Berlin. Das Rom der Zeitgeschichte - Hanno Hochmuth - E-Book

Berlin. Das Rom der Zeitgeschichte E-Book

Hanno Hochmuth

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Beschreibung

Eine topografische Zeitreise durch Berlin.

Die Stadt Berlin rückte im 20. Jahrhundert nur allzu oft ins Zentrum des Geschehens. Berlin war eine demokratische, eine faschistische und eine sozialistische Hauptstadt. Von hier aus wurden zwei Weltkriege in die Welt getragen, die mit großer Wucht auf die Stadt zurückfielen. In Berlin erlebte der Kalte Krieg seine Zuspitzung, bevor er hier sein symbolisches Ende fand. Die Stadt stand im Mittelpunkt der Weltgeschichte wie Rom vor zweitausend Jahren. Deshalb gilt Berlin als das Rom der Zeitgeschichte. 
Hanno Hochmuth nähert sich der Geschichte und der Gegenwart Berlins auf topografische und fotografische Weise. Ausgehend von populären Zuschreibungen der Stadt begibt er sich an  51 ausgewählte Erinnerungsorte und erzählt so die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert.

„In diesem Buch durch Berlin und seine Geschichte zu gehen, ist nicht nur faszinierend und bewusstseinserweiternd, sondern auch ein großes Abenteuer.“ Marion Brasch.

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Über das Buch

Eine topografische Zeitreise durch Berlin

Die Stadt Berlin rückte im 20. Jahrhundert nur allzu oft ins Zentrum des Geschehens. Berlin war eine monarchische, eine demokratische, eine faschistische und eine sozialistische Hauptstadt. Von hier aus wurden zwei Weltkriege in die Welt getragen, die mit großer Wucht auf die Stadt zurückfielen. In Berlin erlebte der Kalte Krieg seine Zuspitzung, bevor er hier sein symbolisches Ende fand. Die Stadt stand im Mittelpunkt der Weltgeschichte wie Rom vor zweitausend Jahren. Deshalb gilt Berlin als das Rom der Zeitgeschichte. Hanno Hochmuth nähert sich der Geschichte und der Gegenwart Berlins auf topografische und fotografische Weise. Ausgehend von populären Zuschreibungen der Stadt begibt er sich an  51  historische Orte und erzählt so die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert.

„Mit diesem Buch durch Berlin und seine Geschichte zu gehen, ist nicht nur faszinierend und bewusstseinserweiternd, sondern auch ein großes Abenteuer.“Marion Brasch

Über Hanno Hochmuth

Hanno Hochmuth, geboren 1977 in Ost-Berlin, studierte Geschichte in Berlin und Minneapolis, Promotion an der Freien Universität Berlin. Er ist Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und lehrt Public History an der FU Berlin. Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte Berlins und zur Public History, u.a. »Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin« (Göttingen 2017), »Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Berlin im 20. Jahrhundert« (Hg. mit Paul Nolte, Göttingen 2019), »Traum und Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin« (Mithg., Berlin 2020).

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Hanno Hochmuth

Berlin. Das Rom der Zeitgeschichte

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Karte

Einleitung

Der Parvenü der Großstädte

1 — Die verhinderte Weltausstellung. Der Treptower Park

2 — Brüllende Löwen. Die Schlossfreiheit

3 — Gewandelte Erinnerung. Die Gedächtniskirche

Das Chicago an der Spree

4 — Elektropolis. AEG in Oberschöneweide

5 — Friedrichshain O17. Das Chicago von Berlin

6 — Al Capone in Friedrichshain. Die Gladow-Bande in der Schreinerstraße

Das steinerne Berlin

7 — Planungsversagen. Die Yorckbrücken

8 — Die verschwundene Mietskaserne. Meyer’s Hof in der Ackerstraße

9 — Vom Wandel einer Mietskaserne. Die Pasteurstraße

Das Neue Berlin

10 — Moderne in Britz. Die Hufeisensiedlung

11 — Amerika in Berlin. Der Ampelturm am Potsdamer Platz

12 — Die Zeitungskathedrale. Das Ullsteinhaus

Babylon Berlin

13 — Babylon in Berlin. Das Ischtar-Tor im Pergamonmuseum

14 — Der Turmbau zu Babel. Karstadt am Hermannplatz

15 — Die große Hure Babylon. Berlin Alexanderplatz

Das Rote Berlin

16 — Rotes Pantheon. Die Gedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde

17 — Kampfzentrale. Das Karl-Liebknecht-Haus

18 — Die Rote Insel. Berlin-Schöneberg

Das jüdische Berlin

19 — Die Totenstadt. Der Jüdische Friedhof in Weißensee

20 — Das vergessene Pogrom. Der Kurfürstendamm

21 — Die Familie Najman. Stolpersteine in der Choriner Straße

Die Reichshauptstadt

22 — Architektur der Macht. Die Reichskanzlei

23 — Das stille Denkmal. Der Bebelplatz

24 — Jeder stirbt für sich allein. Die Amsterdamer Straße

Germania

25 — Belastete Geschichte. Der Schwerbelastungskörper in Schöneberg

26 — Siegessäule und Siegesallee. Die Ost-West-Achse

27 — Berliner Unterwelten. Der Bunker am Gesundbrunnen

Die Frontstadt

28 — Kleiderbügel und Hungerharke. Der Flughafen Tempelhof

29 — Das Ohr zur Welt. Der Teufelsberg

30 — Panzerkonfrontation. Der Checkpoint Charlie

Stadt der Freiheit

31 — Die Freiheitsglocke. Das Rathaus Schöneberg

32 — »Ken-ne-dy« und »Ho-Chi-Minh«. Die Freie Universität Berlin

33 — Freie Deutsche Jugend. Der Zollernhof Unter den Linden

Berlin – Hauptstadt der DDR

34 — Boulevard im Zuckerbäckerstil. Die Stalinallee

35 — Sozialistische Stadtkrone. Der Fernsehturm

36 — Die Platte. Die WBS-70-Museumswohnung in Hellersdorf

Stadt des Friedens

37 — Überwachungsstadt. Die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße

38 — Friedensbibliothek und Antikriegsmuseum. Die Bartholomäuskirche in der Friedenstraße

39 — Sozialistisches Disneyland. Das Nikolaiviertel

Biotop Berlin

40 — »Das ist unser Haus«. Das Georg-von-Rauch-Haus

41 — Kreuzberg Merkezi. Das Neue Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor

42 — Cadillacs auf dem Ku’damm. Der Skulpturenboulevard zur 750-Jahr-Feier

Niemandsland

43 — Techno in der Tiefe. Der Tresor in der Leipziger Straße

44 — Der kurze Sommer der Anarchie. Die Mainzer Straße

45 — Mauerkunst. Die East Side Gallery

Die Berliner Republik

46 — Das Zentrum der Republik. Der Reichstag

47 — Zentrale Verantwortung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas

48 — Failed City. Der Flughafen Berlin Brandenburg (BER)

Das Rom der Zeitgeschichte

49 — Archäologie der Zeitgeschichte. Die Topographie des Terrors

50 — Geschichtsparcours. Die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße

