr oder minder grobe Lümmel aus den entferntesten deutschen Provinzen, lymphatische junge Mädchen, städtischen Mittelschichten erwachsen, mit jugendlich schwellendem oder ganz flachem Busen, und vor Aufregung schwitzenden Händen. Die kritischen Einlassungen seines vorlauten Sohnes wies der Vater mit der Erklärung ab, man müsse alle seine Verwandten nicht nur lieben, sondern jede Familie konzeptionell und anschauungsweise nehmen. Die kleine Base soundso, zum Exempel, werde ihrer tatkräftigen und habsüchtigen Mama einst verzweifelt ähnlich sehen. Wir haben alle nur unser Stück Tradition, in der wir solange wurzeln, bis Abstammungen belanglos geworden sind. Alle historischen Familien erinnern am Ende an Museumspräsentationen.

In der Tat aber hat amandrogynenWesen der Frauen nie auch nur der geringste Zweifel bestanden, wohl aber müssen die Männer, innerlich verzweifelt, weibliche Neigungen in sich bekämpfen, sobald sie welche aufspürten, bis sie einer Dame weinend an den energischen Busen sinken, und alles schwächliche, das Androgyne, in sich befreien dürfen. Womit sich die männlichen wie die weiblichen Bestimmungen vollendeten. Dies fiel dem Kolporteur als Ausrede ein, als er einen ersten Blick auf das Leben einer energischen, wiewohl in all ihrem Streben gescheiterten Frau geworfen hatte, und sich den Kaiser Wilhelm I. daneben dachte.

Nun, die Formen des sozialen Daseins wie der Liebe haben sich ein wenig geändert. Die Vertreter des Hochadels wurden zum neuen Glauben an die Macht der Sinnlichkeit und des Geldes bekehrt. Auffallend viele von ihnen sind Unternehmer und Berater von Unternehmern, Volkswirte bis an die Grenze der Korruption und Korrumpierbarkeit, harte Manager und Geldverdiener geworden. Die weiblichen Abkömmlinge verdingen sich sonderbarerweise zu Hauf den freiheitlichen Medien oder der Journalistik. Diese Einrichtungen, welche die öffentliche Meinung auch dort erzeugen, wo es keine gibt, sind sozusagen in die Erbfolge des literarisch-klatschsüchtigen Salon des Biedermeier eingerückt.

Kommen wir zum Schluss dieser Vorrede. Zwei der drei Kaiserinnen des Deutschen Reiches von 1871 haben in der victorianischenoderwilhelminischenÄra eine besondere und eigentümliche Rolle gespielt, wiewohl ihrer nie ausreichend gedacht worden ist. Gemeint sind Augusta und die jüngere Victoria, eine Tochter der englischen Victoria. Der Gemahlin des Kaiser Friedrich wird hier noch nicht gedacht, ihr Name sei immerhin schon eingeführt. Aber die Vita Augustas, deutscher Kaiserin, legt der Kolporteur allen auf das wärmste ans Herz, und das im vollen Ernst, die auf der Suche nach Kaiserinnen sind. Es lohnt. Eigentlich müsste hier noch von der letzten Zarin Alexandra Feodorowna die Rede sein,die Deutsche, wie sie von den Russen verächtlich genannt wurde. Die beiden erstgenannten Kaiserinnen hätten sich, davon haben wir uns an den reinen Quellen der Wissenschaft überzeugt, auch heute im gesellschaftlichen Leben behauptet; die eine hätte vielleicht ein weltweit Geld einsammelndes Hilfswerk aufgerichtet, um streunende Hunde aus einem fernen Kontinent in das Asylland Bundesrepublik zu überführen, und ihnen einen schönen Lebensabend gesichert, wie es jüngst geschehen ist. Die andere, härteren und britischeren Schlages, wäre unter Umständen als Auslandskorrespondentin bei einer Fernsehanstalt tätig geworden. Energisch und verführerisch, wären sie aus der Kühle oder Schwüle dynastischer Salons in den warmen demokratischen Mief des Television erfolgreich hinübergewechselt, hätten gelernt, im richtigen Augenblick den Wimpernschlag in die Kamera zu richten, und regelmäßig die falsche Wortsilbe zu betonen. Irgendwo muss jemand sitzen, der diese Frauen lehrt, auf dem Kunstkopf zu stehen und auf Händen zu laufen. Wie zu hören und zu lesen, sollen sich Fernsehsprecherinnen kaum der Heiratsanträge erwehren können, die ihnen von männlichen Zuschauern dringlich gemacht werden. Männlich zu sein, kann heute nur als ein tragisches Geschick bezeichnet werden. Die Urteilsfähigkeit hat in den letzten Jahrzehnten allerdings sehr gelitten, und ehe jemand einer plappernden und lächelnden Einrichtung einen Antrag machte, sollte er das Bild ein- und den Ton seiner Glotze abstellen, um das Objekt seiner Begierden aus einer größeren Distanz zu studieren. Noch besser ist es, einen zweiten Apparat zuzuschalten, und einen der Werbesender hereinzuholen; hier findet er Antwort auf alle seine Fragen an das Schicksal und auf den eigentlichen Zweck des Mediums. Endlich wird ihm aufgehen, dass Waschmittel und Politik mit ein und demselben Gestus verkauft werden. Die Analogie ist dermaßen umwerfend, dass sich alle Liebes- und Ehefantasien erübrigen. Im Nachfolgenden ist von Augusta die Rede, der ersten Vertreterin eines neuen deutschen Kaisertums, das insgesamt ganze siebenundvierzig Jahre währte.

DER 9. MÄRZ 1888

Der Schwächezustand Sr. Majestät des Kaisers dauert fort. Se. Majestät nehmen ab und zu etwas Wein und flüssige Nahrung zu sich. Im Ganzen ist der Zustand ruhiger. So steht es im ärztlichen Bulletin über den Gesundheitszustand des Kaiser Wilhelm I. Der 90jährige Greis liegt auf dem Feldbett seines Schlafzimmers, eines engen, spartanisch einfach ausgestattetem Raum, im Palais Unter den Linden No. 9 und ringt mit dem Tode. Bei ihm sind seine Frau Augusta; sie, um elf Jahre jünger als der Kaiser, kann sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen. Bei dem sterbenden deutschen Kaiser ist die Lieblingstochter Luise, deren Mann, ein Großherzog von Baden, die Kinder Prinz und Prinzessin Wilhelm. Es fehlen: Der Sohn, Friedrich Wilhelm und die Schwiegertochter Victoria; beide sind durch den alten Kanzler darüber unterrichtet, dass ihr Vater und Schwiegervater im Sterben liegt, die sofortige Rückkehr sei notwendig, aber der Erbe und Nachfolger Wilhelms ist leidend, seine Tage sind möglicherweise gezählt. Jedermann weiß, dass er an Kehlkopfkrebs unheilbar erkrankt ist.

Der Sterbende auf dem Feldbett beginnt zu sprechen. Augusta, schwerhörig, beugt sich vor, um die Worte zu verstehen, aber ihr Mann, jetzt wirklich bloß ein Mensch, der gehen will, erzählt etwas aus weit zurückliegenden Tagen, unzusammenhängende Ermahnungen, in denen von einem drohenden Krieg die Rede, von deutsch-russischer Waffenbruderschaft, Dinge, die weit in das ausgehende Jahrhundert hinabreichen, bis in das Jahr 1805. Tochter Luise ist besorgt, dass sich der Greis zu stark erschöpfe, sie bittet leise, er möge ausruhen. Indessen sieht Augusta, dass es nicht mehr um Tage, sondern um Stunden und Minuten geht. Der Abend geht in die Nacht über, sie bleiben, die gekommen sind, um dem Sterbenden in dieser Stunde nahe zu sein. Dann kommt die letzte Krisis; der Atem geht gegen Morgen in jenes Rasseln über, das die Nähe des Todes ankündigt. Noch einmal schlummert der Sterbende ein, ist das noch Schlaf, oder schon der Übergang, denkt Augusta, die ausharrt. Hofprediger Kögel betet leise, und Tochter Luise fragt den Alten, ob er das Gebet verstanden habe. Endlich, gegen acht Uhr morgens des 9. März, entschläft Wilhelm, kurz vor seinem 91. Geburtstag; den hätten sie am 22. März feiern wollen.

Am Nachmittag des Todestages erscheint das amtliche Bulletin: Es hat Gott gefallen, steht da, Se. Majestät den Kaiser und König, unseren Allergnädigsten Herren, nach kurzem Krankenlager heute 8:30 morgens im achtundzwanzigsten Jahre Seiner reich gesegneten Regierung aus dieser Zeitlichkeit abzuberufen.

