Berufswahlunsicherheit bei Lehramtsstudierenden nach dem Praxissemester - Fabian Gräsel - E-Book

Berufswahlunsicherheit bei Lehramtsstudierenden nach dem Praxissemester E-Book

Fabian Gräsel

0,0

Beschreibung

Angesichts des aktuellen, wenn auch z.B. schulformspezifischen Bedarfs an Lehrkräften in Deutschland sind Studienabbrüche bei Lehramtsstudierenden zu vermeiden. Diese Abbrüche werden u.a. durch eine erhöhte Berufswahlunsicherheit verursacht, sodass die nahezu bundesweite Implementation verlängerter schulischer Praxisaufenthalte im Lehramtsstudium - oftmals als Praxissemester bezeichnet - u.a. das Potential zur Überprüfung der Berufswahl bietet. Aufgrund weiterer Potentiale jener Praxisaufenthalte wie etwa den Lernort "Schule" ausführlich kennenzulernen oder professionelle Kompetenzen zu erweitern könnte eine umfassende Zunahme der Berufswahlsicherheit vermutet werden. Quantitative Studien, die Berufswahlentscheidungen im Rahmen eines Schulpraktikums untersuchen, kommen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen und erklären nicht, warum einige Studierende weiterhin (eher) unsicher sind. Die wenigen qualitativen Befunde zeigen, dass unsichere Studierende während schulischer Praxisaufenthalte Lernsituationen oft nicht als Stärkung ihrer beruflichen Handlungskompetenzen bewerten. Neben der Erklärung, durch welche Faktoren Berufswahlentscheidungen beeinflusst werden, unterscheiden sich (lehramtsspezifische) Theorien darin, inwieweit sie Veränderungen derselben z.B. aufgrund neuer Lernsituationen berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund verfolgt die vorgelegte Arbeit die Ziele (1) ein dynamisches Modell der Veränderung der Berufswahl(un)sicherheit bei Lehramtsstudierenden durch schulpraktische Aufenthalte zu entwickeln, (2) praxisphasenunabhängige und -abhängige Beweggründe der Berufswahlunsicherheit bei Lehramtsstudierenden zu überprüfen und (3) eine Typenbildung von berufswahlunsicheren Lehramtsstudierenden vorzuschlagen. In der Arbeit werden Ergebnisse einer Interviewstudie mit sieben Studierenden der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster nach dem Praxissemester 2016/17 vorgestellt, die sich als (eher) unsicher in ihrer Berufswahl eingeschätzt haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 246

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Rahmung

2.1 Grundbegriffe und Ausgangspunkte der Arbeit

2.1.1 Berufswahl(un)sicherheit

2.1.2 Das Praxissemester im Rahmen schulpraktischer Aufenthalte

2.2 Theorien der Berufswahl

3. Forschungsstand

3.1 Berufswahlüberprüfung innerhalb (verlängerter) schulpraktischer Aufenthalte

3.2 Praxisphasenunabhängige Einflussfaktoren im Kontext der Berufswahl

3.3 Praxisphasenabhängige Einflussfaktoren im Kontext der Berufswahl(un)sicherheit

3.4 Unmittelbare Studien zur Berufswahlunsicherheit

4. Annahmen

5. Methode

5.1 Erhebungsdesign und -instrument

5.2 Befragte

5.3 Auswertungsverfahren

6. Ergebnisse

7. Diskussion

7.1 Ergebnisdiskussion

7.2 Methodendiskussion

8. Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse

9. Implikationen für die Lehrer*innenbildung und das Praxissemester

10. Literaturverzeichnis

11. Anhang

11.1 Leitfaden des teilstandardisierten Experteninterviews Berufswahlunsicherheit nach dem Praxissemester

11.2 Ablaufschema der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (vgl. 2018, S. 100)

11.3 Finales Kategoriensystem der Berufswahlunsicherheit nach dem Praxissemester

11.4 Fallübersichten der (relativ) unsicheren Befragten

11.5 Übersicht der Einflussfaktoren der Berufswahlunsicherheit von den Befragten

11.6 Modifizierte Theorie der Berufswahl von Lehramtsstudierenden (insbes. nach dem Praxissemester)

11.7 Anregung zur Typenbildung von berufswahlunsicheren Lehramtsstudierenden

Vorwort zur Reihe

Impulse sind Antriebe, Anstöße und Anregungen. Als Denkanstöße sind sie im hochschulischen (Arbeits)Alltag auf vielfältige Weise Ausgangspunkt und zugleich Gegenstand von Wissenschaft. Daraus resultierende Forschungsvorhaben sind zumeist vorerst exklusiv Wissenschaftler*innen vorbehalten.

Leider viel zu selten – hier sei aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft gesprochen – wird die Lehre als Forschungsraum verstanden. Gemeint ist damit keineswegs, dass die Studierenden in den Lehrveranstaltungen zu Probanden von Studien werden oder diese evaluieren. Intendiert sind ebenfalls keine Praxisseminare, die z. B. im Rahmen von LehrLern-Laboren den Professionalisierungsprozess von Lehramtsstudierenden forcieren und deren Selbstwirksamkeitsüberzeugungen steigern wollen. Ohne Zweifel haben die skizzierten Settings alle ihre Berechtigung, verbinden die für die Hochschulen elementaren Sphären der Forschung und Lehre jedoch nicht ganzheitlich, weil die Forschung als Prozess nicht im Seminarkonzept inhärent ist, sondern zum spezifischen Inhalt (z. B. Publikationen) wird oder als Additum angesehen werden muss.