51 — Umkämpfte Geschichte. Das Humboldt Forum im Berliner Schloss

Anhang

Dank

Anmerkungen

Impressum

Karte

Einleitung

Drei Worte zitierte US-Präsident John F. Kennedy auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in seiner berühmten Berlin-Rede am 26. Juni 1963: »Two thousand years ago the proudest boast was: ›civis romanus sum‹. Today, in the world of freedom, the proudest boast is: ›Ich bin ein Berliner‹.« Indem er das stolze lateinische Bekenntnis römischer Bürger in Erinnerung rief, verglich Kennedy West-Berlin mit dem antiken Rom. So wie einst das römische Bürgerrecht Freiheit versprochen habe, seien nun alle freien Menschen Bürger von Berlin. Für die schätzungsweise 200 000 West-Berliner, die sich vor dem Rathaus Schöneberg versammelt hatten, waren seine Worte ein wichtiges Zeichen der Solidarität. Zwei Jahre nach dem Mauerbau, auf den die USA weitgehend passiv reagiert hatten, beteuerte der US-Präsident den Beistand der amerikanischen Schutzmacht und sprach West-Berlin eine Bestandsgarantie aus. Er beschrieb die eingemauerte Teilstadt als Stadt der Freiheit und kleidete seine Aussage in einen historischen Vergleich. Schon Kennedy erklärte Berlin also zum »Rom der Zeitgeschichte«.

Der eigentliche Schöpfer des Begriffs ist jedoch der ehemalige Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz. Ein halbes Jahrhundert nach Kennedys Berlin-Rede eröffnete er im Herbst 2010 den 28. Deutschen Historikertag an der Humboldt-Universität zu Berlin. In seinem Grußwort bezeichnete er Berlin als das »Rom der Zeitgeschichte« und unterstrich damit vor der versammelten Geschichtswissenschaft die historische Bedeutung der Hauptstadt.1 Seither hat diese Zuschreibung eine erstaunliche Verbreitung erfahren und Eingang in die Selbstvermarktung der Stadt gefunden. Die klamme Bundeshauptstadt klammert sich an ihre Geschichte und lebt in starkem Maße von der Bewirtschaftung ihrer Vergangenheit. Bis 2020, dem Beginn der Coronapandemie, besuchten Jahr für Jahr mehr und mehr Touristen die Stadt an der Spree. Und auch nach dem Ende der Pandemie kommen die Besucher wieder in Scharen. Alle Wege führen nach Berlin, das mittlerweile mehr Touristen anlockt als die ewige Stadt am Tiber. Sie kommen nicht allein wegen der Berliner Partyszene, sondern auch wegen der reichhaltigen Kultur- und Erinnerungslandschaft. Im globalen Städtewettkampf stellt Berlins vielfach gebrochene Geschichte im 20. Jahrhundert einen einzigartigen Standortfaktor dar. Das »Rom der Zeitgeschichte« gehört zum Branding der Stadt, aber es ist mehr als nur ein Marketingbegriff.

Das Bild vom »Rom der Zeitgeschichte« besitzt drei Ebenen: Es ist erstens eine Beschreibung Berlins in einer langen Reihe mythischer Zuschreibungen, welche die populäre Selbst- und Fremdwahrnehmung der Stadt im 20. Jahrhundert bestimmt haben. Dabei spielten Städtevergleiche stets eine wichtige Rolle. Ob als Chicago an der Spree oder Babylon Berlin – immer wieder wurde Berlin mit anderen Städten verglichen, was mehr über Berlin und seinen Geltungsdrang aussagt als über die Städte, die für die Vergleiche herhalten mussten. Man kann diese Berlin-Bilder kritisch hinterfragen und als Mythos dekonstruieren. Man sollte sie jedoch ernst nehmen, weil die Bilder oft selbst geschichtsmächtig wurden und der Stadt einen Stempel aufgedrückt haben.

Zweitens beschreibt das Bild vom »Rom der Zeitgeschichte« die einzigartige Geschichtslandschaft Berlins, die aus zahlreichen Erinnerungsorten besteht. So wie die Römische Republik und die Kaiserzeit auf dem Forum Romanum ihre Spuren hinterlassen haben, ist das Antlitz Berlins gekennzeichnet von den verschiedenen Epochen der Zeitgeschichte. Die Überreste der unterschiedlichen Zeitabschnitte sind kreuz und quer im Stadtraum verteilt und überlagern sich oft in mehreren Zeitschichten. Überall im Stadtgebiet finden sich Spuren, die das 20. Jahrhundert hinterlassen hat. Manche sind bekannte Erinnerungsorte, andere wiederum gilt es zu entdecken. Man kann in Berlin eine Archäologie der Zeitgeschichte betreiben.

Drittens unterstreicht das »Rom der Zeitgeschichte« die zentrale Rolle Berlins in der ereignisreichen deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die im Deutschen als Zeitgeschichte bezeichnet wird. So wie Rom vor zweitausend Jahren im Mittelpunkt der Weltgeschichte stand, rückte Berlin im vergangenen Jahrhundert nur allzu oft ins Zentrum des Geschehens. Hier kamen die konkurrierenden Ordnungsmuster der Moderne an einem Ort zusammen. Berlin war eine monarchische, eine demokratische, eine faschistische und eine sozialistische Hauptstadt. Von hier aus wurden zwei Weltkriege in die Welt getragen, die mit großer Wucht auf die Stadt zurückfielen. In Berlin erlebte der Kalte Krieg seine Zuspitzung, bevor er ebenfalls in Berlin sein symbolisches Ende erfuhr.

Die gebrochene Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert ist vielfach beschrieben worden: als Teil von Gesamtdarstellungen der Berliner Stadtgeschichte2 oder als Teilgeschichten. Es gibt Bücher über Berlin im Nationalsozialismus3, über Ost-Berlin4 und über West-Berlin5 sowie über einzelne Stadtbezirke und Kieze.6 Selten ist jedoch der Versuch unternommen worden, die Berliner Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Das hat nicht nur mit der Fülle an Ereignissen zu tun, sondern ist in allererster Linie ein methodisches Problem. Als deutsche Hauptstadt ist Berlin so eng mit der deutschen Geschichte verwoben, dass man nicht umhinkommt, die deutsche Nationalgeschichte gleichsam mit zu erzählen, wenn man die Geschichte Berlins darstellen möchte. Aus dem Hauptstadtstatus ergibt sich ein Vollständigkeitsanspruch, der sich nur schwer einlösen lässt.

Erschwerend kommt hinzu, dass Geschichte meist chronologisch erzählt wird. So sind auch die meisten Berlin-Geschichten dem Zeitstrahl verpflichtet und kommen spätestens dann in Schwierigkeiten, wenn parallel die getrennte und doch vielfach verflochtene Geschichte von Ost- und West-Berlin dargestellt werden soll. Doch die Zeit ist nicht das einzige Ordnungsprinzip der Geschichte. Genauso wichtig ist der Raum. »Im Raume lesen wir die Zeit«, hat Karl Schlögel geschrieben, von dem einige der klügsten Beschreibungen der Geschichte Berlins stammen, weil er sich der Stadtgeschichte topografisch nähert.7 Auf Spaziergängen und Exkursionen kann man die Geschichte einer Stadt besonders gut erkunden.

