Berlin, Punk, PVC - Gerrit Meijer - E-Book

Berlin, Punk, PVC E-Book

Gerrit Meijer

4,7

Beschreibung

"Gerrit Meijer verkörpert eine Haltung, konsequenter als jede Tätowierung, der längste Irokese oder fünf Tage wach. Jetzt hat der Mann ein Buch geschrieben. Will ich das lesen? Scheisse, und ob ich das lesen will!" Bela B Das Leben von Gerrit Meijer bestimmen zwei Konstanten: Musik – und die Erkenntnis, dass man nie zu alt ist, sich neu zu erfinden. Die Gründung der ersten deutschen Punkband PVC 1977 ist nur der Anfang. Im Schmelztiegel Westberlin steht er mit Iggy Pop auf der Bühne, jammt mit Eff Jott Krüger, pfeift mit White Russia auf den Kalten Krieg, kann sich mit Motörhead nicht anfreunden, probiert es aber mit Marianne Rosenberg. Frei Schnauze erzählt Meijer aus fünf Jahrzehnten erlebter Musikgeschichte.

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Bildnachweis

Soweit nicht anders angegeben, stammen die Fotos aus dem Privatfundus von Gerrit Meijer.

ISBN eBook 978-3-355-50035-7

ISBN Print 978-3-355-01849-4

© 2016 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag,unter Verwendung eines Motivs von Gerrit Meijer

Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Vorwort

von Bela B

Gerrit Meijer hat ein Buch geschrieben. Will ich das lesen?

Ich habe Gerrit nicht oft getroffen in meinem Leben, aber immer, wenn es mal wieder so weit war, hatte ich danach das Gefühl, etwas dazugewonnen zu haben.

Der Mann hat was »Schratiges«, ohne Frage, aber Gespräche mit ihm sind immer intelligent, angenehm, führen allerdings nicht immer zu den angenehmsten Erkenntnissen. Er ist keiner der optimistischsten Menschen, die ich kenne, aber einer der ehrlichsten. Er hat eine klare Sicht auf die Dinge, und nach seiner Meinung gefragt schönt er sie nicht um des lieben Friedens willen.

Als ich das erste Mal von ihm hörte, ging ich noch zur Schule. In den Zeitungen war von diesem neuen Ding aus England die Rede: Punk. Ich war interessiert. Teenager fühlen sich angezogen von gefährlichen Dingen – und Punk machte mir Angst! Punk negierte alles, wollte abstoßend sein, gehasst werden. Halbwüchsige stellten ihre Antihaltung zur Schau. In England, in den USA und, wie ich erstaunt feststellte, auch in Berlin.

1977 öffnete eine Musikkneipe ihre Pforten, die sich Punkhouse nannte und in der BZ mit den Worten warb: »Mach dir ein paar miese Stunden, komm ins Punkhouse!« Das fand ich als junger Piepel natürlich krass.

Die Hausband und erste deutsche Punkband überhaupt kam aus meiner Stadt: PVC, deren Gitarrist Gerrit Meijer war. Zwar nimmt Hamburg auch für sich in Anspruch, Deutschlands erste Punkband hervorgebracht zu haben, aber das kennen wir ja schon von der Currywurst. Wenn es um Streetcredibility geht, hat das wohlhabende Hamburg gegenüber Berlin einen mittleren Komplex, wie es scheint.

Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich PVC persönlich kennenlernte, denn als ich mir das erste Mal die Haare färbte und auf der Suche nach Gleichgesinnten in Bars und auf Konzerte rannte, gab es das Punkhouse nicht mehr und PVC waren ebenfalls Geschichte, vorerst. Eine Geschichte, über die ich übrigens hier endlich mal mehr erfahre.

Es gab bald andere Bands, die wilder erschienen, lauter und bunter daherkamen. Bands begannen, auf Deutsch zu singen, wenn sie etwas zu sagen hatten oder wenigstens so taten. Die Szene wurde größer und vielfältiger, aber PVC waren und blieben die Ersten.

Leider auch die Ersten, die sich auflösten, und das, ohne einen Tonträger aufgenommen zu haben (von einer legendären Vinyl-Scheibe mit Übungsraumaufnahmen in der Auflage von 50 Stück mal abgesehen, die ich aber nur vom Hörensagen kenne und bei deren Erwähnung Gerrit bestimmt die Augen verdreht). Sie waren zu früh dran für die bald boomenden Indielabel.

1979, am Tag von Bill Haleys Tod, wie ich damals irrtümlich annahm, ging ich auf mein erstes Punkkonzert und sah dort, neben DINA Testbild und Tempo, eine fiese Band namens White Russia. Fies besonders deshalb, weil der Gitarrensound dünn und schneidend gegen jedes Wohlgefühl ansägte, das man sonst von Rockkonzerten her gewohnt war. Ihr Gitarrist war Gerrit, und er erinnerte mit seiner Frisur an Henry Spencer, die Hauptfigur aus David Lynchs erstem, extrem verstörendem Film Eraserhead.

Ich spielte fortan selbst in verschiedenen Punkbands und machte zufällig ein bisschen Karriere. Nach dem selbstgefälligen Ende meiner Band 1988 war ich voller Tatendrang und suchte nach neuen musikalischen Herausforderungen. Ich hörte von der Wiedervereinigung von PVC und entwickelte die Idee, mit ihnen gemeinsam meine Lieblingssingle Pogo Dancing von Chris Spedding & The Vibrators neu zu interpretieren. Damit PVC auch was davon hatten, nahmen wir gleich noch Wall City Rock, eines ihrer bekanntesten Stücke, gemeinsam auf.

In einem der Songs gab es ein Solo von Gerrit, das mir gut gefiel, aber leider völlig übersteuert war. Als ich Gerrit darum bat, es noch einmal so zu spielen, schaute er mich an und sagte: »Bist du irre? Ich weiß doch nicht mehr, was ich da eben gemacht hab!« Yeah – in dem einen Satz war der essenzielle Unterschied zwischen Musikestablishment und Punkrock enthalten. Dem war nichts hinzuzufügen, und wir nahmen die Aufnahme so, wie sie war.

Für eine Dokumentation über das SO36, Berlins bekannteste Live-Location für Punk- und artverwandte Konzerte, in der es um eine drohende Schließung der Halle ging, wurde neben mir und vielen anderen Berliner Musikern auch Gerrit interviewt. Während sich alle Musiker, inklusive mir, in Wut und Trauer übertrafen, ätzte Gerrit nur ein »Endlich macht der Scheißladen dicht!« in die Kamera. Damit hat er sich nicht viele Freunde gemacht, aber insgeheim bewunderte ich ihn für seine Ehrlichkeit und seinen Mut, obwohl er selbst das sicher nicht als mutig empfand.