Dazu konträr stehen jene Lehrformate, in denen Forschung und Lehre verschmelzen und die Studierenden zu Forschenden werden. Ohne Frage muss der Gehalt studentischer Forschung anders bewertet werden als wissenschaftliche Forschung. Studierende sind Forschungsnovizen, die das Forschen erlernen müssen. Dennoch können aus studentischer Forschung Impulse hervorgehen. Für Dozierende ist die hochschuldidaktische Gestaltung von „Forschungsseminaren“ eine polyvalente Herausforderung, gilt es doch eine wissenschafts-theoretische und methodologische Basis zu schaffen und die (Forschungs)Interessen aller Teilnehmenden zu berücksichtigen. Das Anliegen stößt zudem nicht selten auf administrative Hürden, da solche Formate nicht immer mit Studienordnungen kompatibel sind. Studentische Abschlussarbeiten – in Zeiten der Internationalisierung des Studiums vor allem Bachelor- und Masterarbeiten – haben das Potential, ausgehend von den Interessen der Studierenden zu kleinen Forschungsvorhaben zu werden. Die Studierenden bearbeiten über einen Zeitraum von mehreren Monaten selbstständig eine Fragestellung und erschließen sich Forschungsmethoden und Diskurse mit dem Ziel, ihre Ergebnisse in einen Kontext zu stellen. Dabei behandeln sie Themen, die für wissenschaftliche Forschung zu partikular sind. Nicht selten wird mit ihnen neues Wissen generiert, aus dem sich wiederum Möglichkeiten für sich anschließende wissenschaftliche Forschung ergeben können oder die Abschlussarbeiten sind bereits die Weiterentwicklung eines vorausgegangenen Studienprojektes aus dem Praxissemester.

Die Reihe Erziehungswissenschaftliche Impulse setzt es sich zum Ziel, exzeptioneller studentischer Forschung ein Forum zu bieten. Anker sind neben der Bedeutung des Gegenstandes und der gewählten Herangehensweise auch Anerkennung und Wertschätzung der Leistung. Dabei sollen die veröffentlichten Arbeiten auch als Impuls, das heißt als Anregung verstanden werden, die erwähnten partikularen Themen aufzugreifen und weitere Forschung (vor-)an-zutreiben.

Münster, im November 2021

Patrick Gollub

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Mögliche Berufswahl(un)sicherheitsentwicklungen im Kontext des Praxissemesters.

Abbildung 2: Fit-Choice-Modell nach Watt et al. (2012, S. 793).

Abbildung 3: Modell der personalen, kontextuellen und erfahrungsbedingten Einflussfaktoren des Berufswahlverhaltens nach Lent et al. (2002, S. 269).

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Lehramtsstudiengangsspezifische Schwerpunkte der Berufsalternativen nach Ulich (2000, S. 50).

Tabelle 2: Ergebnisdarstellung der Studie von Böhnert et al. (2018). 58

Tabelle 3: Häufigkeitsverteilung der Berufswahlmotive von Entscheidungsunsicheren bei Brüning (2014, S. 82).

Tabelle 4: Praxissemester an der WWU Münster in Anlehnung an Weyland & Wittmann (2015, S. 12f.).

Tabelle 5: Eigenschaften der Befragten.

Abkürzungsverzeichniss

inbes.

insbesondere

bzw.

beispielsweise

ca.

circa

ebda.

ebenda

et al.

et alii

etc.

et cetera

i.d.R.

in der Regel

i.W.

im Wesentlichen1

m.E.

mit Einschränkungen

s.o.

siehe oben

u.

und

u.a.

unter anderem

vgl.

vergleiche

vrmtl.

vermutlich

vs.

versus

z.B.

zum Beispiel

z.T.

zum Teil

1. Einleitung

Ich glaube, dass die Sicherheit ein ständig sich wandelnder Prozess ist, weil ganz kleine ausschlaggebende Erfahrungen während des Praxissemesters beispielsweise auch mir ganz starke Unsicherheit gegeben haben. (KOLEER, Z. 130-132)

Diese Aussage des unsicheren Lehramtsstudierenden KOLEER – getätigt innerhalb der vorgelegten Interviewstudie – veranschaulicht aus einer unmittelbaren persönlichen Praxiserfahrung heraus eindringlich, sowohl das thematische Anliegen dieser Abschlussarbeit als auch die Notwendigkeit dasselbe systematisch zu untersuchen. Denn angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Berufswahl(un)sicherheit um keine einmalige Entscheidung, wie etwa im Zuge der Aufnahme des Lehramtsstudium, sondern um eine dynamische Entwicklung handelt, stellen sich infolge des obigen Zitats folgende Leitfragen: Was bedeutet berufliche Sicherheit bzw. Unsicherheit überhaupt? Wie konstituiert sich der „sich ständig wandelnde Prozess“ der (Un)Sicherheit? Welche Rolle nimmt dabei das erwähnte Praxissemester ein? Welche „ausschlaggebenden Erfahrungen während des Praxissemesters“ sind in der Äußerung gemeint? Welche praxis(un)abhängigen Einflussfaktoren verbergen sich des Weiteren hinter der Angabe einer Berufswahlunsicherheit? Lassen sich Abstufungsgrade innerhalb der beruflichen Unsicherheit identifizieren? Diese Leitfragen im Kontext des Praxissemesters;1, d.h. zum Ende der ersten Phase der Lehrer*innenbildung, stellen sich insbes. angesichts der weitreichenden Befürchtungen von mittel- und langfristigen negativen Konsequenzen, wie etwa Abbrüche des Studiums bzw. des Vorbereitungsdienstes, vorzeitige Berufsausstiege oder unprofessionelle Lehrer*innen im Schuldienst (vgl. z.B. Brüning, 2013, S. 13; Porsch, 2018b, S. 97f.; Botha & Mostert, 2013, S. 501), als untersuchungswert dar. Das Anliegen wird zudem durch den öffentlichen und oftmals kritischen Diskurs über die grundsätzliche Eignung eben dieser Kandidat*innen sowie des zumindest für bestimmte Lehrämter, Fächer und/oder Regionen existierenden Lehrkraftmangels intensiviert (vgl. z.B. König et al., 2013; Neugebauer 2013; Rothland & Terhart, 2011).

Zudem beläuft sich der für den deutschsprachigen Raum geltende Anteil von (eher) unsicheren Lehramtsstudierenden auf ein beachtenswertes Kontingent von bis zu 28 Prozent (vgl. für einen Studienüberblick Porsch, 2018b, S. 94), während Brüning (2013) grundlegend vor dem Hintergrund von derartigen Unsicherheitsangaben verschärfend prognostiziert, dass tatsächlich „eine deutlich höhere Anzahl [von unsicheren Kandidat*innen] nicht in den Schuldienst eintritt“ (S. 35). Dass es sich bei dieser Prognose um eine ernstzunehmende Überlegung handelt, zeigen die hohen lehramtsspezifischen Studienabbrecherquoten zum einen am Hochschulstandort Leipzig von ca. 50 Prozent (vgl. Diet-rich, 2016) und zum anderen für das Land Nordrhein-Westfalen. Letztere belegen, dass im Studienjahr 2014 15.200 Studierende zwar ihr universitäre Lehrer*innenausbildung begonnen haben, jedoch rund 8.000 von ihnen diese Ausbildung nicht abschlossen (IT NRW, 2015).