Die Stadt Berlin ist verregnet, schlaff hängen die auf Halbstock gesetzten Fahnen an den Masten, aber in der Straße Unter den Linden stehen die Leute dicht an dicht und starren hinüber zu dem berühmten Eckzimmer, wo der Kaiser zu Lebzeiten gelegentlich von der Straße aus gesehen werden konnte. Aufgebahrt liegt er in seinem Sterbezimmer. Erst nach Mitternacht wird die Leiche zur Aufbahrung in den Berliner Dom übergeführt, nachdem Augusta in ihrem Rollstuhl alle Verrichtungen beobachtete, die notwendig vorgenommen wurden. Im Arbeitszimmer Wilhelms nehmen Ärzte eine Balsamierung des Leichnams vor, am offenen Sarg, im so genanten Vortragszimmer aufgestellt, nehmen sie Abschied, im Adjutantenzimmer wird der Sarg geschlossen. Augusta bleibt bis zur Auffahrtsrampe dabei. Gardes-du-Corps trägt den Sarg durch ein Spalier bei Schneetreiben und Wind bis zum Dom. In den Tagen zwischen dem 12. und den 16. März ziehen 200 Tsd. Menschen an dem Sarg vorbei; dann wird der tote Kaiser der Deutschen und König der Preußen im Mausoleum des Schlossparkes Charlottenburg beigesetzt in Nähe seiner Eltern, der Königin Luise und Friedrich Wilhelm III.

Es war das, was man in Österreich eine schöne Leich’ nennt, und dennoch fehlte manch einem Repräsentanten etwas an Glanz. Augusta, die bis zuletzt bei ihrem sterbenden Gatten blieb, konnte den Bestattungsfeierlichkeiten nicht folgen, sie war zu krank, konnte kaum laufen, aber auch der alte Kanzler fühlte sich nicht gesund genug, seinem Kaiser und König, der ja sein eigenes Werk gewesen, bis zur letzten Ruhestätte zu folgen. Dem Sarg folgten unmittelbar der Kronprinz Wilhelm zwo, immerhin schon 29 Jahre alt, mit einem Trauerflor am Helm, aber es schien, als sei der Kaiser zu alt geworden, um seinen Nachfahren das ungeteilte Glück der Regentschaft zu hinterlassen. Augusta wird ihrem Gatten alsbald nachfolgen, der neue Kaiser kein Jahr regieren und sterben, der Kanzler schon 1890 von dem jungen Mann, einem Enkel des toten Kaisers, davongejagt werden, immerhin noch neun Jahre weiterleben. Zu langer Witwenschaft blieb Augusta nicht Zeit genug; sie war über fünfzig Jahre mit diesem Mann verheiratet. Es war eine seltsame Ehe, die sie führte, im Grunde war es die ihr einzig mögliche.

DER FÜRSTENHOF ZU WEIMAR

Weimar, am 17. Oktober 1828...

Gestern Abend hat der Prinz von Preußen, um meine Hand angehalten. Ein junger Achill! Nun, kein ganz junger vielleicht, aber voller Jugendlichkeit, auf Suche nach einer Minerva? Vielleicht. Schüchtern beinahe, jedenfalls zurückhaltend und von vornehmem Wesen (das zu leiten und zu lenken meine Aufgabe sein wird), trat er herzu, fand keine Worte, und Mitleid überflutete mich. Sein Auftreten erinnert an Hamlet, den unglücklichen Dänenprinzen. Ich weiß wohl, was W. bedrückte und ihn zögern ließ, es ist da eine unerfüllbar gebliebene Liebe zu einer anderen. Sie soll sehr schön sein. Was bedeutet das? Nun, ab jetzt sind wir das vom Schicksal berufene Paar, und wollen den Hunger der Welt nach freier Entfaltung der Menschlichkeit eine Gasse schlagen. Was gilt Preußen, auf das meine Mutter verächtlich herabblickt, was gilt Weimar gegenüber unseren höheren Pflichten, unser Gemüt zu bilden, unseren Geist zu erziehen? Von den Fürstensöhnen Deutschlands ist er der berufene. Seit gestern nun bin ich ihm zur Seite gestellt, ich will, ich darf ihm helfen; eine Elisabeth von Valois, einen Carlos zu Füßen und eine Posa zugleich. So fordern wir unser Jahrhundert in die Schranken: Geben Sie Gedankenfreiheit, Sir. Ich fühle mich der Aufgabe gewachsen und will mich ihr ganz hingeben. Wilhelm ist älter, reifer, besonnener, wie er da stand und mich auf das Wort warten ließ, das auszusprechen er doch gekommen war. Wir hielten seinen schriftlichen Antrag in Händen, seine Brautwerbung. Aber mein künftiger Gatte schreibt Briefe in einem schönen, leider nicht ganz klarem Stil. Wie nun, kritisiere ich schon? Es ist wahr, dass mir für einen Augenblick der Gedanke kam, du weißt nichts von diesem linkischen und gehemmten Menschen, dessen Briefe eher Vexierspiele, als Wahrheiten sind.

Mama sagte, dass diese Werbung etwas zu lange dauerte, um aus dem Herzen zu kommen, riet mir aber zugleich, mich eines solchen Gedankens lieber zu entschlagen. Gleichviel, ich habe ihm mein Jawort gegeben, meine Eltern haben ihm als Schwiegersohn die Arme geöffnet. Der Lebensbund ist beschlossen.

Maria Pawlowna: Wir wären am Ziel. Was halten Sie von dieser Ehe, mein Freund, einer zwischen Ihrer klugen, etwas kühler temperierten Tochter, und diesem Herren aus dem Kostümfond des Militärs?

Karl Friedrich: (lachend) Was haben wir zu befürchten, was Sie nicht vorausgesehen haben, Madame?

Maria Pawlowna: Nun, diese Art Werbung, mitsamt den Nebenumständen war nicht vorauszusehen, wenigstens war sie so nicht gedacht. Als ich Wilhelm umarmte, war mir, als wäre ich an einen Holzklotz geraten. Wäre ich eine Bourgeois würde ich alles für Augusta fürchten.

Karl Friedrich: Lösen Sie die Verlobung, wir leben nicht mehr im Mittelalter.

Maria Pawlowna: Unsinn, dazu ist es zu spät. Vielleicht sind diese Sorgen auch unberechtigt und die üblichen, wenn ein junges Mädchen aus dem Hause geht. Ich will Ihnen sagen, worauf sich meine Ängste für die Zukunft Augustas begründen. Sie ist ein Kind dieses Weimar. Hier ist zu viel Gleichnis, zu viel Allegorie, zu viel Wert legen Sie und wir alle mehr oder minder, auf den Gedanken; die höchste Instanz ist der das irdische Missgeschick mildernde und mäßigende Geist. Ist es nicht so? Was hier möglich war - ob es das noch ist, will ich nicht beantworten -, gilt woanders nicht viel.

Karl Friedrich: Jetzt haben Sie mir auf Ihre Weise beigebracht, wie lächerlich Sie unsere pädagogische Republik der Ideen in einer Welt der Taten finden.

Maria Pawlowna: Tatsächlich? Das war nicht meine Absicht, aber vielleicht irren auch wir nur, die wir meinen, zu treiben, wo wir bloß getrieben werden. Brechen wir das Gespräch ab, es führt zu nichts, wie ich sehe.