Wir hielten über Jahre lockeren Kontakt. Er rief mich an, als er ein seltsames Schlagerprojekt plante, das vor ätzendem Sarkasmus nur so triefte und zu dem ich ihm sagen musste, dass es die Leute wohl eher abstoßen als dass es ein Hit werden würde. Gerrit antwortete mit seinem schiefen Grinsen: »Bela, gute Musik, das ist bei Büchern und Filmen genauso, muss weh tun, sonst hat sie keinen Sinn.«

Da war sie wieder, diese Haltung, konsequenter als jede Tätowierung, der längste Irokese oder fünf Tage wach!

Und jetzt hat der Mann ein Buch geschrieben. Um auf meine eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Will ich das lesen? SCHEISSE, UNDOBICHDASLESENWILL! Ich mach mir ein paar miese Stunden und werde jede Sekunde davon genießen.

1

Zwischen Trümmern und Twist

Winter 1946/47, Berlin-Neukölln, der Kalte Krieg ist angebrochen. Es herrscht noch immer Mangel, aber die Weichen sind dank Care-Paketen und unermüdlichem Fleiß auf Restaurierung gestellt. Der viele Schnee tut der Trümmerstadt gut, verdeckt er doch die noch frischen Narben der schlimmen Jahre und rückt die Gegenwart in ein freundlicheres Licht. Am 12. März 1947 mische ich mich ins Weltgeschehen ein – in ein recht beschauliches, kleines.

Meine Welt umfasst zunächst nur dreihundert Meter Mainzer Straße, zwischen Flughafen und Boddinstraße. Das Leben spielt sich je nach Alter und Geschlecht zwischen Arbeit, Haushalt, Schule und Spielplatz ab. Die Freuden des Daseins sind eher bescheidener Art. Für die Männer: Fußball, Skat und Kneipe. Für die Frauen: Familie, Stricken und Small-Talk mit der Nachbarin. Da viele Männer im Krieg gefallen sind, gibt es etliche Mütter, die ihre Sprösslinge unter schwierigsten Bedingungen durchbringen müssen. Viele Kinder leiden unter Kinderlähmung. Auch in unserem Haus wohnt ein Junge, Rudi Geist, den dieses böse Schicksal ereilt hat. Später wird er einer meiner besten Freunde, der durch absoluten Scharfsinn besticht, was mich sehr beeindruckt.

Bis 1949 sind meine Eltern und ich staatenlos, da mein Vater – ein Holländer – gezwungen wurde, während des Zweiten Weltkriegs für die deutsche Wehrmacht zu arbeiten. Dies und sein Nonkonformismus brachten ihm sechs Wochen Haft im Konzentrationslager Oranienburg ein. Nach dem Krieg bekam er für seine »Kollaboration« mit den Deutschen von der holländischen Regierung die Quittung. Durch das Absitzen einer einjährigen Haftstrafe gab man ihm die Chance, die holländische Staatsangehörigkeit »zurückzugewinnen«. 1953 nahm er die deutsche an.

Gerrit Meijer sen., mein 1919 geborener Vater, ist ein bisschen verrückt und springt schon mal im Sonntagsanzug für einen Kasten Bier in den Landwehrkanal. Auf jede Art von Ungerechtigkeit reagiert er allergisch und holt auch mal aus, selbst wenn es gar nicht seine Person betrifft. Seine Devise lautet »leben und leben lassen«. Wenn er in Stimmung ist, spielt er Mundharmonika. Und das sehr gut. Aber leider sagt ihm das Trinken noch mehr zu.

Meine Mutter Gertrud, geboren 1908, war in erster Ehe mit einem durchgeknallten Schneider verheiratet, der schon Anfang der 30er Jahre durch silberne Schuhe und extravagante Kleidung auffiel. Dieser Ehe entstammt mein 1930 geborener Bruder Lothar. Er hat so gar nichts von seinem Erzeuger, ist schüchtern und hat nie etwas mit Mädchen zu tun. Sein extrem junges Aussehen führt dazu, dass er, auf der Straße rauchend, noch mit zwanzig Jahren manchmal von Polizisten nach seinem Ausweis gefragt wird.

Meist zu Weihnachten spielt meine Mutter Klavier. Der eigentliche musikalische Crack in unserer Familie ist aber ohne Zweifel Onkel Walter. Violine, Klavier und Akkordeon beherrscht er gleichermaßen gut. Klassik ist seine Domäne. Musik ist also von Anfang an in diversen Spielarten in meiner Familie präsent.

Die Abende gehören dem Radio. Sehr beliebt sind die Schlager der Woche und die Krimiserie Es geschah in Berlin. Der Insulaner aber, eine kabarettistische Sendung, ist der absolute Straßenfeger. Gerade in der Zeit nach der Blockade, frei nach dem Motto »Westberlin bleibt amerikanisch«. Die Halbstarken wandeln im Stadtjargon das Wort »amerikanisch« in »kanisch« ab. Somit ist ein »kaner« zwar nicht gleich ein Amerikaner, aber ein cooler Typ, der dem des »Amis« – für uns höchste Stufe des Menschseins – ziemlich nahekommt.

Zu den populären Schlagern jener Zeit gehört das bemerkenswert infantile Tschiou, Tschiou, ein Lied, das sogar ich als Dreijähriger beherrsche und mit Inbrunst in der U-Bahn zum Besten gebe, zum Vergnügen der Fahrgäste und meiner Eltern.

Gerrit Meijer junior und senior, 1952

1953 tritt zum ersten Mal der sogenannte Ernst des Lebens, den ich nie verstanden habe und den ich auch nie verstehen werde, in Form der Einschulung an mich heran. Bei dieser Gelegenheit lerne ich nicht nur meinen richtigen Vornamen kennen – bisher rief man mich nur »Gerti« –, sondern mir werden auch noch meine fast bis zu den Schultern hängenden Locken auf allgemein gültiges Schulmaß gestutzt.

Zeitweise sind wir neunundvierzig Kinder in der Klasse. Unsere Klassenlehrerin macht eines Tages dadurch Furore, dass sie keinen Büstenhalter trägt, was unter unseren Müttern dauerhaft für Gesprächsstoff sorgt. Nur wenige Jahre zuvor hatte der offen zur Schau gestellte Busen von Hildegard Knef im Film Die Sünderin zu einer landesweiten Kontroverse geführt. Später setzt Marion Michael mit dem Film Liane, das Mädchen aus dem Urwald noch einen drauf. Bei uns Vorpubertären avanciert der Streifen zu Liane, das Mädchen mit dem Urwald. Wir wissen ja schließlich Bescheid, ficken und so. Dieses von Vermutungen und Gerüchten umwitterte Abenteuer habe ich bereits hinter mir. In einem dunklen Hausflur in der Hermannstraße präsentierten mein Kumpel Klaus und ich uns gegenseitig und ganz schnell die »Schniepel«. Danach setzte große Ernüchterung ein. Das sollte es nun sein? Deshalb musste man achtzehn Jahre alt sein, um in einem »Sittenfilm« Einlass zu bekommen? Dann doch lieber Comics und Groschenromane. Ein Privileg, das mir sehr zupass kommt, ist die Tatsache, dass mein Vater als Fernfahrer jede Menge Schokolade von A nach B befördert. Das führt dazu, dass Schokolade bei uns zu Hause wie Brot gegessen wird. Manchmal für jeden von uns drei Tafeln am Tag.