Im Kontext der Berufswahlunsicherheit von Lehramtsanwärter*innen erweist es sich – wie bereits den obigen Ausführgen zu entnehmen – als besonders folgenschwer, wenn diese von den seit einigen Jahren weitestgehend bundesweit implementierten Langzeitpraxisphasen (vgl. Weyland & Wittmann, 2015), i.d.R. als Praxissemester bezeichnet und u.a. als Lern- und Überprüfungsgelegenheit angedacht, nicht beseitigt werden konnten. Denn den Langzeitpraxisaufenthalten werden insbes. in Diskussionsbeiträgen grundsätzlich eine Vielzahl von Potentialen attestiert (vgl. Porsch & Gollub, 2019), auch wenn ein bloßes Mehr an Praxisaufenthalten keineswegs als eine unanfechtbare Patentlösung einer verbesserten Lehrer*innenbildung gilt (vgl. z.B. Gollub et al., 2018). Weyland und Wittman (2015) verordnen bspw. dem Praxissemester mitunter eine finale und damit womöglich intensivste Berufswahlüberprüfung vor dem Beginn der zweiten Phase der Lehrer*innenbildung (S. 14). Den Potentialen des Praxissemesters zu trotz und der Existenz von Berufswahlunsicherheiten zufolge müssen jedoch Einflussfaktoren existieren, die durch den Praxisaufenthalt entweder nicht aufgelöst bzw. bestärkt werden oder/und gänzlich neu auftreten, sodass sich für den folgenden Beitrag das übergeordnete Forschungsanliegen ergibt, zu eruieren, aufgrund welcher Einflussfaktoren sich nach der Absolvie-rung des Praxissemesters eine Berufswahlunsicherheit bei Lehramtsstudierenden wieder, erstmalig oder weiterhin konstituiert (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Mögliche Berufswahl(un)sicherheitsentwicklungen im Kontext des Praxissemesters.

Grundsätzlich sind Studien zur Berufswahl(un)sicherheit und deren unterschiedlichen Ausmaß an Entscheidungsklarheit kein Erscheinungsbild der letzten Jahre (vgl. z.B. Steltmann, 1980), jedoch erfahren sie seit den 2000er-Jahren einen quantitativen und qualitativen Aufschwung, welcher womöglich durch den PISA-Schock im Jahre 2000 initiiert und im Rahmen von Reakkreditierungsbestrebungen der Studiengänge zur Verbesserung der Lehrer*innenausbildung (z.B. Bologna-Reformen) intensiviert wurde (vgl. Hericks, 2018). Im wissenschaftlichen Forschungs-stand lassen sich dementsprechend bereits viele vereinzelte praxis(un)abhängige Einflussfaktoren der beruflichen Unsicherheit von Lehramtsstudierenden konstatieren bzw. ableiten. So wirken sich paradigmatisch geringe Kompetenz(selbsteinschätzung)en (vgl. z.B. Porsch 2018b; Römer et al. 2018a; Foerster 2008; König & Tachtsoglou, 2012, Ulich, 2000), mangelnde subjektive Selbstwirksamkeiten (vgl. z.B. Roth-land & Straub 2018; Schüle et al., 2017; Seifer & Schaper, 2018), ungünstige Berufswahlmotivationen (vgl. z.B. Porsch, 2019; Seifert & Schaper, 2018; König & Rothland, 2012, 2013; Rothland 2011; Brüning 2013; Schreiber et al., 2012; Künsting & Lipowski, 2011) oder belastende Beanspruchungswahrnehmungen (vgl. z.B. Porsch, 2019, 2018b; Ulich, 2000; Römer et al., 2018b; Rothland, 2011) bestärkend auf die Berufswahlunsicherheit aus. Diese Zusammenhänge werden intensiviert, indem die negativen Faktoren teilweise auch über interspezifische Wechselbeziehungen verfügen; wie etwa die motivationale Entscheidung, aus einer Verlegenheitslösung den Lehrer*innenberuf zu ergreifen, nicht nur negative Auswirkungen auf die allgemeine Entscheidungssicherheit, sondern auch auf das pädagogische Wissen mit sich bringt (vgl. König & Rothland, 2013, S. 60). Ein geringes pädagogisches Wissen bestärkt wiederum das generelle Unsicherheitsempfinden.

Obwohl bereits viele nationale und internationale Befunde von Studien verschiedenste Auswahlkriterien gegenüber der Berufswahl im Lehramtsstudium belegen (vgl. für eine Studienübersicht Rothland, 2014), mangelt es gegenwärtig insbes. im Einklang der wissenschaftlichen Beiträge von Porsch (2019, 2018b) nach wie vor akut an empirischen Studien qualitativer und quantitativer Art, welche die Ursachen der Berufswahlunsicherheit (insbes. nach dem Praxissemester) auf einer theoretisch fundierten Erhebungsgrundlage systematisch überprüfen. Da zum einen zunächst die Beweggründe derselben dafür erschlossen werden müssen und zum anderen numerische Grundlagen von unsicheren Studierenden für eine quantitative Untersuchung oftmals fehlen, leistet die vorliegende qualitative Interviewstudie einen erstmaligen Beitrag in derartiger Fokussierung, Differenziertheit und Erklärungskraft, um dieses Forschungsdesiderat zu ergründen. Die vorgelegte Arbeit kann somit Grundlagen für weitere (quantitative) wissenschaftliche Anknüpfungspunkte bilden, da sie mitunter die vereinzelnd bestehenden Befunde der allgemeingültigen Berufswahlunsicherheit überprüft2 (vgl. insbes. Porsch, 2018b3; siehe auch Ulich, 2000; Kiel & Pollak, 2011; Brüning, 2013) und eine darüber hinausgehende Zusammenschau der bisher unerforschten Unsicherheitseinflussfaktoren nach der Absolvie-rung des Praxissemesters inklusive modifizierter Berufswahltheorie leistet. Diese Untersuchung soll letztendlich durch ihre Ursachenanalyse dazu beitragen, ein gezieltes Entgegenwirken der Berufswahlunsicherheit (z.B. durch adäquate Beratungs- und Reflexionsmöglichkeiten) zu ermöglichen und somit den Anteil der (,geeigneten‘) tatsächlich in den schuldiensteintretenden Studierenden zu erhöhen. Ferner schließt sie an das inhaltliche Pendant der qualitativen Ergründung der Berufswahlsicherheitsursachen bei Lehramtskandidat*innen an, welche bereits im wissenschaftlichen Fokus stehen (vgl. Porsch, et al. 2019; Porsch 2018b).