Es ist heute kaum noch zu beurteilen, wie viel einem breiteren Publikum in Deutschland über dieses kleine thüringische Zentrum zur Zeit Karl Augusts, des Großvaters der Augusta, überhaupt bekannt gewesen ist. Noch fünfzig Jahre nach dem Tode Karl Augusts wird Goethe in den meisten Lexika zuerst als Minister aufgeführt, und an zweiter Stelle, wenn überhaupt, als Dichter. Das literarische Deutschland, zumal die Berliner Salons nach 1820, wussten natürlich Bescheid, aber das klassische Zeitalter war bereits ein für alle Mal abgeschlossen, auch wenn sein strahlendster Vertreter noch hochbetagt in Weimar lebte. Wieland, der erste in der Reihe der Weimarer, starb 1813, gerade er hatte doch eigentlich alle literarischen Moden bis zur Klassik mitbestimmt. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts begann sich Weimar zu einem so eigentümlichen wie überragenden Zentrum der deutschen Kultur zu entwickeln. Was der heutige Besucher und Spurensucher, kommt er nach Weimar, den kleinen Häusern, an denen alles mehr als bescheiden wirkt, nicht ansieht. Gewiss auch steht der Heutige, mehr oder minder ehrfürchtig oder verstört, weil sich ihm der Genius loci nicht erschließt, vor dem Deutschen Nationaltheater, da die Deutschen gar keine Nation mehr sein wollen, nachdem sie zwei Jahrhunderte lang dafür kämpften, eine zu werden, oder er hält Andacht vor den Fürstengräbern mit den letzten Ruhestätten Goethes und Schillers, um zu bemerken, dass sich bei ihm zumindest kein Gefühl höherer Menschlichkeit regt. Erst auf dem Ettersberg stellt er die verwunderte Frage an das Schicksal, wie war das alles nur möglich? Das Interesse an Weimar ist heute rein antiquarisch. Notwendigerweise sieht der Tourist das Denkmal Herders auf dem nach ihm benanntem Platz, und muss im Baedeker nachschlagen, was Herder erfunden hat, die Dampfmaschine oder den Mikrowellenherd. Ferner würde der Wanderer in der Hofkirche die Grabstätten des Dichter Musäus, der Christiane Vulpius, verehelichte Goethe, und das erste Grab Schillers im ehemaligem Kassengewölbe entdecken können. Durchwandelt er den Friedhof, begegnete ihm ein gut Teil deutscher Geistesgrößen und anderer Größen, zu schweigen von den Denkmälern der Frau von Stein, Wildenbruchs, Eckermanns und weiß Gott, wem noch. Auf diese Weise, nämlich per Pedes, kommt er zum Stadtschloss, kurz, er durchwandelt ein ganzes Zeitalter. Den Weimarern mag der Rummel hin und wieder auf die Nerven gehen, weil es lästig ist, in einem Museum zu wohnen. Allein, Noblesse oblige, und auch eine Stadt oder Landschaft kann verpflichtenden Adel besitzen, oder ihn nicht loswerden.

In diesem Weimar wurde ich, Augusta am 30. September 1811 geboren, hätte die Prinzessin geschrieben, würde sie es der Mühe wert gehalten haben. Ich bin die Tochter eines Karl Friedrich, Großherzog von Sachsen Weimar und die Enkelin Karl Augusts. Rechnen wir die für die Erziehung einer Fürstin unbedingt notwendigen achtzehn Jahre hinzu, dann befinden wir uns unversehens im Jahr 1829, historisch keinem besonderen Jahr eigentlich, aber immerhin das Jahr ihrer Heirat mit Wilhelm I., damals noch ein Heerführer ohne Krieg, und ein General ohne Fortune, und nicht einmal Kronprinz, sondern bloß Prinz von Preußen. Infolge der Verbindung eines sächsisch-protestantischen Hofes mit dem russischen Kaisertum einerseits (und einer Verbindung zum europäischen Westen andererseits, von St.-Petersburg aus betrachtet), entstand eine eigentümliche Traditionsmischung. So legte Augusta beispielsweise in einer Art zweiten Trauung in der Berliner Oper russische Hoftracht an, um dem Zarenpaar zu schmeicheln, aber das wird zu gegebener Zeit ausführlicher erzählt werden. Der Maler Tischbein hat Karl August um 1795 gemalt; der Maler Tischbein hat überhaupt alle bedeutenden Leute seiner Epoche gemalt. Er war so etwas wie der Pressefotograf seiner Zeit. Daher wissen wir ungefähr, wie der Großherzog ausgesehen hat. Tischbein hat ihn nicht heroisch aufgefasst, hat uns also kein reitendes, schon gar kein heroisches Blech überliefert. Am ehesten könnte dieses Gesicht einem grübelnden Gelehrten angehört haben. Im Jahre 1795 zählte der Großherzog 38 Jahre. Bei Anna Amalie, seiner Mutter, müssten wir uns etwas länger aufhalten, ebenso bei seinem Vater, Ernst August Konstantin, wollen aber die genealogische Tiefenkunde nicht weiter als nötig treiben. Diese Anna Amalie, die Großmutter Augustas, hatte die Vormundschaft über Sohn Karl August inne. Von 1772 bis 1775, also bis zur Übernahme der Regentschaft durch den 18jährigen Fürsten, war Wieland sein Erzieher. Zufälliger- wie natürlicherweise gibt es von Wieland ebenfalls ein Bild aus jenen Tagen, und zwar aus dem Jahre 1775; Heinsius hat es gemalt, und es hängt oder es hing zu Halberstadt im Freundschaftstempel des Gleimhauses. Gleim, den freundlichen Alten, hielten alle jungen Dichter für ihren wahren Vater, und er tat ihnen auch nie etwas zu Leide, anders als der kritische und jüngere Goethe. Wieland wurde 1733 geboren, zu oder bei Biberach, und er war ein Predigerssohn, was sonst? Als solcher lernte er in einem Kloster zu Magdeburg einiges über den lieben Gott und ein bisschen ausländische Aufklärungsliteratur kennen, und er wurde, Nolens volens, Klopstockianer. Dieser hatte sich mit seinem Epos, dem Messias , 1748 in den Bremer Beiträgen teilweise abgedruckt, einen strahlenden Namen gemacht. Wieso die junge Generation diesen Klopstock schwärmerisch verehrte, ist eine zu verzweigte Angelegenheit, als dass wir uns hier damit befassen dürften. Eigentümlich bleibt jedoch, dass ein Werk dieses zeitgenössischen Aufsehens heute kein Mensch mehr liest oder bloß kennt. Der Schweizer Bodmer, Gelehrter, Herausgeber, Schriftsteller, feierte Klopstock sogar als den deutschen Milton, dessen Buch Das Verlorene Paradies Bodmer hoch schätzte. Von Magdeburg kam Wieland nach Erfurt und später nach Tübingen. Nun aber tat Wielands Talent das, was jedes Talent gemeinhin einmal tun muss, will es überhaupt entdeckt werden; es brach aus, und zwar in Form von allerlei Dichtung. Natur der Dinge, einen Anti-Ovid, ein Heldengedicht, Hermann , verfasste der junge Mann, auch Klopstock hatte sich um die Hermann-Figur bemüht, alles dies geschah bis 1752, also ganz beachtlich für einen jungen theologischen Gelehrten. Andererseits begann es in diesem Zeitalter von jungen Genies beängstigend zu wimmeln; jung sein war sogar eines ihrer Hauptmerkmale; das anbrechende klassische Zeitalter ließ einen seiner Hauptvertreter mit 17 Jahren ein Drama verfassen. Wer von Schiller gar nichts mehr weiß, von diesem Werk hat er zumindest gerüchteweise gehört. Wieland geriet auf Umwegen in die Arme Bodmers, wie sie alle irgendwann einmal mit Bodmer in Berührung kamen. Wie wir sehen, wandelte Wieland durchaus weiter auf Klopstocks Spuren, denn auch der hatte bei seinem Siegeszug in Zürich den Flug unterbrochen, sich aber mit dem gelehrten, aber pädagogisch beschränkten Mann, der alle nach seinem Bilde formen wollte, dauerhaft nicht verstanden, und war nach Norden weitergezogen. Dem Rat des Sprach- und Kulturerzieher der Deutschsprachigen, auf den wenig später alle mit Fingern zeigten, als einen Pedanten und Mucker, nicht ganz zu Recht, folgte Wieland gerne und ziemlich geschmeidig; er verfasste eine Menge anhimmelnde Dichtkunst auf Bodmer, kämpfte scharfsinnig, ohne sich ganz zu binden, an seiner Seite gegen diesen verfluchten Gottsched, dem die Jungen alle Krätze der Welt an den Hals wünschten, und verließ schließlich Bodmer in Eile, ganz wie Klopstock, um als Hofmeister und Hauslehrer in Züricher Bürgerfamilien Söhnen und Töchtern Bildung und höhere Lebensart zu vermitteln.

Wieland war ausnehmend produktiv; die deutsche Literatur verdankt ihm auch das erste Drama in Blankversen und einiges mehr, heute alles vergessen und Makulatur, bedenkt man, dass eine Gesamtausgabe von Wielands Werken beiläufig mehrere Dutzend Bände ergeben müsste. In Bern, wo Wieland Hauslehrer war, lernte er Julie von Bondeli kennen und verlobte sich mit ihr, 1760 wird er auf einmal Senator in seiner Vaterstadt und ist als ein Kanzleiverwalter ein gemachter Mann. Ab jetzt entwickelt sich Wieland zu dem Wieland, obschon niemand sagen kann, wie der wirkliche Wieland ausgesehen und was er angestrebt hat. Auf Schloss Warthausen, im Kreise des ehemaligen Kurmainzischen Ministers Friedrich von Stadion und eines Ehepaares La Roche, fällt Wieland dem leichtfertigen französischen Rokoko zu, seine Dichtung wird leicht und bisweilen schlüpfrig, so wie das Zeitalter. Anakreon, der 500 Jahre vor Anbeginn des Christentums lebte, ein Lyriker, der Wein und Liebe besang, geisterte noch überall herum. Seine Nach- und Anbeter erweiterten das Dasein regierender Fürsten und Hofschranzen ins Bukolische; man zog nur allzu gern das prunkvolle Staatskleid aus, und den Rock des Schäfers oder der Schäferin an, und pflegte freudig und ausgelassen das Ländliche in Neckerei und Schäferei. Dieses Rokokopaar, Schäferin und Schäfer, ist heute in Gestalt von kostbarem Meißner Porzellan gegenwärtig.