Für uns Kinder ist Berlin ein einziger Abenteuerspielplatz. Neukölln ist zwar nicht so zerstört wie andere Stadtteile, aber einzelne Ruinen finden sich auch in unserer Umgebung. In diesen Hinterlassenschaften des Krieges bestehen wir in unserer Fantasie so manche Abenteuer. Unter den Trümmern lässt sich noch das ein oder andere Exponat der Zeit des Nationalsozialismus finden. Mein Freund Talcher aber hat sich auf etwas ganz anderes spezialisiert: Er ist ein Experte im Auffinden der größten Kellerasseln, die das Geröll hergibt. Gesammelt in Flaschen schleppt er das Getier zum Entsetzen seiner Großmutter stets nach Hause.

Wenn wir uns nicht zwischen den Trümmern aufhalten, durchstreifen wir den Jahnpark. Dabei erfahre ich die neuesten Geschichten aus den Utopia-Heften. Zwingelberg am Zickenplatz, eigentlich Hohenstaufenplatz, verscherbelt nicht nur Science-Fiction-Hefte, Comics und Groschenromane, sondern auch Bückware wie nationalsozialistische Literatur – Waffen-SS im Einsatz, Der Heldenkampf um Narvik und Ähnliches –, Sittenromane und pornografische Fotos. Der Austausch zwischen Kunde und Ladenbesitzer läuft in konspirativer Form ab: Hinter vorgehaltener Hand erkundigt sich der Interessent nach neuer Ware. Im Falle der Pornofotos reicht Zwingelberg dem Geifernden einen Umschlag mit der aktuellen Sendung. Hat der Kunde seine Auswahl getroffen, muss er pro Foto fünfzig Pfennig abdrücken. Für das schwule Publikum hält Zwingelberg Körperkulturmagazine parat – Die Insel und Der Weg, die ganz offiziell gehandelt werden.

Ewig in Erinnerung bleibt mir der Winter 1954/55 – acht Wochen lang tagsüber minus fünfzehn und nachts minus fünfundzwanzig Grad. Die jahreszeitbedingten Spiele finden trotzdem statt. Morgens sind die Wohnungen völlig ausgekühlt. Nur die wenigsten haben eine Zentralheizung. Da heißt es jeden Tag nach dem Aufstehen erst mal ein bis zwei Stunden die Zähne zusammenbeißen, bis die Hütte warm ist.

Durch das neuerdings in den Haushalten aufkommende Taschengeld können sich die Teenager allerlei modische Accessoires leisten. Als da wären: Petticoats, Hula-Hoop-Reifen und Schallplatten. Mein Bruder, inzwischen Bauarbeiter, schafft sich eine Musiktruhe an. Außer dem Plattenspieler bietet diese auch genügend Platz, um fünfzig Schellackplatten geordnet unterzubringen. In null Komma nichts ist das Ding voll, so dass nach 1956 quasi keine Schallplatten mehr dazukommen. Der letzte Neuzugang ist eine Bill-Haley-Scheibe, wodurch der Bestand an Hörbarem auf vier Platten (1 x Glenn Miller, 1 x Lionel Hampton und 2 x Bill Haley) erweitert wird.

Sonntagnachmittag ist ohne Wenn und Aber Kinozeit! Die Jugendvorstellung beginnt um dreizehn Uhr dreißig, Eintritt: fünfzig Pfennig. Im Falle eines 3D-Filmes siebzig Pfennig. Was wir zu sehen bekommen, sind meist amerikanische Schundfilme, die im Cowboy-, Science-Fiction-, Kriegs- und Rittermilieu spielen. Erscheint der Held auf der Leinwand, geraten wir Kinder in Ekstase und brüllen: »Der Jute kommt, der Jute!« Bei den ersten Rock’n’Roll-Filmen gelten Regeln, die von den Halbstarken aufgestellt wurden. Bei Außer Rand und Band / Rock Around the Clock mit Bill Haley wird aus lauter Begeisterung das ein oder andere Kino zerlegt. Ich selbst erlebe eine relativ harmlose Vorstellung. Lediglich getreten und geschubst – immer uff die Kleenen –, finde ich einen Platz und wundere mich über das Yeeaaaaaahh-Gebrülle des sechzehn- bis zwanzigjährigen Publikums. Den ersten Elvis-Presley-Film Pulverdampf und heiße Lieder / Love Me Tender sehe ich zusammen mit meiner Mutter. Niemand rastet aus, da die musikalischen Einlagen völlig konventionell sind. Der zweite Film, Gold aus heißer Kehle / Loving You, haut da schon mehr rein. Als Presley eine Saite reißt, wird es offenkundig: Er ist der Härteste. Er sieht am besten aus. Er ist der »King«.

Das Statussymbol der Halbstarken jener Jahre ist das Moped: Kreidler oder Zündapp. Die Nietenhose – Levi’s oder Lee –, ein steiler Zahn auf dem Sozius und eine Heule, also ein Kofferradio, machen das Glück komplett. Nicht wenige der Halbstarken haben eine »Ische im Osten«, also eine Freundin in Ostberlin. Das Raushängen des Mackers fällt beim Wechselkurs von acht Ostmark für eine Westmark natürlich besonders leicht. Sehr beliebt ist es auch, die Silvesterknaller in Friedrichshain oder Treptow zu erstehen. Überhaupt ist das Pendeln zwischen den ideologischen Welten in Berlin eine ganz alltägliche Angelegenheit. Auch wir sind öfter »drüben« zu Gast, bei Tante Luzie und Onkel Walter in der Boxhagener Straße. Unsere Verwandtschaft haust dort in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Ehebett und Klavier, so dass kaum noch Raum zum Atmen bleibt. Beim Kaffee wird geflissentlich darauf hingewiesen, dass dieser aus dem Westen stammt. Ohnehin sind Tante und Onkel bemüht, uns verwöhnten Westlern den Aufenthalt so gemütlich wie möglich zu gestalten. Wenn es politisch wird, werden die Köpfe zusammengesteckt, und man unterhält sich im Flüsterton, damit »der nebenan«, ein Hundertfünfzig-Prozentiger, SED-Mitglied, nichts mitbekommt.

Bei uns in der Mainzer Straße wohnt übrigens auch »so einer«. Eine Unperson, ein SEW-Bonze, Mitglied des Westberliner Pendants zur DDR-Einheitspartei. Keiner spricht mit ihm. Wir fragen uns, wie »der« sich wohl ernährt. Klebt er sich einen Bart an oder verkleidet er sich, wenn er »einholen« geht?