Um das Forschungsanliegen – hier die Ermittlung der Ursachenerforschung der Berufswahlunsicherheit nach dem Praxissemester – zu erfüllen, werden einführend (Kapitel 2, Theoretische Rahmung) in einem zweigeteilten Abschnitt die jeweiligen notwendigen ‚Grundbegriffe und Ausgangspunkte der Arbeit‘ (Kapitel 2.1) dargestellt, sodass sich dieser in die Unterkapitel der ,Berufswahl(un)sicherheit‘ (Kapitel 2.1.1) und des ,Praxissemesters im Rahmen schulpraktischer Aufenthalte‘ (Kapitel des ,Praxissemesters im Rahmen schulpraktischer Aufenthalte‘ (Kapitel 2.1.2) aufgliedert. Im Anschluss wird das Vorhaben in eine Auswahl von sich gegenseitig ergänzenden Berufswahltheorien eingeordnet, sodass die Fokussierung auf die Entscheidungsunsicherheit nach dem Praxissemester eine theoretische Legitimation erfährt (Kapitel 2.2). Auf dieser Basis folgt die systematische Darstellung des bestehenden empirischen Forschungsstands gegenüber der lehramtsspezifischen Berufswahl (Kapitel 3), welche mehrere untergeordnete Kapitel beinhaltet. Zunächst wird die Erkenntnis der Berufswahltheorien empirisch überprüft, ob eine ‚Berufswahlüberprüfung innerhalb (verlängerter) schulpraktischer Aufenthalte‘ grundsätzlich stattfindet (Kapitel 3.1). Die Unterkapitel ,Praxisphasenunabhängige Einflussfaktoren im Kontext der Berufswahl‘ (Kapitel 3.2), ‚Praxisphasenabhängige Einflussfaktoren im Kontext der Berufswahl(un)sicherheit‘ (Kapitel 3.3) sowie ,Unmittelbare Studien zur Berufswahlunsicherheit‘ (Kapitel 3.4) komplementieren diesen Abschnitt, welche sich ihrerseits wiederum in thematische Anteile (z.B. Motive, Kompetenzen oder Emotionen) auffächern. Die bis dato festgelegte Vorgehensweise dient dem Zweck, sowohl den verschiedenen Betrachtungsebenen der beruflichen Einflussfaktoren als auch der spezifischen Berufswahltheorie und -empirie gerecht zu werden. Vor dem Hintergrund der obigen Kapitelinhalte werden anschließend die sich daraus ableitendende(n) Annahme(n) formuliert (Kapitel 4), ehe daran die Beschreibung der verwendeten ,Methode‘ gemäß des wissenschaftlichen Arbeitens anknüpft (Kapitel 5), welche sich dreigegliedert vollzieht (Kapitel 5.1 ,Erhebungsdesign und -instrument‘; Kapitel 5.2 ,Befragte‘; Kapitel 5.3 ,Auswertungsverfahren‘). Daraufhin werden die ,Ergebnisse‘ (Kapitel 6) der eigens erhobenen Interviewstudie bezüglich der Unsicherheit im verlängerten Praxisaufenthalt dargestellt, bevor sie kategoriengeleitet in Kapitel 7 ,Diskussion‘ anhand der ,Ergebnis-‘ und ,Methodendiskussion‘ (Kapitel 7.1 und 7.2) kritisch-reflektierend untersucht werden. Im vorletzten Schritt erfolgt eine knappe, jedoch präzise ,Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse‘ (Kapitel 8), währenddessen die ausgearbeiteten Erkenntnisse innerhalb der ,Implikationen für die Lehrer*innenbildung und das Praxissemester‘ (Kapitel 9) in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht werden und den Abschluss der vorgelegten Interviewstudie bilden.

2. Theoretische Rahmung

2.1 Grundbegriffe und Ausgangspunkte der Arbeit

Die beiden nachfolgenden Unterkapitel sollen die definitorischen Grundbegriffe der ,Berufswahl(un)sicherheit‘ sowie die Ausgangspunkte von schulpraktischen Aufenthalten (insbes. dem des Praxissemesters) vermitteln. Somit wird das notwendige inhaltliche Hintergrundwissen zur Verfügung gestellt, welches sich für den weiteren wissenschaftlichen Diskurs rund um den Forschungsanlass der Berufswahl(un)sicherheit nach dem Praxissemester als bedeutsam erweist.

2.1.1 Berufswahl(un)sicherheit

Die Bezeichnungen der beruflichen Sicherheit bzw. Unsicherheit erfahren in vielen wissenschaftlichen Beiträgen keine bzw. lediglich eine unscharfe inhaltliche Bestimmung, da für diese Begriffe mitunter – wie auch im weiteren Verlauf dieses Kapitels veranschaulicht – weitere synonyme Termini verwendet werden, sodass an dieser Stelle eine präzise Begriffsklärung notwendig erscheint. Eine zumindest für die Bezeichnung der Berufswahlsicherheit wegbereitende Definition im deutschsprachigen Raum liefert Porsch (2018b), deren Erklärung auf den Ansätzen Daniels et al. (2006) sowie Ulich (2000) beruht: „Die Berufswahlsicherheit angehender Lehrkräfte ist dadurch gekennzeichnet, dass der Lehrerberuf alternativlos als langfristige berufliche Tätigkeit angesehen wird (S. 94f.).“ Angesichts des Mangels an weiteren präzisen Auslegungen verhält es sich gegenüber der Definition der Berufswahlunsicherheit naheliegend, die obige Überlegung zur beruflichen Sicherheit umzukehren und somit die Unsicherheit vorläufig durch das Vorliegen von alternativen Tätigkeiten sowie der zeitlich begrenzten Ausübung des Berufes zu charakterisieren. Dieses Vorgehen der Begriffsfindung illustriert bereits, dass die Themenfelder der Berufswahlsicherheit und - unsicherheit eng miteinander verknüpft sind. Aus psychologischer Perspektive betrachtet lässt sich ergänzen, dass die Beziehung zwischen der beruflichen Sicherheit bzw. Unsicherheit auch als Karriere-Entscheidungs(un)sicherheit bezeichnet werden kann, dessen (Un)Sicherheitsausmaß von verschiedenen beruflichen Situationen abhängig ist:

‚Career Indecision‘ ist ein Zustand der Entscheidungsunsicherheit, der im Entscheidungsprozess mehrmals vorkommen kann. [...] Es ist ein Zustand der Sicherheit bzw. Unsicherheit, der sich aufgrund der Situation im Beruf ergibt. (Vannotti, 2005, S. 54)4

Darüber hinaus klingt in dieser Definition bereits an, dass die Berufswahl(un)sicherheit nicht per se als ein starres Modell (bspw. im Gegensatz zum Fit-Choice-Modell; vgl. Kapitel 2.2) betrachtet werden sollte, die einer einmaligen Entscheidung zugrunde liegt, da kontextabhängige (Lern)Situationen, wie paradigmatisch der Praxissemesteraufenthalt, Einfluss auf den (temporären) Zustand der Berufswahl(un)sicherheit nehmen (können) (vgl. ebda.). Dementsprechend kann der berufliche Entscheidungsgrad – auch was seine Teilbereiche betrifft – zwischen den beiden Extremen der völligen Sicherheit und der völligen Unsicherheit dynamisch variieren. Nichtsdestotrotz scheint die Berufswahl(un)sicherheit im Vergleich zu einigen ihrer Einflussfaktoren, wie etwa der Selbstwirksamkeit, insgesamt ein relativ stabiles Konstrukt zu sein (vgl. z.B. Seifert & Schaper, 2018, S. 195, 203), da die Lehramtskandidat*innen häufig im Mittel5 empirischer Befunde eine unverändert hohe Entscheidungssicherheit z.B. nach (verlängerten) Schulpraxisaufenthalten aufweisen (vgl. z.B. Kauper, 2018; Porsch, 2019, 2018b; Seifert & Schaper, 2018; Knuth-Herzig et al., 2018; Brüning, 2013; Roth-land, 2011). Es bleibt im Kontext des weiteren Verlaufs dieser Untersuchung zu bemerken, dass die Bezeichnungen ,Berufswahlunsicherheit‘ bzw. ,Unsicherheit in der Berufswahl‘ synonym verwendet werden, während im letztgenannten Fall der Begriff ,Unsicherheit‘ wahlweise durch die Termini ,Verlegenheit‘, ,Unentschiedenheit‘, ,Unschlüssigkeit‘, ,Unentschlossenheit‘ oder Ähnlichem ersetzt werden können.

2.1.2 Das Praxissemester im Rahmen schulpraktischer Aufenthalte

Anfang der 2000er-Jahre setzten vehemente Debatten über die Qualität der Lehrer*innenbildung ein (vgl. Kapitel 1, insbes. PISA-Schock und Bologna-Reformen), die einerseits dadurch gekennzeichnet waren, dass die vermittelten Standards und Kompetenzen für Lehramtsstudierende überprüft wurden (vgl. insbes. Terhart, 2000, 2002). Simultan wurde andererseits die Verstärkung des schulischen Praxisbezugs im Kontext der allgemeinen Theorie-Praxis-Verknüpfung in der ersten Phase der Lehrer*innenbildung angestrebt (vgl. Porsch & Gollub, 2018, S. 239; siehe auch „Practice Turn“ in Biederbeck & Rothland, 2018, S. 8), welcher sich u.a. durch eine intensivere Implementierung von Langzeitpraktika, z.B. in Form des Praxissemesters, kennzeichnen ließ (vgl. Mertens & Gräsel, 2018, S. 2f.). Die Umsetzung von Langzeitpraktika erfolgte – Stand 2017 – in etwa zwei Drittel aller deutschen Bundesländer (vgl. für eine bundesweite Übersicht Weyland & Wittmann, 2015, S. 12f.; siehe auch KMK, 2017, S. 54-59) und stellt somit eine der größten Innovationen der Lehramtsstudiengänge im Bachelor- und Mastersystem dar (vgl. Wey-land, 2012). Insbes. aufgrund fehlender vergleichbarer Erfahrungen „in zielbezogener, infrastruktureller und betreuungs-/begleitungsbezogener Hinsicht“ erweckten verlängerte schulpraktische Aufenthalte lange den Eindruck eines „curricularen Appendix“, sodass ein „Mehr an Praxisanteilen im universitären Lehramtsstudium“ (Weyland & Wittmann, 2015, S. 8f.) nicht automatisch mit einer generellen Eignungsförderung von Lehramtskandidat*innen gleichzusetzen ist (siehe auch Gollub et al., 2018; Wachowski & Kull, 2015). In der aktuellen Lehrer*innenbil-dung erweist es sich nach wie vor als umstritten, ob verlängerte Praxisaufenthalte im Kontext der anzustrebenden Professionalisierung als „Königsweg“ (Schubarth, et al., 2014, S. 202) gelten sollten, zumal ein genereller Mehrwert von Langzeitpraktika gegenüber Lehramtsstudierenden nicht ohne Weiteres attestiert werden kann (vgl. z.B. Hascher, 2014). Letztendlich korrespondieren die Vorstellungen und Erwartungen der Studierenden, wie z.B. das Bedürfnis, möglichst viel Unterrichtserfahrungen zu sammeln, teilweise nicht bzw. nicht in einem derartigen Ausmaß mit den curricularen Vorgaben (vgl. Rothland & Straub, 2018, S. 136), sodass das Erreichen einiger Zielsetzungen des Praxissemesters – vor allem hinsichtlich des Forschenden Lernens – in Gefahr gerät (vgl. Weyland & Wittmann, 2015, S. 17f.).