Eines muss der Neid dem Wieland indessen lassen; er war erstaunlich anpassungsfähig. Aus jeder seiner veränderten Lebenssituationen holte er das Äußerste an Erfolg und an Genuss. Wieland beugte sich immer stärker dem Zeitgeschmack, und beherrschte das Handwerk des Schreibens immer besser, er sitzt in allen Sätteln gerecht, schafft nach, dichtet um, lässt sich anregen. Sein Bildungsroman: Geschichte des Agathon, ein auf zwei Bände angewachsenes Buch, verschaffte ihm neues Ansehen. Er heiratete gelegentlich und wurde 1769 Professor der Philosophie in Erfurt, rückt also unserem Weimar geografisch ein Stück näher. Hier reicht der Platz nicht, um in aufzuzählen, was der Wieland noch alles schrieb, aufschrieb, abschrieb und übersetzte, tatsächlich ein imponierende Menge, bis die Herzogin Anna Amalie auf diesen genial Schreibfleißigen aufmerksam wurde, und ihn als Erzieher für ihre beiden Söhne, darunter den Karl August, nach Weimar holte. Er blieb nur drei Jahre in diesem Amt, und es ist bloß zu vermuten, dass der Professor, ein Philologe, Alt- und Neusprachler, von ungewöhnlichen Kenntnissen, einen recht guten Pädagogen abgegeben hat. Wir dürfen diesen Schluss umso sicherer ziehen, als wir wissen, dass Wieland ein Mann war, der mit Leichtigkeit alles Neue in seine Welt einzufügen verstand, durchaus auch kritisch. Charakterlich dürfte er schwach und nachgiebig, nicht aber intrigant oder hämisch gewesen sein, und er hätte doch manch einem der jungen Genies, die ihn verlästerten, in die Suppe spucken können. Als er sich von den jungen Deutschen, die immer klassischer wurden, wegen seiner Antikenrezeption rüffeln lassen musste, wehrte er sich öffentlich nicht, nicht einmal in seinem eigenen Blatt. Immerhin reichen wir zu unserem Kurz-Baedeker weiter oben nach, dass auch Wielands Denkmal, von Gasser gemacht, 1863 in Weimar aufgestellt wurde. In fortgeschrittenem Alter befasste sich Wieland mit der Herausgabe seines ungeheuer großen eigenen Werkes, sowie mit der Übersetzung Ciceros. Wie kommt es, dass aus der räumlichen Enge deutscher Duodezstaaten heraus, so viele Schulmeister Bleibendes aus der Antike übersetzt haben, wozu ein fundiertes Sprachwissen gehörte? Die Antwort darauf könnte simpler sein, als sich die Schulweisheit träumen lässt; sie hatten einfach Zeit genug, und brachten ihrem Gegenstand eine natürliche Begeisterung entgegen, die sie auf Reisen nicht befriedigen konnten. Sehnsucht hat sie alle getrieben, nach Schönheit, nach Kunstmaß und bloß nach fernen Ländern.

Dass sich in den engen Grenzen dessen, was damals Deutschland hieß, derartig hohe Leistungen entwickeln konnten, mag noch andere Ursachen gehabt haben. Ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts beginnt im übrigen Europa der Kapitalismus, der sprunghafte Übergang von der Manufakturwirtschaft zu industrieller Produktion. Dieses neue Zeitalter bündelt alle geistigen Kräfte auf die Naturwissenschaften, der Ingenieur ist gefragt, nicht der Philologe. Der junge draufgängerische Kapitalismus erfindet, was wir heute Nationalökonomie nennen; das tat er nur nicht in Deutschland. Dieser neue Typus erzeugte technische Visionen, wollte die Welt verändern. Der Übergang von der einen auf die neue Produktionsweise zog eine Revolution nicht nur in den Volkswirtschaften nach sich; während sich anderswo die Leute mit der Erfindung von Dampfmaschinen beschäftigten, und Homer in ihrem realistischen bis brutalen Weltbild keinen Platz mehr hatte, befassten sich die Deutschen mit der physikalischen Unmöglichkeit eines Daseinsbeweises Gottes. Damit wird man Ehrenbürger im revolutionären Konvent. Zurück zu Karl August.

Das Jahr 1775 brachte eine andere Veränderung in das Dasein des jungen Herzogs, nicht bloß die Regentschaft; er heiratete am 3. Oktober Luise von Hessen-Darmstadt, womit der geschichtskundige Leser weiß, dass sich der Kreis, einmal geöffnet, mit einer Reihe anderer Allianzen schließen wird. Also, Karl August ist mit 18 Jahren ein verheirateter und regierender Großherzog, seine Erziehung ist abgeschlossen. Wir stecken nicht mehr tief im Rokoko, der Denk- und Lebensweise des Zeitalters Wielands, einem Gemisch von religiöser Skepsis, Aufklärung und diesseitiger Genussfreude. Der 18jährige Herrscher hat sich in Friedrich II. ein Vorbild erkoren. Preußens König steht auf der Höhe seines Erfolges; der Sieger in den Schlesischen Kriegen, entwickelt seinen Staat ökonomisch und politisch soweit es unter den gegebenen Umständen möglich. Unter Verwandten, Freunden und Feinden ist er als Philosoph bekannt, korrespondiert mit den berühmten Gelehrten seiner Zeit. Da uns einige Namen aus dieser Periode und dem Weimarer Kreis noch eine Weile begleiten werden, bis 1829, der Heirat Augustas, wird es angebracht sein, sie im Zusammenhang mit der Erziehung der Prinzessin aufzuzählen.

Da ist vor allem Karl Ludwig von Knebel zu nennen. Offizier, Hofmeister des Prinzen Konstantin, den er auf einer Europareise begleitete, wobei das Paar den jungen Goethe in Frankfurt aufsuchte. Das war eine folgenreiche Begegnung, denn über Knebel kam die Berufung des Verfassers der Leiden des jungen Werther, seit 1774 in den Buchläden, mit einigen Umwegen nach Weimar zustande. Knebel ist zeitlebens ein Bewunderer Goethes geblieben; er förderte die Verbindung zwischen dem Dichter und dem etwas jüngeren Karl August, ließ sich zuletzt, mit einer Apanage verabschiedet, in Jena nieder und dichtete für den Rest seines Lebens allerlei, so wie sie alle heute Vergessenes dichteten.

Als Augusta zur Welt kam, hatte Goethe allerdings den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht oder sogar schon überschritten. In den Adelsstand ließ er sich 1782 erheben und übernahm die Präsidialschaft über die Finanzkammer, also einem wichtigen Ressort des damaligen Duodezstaates.

Hält man sich vergleichend vor Augen, wer zu Weimar den Ton angab und was dort unter Kultur und Literatur verstanden wurde, bedenkt man das Klima, in das die junge Augusta verpflanzt werden soll, so können die Verhältnisse nicht widersprüchlicher gedacht werden. Und Augusta wird sicherlich von Goethe, den sie gut kannte, mehr als einmal ein abfälliges Urteil über das Berliner Hundezeug gehört haben. Daran hatte sich zwar zur Zeit ihrer Eheschließung manches geändert, aber Sitz der Häupter der Romantischen Schule war nun einmal vorwiegend Berlin, und das offizielle Berlin hatte Schiller und Jean Paul die Anerkennung versagt. Es blickte möglicherweise mit einem tiefen Misstrauen, zumindest aber ohne Verständnis für das Klassische nach Weimar und seinem liberalen Kulturhof. Dieser Riss ging tiefer und lag länger zurück; er reichte bis in die Zeit lebhafter Aufklärerei zurück und datiert nicht erst seit der Romantik, die wiederum von den Weimarern verdammt wurde. Der Fall lag folgendermaßen:

Der Berliner Buchhändler Nicolai brachte 1774 einen Anti-Werther heraus, Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Vorne und zuletzt ein Gespräch. Berlin, bey Friedrich Nicolai 1775. So unglücklich der bandwurmlange Titel, so albern fiel das ganze Projekt aus. Heine beschreibt diesen Unsinn: Freund Nicolai hat nun wirklich einen veränderten Werther herausgegeben. Nach dieser Version hat sich der Held nicht totgeschossen, sondern nur mit Hühnerblut besudelt; denn statt Blei war die Pistole nur mit letzterem geladen. Werther wird lächerlich, bleibt leben, heiratet Charlotte, kurz endet noch tragischer als im Goethe’schen Original.