Ansonsten bringt das Leben zwischen Ost und West einige Vorteile mit sich, zum Beispiel das DDR-Fernsehen. Dadurch hat man in Berlin zwei Sender zur Verfügung, Ost und West. Sehr beliebt bei den Schulkindern ist der Mittagsfilm, der immer werktags von Montag bis Freitag um halb zwei im DDR-Fernsehen läuft. Auf diese Weise lerne ich ab 1958 eine Menge Filme kennen, die von den Freuden und den Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus künden.

Leider ist durch den Fernseher das Radio völlig ins Hintertreffen geraten. Das Einzige, was noch interessant erscheint, ist Frolic At Five auf AFN, dem amerikanischen Soldatensender. Denn nur hier wird einem der Rock’n’Roll wirklich nähergebracht. Da kann der RIAS mit Schlager der Woche nicht mithalten. Seitdem Elvis, Gene Vincent und Chuck Berry mein Leben bereichern, hat sich ohnehin einiges verändert. Ich versuche, das Winseln, Heulen und Gurgeln meiner Idole nachzuahmen. Das führt dazu, dass meine Kumpels stets möchten, dass ich ihnen »den Elvis« mache. Dazu muss in der Regel der Refrain von All Shook Up herhalten. Da man durch den Schluckauf-Gesang die Worte sowieso kaum verstehen kann, funktioniert es. Zum Intensivieren meiner Gesangskünste gehe ich manchmal früher schlafen, um unter der Bettdecke lauthals – eher leisehals – zu üben.

Nach Frolic At Five findet man mich immer öfter auf dem Spielplatz, auf dem die Halbstarken, alle fünf, sechs Jahre älter als ich, ihre Singles mit einem tragbaren Plattenspieler abdudeln, dem Philips Mignon, der einer Muschel gleicht. Die jeweilige Platte wird in einen Schlitz geschoben, abgespielt und von der Muschel wie ein unerwünschter Fremdkörper wieder ausgespien. Untereinander nennen sie sich beispielsweise Ete, Keule, Boogie, Jimmi oder Ratte. Die Ischen jedoch werden mit ihren angestammten Namen angesprochen. Es tut mir gut, dass ich als kleener Piepel in diesem Kreis geduldet bin.

Im Sommer 1958 fahren wir das erste Mal zu meinen Verwandten nach Holland. Die Niederlande entpuppen sich als eine Art »Klein-Amerika«. Dort gibt es jeden Tag Erdnussbutter, einfach so. Bei uns ist das Zeug schweineteuer und nur im Reformhaus erhältlich. Der Tagesrhythmus ist in Holland ein völlig anderer. Man geht später zur Arbeit und vor allen Dingen wesentlich später schlafen. Onkel Bramme ist so »kanisch«, wie man es sich nur wünschen kann. Sein Soldat-Sein hat so gar nichts Preußisches an sich. Er balanciert die Mütze irgendwie auf dem Hinterkopf, der Schlipsknoten sitzt locker, und am Handgelenk baumelt eine silberne Kette, die seinen Namen trägt. Und wie er sich bewegt! Einfach unglaublich! Mein Cousin Henky ist auch ein cooler Typ. Siebzehn Jahre alt, langhaarig – jedenfalls für damalige Verhältnisse –, stark Rock’n’Roll-lastig und mädchenfixiert, stellt er das dar, was ich gerne sein möchte.

Der Skandal des Jahres bahnt sich auch bald an. Zum ersten Mal kommt ein echter Rock’n’Roller nach Berlin, noch dazu der Urvater der Bewegung. Bill Haley and his Comets sind für ein Konzert im Sportpalast angekündigt. Kurt Edelhagen und sein Orchester bestreiten das Vorprogramm. Schon deshalb muss man sich fragen: Haben die Kids den Sportpalast aus Ärger über Edelhagen oder aus Freude über Haley demontiert? Das Geschrei in der Presse ist jedenfalls groß. Der Osten lässt es sich ebenfalls nicht nehmen, einen Beitrag zu diesem Thema beizusteuern. In dem Song Bill Haley Rock’n’Roll, von Gerry Wolff vorgetragen, wird Haley als eine Art Rattenfänger des amerikanischen Imperialismus dargestellt, der die Teenager durch kulturelle Verrohung für den dritten Weltkrieg scharfmachen soll.

Langsam macht sich die Pubertät bemerkbar. Dieter Ramm, ein Schulfreund, wird als Erster von Schambehaarung befallen. Eines Nachts habe ich meinen ersten Abgang, der mir äußerst peinlich ist. Was stellt diese Tücke des Schicksals dar? Völlig ratlos wende ich mich vertrauensvoll an meinen besten Freund. Dieser bestätigt mir glücklicherweise, dass es bei ihm und, soweit er erfahren habe, bei anderen in unserem Alter auch nicht anders sei. Ich bin erleichtert! Zum Glück spricht mich meine Mutter nie darauf an.

Im April 1959 fordert meine Faulheit in der Schule endgültig ihren Tribut. Ich bleibe sitzen und muss die sechste Klasse wiederholen. Im Herbst des gleichen Jahres werden fünfzig Kids, zu denen auch ich gehöre, zum Zunehmen in den Odenwald verschickt. Dort werden wir mit Dampfnudeln und Haferschleim gemästet und nehmen an herrlichen Ausflügen teil. Wieder in Berlin, zeigt mir das Halbjahreszeugnis unmissverständlich: Meijer, du musst dich zusammenreißen, sonst bleibst du wieder hängen. Mit Ach und Krach geht es dann im April 1960 auf die Kurt-Löwenstein-Schule. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bildet sich eine recht gut funktionierende Klassengemeinschaft heraus. Die Lehrer sind moderat. Vielleicht hat das mit der Tatsache zu tun, dass die Schule – ein Neubau von 1955 – durch ihre offene Bauweise auf das allgemeine Klima abfärbt. Da ist zum Beispiel die Zeichenlehrerin, die gähnend langweilige Geschichten von einem gewissen Tipango vorliest. Einmal – während eines Lichtbildvortrags von ihrem Urlaub – wird es richtig lebhaft, schleicht sich doch zwischen Boote, Palmen und Côte d’Azur ein fast pornografisches Bild ein, auf dem jemand unserer Lehrerin von hinten voll an die Titten packt. Sie meistert die Situation aber ganz souverän, indem sie sagt: »Wir waren alle schon etwas beschwipst.«

Überhaupt rückt das weibliche Geschlecht bei uns Jungen immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Die meisten Mädchen sind noch recht kurvenlos, da taucht eines Tages eine Neue auf, die uns völlig umhaut. Mit so viel Holz vor der Hütte schlägt sie alle anderen um Längen – aber wie daran partizipieren? Wir inszenieren Drängeleien, die die Chance bieten, aus Versehen zuzugrabschen. Der Twist, der groß in Mode ist, bietet leider gar keine Möglichkeit, auf Tuchfühlung zu gehen. Aber abgesehen davon sind wir alle große Verfechter dieses albernen Veitstanzes.