Ein Hauptanliegen dieser Implementierung ist es, dem Anspruch der bereits in den 1990er-Jahren6 formulierten „doppelten Professionalisie-rung“ (Lüsebring, 2002, S. 40f.) nachzukommen, das heißt, einen professionellen Habitus sowohl in der akademischen Theorie als auch in der handlungsorientierten Praxis auszubilden (ebda.) und somit der häufig proklamierten Theorie-Praxis-Kluft entgegenzuwirken (vgl. MSW NRW, 2010, S. 4). Wenngleich länderspezifische Ausdifferenzierungen in zeitlicher, inhaltlicher, konstitutioneller sowie didaktischer Hinsicht gegenüber des Praxissemesters7 bestehen (vgl. z.B. Knuth-Herzig et al., 2018,

S. 200-202), lassen sich auch übergreifende Zielsetzungen desselbigen identifizieren:

Die Zielsetzungen richten sich einerseits auf die Förderung theoretischer Reflexionsfähigkeit sowie auf die Reflexion der eigenen Kompetenzentwicklung bis hin zu einer Anbahnung einer forschenden Grundhaltung mittels Forschenden Lernens. Obgleich das jeweils gesetzte Praxisformat i.d.R. explizit betonend unter die primäre Zielperspektive eines Studienelements gestellt wird, liegt andererseits angesichts der z.T. an einigen Standorten hohen Anzahl an zu absolvierenden bzw. nachzuweisenden eigenen Unterrichtsstunden die Vermutung nahe, dass es bereits ebenso um die Förderung unterrichts- bzw. handlungspragmatischer Fähigkeiten geht [...]. Außerdem wird das Praxissemester an nahezu allen Standorten mit der Zielsetzung der Berufswahlüberprüfung verknüpft. (Weyland & Wittmann, 2015, S. 14)

In Anlehnung an die oben genannte Bandbreite von Zielsetzungen des Praxissemesters kann bereits an dieser Stelle auf das Potential der Berufswahlüberprüfung in schulpraktischen Aufenthalten hingewiesen werden, da diese eine notwendige Bedingung des vorliegenden Untersuchungsanlasses darstellt. Bevor die diesbezüglichen ministeriellen Vorgaben aufgezeigt werden, ist anzumerken, dass die Reflexion der Berufswahl innerhalb des fünfmonatigen Praxissemesters insbes. durch intensive lern- und situationsabhängige Berührungspunkte mit der Schulpraxis zustande kommen (vgl. Porsch & Gollub, 2018, S. 240). Dazu gehören paradigmatisch (non)verbale Rückmeldungen von Schüler*innen und/oder betreuenden Personen (z.B. Lehrkräfte, Fachleiter*innen) (vgl. für eine theoretische Vertiefung der Berührungspunkte Kapitel 2.2). Von den ministeriellen Vorgaben ausgehend steht die Überprüfung der Berufswahl – trotz naheliegenden Eintritts in die zweite Phase der Lehrer*innenausbildung – jedoch nicht im unmittelbaren Fokus des Langzeitpraktikums (vgl. z.B. Seifert & Schaper, 2018, S. 196). Denn diese Vergewisserung soll demgegenüber bereits im Eignungs- und Orientierungspraktikum erfolgen. Schließlich dienen die beiden letztgenannten Praktika anhand der länderspezifischen Vorgaben NordrheinWestfalens veranschaulicht

der kritisch-analytischen Auseinandersetzung mit der Schulpraxis, der Reflexion der Eignung für den Lehrerberuf und der Entwicklung einer professionsorientierten Perspektive für das weitere Studium. (LABG NRW, 2009/2018, § 12, Abs. 2)

Diese Reflexion überprüft im Sinne der polyvalenten Bachelorstudiengangausrichtung (vgl. Bauer et al., 2011) die grundsätzliche Verortung der Studierenden im Berufsfeld ihrer studierten Fächer und stellt eine elementare Eignungskontrolle angesichts erster Berufspraxiserfahrungen dar (vgl. Knuth-Herzig et al., 2018, S. 200-202). Auch das vor das Praxissemester geschaltete Berufsfeldpraktikum trägt zu einer berufli-chen Überprüfung bei, indem es Studierenden neben der Ergreifung des Schuldienstes weitere konkrete Berufsperspektiven aufzeigt, die zwangsläufig zu einer Reflexion der ursprünglichen Berufswahl führen (vgl. LABG NRW, 2009/2018, § 12, Abs. 2). Demgegenüber lassen sich weniger eindeutige ministerielle Hinweise der Berufswahlüberprüfung in den Vorgaben für das Praxissemester finden, die wiederum exemplarisch anhand des Lehrer*innenausbildungsgesetzes und mithilfe der Rahmenkonzeption des Landes Nordrhein-Westfalens veranschaulicht werden können:

Es schafft berufsfeldbezogene Grundlagen für die nachfolgenden Studienanteile und den Vorbereitungsdienst. [...] Die Hochschule schließen das Praxissemester [...] mit einem Bilanz- und Perspektivgespräch mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ab. (LABG NRW, 2009/2018, § 12, Abs. 3)

Das Praxissemester ist [ein] integraler Bestandteil [...] mit den Schwerpunkten der fachwissenschaftlichen sowie pädagogisch-fachdidaktischen Orientierung auf das Berufsfeld. [...] Dabei sollen sowohl konzeptionell-analytische als auch reflexiv-praktische Kompetenzen erworben werden, um eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit [...] der eigenen Lehrerpersönlichkeit [...] zu ermöglichen. (MSW NRW, 2010, S. 4)

Insbes. im Vergleich zu den Rahmenvorgaben des Eignungs- bzw. Orientierungspraktikum ergibt sich die Berufswahlreflexion innerhalb des verlängerten Praktikumsaufenthalts demnach subtiler, da einerseits elementare Kompetenzen zur Auseinandersetzung mit der eigenen Lehrer*innenpersönlichkeit angebahnt werden sollen, in deren Kontext sich die Absolvent*innen unweigerlich die Frage nach der persönlichen Eignung angesichts des erfolgreichen bzw. erfolglosen Erlernens dieser Fähigkeiten stellen. Andererseits ist anzunehmen, dass das Bilanz- und Perspektivgespräch (BPG) sowie die fachwissenschaftliche und pädagogisch-fachdidaktische Orientierung zu einer abschließenden Reflexion der Berufswahl führen, auch wenn vor dem Hintergrund des BPG anzumerken ist, dass es in erster Linie „eine beratende Funktion“ einnehmen soll und „keine Leistungen bewerte[t]“ (ZfL Münster, 2016, S.7).