Das vorliegende Buch betrachtet die Geschichte und die Gegenwart Berlins aus genau dieser Perspektive, indem es die drei genannten Bedeutungsebenen vom »Rom der Zeitgeschichte« aufgreift: den Mythos, den Raum und die Zeit. Ausgehend von verschiedenen populären Zuschreibungen und Bildern der Stadt beschreibt das Buch ausgewählte historische Orte und erzählt anhand dieser Stadträume die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert. Dabei wird gefragt, wie die Berlin-Bilder aufkamen, auf welche Geschichten der Stadt sie sich beziehen und welche Wirkmächtigkeit sie im beginnenden 21. Jahrhundert entfalten. Jedes Kapitel begibt sich jeweils an drei Schauplätze, die beispielhaft für die jeweilige Stadterzählung stehen. Aktuelle Fotos zeigen die Orte in ihrer heutigen Gestalt und ergänzen die historische Darstellung um eine visuelle Dimension. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und mit Mut zur Lücke lädt dieses Buch ein zu einer topografischen und fotografischen Zeitreise durch Berlin, das »Rom der Zeitgeschichte«.

Der Parvenü der Großstädte

Vor zweitausend Jahren, als Rom auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, sagten sich an der Spree noch Fuchs und Hase gute Nacht. Damals lebten die elbgermanischen Semnonen in den waldreichen Hochebenen des Barnim und des Teltow. Die Germanen zogen im 4. und 5. Jahrhundert weiter Richtung Süden, ehe sich im 7. Jahrhundert die slawischen Sprewanen im Gebiet um Havel und Spree niederließen. Als die beiden Städte Berlin und Cölln Anfang des 13. Jahrhunderts gegründet wurden, waren Paris und London längst Hauptstädte. Während in Köln bereits im Mittelalter mehr als 60 000 Menschen lebten, zählte Berlin bis Mitte des 17. Jahrhunderts kaum mehr als 6000 Einwohner. Erst unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm und seinen Nachfolgern nahm die Entwicklung Berlins Fahrt auf. Entscheidend war, dass die Stadt 1701 die Hauptstadt des Königreichs Preußens wurde. Jedoch dauerte es bis zum Jahr 1877, dass Berlin zur Millionenstadt wurde. Das war Rom schon in der Antike gewesen.

Berlin entwickelte vor diesem Hintergrund einen ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex, welchen die Stadt bis heute nicht ganz abgelegt hat. Aus dem Gefühl verspäteter Größe entstand ein extremer Geltungsdrang, der die neue Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs von 1871 in starkem Maße prägte. Wilhelm II. trachtete danach, seine Hauptstadt in den Rang der anderen Metropolen zu erheben, und prägte das wilhelminische Berlin mit repräsentativen Bauten, die die Architektur Roms nachahmten. Besonders deutlich wird dies am Berliner Dom, den der Kaiser 1905 anstelle des schlichten Vorgängerbaus am Lustgarten neu errichten ließ. Die riesige Kuppel war dem Petersdom in Rom nachempfunden, und der üppige Figurenschmuck erinnert eher an eine römisch-katholische Kirche als an ein evangelisch-lutherisches Gotteshaus. Hier stand nicht das Wort Gottes im Mittelpunkt, sondern der Monarch. Die Architektur des Doms zielte auf Weltgeltung. Kaiser, Reich und Hauptstadt waren in ihrem Drang nach Anerkennung untrennbar miteinander verwoben. Das wilhelminische Berlin wollte es allen beweisen.

Ein scharfsinniger Beobachter dieses Strebens nach Größe war Walther Rathenau. Der Industrielle und spätere Außenminister erklärte Berlin 1899 zum Parvenü der Großstädte und zur Großstadt der Parvenüs.8 So wie Berlin ein Emporkömmling unter den europäischen Metropolen war, war es zugleich eine Stadt der Emporkömmlinge. Hier bauten »Selfmademen« wie August Borsig und Werner Siemens ihre Firmenimperien auf. Auch Walther Rathenaus Vater Emil Rathenau gehörte als Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, bekannt geworden unter der Abkürzung AEG, in die Riege der Großindustriellen, die ihr Glück in Berlin gemacht hatten und es nun aller Welt zeigen wollten (siehe auch Abschnitt 4). Das »Parvenupolis an der Spree« demonstrierte um 1900 seine neue politische und wirtschaftliche Macht. Dabei spielte der Fluss, an dem Berlin emporgewachsen war, eine fast mythisch verklärte Rolle. Am Ufer der Spree versuchten Berliner Industrielle, eine Weltausstellung durchzuführen, auch wenn es letztlich nur zu einer Gewerbeausstellung reichte. Etwas weiter flussabwärts entstand vor dem Berliner Schloss das riesige Nationaldenkmal für Wilhelm I., der als Reichseiniger kultisch verehrt wurde. Ihm wurde auch die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg gewidmet, die wie kaum ein anderes Bauwerk das Streben nach Größe und das spätere Scheitern verkörpert.

1 — Die verhinderte Weltausstellung. Der Treptower Park

Die Archenhold-Sternwarte im Treptower Park. Aus dem Gebäude ragt der Riesenrefraktor der Gewerbeausstellung von 1896 hervor.

Der Aufstieg Berlins beruhte zu großen Teilen auf der wirtschaftlichen Stärke der Stadt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur wichtigsten deutschen Industriemetropole aufgestiegen war. Der 1879 gegründete Verein Berliner Kaufleute und Industrieller war stolz auf die boomende Berliner Wirtschaftskraft und wollte das auch nach außen demonstrieren. Seit der ersten World Fair 1851 in London rangen die westlichen Metropolen um Anerkennung, Aufmerksamkeit und Aufträge, indem sie riesige Weltausstellungen ausrichteten.9 1889 hatte zuletzt Paris eine aufsehenerregende Ausstellung präsentiert, bei der unter anderem der Eiffelturm eingeweiht worden war. Da wollte der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller nicht nachstehen und plante die Ausrichtung einer Weltausstellung in Berlin. Doch Wilhelm II. machte einen Strich durch die Pläne des Berliner Vereins. Obwohl repräsentativen Großereignissen gegenüber nicht abgeneigt, war ihm das bürgerliche Selbstbewusstsein suspekt. Der Kaiser erteilte dem Unternehmen Weltausstellung eine klare Absage, indem er schroff mitteilte: »Ausstellung is nich, wie meine Herren Berliner sagen«.10

Dennoch fand im Sommer 1896 eine große Ausstellung in Berlin statt. Zwar war es keine offizielle Weltausstellung, sondern lediglich eine Berliner Gewerbeausstellung. Aber die Schau hatte durchaus die Dimensionen einer Weltausstellung. Der gesamte Treptower Park vor den Toren Berlins verwandelte sich vom 1. Mai bis zum 15. Oktober 1896 in ein riesiges Expo-Gelände mit 3780 Ausstellern. Mit einer Fläche von 90 Hektar übertraf Berlin alle bisherigen Weltausstellungen, was die Veranstalter nicht müde wurden zu betonen. Wilhelm II. erklärte sich schließlich doch noch bereit, die Exposition persönlich zu eröffnen. Da das Gelände direkt an der Spree lag, kam er zur Eröffnung mit seiner kaiserlichen Yacht. Das passte gut zum maritimen Weltmachtstreben der Hohenzollern, dem auf der Ausstellung mit Marineschauspielen gehuldigt wurde. In der Treptower Gewerbeausstellung verdichteten sich die chauvinistischen Wesenszüge des wilhelminischen Berlins wie in einer Nussschale.