Nach der ersten Klassenfete – damals ein absolutes Novum – im April 1961 leiste ich mir meine erste Single: Little Richard mit Long Tall Sally / Tutti Frutti. Die vier Mark dafür sind schnell beisammen. Da mein Vater neuerdings auch Getränke transportiert, haben wir stets Unmengen Herva mit Mosel zu Hause. Die Gleichung ist einfach: zwanzig leere Flaschen à zwanzig Pfennig Pfand gleich eine Single. Der arme Getränkehändler um die Ecke wundert sich, woher all dieses Leergut kommt, sieht er mich doch nie auch nur ein Getränk bei ihm kaufen. Herva mit Mosel zerreißt mir fast die Magenwände, aber leer müssen die Flaschen nun mal sein. Nach einer Weile kippe ich das Gesöff einfach ins Klo. Aber das bringt auch nicht mehr viel, da der gute Mann eines Tages diesen für ihn unlukrativen Handel durch ein Ladenverbot für mich beendet. Mir ist klar, dass es nicht ewig so hätte weitergehen können. Aber immerhin sprangen sieben Singles dabei heraus.

Die »Boys« mit (v. l. n. r.) Jürgen, Henry, Rainer, Ingo und Gerrit, Februar 1962

In jenen Jahren – Anfang der 60er – ist der Rock’n’Roll so gut wie tot. Dauernd werden irgendwelche Tänze wie der Locomotion, der Madison oder der Shake kreiert. Aber wie das so ist, wendet man sich als jugendliches Herdentier eben den neuen Idolen zu, als da wären Del Shannon, Johnny Tillotson oder Dion DiMucci. Die Twisthose wird dabei zum obligatorischen Kleidungsstück. Dazu trägt man – dem letzten Schrei entsprechend – ein Monaco-Hemd. Die hippe Clique in unserer Klasse – fünf »Boys«, zu denen auch ich gehöre – grüßt sich grundsätzlich mit dem Nachnamen. »Hallo Müller! Hallo Meijer! Hallo Schulze!« Dabei hebt man den rechten Arm leicht und streckt Zeige- und Mittelfinger. Das ist cool, das ist hip.

Die harten, sprich die alten Scheiben von Leuten wie Jerry Lee Lewis oder Eddie Cochran bekommt man nur noch nach langem Suchen in Secondhandläden, wenn überhaupt. Ein besonderer Kult entwickelt sich um Bop-A-Lena von Ronnie Self. Diesen Klopper gibt es als Single aber nur in Österreich, so dass jeder Eingeweihte, der mit seinen Eltern in den Ferien dorthin fährt, bekniet wird, ein Exemplar für den Eigenbedarf mitzubringen. Das Mitbringen für andere funktioniert aber nie, weil jeder zufällig immer das letzte Exemplar für sich erwischt hat.

Der Mauerbau am 13. August 1961 sorgt für große Aufregung. Mein Freund Makowski und ich befinden uns gerade auf einem Campingplatz in Gatow. Wir sind dort beinahe die Einzigen, denn der Sommer ist sehr verregnet. Wie üblich läuft das Kofferradio. Plötzlich kommt eine Meldung über die Abriegelung Westberlins. Wir halten das für eine Blockade und fahren zurück nach Neukölln, um zu erfahren, was los ist. Nach einer kurzen Visite bei den Eltern gehen wir zur Sektorengrenze an der Lohmühlenbrücke. Dort haben sich nicht nur viele Schaulustige postiert, sondern auch drei amerikanische M48-Panzer, wie mein fachkundiges Auge sofort feststellt. Alle sind gerührt ob der blumenübersäten Tanks unserer amerikanischen Freunde. Man radebrecht mit den Yankees und ist mächtig stolz darauf, Teil der westlichen Welt zu sein. Danach fahren wir wieder nach Gatow, um uns in dem viel zu kurzen Zelt weiter den Arsch abzufrieren.

In der Folge des Ereignisses wird ein S-Bahn-Boykott auf freiwilliger Basis ausgerufen, der auch mit großem Engagement befolgt wird. Da es fast unmöglich ist, von der Innenstadt ohne S-Bahn zum Strandbad Wannsee zu kommen, wird für einige Jahre die Buslinie A66 parallel zur Bahntrasse eingerichtet. Das ständige Demolieren der S-Bahn durch überzeugte kalte Krieger wird von der SED-Propaganda reichlich ausgeschlachtet. Tatsache aber ist, dass alle Schäden, die auf West-Territorium angerichtet werden, aufgrund eines Abkommens mit der Reichsbahn vom Westberliner Senat bezahlt werden müssen. Von Jahr zu Jahr lässt der Enthusiasmus am Boykott nach. Letztendlich ist die kürzeste Strecke nun mal die attraktivste. Ende der 60er Jahre läuft alles wieder in normalen Bahnen.

1962 bekomme ich – wie alle Ungetauften – die Jugendweihe. In der Deutschen Oper wird das steife Ritual zelebriert. Ein Chor singt, ein Sprecher rezitiert irgendeinen pathetischen Quatsch, und der Schauspieler Willi Rose hält einen Monolog über Prometheus. Ich muss mir das Lachen verkneifen, weil im Gegenlicht auf der Bühne seine feuchte Aussprache überdeutlich zu sehen ist. In Gedanken bin ich bei den hundertsechzig Mark, die ich zu diesem feierlichen Anlass bekommen habe. Davon leiste ich mir mein erstes Kofferradio, eine Nicolette von Philips. Gerade im richtigen Augenblick, denn Radio Luxemburg und BFBS, der britische Soldatensender, kommen langsam in Mode. Durch diese zwei Sender machen wir Bekanntschaft mit englischen Popgrößen wie Cliff Richard, Billy Fury, Adam Faith und all den anderen.

Wie schon erwähnt, steigt das Interesse am anderen Geschlecht zusehends. Ständig ist man verliebt und schwärmt von Petra oder Karin. In der Vorstellungswelt der Betroffenen spielt sich da schon einiges ab. Der Ernstfall lässt aber noch auf sich warten. Die Hemmschwelle zwischen Theorie und Praxis überschreiten erstmals Regine und Peter. Als wir, die vom Religionsunterricht Befreiten, uns mal wieder in der Freistunde bei Regine einfinden wollen, öffnet uns auch nach mehrmaligem Klingeln niemand die Tür. Ein Blick durch den Briefschlitz schafft Gewissheit: Im Flur hängt die Jacke von Peter.

Da es langsam Zeit für die Berufsfindung wird, muss unsere Klasse ein zweiwöchiges Praktikum auf einem sogenannten Bauhof in Britz ableisten. Einen Tag beim Maurer, einen beim Maler, zwei beim Tischler und zwei beim Elektriker. Den Rest der Zeit verbringen wir mit Schlossertätigkeiten. Verteilt werden folgende Bewertungen: b.a. – besonders anstellig, a. – anstellig und w.a. – wenig anstellig. Danach bin ich genauso schlau wie vorher, da mir für alle Tätigkeiten das a. gegeben worden ist. Dieser Abstecher in die Arbeitswelt hat mich eigentlich nur abgetörnt. Selbst mein Klassenlehrer ist davon überzeugt, dass eine kreative oder musische Beschäftigung eher zu mir passt als eine Ausbildung im Handwerk. Meine Mutter kann er davon überzeugen, mein Vater jedoch will mich partout als Facharbeiter sehen.