Auch Lessing, damals die unumstrittene moralische wie literarische Autorität, hatte seinerzeit Zweifel ob der vorgeschlagenen Lösung gehabt, sich aber gehütet, öffentlich darüber negativ zu urteilen. Alle gescheiten Leute schwiegen vorerst, betroffen von dem Realproblem eines Selbstmordes aus Liebeskummer. Konnte ein Buch eine solche Wirkung in der Öffentlichkeit auslösen, musste mehr dahinter stecken. Nickel, wie der Berliner Buchhändler scherzweise hieß, nutzte die Ratlosigkeit, drehte den Spieß in seinem Anti-Werther um, und lässt Albert auf Charlotte verzichten. Leider zeigt es sich, dass Werther zur Ehe untauglich ist. Das ersehnte Glück wird im Alltag zu einer Kette von Misshelligkeiten. Albert-Nickel greift ein und söhnt die beiden nach den Vorstellungen des Berliner Philisters miteinander aus. Das Buch war eine Infamie und eine handfeste Denunziation dazu. Da es nie wieder erscheinen dürfte, seien deshalb einige Passagen hergesetzt.

Gespräch. Personen. Ein Jüngling. Martin. Ein Mann. >s, der Henker hol’n Buch, die Leiden des jungen Werthers, sagte Hannes, ‘s dringt dir durch Mark und Bein, jede Ader schwillt dir, und ‘s Gehirn funkelt dir, dass du gleich aufmöchtest. - Ja, freilich,’s so ein Buch, sagte Martin, wer’s geschrieben hat, kann sich ruhig auf’s Haupt legen, und fürchte nicht, dass über hundert Jahr’n belesener Tölpel davon schwatzet. ‘s ist euch ein rar Buch, ihr Leute, seit neunundzwanzig Jahren, hat kein Mensch davon was gehört und gesehen.<

Nicolai benutzt hier die Sprache der Kraftgenies, des Sturm und Drang. Apokopierungen, fehlende Artikel und Pronomina verwandelten die deutsche Schriftsprache in einen abscheulichen Sud. Es geht weiter. >Martin: So? hast niemanden spitze Reden gegeben, wenn dir der Kopf warm war? Hatt’ Werther nicht auch ‘n Kopf? Und gab’s ihm’s schwarze Blut nicht gar ein, dass er Alberten ermorden wollte und Lotte dazu? Darf Werther alles und Albert nichts?, das wollt Werther selbst nicht. Ne, Hanns! Dein Held mag Werther sein, mein Held ist der Autor. Hannes: Da sieht man’s, bist ‘n alter, kalter weiser Kerl, der mit Werthern und mit seinen Leiden nicht sympathisieren kann. Liebst nit ‘n jungen braven Buben, voll Feu’r und Leben, und willst ‘s steifen, trockenen Aktenkrämer leben, wie Albert.<

Was nun folgt, ist eine Glanzleistung an Philiströsität; Martin Nickel Nicolai liefert sie. >Euch Kerlchen ist nichts recht, all’s wißt ihr besser, was der Welt nützt mögt ihr nicht lernen, denn ‘s wäre Brotwissenschaft, eingeführter guter Ordnung wollt ihr euch nicht fügen, denn ‘s wäre Einschränkung, was andere thun, mögt ihr nicht, wollt Originale sein, wollt es anders haben...< Der selbstzufriedene Aufklärer und Neologist Friedrich Nicolai kann die Lage der Jugend nicht durchschauen, geschweige denn verstehen. Und der gerissene Buchhändler-Goi weiß in diesem Falle alle Spießer auf seiner Seite. Es war vielleicht notwendig, den Werther zu rezensieren, bloß nicht von der Position dieses Mitläufers, dieses Opportunisten aus. Nach dem Vorschlag Nickels gibt Albert Lotte frei, wie oben schon angedeutet; die Beziehung wird kritisch, Werther will sein Leben schließen.

>Werther<, heißt es in dem Sudelbuch Nickel weiter, >erhielt die Pistolen, setzte seine vor den Kopf und drückte los, fiel zurück auf den Boden. Die Nachbarn liefen zu, und weil man noch Leben in ihm verspürte, ward er auf sein Bett gelegt. Indessen wurden Werthers zwei letzte Briefe an Lotten und der Brief an Alberten den letzteren gebracht und zugleich erscholl die Nachricht von Werthers trauriger That. Albert ließ dieselbe vor Lotte verbergen, las sämtliche Briefe, und ging ungesäumt nach Werthers Wohnung. Er fand ihn auf dem Bette liegend, das Gesicht und das Kleid mit Blut bedeckt. Er hatte eine Art von Konvulsion gehabt, nun lag er ruhig mit stillem Röcheln. Die Umstehenden traten weg und ließen beide allein. Werther hob die Hand ein wenig empor und bot sie Alberten. Nun triumphiere, sagte er, ich bin aus dem Wege! Ich komme nicht zu triumphieren, sprach Albert ruhig, sondern dich zu bedauern, und wenn’s möglich, dich zu trösten. Aber du bist rasch gewesen, Werther - Werther stieß für einen Hartverwundeten beinahe mit zu heftiger Stimme, viel unzusammenhängendes, garstiges Gewäsch aus, zum Lobe des süßen Gefühls der Freiheit diesen Kerker zu verlassen wenn man will.... Albert: Guter Werther, bist’n Thor! Wenn doch kalte Abstraktion nicht klüger wäre, als versengende Einbildung - Da laß dir’s Blut abwischen. Sah ich nicht, dass du’n Querkopf warst, und würd’st deinen bösen Willen haben wollen. Da lud ich dir die Pistolen mit ‘ner Blase voll Blut, ‘von ‘em Huhn, das heute Abend mit Lotte verzehren sollt.

Nach dieser mühsamen Klitterei folgt ein Kapitel der Leiden Werthers und Nicolai-Albert erscheint, um der Ehe die höhere Weihe der Langeweile zu verleihen, in welchem Stande Mann und Frau allein selig werden könnten.

>Albert, nur wieder fein mit dem Kopf durch die Wand, Werther! Als wenn’s nicht von dir selbst käme! Bist ‘n Thor Werther, und hast die arme Lotte auch bethört. Ich habe sie gekannt, ein gutes Landmädchen, lustig, fromm, konnte kleine Spiele spielen, konnte frohen Mutes tanzen, aber auch Kindern Brot schneiden, liebte herzlich häusliches Leben, ob’s gleich wüßte, dass’s kein Paradies, aber doch eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist. Da liebt’ ich ‘s Mädchen, und wollt sie haben, denn solche Braut brauch ich. Darauf kamst du und stimmtest die Weise viel Töne höher: Da sollt’s lauter inniges Empfindungen sein, lauter starke Anspannen, keine Einschränkung, keine Überlegung, wir hielten’s Herzchen wie ein krankes Kind, gestatteten ihm all seinen Willen, lebten immer in der Zukunft, wo ein großes dämmerndes Ganzes vor unserer Seele ruhte, wo wir unser ganzes Wesen hingeben mochten, uns mit der Wonne eines einzigen großen herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen. Dies verschluckte das weibliche zärtliche Geschöpf begierig, und hielt sich am glücklichsten, wenn’s in freundlichen Wahne so hintaumeln konnte.<

Der Denunziant versteht sein bösartiges Geschäft nur allzu gut; denn genau das forderte die junge Generation, die Zukunft, und der wohlfeile Ersatz, den er an Stelle eines ausgefüllten starken Lebens, das die Anstrengung lohnt, zu bieten hat, ist die faule und feige Unterwerfung unter den Zwang des feudalen Staates.