Das Ausstellungsplakat zeigt eine Faust, die aus dem märkischen Sand hervorbricht und stolz einen Hammer in die Höhe reckt. Im Hintergrund sind die Siegessäule, der Reichstag und das Rote Rathaus zu erkennen. An den Seiten finden sich zwei römisch anmutende Säulen, die mit Tieremblemen geschmückt sind. Die linke Säule wird von einer Eule getragen, die für den Erfindungsreichtum der Berliner Industrie steht. Die rechte Säule ruht auf drei Bienen, die den Fleiß der Berliner Gewerbetreibenden symbolisieren sollen. Ganz oben thront auf beiden Säulen der Berliner Bär. Ludwig Sütterlin, der 1914 die nach ihm benannte deutsche Schreibschrift entwickelte, gestaltete das Ausstellungsplakat als Allegorie der Berliner Wirtschaftskraft. Passend dazu präsentierten sich im Haupt-Industrie-Gebäude der Gewerbeausstellung sämtliche großen Berliner Industrieunternehmen von der Metall- bis zur Elektroindustrie. Mehrere elektrische Straßenbahnlinien führten zum Treptower Gelände, wo die Besucher unter anderem die neuesten Röntgengeräte am eigenen Leib testen konnten. Berlin präsentierte sich stolz als moderne Weltstadt.

Zugleich inszenierte die Gewerbeausstellung Alt-Berlin. Zwei Stadttore, ein Rathaus und mehr als hundert weitere auf alt getrimmte Bauten riefen die vormoderne Stadt um 1650 in Erinnerung und luden die Besucher zum Bummel durch das historische Berlin ein. Das war nichts Ungewöhnliches, denn auch bei den Weltausstellungen hatte es vergleichbare Attraktionen gegeben. Die Inszenierung kompensierte den Verlust der tatsächlichen historischen Altstadt. Während Alt-Berlin im Treptower Park aus Pappmaché wiedererrichtet wurde, verschwand das echte Alt-Berlin allenthalben aus dem Stadtbild. Für den Bau des Roten Rathauses war ein ganzes mittelalterliches Häuserviertel abgerissen worden. Für die neue Kaiser-Friedrich-Straße musste sogar ein Teil des Berliner Stadtschlosses weichen. Mietshäuser und Geschäftsgebäude ersetzten die barocken Palais in der Friedrichstadt. Überall hielt die Moderne Einzug. Für das gesteigerte Repräsentationsbedürfnis der Reichshauptstadt war jedoch auch eine historische Altstadt wichtig, und diese wurde in Gestalt von Alt-Berlin im Treptower Park neu erfunden.

Gleich neben Alt-Berlin fand im Rahmen der Gewerbeausstellung die erste deutsche Kolonialausstellung statt. Sie sollte für die imperialen Ambitionen des Kaiserreichs werben. Hierfür wurden mehr als 100 Menschen aus den deutschen Kolonien Ostafrika, Togo, Kamerun und Neu-Guinea nach Berlin gebracht und im Treptower Park zur Schau gestellt. In einfachen Hütten rund um den Karpfenteich sollten sie das Leben von »Eingeborenen« simulieren und primitiven Tätigkeiten nachgehen. Diese stellte man bewusst in einen scharfen Kontrast zur deutschen Hochtechnologie, die auf der Gewerbeausstellung präsentiert wurde. Da die »ausgestellten« Menschen bei den Vorführungen nur spärlich bekleidet waren, zogen sie sich im verregneten Sommer des Jahres 1896 zahlreiche Krankheiten zu. Drei Afrikaner starben während der Laufzeit der Ausstellung. Die Initiative Berlin Postkolonial hat 120 Jahre später die Lebenswege der zur Schau gestellten Menschen rekonstruiert und in einer bemerkenswerten Ausstellung im Museum Treptow-Köpenick gezeigt. Im Treptower Park sucht man indes vergeblich nach Zeichen der Erinnerung an dieses dunkle Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte.

Das einzige Überbleibsel der Gewerbeausstellung im Treptower Park ist der Riesenrefraktor der Archenhold-Sternwarte, die später um das Fernrohr herum errichtet wurde. Mit einer Brennweite von 21 Metern war der Refraktor das größte Linsenfernrohr der Welt. Dieser stets betonte Superlativ ist bezeichnend, denn es ging bei der Berliner Gewerbeausstellung darum, der deutschen Reichshauptstadt den ersten Rang unter den Weltmetropolen zuzusprechen und den Führungsanspruch des Deutschen Kaiserreichs zu untermauern. Das Imponiergehabe des Parvenüs war alles andere als harmlos und hatte im 20. Jahrhundert schlimme Folgen. Der Chauvinismus führte in letzter Konsequenz dazu, dass von Berlin aus zwei Weltkriege angezettelt wurden, die schreckliches Leid über die Welt brachten und die Deutschland unter enormen Verlusten verlor. Daran erinnert auf prominente Weise das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf demselben Gelände errichtet, auf dem 1896 die Gewerbeausstellung stattgefunden hatte.

2 — Brüllende Löwen. Die Schlossfreiheit

Die Fundamente des Nationaldenkmals auf der Schlossfreiheit. Im Hintergrund ist das wiedererrichtete Berliner Schloss zu sehen.

Ein Jahr nach der Gewerbeausstellung weihte Wilhelm II. das neue Nationaldenkmal ein. Es stand direkt vor seiner Haustür auf der Schlossfreiheit und war seinem Großvater gewidmet. Wilhelm I. wurde im Kaiserreich geradezu kultisch verehrt, weil er, neben Otto von Bismarck, als der Vollender der lange ersehnten nationalen Einigung Deutschlands im Jahre 1871 galt. Der Nachzügler unter den Nationalstaaten glorifizierte den Reichseiniger an allen Ecken und Enden. Bis 1918 entstanden im gesamten Kaiserreich allein 63 Reiterstandbilder für »Barbablanca«, den weißbärtigen Herrscher, etwa am Deutschen Eck in Koblenz oder auf dem Kyffhäuser in Thüringen. Das wichtigste und prominenteste Kaiser-Wilhelm-Denkmal aber erhielt die Reichshauptstadt. Hierfür lobte Wilhelm II. einen aufwendigen Künstlerwettbewerb aus. Den Zuschlag erhielt der Bildhauer Reinhold Begas, denn dieser erfreute sich der höchsten Gunst des Kaisers und hatte bereits den Neptunbrunnen auf dem Schlossplatz gestaltet. Das neue Nationaldenkmal sollte auf der sogenannten Schlossfreiheit auf der Westseite des Berliner Stadtschlosses errichtet werden. Vis-à-vis des monumentalen Eosanderportals entstand ein ebenso monumentales Denkmal, welches das Selbstverständnis des Deutschen Kaiserreichs abbildete.