Neukölln bekommt derweil eine Eisbahn, die nicht nur dem Pirouettendrehen dient, sondern auch zum Umschlagplatz für allerlei Kiez-Neuigkeiten wird. Man muss dort einfach abhängen, sonst ist man außen vor. Eines Abends lerne ich Bernd Richtsteiger kennen. Er hat mit zweiundzwanzig Jahren schon über sechshundert Singles! Mickie, wie er sich nennt, lädt mich zu sich nach Hause ein. Wie ich feststellen muss, existiert diese enorme Sammlung tatsächlich, noch dazu in tadellosem Zustand. Eine Wandergitarre besitzt er auch. Und selbst einen Akkord, das E, kann er schon. In meiner Klasse gibt es einen Mitschüler, der sogar noch mehr drauf hat: Dieter Hesse. An einem unserer letzten Schultage gibt er ein klasseninternes Konzert. Die Mädchen fallen zwar nicht gerade in Ohnmacht, aber immerhin: Er kann spielen, ich nicht!

Kurz vor Ende der Schulzeit habe ich dank Peter Labuhn, einem Freund aus dem Jugendheim, das Vergnügen, erstmals eine Band live zu erleben. In der Evi-Bar gastieren Drafi Deutscher and his Magics. Die Gruppe drängelt sich in einem ausgeräumten Separee, Drafi steht aus Platzgründen vor seinen Kollegen und schmettert allerlei Favoriten. Ich bin hin und weg, der Typ ist einfach super. Noch stärker jedoch zieht mich Karin in ihren Bann. So wundert es nicht, dass ich unserer Schulabschlussparty ungeduldig entgegenfiebere. Unsere Clique beschließt, in weißen Hemden, Jeans und spitzen Schuhen zu erscheinen. Die Mädchen bekommen Wind davon und wenden sich an unseren Klassenlehrer, um das bevorstehende Unheil abzuwenden. Ihre Vorstellungen gehen eher in eine seriöse Richtung: Kostüme und Anzüge. Zähneknirschend akzeptieren wir. Karin ist den ganzen Abend über sehr nett zu mir, wir gehen sogar beim Blues auf Tuchfühlung. Das junge Blut kommt mächtig in Wallung, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass sie, nachdem die Fete beendet ist, von ihrem Freund abgeholt wird. Ich bin am Boden zerstört. Die Aussicht auf die Lehre hellt meine Stimmung auch nicht gerade auf.

Schul-Abschlussfeier im März 1962 – es wird getwistet

2

Malochen vs. Beatmusik

… halb sechs, an einem Montag im April. Der Wecker klingelt – meine Mutter ruft: »Junge, du musst raus!«

Ach ja, richtig, heute beginnt die Lehre. Vierzig Minuten Fahrt mit der zugigen Straßenbahn 47, bis Stubenrauchstraße, dort angekommen zwanzig Minuten Fußweg bis zur – wie sich herausstellen wird – Hochburg des Schwachsinns, der Intoleranz und des Kriechertums.

Schon diese Leute … Kommt man fünf Minuten zu spät, also kurz nach sieben Uhr, wird man mit »Mahlzeit« begrüßt. Der Lehrausbilder, eine Kreatur ohne jegliche pädagogische Fähigkeiten, wird von allen »Sense« genannt. Sein Temperament gleicht dem einer gelähmten Blindschleiche. Sensationell: die Art, wie er raucht. Wenn der Qualm aus seinem Mund aufsteigt – von auspusten kann keine Rede sein –, hat man das Gefühl, dass er überhaupt nicht atmet, weder ein noch aus. Auch einmalig: der Typ aus dem Schablonenbau. Sockenhalterträger, der, weil Präzision gewöhnt, jeden, aber auch jeden Morgen die Bank vor seinem Spind um drei Millimeter neu justiert. Ein anderer, dessen Haartracht der Länge eines Dreitagebartes entspricht, cremt sich minutenlang die Haare mit Wellaform ein, damit sie besser liegen.

Viele dieser Experten arbeiten in Zwölf-Stunden-Schichten – »Wat soll ick zu Hause, da jeet mir die Olle sowieso nur uff’n Sack« – und bedienen drei Maschinen gleichzeitig. Einige schaffen sogar sechzehn Stunden, ohne Quatsch! Da kommt man natürlich auf sein Geld, noch dazu im Akkord. Haste wat, biste wat! Jenau!

Um nicht mit diesen Patienten auf eine Stufe gestellt zu werden, gewöhne ich mir an, morgens auf dem Weg zur Arbeit meine Utensilien in einer Plastiktüte mitzuführen, nicht wie allgemein üblich in einer Aktentasche. Dadurch genieße ich das Privileg, in öffentlichen Verkehrsmitteln eher für einen Penner gehalten zu werden, was mir in jedem Fall lieber ist.

Mit unserem »Herrn Lehrausbilder« gerate ich aufgrund eines Zeitungsausschnittes, den ich aus Versehen im Berichtsheft habe liegen lassen, schon nach kurzer Zeit aneinander. In besagtem Artikel dreht es sich um Heinz – eigentlich Heinz Burt –, einen Deutschen, der in England Furore gemacht hat. The Tornados landeten mit ihm als Bassisten den Welthit Telestar. Als Solokünstler schaffte Heinz im Sommer 1963 die Nummer fünf in den englischen Charts, mit einer Hommage an Eddie Cochran: Just Like Eddie. Daraufhin folgte ein Bericht in der BZ, den ich ausgeschnitten habe, um ihn meinen Lehrlingskollegen zu zeigen. Auf diesen Zeitungsausschnitt hin fühlt sich Sense bemüßigt, mir eine Moralpredigt zu halten, die in der äußerst originellen Behauptung gipfelt: »Meijer, du hast nur deine Schlagerbubis im Kopf!« Dazu muss man wissen, dass ihm mein Umgang mit dem Berichtsheft sowieso nicht passt. Immer wenn wir dieses nach Prüfung von ihm zurückbekommen, stecke ich im Gegensatz zu den anderen Lehrlingen das Heft ungesehen sofort in die Plastiktüte. Auf die Zensur-Nachfrage »Wat hattan dir jejeben?« entgegne ich folgerichtig jedes Mal: »Weß ick nich!«

In der Berufsschule stehe ich auch bald auf dem Index. Ein neuer Lehrer fordert jeden nach Namensnennung auf, sich zu erheben, damit er weiß, um wen es sich handelt. Seine Frage zu meiner Person, ob sich denn mein Friseur den Arm gebrochen habe, beantworte ich ohne Zögern mit ja. Durch diese Entgegnung sinkt mein Stellenwert bei ihm auf null. Ein Kollege von ihm zeigt uns die subversive Wirkung der Beatmusik auf, indem er wie ein Bekloppter mit dem Lineal auf dem Lehrerpodest rumhackt. Sichtlich beeindruckt folgen wir seinen weiteren Ausführungen, die darin gipfeln, dass er ernsthaft behauptet, dass auch heute noch jedes Mädchen davon träumt, im weißen Kleid den Wiener Walzer zu tanzen.