>Hm, sagte Hannes, hol mich der Henker, ‘s hätte auch so kommen können. Ei, freilich wohl, sprach Martin, auch noch auf hunderterlei andere Art. Erschießt man sich aber einmal im Ernst, weg sind sie. Hannes: Hast recht, ich schieß mich nicht

1811 GEBURT UND ERZIEHUNG

Das Kind, wusste Charlotte von Schiller zu melden, liegt so vornehm und so vernünftig, dass man sich gar nicht wundern würde, wenn eine Krone mitgeboren worden wäre. Diesem Kind Augusta, das am 30. September 1811 geboren worden war, die künftige Kaiserin oder bloß Königin anzusehen, dazu gehörte entweder hellseherische Begabung oder die Biegsamkeit eines in höfischer Luft verkrümmten Nackens. Den frühen, gleichwohl völlig aus der Luft gegriffenen Prophetien folgten alsbald die Beobachtungen wachsamer Hofdamen. Die Prinzessin, bemerkt die Schillerwitwe später, hat einen kräftigen Willen und ist so stark und fest; sie läßt nicht los, was sie anfaßt. Zu dieser Zeit war die künftige Kaiserin ein Kleinkind, für das der Ausdruck Prinzessin ziemlich euphemistisch erscheint. Sie zählte erst zwei Jahre und mag nach allem gegriffen haben, was in ihre Nähe kam, wie es einem Kind im unbequemen Steckkissen zukommt. Immerhin aber war Augusta gesund, und die uns überlieferten Bilder einer Frau zwischen fünfzig und sechzig Jahren lassen auf einen hageren, knochigen Typus schließen. Goethe, der sich zu jener Zeit schon angeschickt hatte den Parnass seiner ministeriellen Karriere wieder zu räumen, verfasste ein hübsches Gedicht auf die junge Kaiserin in spé, die freilich erst neun Jahre alt war, aber sich um so lieber von dem inzwischen bekanntermaßen größten Poeten der Deutschen andichten ließ. 1820 war jener ein Greis, aber die junge Dame nahm das Werk des Meisters huldvoll an, und wie sollte sie nicht an einem Musenhof huldvoll gegenüber ihren Anbetern geworden sein? Alle Pappeln hoch in Lüften, jeder Strauch in seinen Düften, alle sehn sich nach Dir um! Schrieb immerhin der Meister der Deutschen neben seinem klassischen Spätwerk. Nach dem die Pappel gefällt, der Duft der Sträucher verweht war, kam allerdings Alexander von Humboldt, auf dessen Urteil vielleicht mehr Verlass ist oder wenigsten sein sollte, und stellte an der inzwischen Fünfzehnjährigen eine ungewöhnliche große Ausstrahlung fest. Ihre Züge sind im höchsten Grade bedeutungsvoll, und ihre ganze Gestalt wird sich, wenn sie nicht ein wenig zu stark sein wird, in einigen Jahren gewiß noch schöner, als sie schon jetzt erscheint, entwickeln.

Nun, ja, wir befinden uns in einem Zeitalter, in welchem die hässliche Herzogin einer bürgerlichen Schönheit allemal vorgezogen wurde. Augusta ist also schön, und was wird die Welt erleben, wenn sie erst ganz entwickelt ist, ohne überflüssiges Fett angesetzt zu haben. Aber lassen wir die gehässigen Bemerkungen zu servilen Lobhudeleien gegenüber einem Kind, einer Heranwachsenden oder einem Duodezhof, und sehen wir nach, wie weit Augusta wirklich über den trüben Durchschnitt der Abkömmlinge von Fürstenhäusern hinausragte. Auch haben wir noch nie neben einem nässenden, wenn auch niedlichem Säugling eine Krone liegen sehen.

Ihr Großvater Karl August, an dessen Vortrefflichkeit kein Zweifel besteht, hatte seinen Sohn Karl Friedrich mit einer Zarentochter vermählt, der Großfürstin Maria Pawlowna. Dieser Karl Friedrich war 1783 geboren worden. Er hat mit 21 Jahren die um drei Jahre jüngere Zarewna geheiratet, und sie von St.-Petersburg nach Weimar gebracht. Immerhin war Großfürstin Maria Pawlowna, nunmehr weimarerische Großherzogin, sicherlich an andere Ausdehnungen gewöhnt, und durfte daher auch einen höheren Anspruch stellen. Nachgesagt wird ihr ein energischer Wille. Übrigens hatte sie am häuslichen Herd einiges miterlebt. Paul I., russisch Pawel Petrowitsch, ein Sohn Katharinas II, war 1796 Zar aller Russen und Reußen geworden, und hatte ein beispiellos brutales Regime aufgerichtet. Als geschworener Feind der Französischen Revolution trat er 1798 der so genanten Zweiten Koalition bei. Seine Generale kämpften nicht ohne Erfolge, da trat Pawel aus dem Freundschaftspakt wieder aus, und suchte die Liebe der Franzosen. Dies hatte einen wichtigen Grund, er war nämlich zum Großmeister der Johanniter gewählt worden, und erhob als solcher Anspruch auf die unter britischer Herrschaft stehende Insel Malta, dem Stammsitz des Ordens. Aber die englischen Verwandten und Freunde wollten das gute und strategisch wichtige Stück Empire nicht herausrücken. Das zog ihnen den Grimm Pauls zu. Der Zar hatte sich auch noch andere, innere Feinde herangezüchtet, nämlich unter den Militärs. Benningsen und die Gebrüder Subow führten sie. Und so fand Pawel Petrowitsch in seinem eigenen Schlafzimmer ein jämmerliches Ende. Als ihm die Verschwörer den sofortigen Rücktritt ultimativ nahe legten, weigerte er sich, und starb mannhaft eigensinnig unter dem erdrosselnden Strick. Da solche kleinen Vorkommnisse unter Fürstendächern nichts Besonderes waren, trat der Sohn Alexander als der Erste seines Namens ohne große Schwierigkeiten innen wie außen die Nachfolge an. Nach ihm kam Nikolaus I., auch ein Sohn des unglücklichen Tyrannen. Alsbald aber hatte sich dieser Zar mit den Dekabristen herumzuschlagen, und machte sich auch einen Namen als blutiger Unterdrücker. So etwa sah es in der Familie der Maria Pawlowna aus, die 1804 als Gemahlin unseres Karl Augusts sozusagen noch einmal davongekommen war. Von den furchtbaren Ereignissen in Petersburg und anderswo hatte die zur Mordstunde ihres Vaters 1801 gerade 15 Jahre alte Prinzessin genügend mitbekommen. Maria Pawlowna, die Enkelin Katharinas der Großen, Tochter des Zaren Paul, Schwester der Zaren Alexander I. und Nikolaus I. kam an einen zwar kleinen, aber säuberlich geordneten Kulturhof. In Alexander I. hat Europa seinen Befreier gefeiert, die Wiederherstellung des europäischen Königtums ist jedenfalls auf ewig mit seinem Namen verbunden. Er starb 1825, und seine Schwester durfte sich also des Glanzes erfreuen, den sein Name über Europa ausstrahlte. Die Großfürstin, alt-russisch und westlich gebildet, zog zur Erziehung ihrer Tochter heran, wessen sie im Weimarischen habhaft werden konnte. Ihr Schwiegervater Karl August war der äußeren Not gehorchend dem von Napoleon über die Fürsten verhängtem Rheinbund widerstrebend beigetreten, aber 1806 stand er wieder im Lager der Verbündeten der Vierten Koalition, preußentreu übrigens, denn seit 1792 und 1793 war Karl August schon mehr als ein Verbündeter Preußens gewesen, ein wahrer Glaubenspreuße. Dass Preußen die Führung in Deutschland zukam, vertrat er mit innerer Überzeugung. Alle diese Wandlungen, auch die der Überzeugungen, hatte Maria Pawlowna mit erlebt, sie genoss und nutzte auch die Segnungen, die dieser Kleinstaat der Klugheit seines Großherzogs verdankte. 1779 hatte die Regierung eine Zeichenschule eingerichtet, 1791 das Hoftheater; 1806 nach den Vereinbarungen des Wiener Kongresses wurde die Landständische Verfassung eingeführt, in einem der ersten Staaten, die sich zur Konstitution verpflichtet hatten. Die Universität Jena blühte auf; Botanische Gärten wurden angelegt und landwirtschaftliche Mustergüter; kurzum, es war eine Lust geworden zu leben, um mit Schiller zu sprechen. In der Tat lebte es sich in Karl Augusts Ländchen vergleichsweise frei und auch ganz gut. 1811, einige Jahre nach ihrer Übersiedlung, brachte Maria Pawlowna Augusta zur Welt. Und das Kind, dessen Begabung aus der Körperhaltung, aus der Kopfstellung, aus dem Druck der Fingerchen leicht festzustellen war, falls man Hofschranze ist, bekam denn auch Zeichenunterricht und ging in die Musikstunde. Goethe selbst fungierte zwar nicht unmittelbar als Pädagoge, zu nichts war er wahrscheinlich weniger geeignet, pflegte aber gern Umgang mit dem aufgeweckten Kind, was, je länger, je mehr Wirkung auf die Entwicklung der jungen Dame zeigte. Ihre lebhafte Art, ihre Geschicklichkeit in der Malerei, ihre Lernbegier dürften den alten Herren gereizt und amüsiert haben. Der Verkehr zwischen diesen beiden Menschen dauerte beinahe 20 Jahre. Nach dem Wiener Kongress waren ruhigere Zeiten für die Fürstenhäuser gekommen; eine unmittelbare revolutionäre Gefahr drohte ihnen nicht. Der Zusammenhang zwischen den Duodezstaaten hielt, und Preußen hatte sich jedenfalls in den Befreiungskriegen als eine bedeutende, als eine führende Macht gezeigt. Die Frucht war noch nicht reif. Mit dem Geist von Weimar, mit der Milch klassisch-frommer Denkungsart, an der Quelle eingesogen, erhielt Augusta zugleich den äußeren Schliff französischer Bildung. Sie sprach ein bemerkenswert gutes Französisch, meinen die Zeitgenossen, und fiel auch später, wenn ihr was gegen den Strich ging, gern in diese zweite Muttersprache, wohl wissend, dass man sie umso mehr respektierte, je weniger man sie verstand. Diese Erziehung hatte leider einen Nachteil; sie förderte in Augusta die Familienanlage zur Hochnäsigkeit. Sie verehrte Goethe als den Meister, aber sie war auch Kind des neuen sentimentalen Zeitalters, der romantischen Dichtung, der aufkommenden Deutschtümelei wie der Neugier darauf, was anderswo besser gemacht wurde. Davon mag der alte Herr nichts gewusst haben, oder er sah darüber hinweg. Aber sie lernte auch alles Russische aus tiefer Seele zu hassen, und alles Englische zu bewundern. Das erstreckte sich bis auf die kleinen Dinge des Alltags. Und ihre spätere Umgebung wusste sich nicht genug zu tun, über Augustas Mäkelei an Haus- und Tischgerät, an Maschinen vielleicht, Klage zu führen. Nichts war der Augusta also gut genug, und diese kritische Anschauung der Dinge geht ebenfalls auf die lockere Pädagogik in Weimar zurück. Goethe war ein zu eifriger Sammler von allerlei Gegenständen, um dieser Beobachtung der Dinge nicht einen hohen Wert beizumessen und seine Auffassung an solch einem Ziehkind zu vererben. Hiermit förderte er sicher auch die mentalen Anlagen der Prinzessin. Obwohl der Meister im Grunde keine gelehrten Frauen schätzte, sondern einfache, schlichte Schönheit bei Frauen suchte, fand seine Vorstellung von tätigem Fürstentum sehr wahrscheinlich in Augusta genau das Objekt solcher Begierde; das kluge junge Mädchen, nicht ohne den Charme, den kluge junge Mädchen bisweilen ausstrahlen, was vergessen lässt, dass sie nicht auffallend hübsch sind, kam dem Alten also entgegen. Ihr bildnerisches Talent, sie lernte an seiner Malschule, oder der von ihm mitbegründeten Anstalt, den Umgang mit allerlei Material, für Goethe ein wichtiges Element der Erfahrung. Der Herr Minister besuchte sogar einen Scharfrichter regelmäßig, von dessen Sammlungen er gehört hatte, tauschte mit ihm Mineralien, und dergleichen war damals unvergleichlich vorurteilslos, wo dem Freimann selbst der Besuch öffentlicher Gasthäuser verboten war, wie er vom gesamten bürgerlichen Verkehr ausgeschlossen blieb.