Im Zentrum des Nationaldenkmals thronte das überlebensgroße Reiterstandbild Wilhelms I. Es war allein neun Meter groß und ragte auf seinem granitenen Sockel 21 Meter in die Höhe. Flankiert wurde das Standbild von vier mächtigen Bronzelöwen, die angriffslustig zum Brüllen ansetzten. Das monumentale Denkmal ruhte auf einem Gewölbe, das bis zum Spreekanal hinabreichte und mit prächtigen Mosaiken geschmückt war. Darauf standen mit Quadrigen, Genien und allerlei mythologischen Tieren versehene Kolonnaden aus Sandstein. Das Denkmal zeigte »21 Pferde, 2 Ochsen, 8 Schafe, 4 Löwen, 16 Fledermäuse, 6 Mäuse, 1 Eichhorn, 10 Tauben, 2 Raben, 2 Adler, 16 Eulen, 1 Eisvogel, 32 Eidechsen, 18 Schlangen, 1 Karpfen, 1 Frosch, 16 Krebse, zusammen 157 Tiere«, wie der Berliner Humorist Victor Laverrenz schon damals spottete.11 Die Berliner nannten das Denkmal daher auch den »Zoo von Wilhelm zwo«.

Die vier Löwen sind heutzutage tatsächlich in einem Zoo zu finden. Als das Nationaldenkmal 1949/50 abgerissen wurde, blieben die Löwen erhalten und wanderten in den neuen Tierpark Berlin-Friedrichsfelde. Dort bewachen die Bronzelöwen nun die echten Löwen im Alfred-Brehm-Haus. Außer den Löwen hat nur ein Adler, der im Märkischen Museum gelandet ist, den Abriss des Denkmals überstanden. Die SED entfernte es ebenso aus dem Stadtbild wie das benachbarte Stadtschloss. In der Hauptstadt der DDR sollte es 1950 keine Reminiszenzen an den untergegangenen preußischen Staat und die Monarchie der Hohenzollern mehr geben. Preußen, 1947 als Staat formell aufgelöst, stand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg für alles Schlechte in der deutschen Geschichte. Wie das Schloss musste auch das Denkmal für den preußischen Imperialismus und Militarismus büßen und wurde getilgt, um einer großen Aufmarschfläche Platz zu verschaffen. Übrig blieben nur die Gewölbe am Spreekanal, auf denen das Denkmal gestanden hatte.

Nach einem fast 60-jährigen Dornröschenschlaf fanden die Gewölbe neue Aufmerksamkeit. Der Deutsche Bundestag beschloss 2007, am früheren Standort des Nationaldenkmals ein Freiheits- und Einheitsdenkmal zu errichten, um an die Friedliche Revolution und die Deutsche Einheit 1989/90 zu erinnern. Es gab es einen Wettbewerb, dessen Einsendungen die Jury jedoch nicht überzeugten. Im zweiten Anlauf gingen überraschenderweise die Tanzchoreografin Sasha Waltz und das Stuttgarter Büro Milla und Partner als Sieger hervor. Ihr Konzept mit dem Titel »Bürger in Bewegung« sah eine begehbare, goldene Schale von 50 Metern Länge vor, die sich in die Richtung neigen sollte, auf der die Mehrheit der Besucher steht. Auf diese Weise sollte den Menschen ein Denkmal gesetzt werden, die 1989 auf die Straße gegangen waren und den Lauf der Geschichte verändert hatten. Nicht nur in Leipzig sollte an die Friedliche Revolution erinnert werden, sondern auch in Berlin. Das Freiheits- und Einheitsdenkmal sollte auf der alten Schlossfreiheit errichtet werden, denn der Platz liegt zwischen dem ehemaligen Staatsratsgebäude, in dem Erich Honecker seinen Amtssitz hatte, dem Kronprinzenpalais, in dem der Einigungsvertrag unterzeichnet worden war, und dem einstigen Standort des Palasts der Republik, in dem die Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik beschlossen hatte (siehe Abschnitt „51 — Umkämpfte Geschichte. Das Humboldt Forum im Berliner Schloss“). Der ungenutzte Sockel des alten Nationaldenkmals schien der ideale Ort für das neue Denkmal zu sein.

Doch auf dem Standort schien ein Fluch zu liegen. Umweltschützer klagten, dass durch den Bau des Freiheits- und Einheitsdenkmals geschützte Fledermäuse vertrieben werden, die im historischen Gewölbe des Nationaldenkmals ihr Habitat gefunden hatten. Denkmalschützer wandten ein, durch die Betonfundamente für das neue Denkmal würden die wertvollen Bodenmosaiken des alten Denkmals im Gewölbe zerstört. Historiker polemisierten, dass der Ort des wilhelminischen Nationaldenkmals vor dem monarchischen Stadtschloss denkbar ungeeignet für ein republikanisches Denkmal sei, das für Freiheit und Einheit stehen soll. So zog sich das Projekt lange hin, zumal die Finanzierung zwischenzeitlich nicht gesichert war. Hinzu kamen Einwände, dass der Zugang zur überdimensionalen Schale nicht barrierefrei sei. Und die Macher des Oscar-prämierten Kurzfilms »Balance« sahen angesichts der wippenden Schale ihr Urheberrecht verletzt. Das Projekt der »Einheitswippe«, wie der Denkmalsentwurf spöttisch genannt wurde, geriet immer mehr in Schieflage.

So skurril, wie manche Einwände erscheinen mögen, offenbaren sie doch ein grundsätzliches Unbehagen am geplanten Einheits- und Freiheitsdenkmal. Das hat nicht nur etwas mit dem problematischen Standort und der verspielten Form zu tun. Vielmehr passt das affirmative Denkmal, das die Friedliche Revolution und die Deutsche Einheit feiern soll, nicht in das postheroische Zeitalter. In der gegenwärtigen Erinnerungskultur haben heroische Denkmäler, die einen positiven Bezug zur Vergangenheit herstellen sollen, einen schweren Stand. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen.

In mancherlei Hinsicht ist das geplante Freiheits- und Einheitsdenkmal seinem wilhelminischen Vorgänger auf der Schlossfreiheit näher, als es den Initiatoren lieb sein dürfte. Das neue Denkmal soll zwar keinem Kaiser huldigen, sondern die Helden von 1989/90 würdigen, aber Heldenverehrung bleibt Heldenverehrung, und die Intention des Denkmals ist im Grunde die gleiche: Wie einst beim Reichseiniger von 1871 soll am geplanten Standort die Einheit der Deutschen gefeiert werden, deren Zustand Anfang der 2020er-Jahre Anlass zur Sorge gibt. Das ist der Grund, warum der Deutsche Bundestag und sein Haushaltsausschuss das Projekt allen Einwänden zum Trotz unbedingt zu einem erfolgreichen Abschluss bringen möchten. Mit der Fertigstellung des Freiheits- und Einheitsdenkmals verknüpft sich die Hoffnung, an symbolträchtiger Stelle zum Zusammenwachsen der Deutschen beizutragen.

3 — Gewandelte Erinnerung. Die Gedächtniskirche

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz. Vor der Ruine steht der neue Kirchenbau von Egon Eiermann und Gabriel Loire.

Wie ein Denkmal zu einem Mahnmal werden kann, zeigt die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. So wie das Nationaldenkmal auf der Schlossfreiheit sollte die Kirche Wilhelm I. ein Denkmal setzen. Das 1895 von Franz Schwechten errichtete Bauwerk war einer der prominesten Kirchenbauten seiner Zeit. Die Initiative ging auf Kaiserin Auguste, die Ehefrau Wilhelms II., zurück, die mit Unterstützung des Kirchenbauvereins in Berlin und dem Umland 70 neue Kirchen errichten ließ. Dahinter steckte ein missionarischer Gedanke. Die trutzigen Kirchen sollten einen konservativen Gegenpol zum modernen Berlin bilden, in dem der Atheismus weit verbreitet war. Sie hatten zugleich eine politische Funktion. Der Bau der Kirchen verkörperte die Allianz von Thron und Altar, denn der preußische König war als Landesherr zugleich der oberste Schirmherr der Evangelischen Kirche. Die Kirche wiederum diente der Legitimation seiner Macht, die er nach eigenem Selbstverständnis unmittelbar von Gottes Gnaden bezog.