Im ersten Lehrjahr wird gefeilt, was das Zeug hält. Zuerst ein Würfel, dann ein Hammer. Zum Schluss als Krönung ein Parallelanreißer. Auf den man, nach Fertigstellung, auch noch besonders stolz sein soll. Ausgerechnet über meinem Schraubstock hängt die Werkstattuhr. Nach hundertzwanzig Feileinheiten ist glatt eine Minute vergangen. Da kommt im Laufe von acht Stunden einiges zusammen. Man wird völlig meschugge in der Birne, so dass jede andere Tätigkeit, und sei sie noch so blöd oder stumpfsinnig, zu einer Erlösung wird. Wir freuen uns, wenn wir zum Beispiel mit einer Drahtbürste körbeweise alte Schrauben entrosten dürfen. Jeder sieht zwar hinterher aus wie eine Mistsau, hat kiloweise Roststaub eingeatmet, aber – und das ist entscheidend – man brauchte nicht feilen.

Einfühlungsvermögen oder gar Verständnis sind Begriffe, die hier keine Gültigkeit haben. Bei kleinsten Unstimmigkeiten wirft man sich sofort gegenseitig Worte wie Votze, schwule Sau und Wichser an den Kopf. Ganz zu schweigen von »unter Adolf hätte man dich … blablabla«.

Nichts jedoch übertrifft den Grad des Schwachsinns, der in der Schmiede vorherrscht. Einer ist ständig scharf darauf, seinen Handstand aus ehemaligen Zirkustagen auf der Drehbank vorzuführen. Ein anderer will mir einreden, dass die »Battels« – gemeint sind die Beatles – in England völlig unbekannt seien und vom englischen Geheimdienst auf die deutsche Jugend angesetzt wären, um sie ideologisch zu unterwandern.

Der absolute Meister aller Klassen ist jedoch Neptun, der Schmied. Man merkt ihm gleich an, dass er in seinem Leben zu viele heiße Eisen angepackt hat. Alle Lehrlinge haben das Vergnügen, einen Monat der Ausbildung bei ihm zu verbringen. Im August 1964 bin ich an der Reihe. Im unmittelbaren Arbeitsbereich herrschen ständig um die fünfzig Grad. Der dauernde Bierkonsum führt dazu, dass schon zum Frühstück alle knülle sind. Mit dem Vorschlaghammer, sechs Kilo schwer, muss ich Baggerzähne glätten. Die sind so zwischen sechshundert und tausendeinhundert Grad »warm«. »Heiß« können sie gar nicht sein, denn dies ist, wie ich erfahre, nur ein alter Weiberarsch. Am Glühofen geht’s dann richtig zur Sache. In diesem Basaltkasten liegen die Baggerzähne zum Härten aus. Oben die warmen, unten die noch wärmeren. Das Ding hat zwei Öffnungen, durch eine pfeift der Wind rein, auf der anderen Seite, wo ich stehe, tritt er »glühend warm« wieder aus. Neptuns Aufgabe ist es, die warmen Baggerzähne mit einer Stange durchzuschieben, so dass sie mir vor die Füße fallen. Jetzt kommt’s: Ich muss die, die hängen geblieben sind, mit einem langen Haken über den glühenden Haufen, der sich vor mir angesammelt hat, rauszerren. Mein Verdacht, dass die Dinger doch heiß sind, steigert sich zur absoluten Gewissheit. Trotz langer Unterhosen versenge ich mir jedes Mal die Haare an den Beinen, und nicht nur dort.

Neptun trägt mir an, eine Kopfbedeckung zu tragen wegen der langen Haare – gemeint ist Pilzkopflänge. Die erste Kopfbedeckung, in der ich antanze, ist ein Hut meiner Mutter und passt ihm nicht. Der zweite Versuch, eine Kreissäge – Strohhut, ein garantiertes Herrenmodell –, bringt ihn in Rage. Lautstark brüllend wirft er mir vor, dass ich die Sache nicht ernst nehme, womit er völlig recht hat. Der Sicherheitsingenieur wird eingeschaltet, um mir die Leviten zu lesen. Seine Argumentation ist durchaus einleuchtend, bringt mich sogar zum Einlenken, so dass ich mir eine amtliche Schlossermütze zulege. Aber auch ich habe noch einen Trumpf in der Hinterhand. Aufgefordert, sich mal die Betrunkenen an den Maschinen anzusehen, gerade freitags, wird er hellhörig. Anschließend wird ein Alkohol-Verkaufsverbot über die Kantine verhängt. Stolz überkommt mich … well done, Meijer!

Ab sofort will niemand mehr den Gammler und Arbeiterverräter in seiner Abteilung sehen. Mir werden nur noch Sekundärarbeiten wie Ausfegen, Einholen für die Kollegen usw. zugewiesen. Die anderen Lehrlinge üben sich in Schadenfreude und bleiben kleinlaut. Eine Ausnahme bilden die Jungs aus dem letzten Lehrjahr. Wenn es warm ist, stempeln sie, besteigen ihre Fahrräder und fahren raus zum Baden. Nachmittags trudeln sie wieder ein, stempeln und sind weg … Keiner sagt etwas, der Lehrkörper ist ratlos und wartet einfach, bis diese Elemente aus dem Lehrprozess rausfallen. Bodo Hinze, einer von ihnen, spielt Bass in einer Band. Eines Montagmorgens kommt er direkt nach einem Auftritt im Bühnenoutfit – weiße Hose, Rüschenhemd, blaue Glitzerweste, Shakin’ All Over singend – in die Lehrwerkstatt. Alle sind baff. Wenig später, bei seiner schriftlichen Prüfung, bricht Hinze vorzeitig ab. Der Gig in Westdeutschland, zu dem er pünktlich erscheinen will, ist ihm wichtiger.

Angetörnt durch Hinze und Hesse leiste ich mir im Herbst 1963 eine Framus-Schlaggitarre – allerdings ohne Tonabnehmer. Hesse verweist Mickie und mich an seinen Musiklehrer. Mit viel Geduld werden wir in die Geheimnisse der Harmonielehre eingeführt. Unser Interesse und Eifer führt dazu, dass er uns in seinen Samstagnachmittags-Musikzirkel aufnimmt. Vorn sitzen die Fortgeschrittenen, die nach Noten Melodiegitarre spielen. Dahinter die Neuen, die sich bei den noch ungewohnten Akkorden die Hände verrenken. Bei einer Party des illustren Kreises machen wir Bekanntschaft mit Les Messieurs, einer Band aus dem eigenen Stall mit Hesse am Bass. Das Auszählen der Takte nehmen sie besonders ernst. Die Luft vibriert geradezu davon.