Dem Urteil so vieler Leute über die auffallend fortgeschrittene Reife des jungen Mädchens ist wohl zu trauen. Schwer vorstellbar, dass es im damaligen Deutschland noch einen Duodezhof gegeben habe, wo sich derart viele Persönlichkeiten trafen, nicht nur ungezwungen ein- und ausgingen, sondern manchmal bleibende Quartiere aufschlugen. Herder, Bonnet, Humboldt, Saussure, Schiller natürlich, Jean Paul wenigstens vorübergehend, lebten in oder streiften Weimar und traten also auch in die Welt Augustas, was auf das junge Mädchen nicht ohne Einfluss geblieben ist. Hauptform des Kontaktes jener Zeit war der Brief; er enthielt nicht das Stenogramm bloßer Mitteilung, Briefe waren ausschweifende Darlegungen der Lage des Schreibers, seiner Beziehungen zur Welt. Es war ein Glück, dass der jungen Augusta die Last pietistischer Religiosität oder auch katholischer Dogmatik erspart blieb, obschon sie protestantisch getauft worden war. Evangelische Christin blieb sie zwar ihr Leben lang, aber ihr Christentum war weithin an die historische bis pantheistische Beobachtung ihres großen heimlichen Erziehers gebildet. Rituale reizten die junge Dame bestenfalls optisch. Gewiss erfuhr sie die Süße der griechisch-orthodoxen Liturgie, den schwellenden Singsang der Psalmodisten, die mit den Elementen einer ursprünglichen, den mit einer russisch-dörflichen Heilssuche verbundenen Gottesdienst; sie hörte der schlichten Predigt des Pastors eher religionskritisch bis philologisch interessiert zu, und wahrscheinlich konnte niemand mit Goethe inniger verkehren und dogmatischer Religiosität aufgeschlossen bleiben. Für Augusta mag das Streben des Doktor Johann Faust fast aufklärerischen Bezug gehabt haben. Weihrauch, die goldüberladene Ikone, deren Wirkung sich selbst der religiöse Skeptiker oder Atheist wie einer mystischen Beschwörung nur schwer entziehen kann, haben sie also ebenso wenig berührt, wie die römisch-katholische Liturgie; es gibt kaum eine schriftliche Hinterlassenschaft von Augusta, in der sie sich maßlos übertrieben auf eine fürstliche Gottesgnadenschaft beruft oder sich christlicher Phrasen bedient wie ihr späterer Gatte Wilhelm. Was ihr an der Fürstenherrlichkeit blieb, ihr Hochmut gegenüber niedriger klassierten, ist immerhin ganz und gar von dieser Welt.

Als 1828 oder 1829 der preußische Wilhelm in ihr Leben trat, nach manchem Hin und Her um sie warb, nahm sie die Werbung mit der Gelassenheit einer Philosophin entgegen, als habe sie ihn wegen seines Schrittes zu trösten. Sie dachte über ihn nach, über sein Leben und seine Vorstellungen. Sie hat im Grunde bis in ihre Witwenzeit hinein, den Stil von Weimar gepflegt, hat gemalt und nicht einmal ungeschickt, und wusste sich den Genuss zu verschaffen, der ihr einst in der Jugend aus dem Umgang mit erhabenen Geistern und tiefgründiger Unterhaltung erwachsen war. Dergleichen konnte sie bei Wilhelm nicht bekommen, und die literarischen Salons, die wenigen, die in Berlin noch blühten, waren ihr aus Standesrücksichten verschlossen, aber gerade dort wurden alle die wichtigen öffentlichen Angelegenheiten bei aufgeregtem Gehabe behandelt, die Augusta ihrer Erziehung und Natur nach reizten. Und die Gazetten, die Presse bestimmte den Ton der Gebildeten.

BRAUTWERBUNG

Als Wilhelm in Ihr Leben trat, wusste Augusta, dass sie nur die zweite Wahl sein würde.

Weimar, im Winter 1829

Mama und ich sprachen heute darüber, wie ich mich gegenüber der Tatsache zu verhalten habe, dass W. eine unglückliche Liebe zur R. hat. Diese Elisa weckt mehr Anteilnahme in mir, als es schicklich wäre. Eifersucht kann ich auch bei ernsthafter Prüfung nicht die Spur bei mir entdecken. Mama findet das absonderlich, ich mußte ihr erklären, wie sinnlos es ist, auf eine Frau eifersüchtig zu sein, die mein Bräutigam selbst verstoßen hat; in Bürgerkreisen nennt man es wohl sitzenlassen. Peinlicher berührte mich die Frage Mamas nach meinen eigenen Empfindungen für W., habe mich gehütet, die Wahrheit zu sagen, dass ich ihn als Mann und Menschen zu befragen gedenke. Was in aller Welt erwartet man denn von mir? Mama wurde schließlich ärgerlich. Daß sie W. für beschränkt hält und für unfähig, etwas anderes als Selbstliebe zu empfinden, habe ich ihr ausreden müssen. Später in den Wahlverwandten gelesen, und weiter angeregt bei Stella nachgelesen. Zu meiner eigenen Überraschung hat der Gedanke einer so ungewöhnlichen geistigen, nur geistigen?, Beziehung zwischen drei Menschen für mich überhaupt nichts erschreckendes. Ich versuchte, mir dazu diese Elisa vorzustellen, die lange auf W. gewartet hat und ich betrachtete das Bild dieser Frau. Wäre ich damit einverstanden (und imstand), sie in unsere Ehe einzubeziehen, da ich keinen natürlichen Anspruch auf W. haben kann? Wo alles freier Wille ist, hört konstituiertes Recht auf. Besitzt sie etwas anderes als ich, oder hielt W. nur aus äußeren Rücksichten daran fest, sie zu heiraten?