Die Gedächtniskirche bildete jene Allianz von Thron und Altar auf besonders deutliche Weise ab. Wenn der Besucher durch das Westportal schritt, gelangte er zunächst in die Vorhalle, die mit prächtigen Mosaiken im byzantinischen Stil geschmückt war. Sie zeigten die Genealogie der Hohenzollern-Herrscher. Das Bildprogramm diente der Traditionsbildung: Die gesamte Architektur der Gedächtniskirche sollte dazu beitragen, die Herrschaft der Hohenzollern historisch zu begründen. Der neoromanische Baustil verknüpfte die Macht der neuen Deutschen Kaiser mit der Herrschertradition der Römischen Kaiser des Mittelalters. Die Parvenüs auf dem deutschen Thron wählten bewusst den romanischen Stil der Stauferkaiser, um ihrer Macht über das geeinte Reich historischen Glanz zu verleihen. Dabei nahm es der Historismus mit den lokalen Bautraditionen nicht so genau. Die Romanik war eigentlich schon aus der Mode gekommen, als im mittelalterlichen Berlin die ersten Kirchen errichtet wurden. Und auch der Sandstein, aus dem die Gedächtniskirche erbaut wurde, passte nicht so recht zur Mark Brandenburg, in der es kaum Natursteinvorkommen gibt. Doch der neoromanische Baustil gab der Berliner Kirche ein breiteres geschichtliches Fundament. Das »Parvenupolis« stattete sich mit historisierenden Stilelementen aus.

Neoromanisch war auch das Umfeld der Gedächtniskirche. Gleich neben der Kirche stand das Romanische Haus, in dem sich wiederum das legendäre Romanische Café befand, das in den 1920er-Jahren als Treffpunkt der Berliner Literaturszene galt, weil Joseph Roth, Erich Kästner, Bertolt Brecht und viele andere hier verkehrten. Die Kirche gehörte eigentlich zur selbständigen Stadt Charlottenburg, die erst 1920 eingemeindet wurde. Der 113 Meter hohe Hauptturm war fortan der höchste Kirchturm Berlins und bildete den Fluchtpunkt der berühmten Blickachse vom Wittenbergplatz auf die Gedächtniskirche. Damit markierte die Kirche den fulminanten Endpunkt des sogenannten Generalzugs. Die Prachtstraße, benannt nach Generälen der antinapoleonischen Befreiungskriege, führte von der Gneisenaustraße über die Yorckstraße und die Bülowstraße bis zur Tauentzienstraße und endete geradewegs an der Gedächtniskirche, die auf diese Weise auch städtebaulich in die preußische Erinnerungskultur eingeschrieben wurde. Wie kaum ein anderes Bauwerk des Wilhelminischen Berlins verkörperte die Gedächtniskirche den Geist des Deutschen Kaiserreichs.

Die Gedächtniskirche überstand zwar das Kaiserreich, aber nicht den deutschen Militarismus. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche bei einem der ersten großen britischen Luftangriffe auf Berlin zerstört. Der Hauptturm knickte ab und der Dachstuhl stürzte ein. Die Ruine wurde nur notdürftig gesichert und stand nach dem Krieg noch viele Jahre wüst, bis sie 1957 einem kompletten Neubau der Kirche weichen sollte. Hierüber entbrannte in Berlin eine heftige Debatte, die in dem Kompromiss mündete, einen Teil der alten Kirche zu erhalten. Das Westportal, die Vorhalle und die Ruine des Hauptturms, der jetzt nur noch 71 Meter hoch war, sollten als Mahnmal gegen den Krieg bewahrt bleiben. Rund um die Ruine entstand hingegen die neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nach Plänen von Egon Eiermann, einem bedeutenden Architekten und Designer der Moderne. Sein Bauensemble bestand aus einem achteckigen Kirchenschiff, einem sechseckigen Glockenturm, einer Kapelle und einem Foyer. 1961 wurde die neue Kirche eingeweiht und avancierte rasch zum Wahrzeichen von West-Berlin.

Das herausragende Merkmal der neuen Gedächtniskirche sind die blauen Glasfenster, die der französische Künstler Gabriel Loire geschaffen hat. Er gestaltete mehr als 20 000 individuell gearbeitete Fenster, die von seinem Atelier in Chartres nach Berlin gebracht wurden, um eine doppelte gläserne Hülle um das neue Kirchenschiff zu bilden. Das aufwendige Vorhaben verlief nicht reibungslos, da Eiermann und Loire unterschiedliche Vorstellungen von der Farbigkeit der Kirchenfenster hatten.12 Der Neubau der Gedächtniskirche wurde dennoch zu einem prominenten Projekt der deutsch-französischen Versöhnung. Kaum 15 Jahre nach dem Krieg gestalteten ein deutscher Architekt und ein französischer Künstler gemeinsam einen Kirchenneubau, dessen Vorgänger dem Sieger des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 gewidmet war. Der vollständige Name der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde immer seltener ausgesprochen. Die Gedächtniskirche entwickelte sich zu einer Art Versöhnungskirche. Dazu passt, dass in der Kirche seit 1987 ein Nagelkreuz aus Coventry ausgestellt ist. Die Nägel stammen aus verbrannten Dachbalken der Kathedrale von Coventry, die 1940 bei einem verheerenden deutschen Luftangriff auf die englische Stadt zerstört wurde. Das Nagelkreuz steht in der Vorhalle der alten Gedächtniskirche. Heute ist sie das wichtigste Antikriegsdenkmal in Berlin.

Am 19. Dezember 2016 holte die Gewalt die Gedächtniskirche wieder ein, als der islamistische Terrorist Anis Amri einen Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz steuerte und zwölf Menschen tötete. An das Attentat erinnert seit 2017 ein Gedenkort an den Stufen zur Kirche, der zum ersten Jahrestag des Anschlags eingeweiht wurde. Ein mit vergoldetem Metall gefüllter Riss zieht sich über 17 Meter von der Kirche bis zum Tatort. Das Mahnmal im Straßenpflaster ähnelt nicht von Ungefähr den Stolpersteinen, die vor vielen Berliner Häusern verlegt worden sind, um an deportierte und ermordete Bewohner zu erinnern (siehe Abschnitt „21 — Die Familie Najman. Stolpersteine in der Choriner Straße“). Die alltägliche Geste soll das Gedenken an die Opfer wachhalten. Sie steht für eine Erinnerungskultur, die keine Helden mehr feiert, sondern die Opfer von Terror und Vernichtung in den Mittelpunkt stellt. Dieser Wandel von der heroischen zur postheroischen Erinnerungskultur lässt sich an der Gedächtniskirche gut nachvollziehen. Aus dem Denkmal für den Kaiser wurde ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt.