Im Sommer 1963 erlebe ich mein erstes großes Konzert: Im Sportpalast gastiert Chubby Checker – der Twistkönig. Ganz up to date ist er nicht mehr, aber in seinem Gefolge treten einige Beatbands auf. Tony Sheridan ist derjenige, der uns am meisten interessiert. Seine Version von Skinny Minny, im Original von Bill Haley, ist äußerst populär und wird von vielen Berliner Bands gecovert. Trotzdem sind natürlich alle auf Chubby gespannt. Nachdem er die Bühne betreten hat, rennen wir alle nach vorne und fangen an zu twisten. Doch als er die Bluesballade Georgia On My Mind intoniert, setzt großes Gebuhe und Gepfeife ein, woraufhin der Star wutentbrannt das Weite sucht. Der Moderator versucht zu beschwichtigen und fordert das Publikum auf, durch frenetisches Klatschen Herrn Checker wieder in die Arena zurückzubringen. Bei der zweiten Vorstellung am Abend wiederholt sich der peinliche Vorgang.

Monate später haben wir die Chance, Joey Dee & the Starliters, eine weitere Twistgröße, in der Deutschlandhalle zu bewundern. Eine Tücke des Schicksals bringt es mit sich, dass sie, obwohl Headliner, als Erste auftreten müssen. Der Bus mit der Crew ist besser durch die Transitstrecke gekommen als die anderen Acts. So ergibt es sich, dass Gitte, Rex Gildo, Fred Bertelmann und eine gewisse Grit van Hoog erst nach ihnen auftreten. Wir geben alles, um diese »Künstler« von der Bühne zu verscheuchen. Grit van Hoog bricht in Tränen aus, wir fühlen uns – blöd und intolerant, wie man als Jugendlicher eben ist – in unserem Element.

Beim Konzert von den Searchers und Trini Lopez machen wir das erste Mal Bekanntschaft mit einem total angesagten Beatact. Die Searchers sind gerade mit Needles and Pins Nummer eins in den englischen Charts. Drafi Deutscher ist inzwischen von einer Plattenfirma aufgekauft worden und hat seine erste Single Teeny veröffentlicht. Die Begeisterung von Peter Labuhn ist mir völlig schleierhaft. Was hat das noch mit Rock’n’Roll zu tun? Labuhn schwelgt jedoch in blinder Parteinahme für seinen Helden.

Die angesagten Berliner Beatbands 1963/64 sind The Gloomys mit Frank Zander, Didi And His ABC-Boys, die älteste Berliner Beatband, und The Beatles. Mit den Berliner Beatles hat es Folgendes auf sich: Danny, der Gitarrist und Sänger, hat die Beatles, bevor sie weltbekannt wurden, oftmals in Hamburg gesehen. Dort hat er nicht nur ihre Stilistik studiert, sondern sich auch das gesamte frühe Repertoire raufgeschafft. Mit der Namensgebung hat er es dann aber doch übertrieben. Aus The Beatles werden nach kurzer Zeit die Hound Dogs.

Beatmusik wird von den Plattenfirmen, speziell in Berlin, weil von der BRD abgekoppelt, noch recht stiefmütterlich behandelt. In Hamburg läuft es da schon besser. Hier hat der Star-Club eindeutig Pionierarbeit geleistet. Alle Gruppen jener Zeit, auch internationale, reißen sich darum, in diesem Mekka der Beatmusik zu spielen. Hamburg war schon immer weltoffener als andere deutsche Städte und bietet den perfekten Nährboden für eine lebendige Musikszene. So nimmt es nicht Wunder, dass gerade The Rattles die Platte rausbringen, die jedem Vergleich standhält. Ihre Live-im-Star-Club-LP ist für mich der deutsche Beatklassiker.

1964 finden in der Deutschlandhalle einige Konzerte statt, die vom Star-Club gefeatured werden. Headliner sind jeweils amerikanische Rock’n’Roll-Stars wie Gene Vincent, Chuck Berry oder Johnny and the Hurricanes, die ihren Zenit bereits überschritten haben. Eigentlich sind wir aber, wie schon beim Chubby-Checker-Konzert, auf die neuen englischen Beatbands fixiert. Bei einer dieser Veranstaltungen meint der Sänger von Ian & The Zodiacs: »Wir haben da so eine Band in England, die sich The Rolling Stones nennt …« Nur diese Ansage ruft schon einen Sturm der Begeisterung hervor! Im Sportpalast gibt es einige American-Folk-Blues-Festivals, wodurch uns die Rhythm-and-Blues-Songs, die wir bisher nur von den Stones kannten, durch die Originalinterpreten nähergebracht werden. Howlin’ Wolf, John Lee Hooker und wie sie alle heißen schaffen es aber nicht, uns zum Plattenkauf zu motivieren. Die Coverversionen der englischen Bands gefallen uns eindeutig besser und steigern den Drang, selbst aktiv zu werden, immer mehr.

Langsam gelingt es mir mit Unterstützung von Hesse, der mir die Abläufe aufschreibt, die ersten Songs nachzuspielen. Der nächste Schritt, Mitglied einer Band zu werden, erfolgt auf Betreiben des Musiklehrers. Herr von Glaan, ebenfalls aus seiner Schmiede, soll der Melodiegitarrist in dieser neuen Combo werden. Mit Mickies Stones-Notenheft rücken wir ihm auf die Bude. Der erste Eindruck ist nicht gerade ermunternd: Unschwer ist zu erkennen, dass er sich kurz vor unserem Erscheinen noch schnell die nassen Haare in die Stirn gekämmt hat.

Wir legen sofort los. It’s All Over Now – Mickie zählt ein … aber wo bleibt Herr von Glaan? Während wir den Rhythmus dreschen, kommt er nicht aus dem Arsch. Nach den vorgegebenen Noten spielt er, im Schneckentempo die Takte zählend, die Gesangslinie. Was soll das? Ein weiterer Versuch wenige Tage später verläuft ebenfalls ergebnislos. Beim dritten Treffen kommt ein Drummer hinzu. Auf der Bettkante sitzend, dient ihm ein Stuhl als Drum-Kit. Es läuft gut, aber Herr von Glaan bleibt wieder außen vor. Da schreitet der Drummer ein, reißt Glaani die Gitarre aus der Hand und zeigt ihm wutentbrannt, wie man es machen muss. Völlig desillusioniert wirft unser Melodiegitarrist in spe das Handtuch. Erleichtert streichen wir die Segel und fahren nach Hause. Dieser Flop ist natürlich unserem Lehrer gegenüber äußerst peinlich. Wie kann man ihm jetzt noch unter die Augen treten? Ganz einfach – gar nicht.

Inzwischen hat die Beatwelle durch den Erfolg der Beatles und anderer englischer Gruppen die Szene völlig umgekrempelt. In den USA