Man schreibt aus Berlin, dass mein Verlobter eine weitere Beziehung zu einer Frau unterhält, was er vielleicht aus einem Bedürfnis seiner Nerven heraus tut. Unsere Moral ist leider ganz konventionell, gleichwohl müssen wir die Formen unseres Umganges miteinander so ausgestalten, dass jedem sein Recht wird. Wenn das, wie in Stella, auf einer einfachen Erweiterung unseres Anspruchs geschieht, spottet die Natur jeder Frömmigkeit. Vor Mama will ich aber lieber über diese Einfälle schweigen.

In Berlin, oder in Potsdam, wo wir wohnen werden, muß unser Haus allen Menschen freien Geistes geöffnet sein; die großen neuen Ideen dieses Jahrhunderts werden bei uns Heimstatt haben und im freundlichen Umgang ausgetauscht werden. Muß mir eine Liste mit den Namen jener Männer anlegen, die in Berlin wirken und wertvoll sind. Humboldt! Mama besteht peinlicherweise darauf, dass alle unklaren Beziehungen meines Verlobten vor unserer Hochzeit gelöst werden müssen. Nun, dergleichen ist für unsere Beziehung ohne alle Bedeutung, da wir beide ja erst zueinander finden müssen. Ich habe den besten Vorsatz dazu.

Geworben war, das Ja-Wort gegeben, nun mussten die Beziehung des Ehemanns in spé allerdings geregelt werden. Zuallererst die zu der Wartebraut Wilhelms, Elisa von Radziwill. Über diese Affäre regte sich der Berliner Hof auf, und nicht nur der; ob aus der Liebe des Prinzen zu jener Frau etwas werde oder nicht, hatten verschiedene Gutachter entscheiden sollen, bis zuletzt der väterliche Machtspruch den Prinzen aus der Entschlusslosigkeit gerissen, als ihm die Braut Augusta befohlen wurde. Er selbst führte eher das Dasein eines jungen Gardeoffiziers mit mehr als einer Amoure, hegte und pflegte jedoch zugleich und ausdauernd das, was er für Liebe hielt zur schönen Radziwill. Inzwischen aber beschlief er noch eine andere; kurz, Mama Maria Feodorowna drängte nicht ohne triftige Gründe zur politischen Regelung dieser so liederlichen wie losen Allianzen. Augusta scheint der leicht skandalumwitterte Herr eher wegen dieser Ärgerlichkeiten interessant gewesen zu sein. Sie zählte allerdings nur 18 Jahre und war gänzlich ohne Sinneserfahrung.

Friedrich Wilhelm III. griff ein, er schickte der verflossenen Braut seines Sohnes Wilhelm anstatt eines Heiratsbriefes ersatzweise einen Orden, den Luisen-Orden, nach der berühmten Königin und Gattin, der Mutter des Prinzen und Brautwerbers. Und Elisa von Radziwill hatte sich diesen Entsagungsorden innerhalb ihres langen Wartestandes redlich verdient, in welchem sich beide, sie und Wilhelm, als Verlobte betrachteten. An sich hatte der Berliner Hof seit der Hurenwirtschaft unter Friedrich Wilhelm II., dem alten Liederjan, einen höchst miserablen Ruf bei den deutschen Fürsten, die es ja eigentlich nötig hatten vor ihrer eigenen Haustür zu kehren. Und die haarsträubende Liebesgeschichte der Elisa und Wilhelms war natürlich europaweit bekannt gemacht worden, dafür sorgten schon die verschiedenen Gesandten. In einer Zeit, in der die Vermählung eines Sohnes oder einer Tochter aus regierendem Hause keine Privatangelegenheit war, hing von solchen Allianzen einiges ab. Im Sommer 1826 waren die Würfel endgültig gefallen, nach einem Jahre dauernden Interim, und Wilhelm erhielt die Allerhöchste Order sich des Heiratsplanes mit der unstandesgemäßen oder dynastisch unzulänglichen Elisa zu entschlagen. Da Wilhelm schien, er habe bloß immer zu gehorchen, und sein Teil sei die bittere Klage über die Härte seines Prinzenschicksals, konnte er einige Jahre später - schon als Ehemann der Augusta - an die Bahre der zu Freienwalde verschiedenen Radziwill treten, und zwar in einem herzzerreißenden Zustand, wie die Schwägerin Elisabeth deutlich bemerkt haben will, was sie auch sogleich an alle Welt schrieb. Daher wissen auch wir, wie es um den armen Wilhelm stand. Daran dass die schöne Radziwill und der nicht ganz so schöne Prinz einander nicht kriegten, soll die Mutter Augustas, Maria Pawlowna, keinen geringen Anteil gehabt haben. Was sich in den Jahren zwischen 1818 und 1826 - auf etwa acht Jahre datiert Wilhelm selber diese Frist - abspielte, davon hat Augusta ohne Zweifel alles, zumindest das sie betreffende, mitbekommen. Varnhagen, als diplomatischer Kopf gut unterrichtet, sagte schon 1826 eine Doppelhochzeit voraus. Karl, der Bruder Wilhelms, würde die Weimarerin Marie, Wilhelm, die jüngere Augusta heiraten, so dachte er sich die Lösung, und so kam es auch. In diesem Falle war das Weissagen allerdings so schwierig nicht. Denn Maria Pawlowna hatte sich tatsächlich nachdrücklich in die Ehekabalen eingeschaltet und in Berlin wissen lassen, dass an eine Verbindung ihrer Tochter Marie mit Karl solange nicht zu denken sei, wie die Affäre Radziwill und Wilhelm in der Schwebe bleibe. In der Ehesache Elisa-Wilhelm unternahm der Vater und König Friedrich Wilhelm III. allerhand Winkelzüge, oder auch nicht Winkelzüge, sondern gut gemeinte Demarchen, um seinem Sprössling entgegen zu kommen. Unter anderem versuchte er, die Großfürstin matt zu setzen, in dem er beim Zaren anfragen ließ, ob der nicht eine Möglichkeit fände, die Radziwill zu adoptieren. Der Zar, Bruder der Großherzogin, fand diese Möglichkeit nicht, und Friedrich Wilhelm III. wusste sicherlich, dass die beiderseitigen Interessen anders gelagert waren, zumindest werden sich die russischen Geschwister abgesprochen haben.

Der Preußenkönig manövrierte also, weshalb? Um den Sohn zu schönen? Jedenfalls zögerte er die letzte Entscheidung über den Eheplan seines Sohnes mit der Radziwill hinaus, ließ etliche Gutachten anfertigen, die für und wider ausfielen und den Anschein erwecken sollten, der Vater träfe tatsächlich alle Vorsorge, dem Glück seines Sohnes aufzuhelfen. Der Zar Alexander I., hatte die Bitte Friedrich Wilhelms Elisa zu adoptieren, also nach Rücksprache mit seiner Schwester in Weimar abgelehnt. Auch eine Annahme an Kindes statt durch den Prinzen August von Preußen, einem Bruder der Luise, Elisas Mutter, kam nicht zustande, und sie hätte auch wohl die Forderung Maria Pawlownas gar nicht erfüllt. Es fragt sich aber doch, welche Absicht der Friedrich Wilhelm III. mit diesem Spiel verfolgte, das letzten Endes dynastisch nichts gebracht hätte, selbst wenn alle Gutachter freudig für den Eheplan mit Elisa gewesen wären. Bewegung kam im Winter 1825 in die Affäre, als alle europäischen Höfe nicht nur Staatstrauer anlegten, sondern eilends Sondergesandte zu den Trauerfeierlichkeiten nach Russland schickten. Auch Wilhelm reiste zu den getauften Bären, streifte Posen, wo sich seine wartende Braut Elisa aufhielt, reiste weiter, und so weiter, und so weiter.

Plötzlich bestand die Großfürstin Maria Pawlowna nach dem Machtwechsel auf dem Zarenthron nicht mehr darauf, dass vor der Eheschließung ihrer älteren Tochter Marie mit Karl die Angelegenheit Elisa-Wilhelm zu bereinigen sei. Möglicherweise hatte sie überhaupt keinen ernsthaften Grund für ihre Vorbedingungen, wollte nur ihre Launen ausleben, und sich nicht aus dem Spiel drängen lassen. Nun aber war es mit dem Zögern Friedrich Wilhelms III. zu Ende, und er erließ einfach eine Order, im Oktober 1826, dass sich beide Prinzen, Karl und Wilhelm, ohne Umstände und Nachfragen ungesäumt nach Weimar zu begeben hätten. Karl galt als so gut wie verlobt. Und so konnte der strenge Befehl für Wilhelm eben nur bedeuten, sich die zweite freie Tochter in Weimar genauer anzusehen. Wieder einmal ballte der Bräutigam in spé die Fäuste, freilich innerlich, denn: Der Befehl zu dieser Reise ist ein Beweis, dass mir das Leben nicht leicht gemacht wird.