Das Chicago an der Spree

Im Winter 1891/92 verbrachte Mark Twain mit seiner Familie einige Monate in Berlin. Als die Zeitung Chicago Daily Tribune am 3. April 1892 seinen Reisebericht veröffentlichte, war der amerikanische Schriftsteller bereits ins wärmere Südfrankreich weitergereist. Doch die kalte Stadt an der Spree hatte einen bleibenden Eindruck auf Twain hinterlassen. Seinen Lesern in Chicago vermittelte er ein Bild, das ihnen vertraut vorkommen musste. Er beschrieb die deutsche Hauptstadt als rasant wachsende Metropole amerikanischen Typs: »Keine andere Stadt hat so viele schnurgerade Straßen; was die Flachheit des Geländes und was phänomenales Wachstum betrifft, kann nur Chicago mithalten. Berlin ist das europäische Chicago.«13

Niemals wäre es Twain eingefallen, Berlin etwa mit Rom zu vergleichen. Während die Stadt an der Spree heute vor Geschichte strotzt, erlebte Twain sie 1891 als eine Stadt, in der kein Stein auf dem anderen blieb. Das alte Berlin scheine vollkommen verschwunden zu sein und keinerlei Spuren hinterlassen zu haben. »Der Großteil des heutigen Berlin hat nichts mit der Vergangenheit zu tun. Das Gelände, auf dem es steht, hat Traditionen und eine Geschichte, aber die Stadt selbst hat weder Traditionen noch Geschichte. Es ist eine neue Stadt; die neueste, die ich je gesehen habe. (…) Die Masse seiner Bauten sieht ganz so aus, als wären sie letzte Woche errichtet worden; der Rest der Stadt macht einen kaum wahrnehmbar ernsteren Eindruck. Er sieht aus, als sei er sieben oder acht Monate alt.«14

Besonders faszinierte Twain die Weiträumigkeit der Stadt. In keinem anderen Land gebe es eine Stadt mit derart breiten Straßen. Unter den Linden seien gleich drei Straßen in einer, und an der Potsdamer Straße gebe es auf beiden Seiten Fußgängerwege, die breiter sind als manche Hauptstraßen der alten europäischen Metropolen. Nur die Hufeisenzählung der Berliner Hausnummern bereitete Twain Kopfzerbrechen. Mal zählten sie rauf, mal zählten sie runter, und zwischendurch gebe es unvermittelt Häuser mit Nummern wie 4a, 4b, 4c und so weiter. Was die Hausnummern betreffe, habe es seit dem Anbeginn der Welt kein größeres Chaos gegeben. Davon abgesehen zeigte sich Twain beeindruckt von der Ordnung und Effizienz der deutschen Hauptstadt. Man dürfe in Berlin keine instabilen, unsicheren oder unansehnlichen Häuser bauen. Alles habe Methode und System. Berlin schien Twain die am intensivsten verwaltete und am besten regierte Stadt zu sein – ein Urteil, das heute wohl kaum jemand fällen würde.

Twain erlebte Berlin im Bauboom des Kaiserreichs, dem die Stadt bis heute einen großen Teil seiner Gestalt verdankt. Doch was heutzutage die begehrten gründerzeitlichen Altbauten sind, waren damals Neubauten, die überall aus dem Boden gestampft wurden, um die rasant wachsende Bevölkerung unterzubringen. Alle dreißig Jahre verdoppelte sich im 19. Jahrhundert die Einwohnerzahl Berlins. Waren es 1840 noch 330 000 Einwohner, waren es 1871 schon 826 000 und im Jahr 1900 bereits 1 888 000 Menschen. Das Tempo dieses Wachstums veranlasste viele Zeitgenossen zu Vergleichen mit Amerika. Berlin galt als die amerikanischste Stadt Deutschlands. Dabei besaß der Topos vom Chicago an der Spree verschiedene Bedeutungsebenen und verschob sich im Laufe des 20. Jahrhunderts. Während der Vergleich mit Chicago bei Twain auf die dynamische Urbanisierung abzielte, beschrieb er bald auch die Industrialisierung Berlins. Später stand das Chicago an der Spree vor allem als Chiffre für das dunkle Berlin des organisierten Verbrechens.

4 — Elektropolis. AEG in Oberschöneweide

Das ehemalige Transformatorenwerk Oberschöneweide in der Wilhelminenhofstraße. Das Werk gehörte seit 1920 zur AEG.

Im Berlin der Jahrhundertwende kursierte ein populäres Witzgedicht, das die Lebenswirklichkeit zehntausender Berliner trefflich charakterisierte: »Wer nie bei Siemens-Schuckert war / bei AEG und Borsig / der kennt des Lebens Jammer nicht / der hat ihn erst noch vor sich.«15 In der Tat gehörten die drei großen Berliner Industrieunternehmen Siemens, AEG und Borsig zu den wichtigsten Arbeitgebern der Stadt. Sie verwandelten Berlin zur größten Industriemetropole Deutschlands. Zugleich waren sie entscheidende Motoren der Berliner Stadtentwicklung. Der Aufstieg der AEG vom Nischenunternehmen zum größten Konzern Berlins zeigt diese Entwicklung besonders anschaulich.

1881 hatte der bislang glücklose Berliner Unternehmer Emil Rathenau auf der Pariser Elektrizitätsausstellung das Prinzip der elektrischen Glühbirne kennengelernt. Begeistert von der Erfindung des Amerikaners Thomas Edison, wollte Rathenau die Glühbirne auch in Berlin produzieren und auf den deutschen Markt bringen. 1883 gründete er deshalb mit reichlich geborgtem Startkapital die Deutsche Edison-Gesellschaft, aus der 1888 die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (seit 1898 abgekürzt AEG) hervorging. Anfangs reichte dem Unternehmen eine kleine Fertigungshalle in der Schlegelstraße, unweit des Stettiner Bahnhofs. Der Standort in der Oranienburger Vorstadt war typisch für die erste Phase der Industrialisierung in Berlin, denn hier befand sich das sogenannte Feuerland, die Wiege der Berliner Industrie. Entlang der Chausseestraße hatten Borsig, Wöhlert und Schwarzkopff damit begonnen, Lokomotiven nach englischem Vorbild zu bauen. Nachts verfärbte sich der Himmel über der Gegend orangerot vom Schein der Kamine und gab dem Feuerland seinen Namen.16

Doch schon bald erwies sich das innerstädtische Areal als viel zu klein für die expandierenden Unternehmen. Die Randwanderung der Berliner Industrie setzte ein. Borsig zog es nach Tegel, Schwarzkopff nach Wildau, und auch die AEG schuf neue Produktionsstandorte außerhalb des Stadtzentrums. Nachdem die Fabrik in der Ackerstraße, wo Dynamomaschinen und Elektromotoren gefertigt wurden, zu eng geworden war, bebaute die AEG 1896 in der Weddinger Brunnenstraße ein ganzes Areal für Generatoren und Großmaschinen. Der ganz große Schritt aber folgte mit dem Kabelwerk Oberspree (KWO) in Oberschöneweide, das 1897 die Produktion aufnahm. Auf den weitgehend unbebauten Spreewiesen entstand in den Folgejahren einer der größten zusammenhängenden Industriekomplexe des Kaiserreichs mit mehr als 20 000 Beschäftigten. Hier wurden die elektrischen Kabel, Leitungen und Transistoren gefertigt, die Berlin als Deutschlands wichtigster Standort der Elektroindustrie benötigte. Das Werksgelände vor den Toren Berlins avancierte zur »Elektropolis« – ein Topos, der zunehmend auf ganz Berlin angewandt wurde.