Zusammenfassend kann vor dem Hintergrund der bisherigen Kapitel festgehalten werden, dass die Entscheidungsunsicherheit von Lehramtskandidat*innen studienübergreifend einen beachtenswerten Anteil einnimmt, sodass sie idealtypisch innerhalb des Praxissemesters beseitigt werden sollte, da andernfalls weitreichende negative mittel- und langfristige Konsequenzen drohen (vgl. Kapitel 1). Definitorisch ist die berufliche Unschlüssigkeit einerseits durch die Merkmale gekennzeichnet, den Lehrer*innenberuf weder langfristig noch alternativlos durchzuführen (vgl. Kapitel 2.1.1). Außerdem stellt die Berufswahlunsicherheit einen situationsabhängigen Zustand dar, der in Überprüfungsprozessen überdacht und gegebenenfalls hinsichtlich seines Ausprägungsgrads verändert werden kann (vgl. Kapitel 2.1.2). Das vielfach in Deutschland implementierte Praxissemester weist – auch wenn es nicht immer das übergeordnete Ziel der ministeriellen Vorgaben ist – ein besonders intensives handlungsfeldspezifisches Potential der Berufswahlüberprüfung zum Ende des Lehramtsstudiums auf (vgl. Kapitel 2.1.2). In den sich anschließenden Abschnitten der Berufswahltheorien sowie des empirischen Forschungsstands der Berufswahl gilt es somit darzustellen, ...

...inwieweit die Berufswahltheorien (Langzeit)Praktika (insbes. dem Praxissemester) eine berufswahlüberprüfende Funktion attestieren (vgl.

Kapitel 2.2

);

...ob auf der Grundlage der Berufswahltheorien eine Reflexion im Kontext des empirischen Forschungsstands innerhalb von (verlängerten) schulpraktischen Aufenthalten nachzuweisen ist (vgl.

Kapitel 3.1

);

...welche praxisphasenunabhängigen Einflussfaktoren auf die Berufs-wahl von (un)sicheren Lehramtsstudierenden einwirken (vgl.

Kapitel 3.2

);

...welche praxisphasenabhängigen Einflussfaktoren die Berufswahl(un)sicherheit von Lehramtskandidat*innen beeinflussen (vgl.

Kapitel 3.3

);

...welche unmittelbaren Studien zur Berufswahlunsicherheit bei angehenden Lehrkräften zu identifizieren sind (vgl.

Kapitel 3.4

).

2.2 Theorien der Berufswahl

Im Kontext von Berufswahltheorien existieren hinsichtlich (un)sicherer Lehramts-kandidat*innen zum einen grundlegende Erwartungs-WertModelle (vgl. z.B. Wigfield & Eccles, 2000), welche die Berufswahlentscheidung i.W. als einen persönlich-rationalen Abwägungsprozess darstellen, der zwischen der Erfolgserwartung und dem antizipierten Nutzen von Entscheidungsalternativen abwägt (S. 69). Zum anderen liegen äußerst individuelle und somit nahezu unzählige Einflussfaktoren gegenüber der beruflichen Entscheidungssicherheit vor, welche ein breites inhaltliches Spektrum von Persönlichkeitsmerkmalen über spezifische Kompetenzentwicklungen bis hin zu alternativen Berufswahlmöglichkeiten abbilden. Verschiedene (neuere) Berufswahltheorien versuchen, diese Einflussfaktoren kategorienbasiert in einem Mo-dell zu veranschaulichen (vgl. für eine Übersicht z.B. Hirschi, 2013; Trojer, 2018).

Abbildung 2: Fit-Choice-Modell nach Watt et al. (2012, S. 793).

Das Fit-Choice-Modell (Factors influencing teaching as a career choice) nach Richardson und Watt (2006) (vgl. Abbildung 2) stellt vrmtl. die populärste Möglichkeit eines Berufswahlmodells dar, basiert auf der oben genannten Erwartungs-Wert-Theorie nach Wigfield und Eccles (2000) und zeichnet sich insbes. durch die Spezifität für den Lehrer*innenberuf aus, indem es „die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten [...] bewerte[t] und [...] darüber hinaus allgemein die Anforderungen bzw. Herausforderungen der Berufstätigkeit beurteil[t]“ (König et al, 2013, S. 556). Darüber hinaus erweist sich die mehrfaktorielle Struktur dieses Modells aufgrund empirischer Überprüfungen sowohl international standardisiert und validiert als auch systematisch veranschaulicht, um die allgemeingültigen Einflussfaktoren der Berufswahl zu erfassen (vgl. z.B. König & Rothland, 2012, S. 303f.; siehe auch König et al., 2013, S. 555f.; Watt et al., 2012, S. 801; Rothland, 2014, S. 377).

Das Modell kann ausgehend von den sozialisatorischen Einflüssen (Socialisation Influences) der einzelnen Lehramtsstudierenden betrachtet werden, die u.a. ihre bisherigen Lehr- und Lernerfahrungen (Prior teaching and learning experiences) umfassen, wie etwa in Form von pädagogischen Vorerfahrungen (vgl. Kapitel 3.2). Diese individuellen sozialisatorischen Einflüsse wirken sich daraufhin auf vier Inhaltsdimensionen aus, die letztendlich hochgradig die lehramtsspezifische Berufswahlentscheidung (Choice of Teaching Career) bestimmen:

Zunächst können in diesem Kontext die intrinsischen Motive

8

(Intrinsic Value), die Bedeutung des sozialen Engagements (Social Utility Value) sowie der persönliche Nutzwert (Personal Utility Value) angeführt werden (vgl. für eine Vertiefung

Kapitel 3.2

).

Außerdem nehmen die wahrgenommenen Fähigkeiten (Self-Perceptions), insbes. die der Lehrfähigkeiten (Perceived teaching abillities), einen relevanten Stellenwert gegenüber der Berufswahl ein (vgl.

Kapitel 3.2

,

3.3

).

Des Weiteren besitzen die beruflichen Profite (Task Return) und Ansprüche (Task Demands) einen Einfluss auf den Beschluss, Lehrer*in zu werden, da bspw. im Kontext der beruflichen Anforderungen verschiedene Beanspruchungswahrnehmungen bei den Lehramtsstudierenden vorliegen (vgl. 4.3.5).

Ferner besteht darüber hinaus die entscheidungsbeeinflussende Möglichkeit, den Lehrer*innenberuf aus Verlegenheitslösung (Fall-back Career) zu ergreifen (vgl. Kapitel 4.2.5).