Die AEG war eine moderne Aktiengesellschaft, doch sie wurde von Emil Rathenau im Stile eines Firmenpatriarchen geführt. Er war weniger ein Erfinder als ein erfolgreicher Geschäftsmann, der moderne Technologien wie das Prinzip des Wechselstroms zur Marktreife brachte. Als Emil Rathenau 1915 starb, wurde sein Sarg in einer Fabrikhalle des Kabelwerks aufgebahrt. Ein riesiger Trauerzug führte anschließend über das Werksgelände zum Waldfriedhof Oberschöneweide. Sein Sohn Walther Rathenau war nicht nur Präsident der AEG, sondern zugleich Politiker, Berlin-Liebhaber und Literat. 1899 veröffentlichte Walther Rathenau in Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft anonym einen Aufsatz mit dem Titel »Die schönste Stadt der Welt«. Darin heißt es: »Das königlich preußische findet im kaiserlichen Reichsberlin keinen Platz mehr. Spreeathen ist tot und Spreechicago wächst heran.«17 Walther Rathenau meinte das durchaus positiv und beschwor die Zukunft der Stadt. Für ihn lag sie nicht mehr in den friderizianischen Prachtbauten an der Straße Unter den Linden, sondern in der modernen Industriemetropole, zur der auch die gelben Klinkergebäude der AEG in Oberschöneweide gehörten. Rathenaus Chicago lag buchstäblich an der Spree.

1922 fiel Walther Rathenau als Außenminister der Weimarer Republik einem rechten Mordanschlag zum Opfer.18 Und so wie die junge Republik von einer Krise in die nächste taumelte, brachen auch für die AEG unruhige Zeiten an. Während der Weltwirtschaftskrise rutschte die AEG tief in die roten Zahlen und musste bis 1933 mehr als 40 000 Arbeiter und Angestellte entlassen. Während der Zeit des Nationalsozialismus erholte sich der Konzern durch die Produktion von Rüstungsgütern wie Geschützen, Zündern und Granaten.19 In den Fabriken wurden tausende Zwangsarbeiter ausgebeutet, so auch in den Kabelwerken von Oberschöneweide. Am gegenüberliegenden Ufer der Spree entstand eines der größten Zwangsarbeiterlager Berlins. Hier befindet sich heute das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit.

Nach dem Krieg wurde das Kabelwerk Oberspree wie die anderen AEG-Standorte im sowjetischen Sektor erst in eine Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG), dann in einen volkseigenen Betrieb umgewandelt. Der VEB Kabelwerk Oberspree blieb in den folgenden Jahrzehnten einer der wichtigsten Industriestandorte in Ost-Berlin. Allerdings stammten viele Produktionsanlagen noch aus der Vorkriegszeit. Oberschöneweide firmierte im DDR-Jargon scherzhaft als »Oberschweineöde«. Das KWO war ein typisches Beispiel für die arbeitsextensive Industrieproduktion der DDR, die kontinuierlich auf Verschleiß gefahren wurde. Während in West-Berlin die AEG und die meisten großen Industrieunternehmen ihre Produktion nach der Berlin-Blockade in Richtung Westdeutschland verlagerten und die Inselstadt höchstens als »verlängerte Werkbank« nutzten, lebte in Ost-Berlin die Industriearbeit des Kaiserreichs fort. Nach der Wiedervereinigung kam sowohl für die AEG als auch für das KWO das Aus. Der AEG-Konzern, der bereits 1985 von der Daimler-Benz AG übernommen worden war, wurde 1996 aus dem Handelsregister gestrichen. Die Treuhandanstalt verkaufte das Kabelwerk Oberspree an ein britisches Konsortium, das die Produktion am Standort Oberschöneweide Ende der 1990er-Jahre gänzlich einstellte. Beides steht beispielhaft für die fast vollständige Deindustrialisierung Berlins.

2009 zog die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) auf den Campus Wilhelminenhof in Oberschöneweide. Bezeichnend für den Strukturwandel Berlins ist, dass das alte Industrieareal jetzt als Bildungs- und Forschungseinrichtung genutzt wird. Die HTW beherbergt das Berliner Zentrum für Industriekultur. Dieses befasst sich mit dem architektonischen und kulturellen Erbe des Industriestandorts.20 Ansonsten erinnert heute vor allem eines an die von Arbeit geprägte Geschichte des Kabelwerks: der 1. FC Union, dessen Spielstätte das Stadion An der Alten Försterei in Oberschöneweide ist. Der Berliner Bundesligist kultiviert das Image des Arbeitervereins, der aus der Werkself des KWO hervorgegangen ist. Im Schlachtruf »Eisern Union« erklingt noch die längst vergangene industrielle Zeit, als Berlin das Chicago an der Spree war.

5 — Friedrichshain O17. Das Chicago von Berlin

Das ehemalige Postamt O17 an der Straße der Pariser Kommune. Direkt daneben befindet sich der heutige Ostbahnhof.

In den 1920er-Jahren veränderte sich der Ruf von Chicago. Während der Prohibition stand die windige Stadt am Michigansee nicht mehr nur für ihre Schlachthöfe und Wolkenkratzer, sondern auch für das organisierte Verbrechen der Mafia. Und so, wie der Ruf von Chicago bergab ging, wanderte auch das Chicago an der Spree flussabwärts. Der Vergleich mit Chicago bezog sich nun weniger auf die Industrieareale in Oberschöneweide, als vielmehr auf die dicht bevölkerten Arbeiterviertel im Bezirk Friedrichshain rund um den Schlesischen Bahnhof, den heutigen Ostbahnhof. Gleich neben dem Bahnhofsgebäude lag das Postamt O(st)17, dessen Gebäude bis heute erhalten ist. Der gleichnamige Postzustellbezirk O17 ist dagegen weitgehend vergessen. Das gilt mit Ausnahme von SO 36 in Kreuzberg für die meisten alten Berliner Postzustellbezirke. Nur unter Jugendlichen spielt es heute noch eine Rolle, ob man aus Kreuzberg 61 oder Neukölln 44 kommt. Vor hundert Jahren war das noch ganz anders. Der Postzustellbezirk O17 war berühmt und berüchtigt. Er galt damals als Chiffre für das »dunkle Berlin« und wurde das Chicago von Berlin genannt.

Hier im Berliner Osten hatten kriminelle Ringvereine das Sagen, die nach dem Vorbild der Mafia in Chicago agierten. Die Ringvereine waren syndikatähnliche Zusammenschlüsse (Ringe) von Dieben, Einbrechern, Betrügern, Straßenräubern, Zuhältern, Rauschgifthändlern und Falschspielern, die sich als Spar-, Sport- oder Gesangsvereine tarnten. Wenn ein Mitglied angeklagt wurde, stellte der Ringverein einen Strafverteidiger. Wenn jemand ins Gefängnis wanderte, unterstützte der Ringverein die Angehörigen. Und wenn jemand aus dem Knast zurückkehrte, nahm der Ringverein ihn wieder auf und band ihn erneut in seine dunklen Geschäfte ein. Dies war der Kreislauf der organisierten Kriminalität.