Abschließend ist insbes. bezüglich des vorgelegten Forschungsanlasses gegenüber des Fit-Choice-Modells zu konstatieren, dass es trotz seiner grundsätzlich validen Ergründung von Einflussfaktoren der Berufswahlentscheidung vor allem zwei strukturelle Unzulänglichkeiten aufzeigt, um der Berufswahl(un)sicherheit nach (verlängerten) Schulpraxisphasen gerecht werden zu können. Denn einerseits handelt es sich bei dem Modell um kein praxisphasenspezifisches Konstrukt, auch wenn es vrmtl. einzelne Faktoren enthält, die auch für die Entscheidungsunsicherheit nach dem Praxissemester verantwortlich sind. Andererseits stellt sich dieses Modell als eine weitestgehend statische, azyklische und nicht-differenzierungsfähige9 Theorie heraus, welches ein feststehendes Endprodukt zu konstituieren scheint. Diesen Unzulänglichkeiten zuwider erweist sich die berufliche (Un)sicherheit für die Lehramtskarriere in der Realität nicht zwingend als ein monoton steigendes Konstrukt innerhalb des Studiums bzw. der Karriere, wie sich im Folgenden zeigen wird. Somit kommt dieses Modell alleinstehend den beruflichen (temporären) Unsicherheiten und ihren verschiedenen Abstufungsgraden lediglich eingeschränkt nach, die sich bspw. trotz einer grundsätzli-chen Zusage des Kandidat*innen gegenüber der Lehramtskarriere in situativen Lernsituationen (z.B. dem Praxissemester) einstellen. Denn

[d]urch Erfahrungen in schulpraktischen Lerngelegenheiten in der Lehrerinnenund Lehrerbildung entwickeln Studierende professionelle Fragestellungen in authentischen Settings. Zudem bieten Lerngelegenheiten die Möglichkeit, die bis dahin erworbenen Lehrfähigkeiten in der Praxis zu erproben. Lehrkonzepte können umgesetzt, theoretische Konzepte können direkt im Klassenzimmer angewandt und kritisches Denken auf dem Weg zur reflektierten Praktikerin oder zum reflektierten Praktiker geschärft werden (König et al., 2016, S. 69).

Deswegen erfolgt im Zuge der vorliegenden Untersuchung eine Erweiterung des Fit-Choice-Modells anhand von drei weiteren allgemeinen Berufswahltheorien, die sowohl potentielle Entscheidungsprozesse als auch Abstufungsgrade der beruflichen Unsicherheit berücksichtigen und somit die oben genannten Defizite kompensieren. Während (1) die Typologische Theorie der Person-Umwelt-Passung von Holland (1997) sowie (2) die Entwicklungstheorie der Laufbahnentwicklung von Super (1994) die Berufswahl bereits in Abhängigkeit von ihrer situativen beruflichen Umwelt sowie als einen Abwägungsprozess über die gesamte Lebensspanne betrachten, greift insbes. (3) die Sozial-kognitive Theorie von Lent et al. (Social-Cognitiv-Career-Theory, SCCT; 2002) die Vorstel-lung auf, dass sich die Berufswahlentscheidung als ein dynamischer und zyklischer Prozess erweist.

(1) Hollands Typologischer Theorie zufolge (1997) vollziehen sich Berufswahlreflexionen in einem Entscheidungsprozess, der eintritt, wenn eine Person neuen (beruflichen) Umwelten – wie z.B. dem Praxissemester – ausgesetzt ist. In diesem Fall muss von dieser betroffenen Person überprüft werden, ob eine hinreichende Kongruenz, die es anzustreben gilt, zwischen Person- und Umwelttypus (z.B. soziale Persönlichkeit und soziale Umwelt) vorliegt. Denn lediglich angesichts einer derartigen Kongruenz kann das Individuum einerseits seine fähigkeiten- und fertigkeitenorientierten Ressourcen einsetzen sowie andererseits seine spezifische Lebensauffassung und Geisteshaltung realisieren und somit einen Zustand von Zufriedenheit und Wohlbefinden erlangen. Ergänzend besagt (2) Supers eigenschaftsbasierte Theorie (1994) in erster Linie, dass sich die Berufswahlentscheidung als ein lebenslanger dynamischer Prozess zwischen Subjekt und Umwelt erweist. Dieser Prozess entspricht angesichts seines fortschreitenden Verlaufs immer mehr der tatsächlichen Berufsvorstellung und lässt sich anhand eines Torbogenmo-dells der beruflichen Entwicklung widerspiegeln, dessen Schlussstein es durch die Absolvierung von unterschiedlichen Entwicklungsstufen zu erreichen gilt. Diesen Schlussstein des Torbogens bildet das authentische Selbstkonzept, welches die persönlichen Einstellungen und Werthaltungen impliziert und die Person somit zum Entscheidungsträger seines Handelns bestimmt. Letztendlich ist eine intakte und leistungsfähige Konstitution des authentischen Selbstkonzeptes von dem aus der individuellen Betrachtungsebene als harmonisch beurteilte Zusammenspiel der personalen (z.B. Interessen, spezielle Begabungen) und sozialen (z.B. Beruf) Bedingungen abhängig.

Die oben skizzierten Theorien Hollands und Supers bleiben jedoch in ihrer Auslegung der Persönlichkeitsmerkmale weitestgehend beständig und berücksichtigen somit die Zeitinstabilität von Berufswahlentscheidungen neben sozialkognitiven Aspekte noch nicht zufriedenstellend. Die Umsetzung dieser Anforderungen wird jedoch besonders realitätsnah, d.h. dynamisch und zyklisch, von (3) der SCCT nach Lent et al. (2002) umgesetzt. Die SCCT, welche auf der sozial-kognitiven Theorie von Bandura (1986) beruht, umfasst verschiedene integrative Laufbahnmodelle; mitunter das der Interessenentwicklung und das des Berufswahlverhaltens, wobei für den vorliegenden Beitrag insbes. das letzgenannte Modell entscheidend ist. Im Kontext der berufsbezogenen Interessentwicklung ist vorab festzuhalten, dass die Selbstwirksamkeitsund Leistungserwartungen in einem unmittelbaren Zusammenhang gegenüber den Interessen stehen. Diese Erwartungen können sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern, wobei jedoch grundsätzlich angenommen wird, dass sie im Zuge des Erwachsenwerdens beständiger werden (vgl. Lent, 2013), was an folgender Ausführung veranschaulicht werden kann: „SCCT assumes that this basic process is constantly in motion througout the lifespan and that trough this process people come to develop characteristic patterns of career interests“ (Lent et al., 2002, S. 267).