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Berührungshunger: Das Gefühl, wenn die Haut sich nach Berührung sehnt. Genau wie der Magen sich nach Nahrung verzehrt oder die Lunge nach Luft, braucht die Haut angenehme Berührung. In meinem Buch geht es um den Zusammenhang zwischen Streicheln, Kuscheln und der seelischen Gesundheit. Wie funktioniert die Biologie dahinter? Warum ist Berührung so ein Tabu? Was passiert bei chronischem Kuschelmangel? Und vor allem: Was kann man dagegen tun? Kuscheltherapie wird als Lösung für einige unserer Zivilisationskrankheiten (Depression, Burn-Out, Einsamkeit) untersucht. Was bringt sie und wem kann sie helfen? Hilf dir selbst ist die beste Devise. Im Buch findest du deswegen auch Anleitungen und Anregungen zum Selbermachen, wenn die Haut mal wieder hungrig ist.
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Elisa E. Meyer ist Kuscheltherapeutin aus Leipzig. Sie wurde 1986 in Luxemburg geboren. Sie studierte Germanistik und Philosophie in Freiburg, anschließend promovierte sie in Wien zum Werk von Robert Musil und dem Thema „Leibliche Identität“. Als Kind von zwei Therapeuten begann sie früh mit der Erforschung des eigenen therapeutischen Weges. Sie arbeitet mit Reiki, Familienaufstellung, Bodywork und seit kurzem mit biodynamischer Körpertherapie. Seit 2015 setzt sie sich mit Kuscheltherapie in Theorie und Praxis auseinander. 2018 gründete sie das Unternehmen „Die Kuschel Kiste“.
Die Botschaft „Ich bin lebendig“ kann man tatsächlich nicht anders transportieren als über den Körper.
Ich betone deshalb immer wieder:
Berührung hat den Rang eines Lebensmittels.
Dr. Martin Grunwald, „Zauber der Berührung“.
Natur/Heilen 11/2013.
Einleitung
Berührung zwischen Wissenschaft und Psychologie
Tastsinn: Der weiße Fleck in der Forschung
Der Multitasker Oxytocin
Harry Harlow und die Mutterliebe
Kuschelnde Kinder: Das Selbst im Aufbau
Berührungsmangel: Die unerkannte Krankheit
Berührung in unserer Gesellschaft
Berührung: Das große Tabu unserer Gesellschaft
Technologie, Prüderie und Konsum. Die unheiligen Drei
Männer im Teufelskreis
Kuschelbedürfnis im Bordell
Allgemeine Verunsicherung: Kuscheln im Zeitalter von #metoo
Berührung als Heilung
Kuscheln gegen Krankheit: Heilende Berührung
Kuscheltherapie: Der neue Trend aus den USA
Einsamkeit – Stress – Berührungsmangel
Kuscheln gegen Depression: Oxytocin als natürliches Antidepressivum
Kuscheln gegen Schmerzen
Kuscheln in Beziehung: Vertrauen und Trennung
Kuscheln im Alter
Kuscheln und Trauma: Körpertherapie gegen Missbrauch
Aus meinem Leben als Kuschlerin
Mein Leben als professionelle Kuschlerin
Was kann ich, was andere nicht können?
Verwechslung von Kuscheln mit Sex
Ersatzfreundin: Projektionen im Alltag einer Kuschlerin
Die Kunden
Leg selbst Hand an!
Kuscheln als Meditation
Kuschel dich selbst
Kuschel deinen Partner
Kuscheln wie die Tiere
Kuschelpositionen
Kategorie 1 – Wie anfangen?
Kategorie 2 – Sich fallenlassen
Kategorie 3 – Für Fortgeschrittene
Danksagung
Literaturverzeichnis
Hallo du! Wie geht’s dir gerade? Sitzt du gut mit meinem Buch in der Hand? Hast du gerade Hunger oder Durst? Fühlst du dich gestresst, verspannt, traurig, heiter? Wenn du dir in den Nacken fasst, sind die Muskeln verspannt? Wenn ja, beruhigt es dich vielleicht, dass es den meisten Menschen so geht. Während du das hier liest, ist es wichtig, nicht ganz zu vergessen, dass du auch einen Körper hast. Setz dich also am besten so, dass du entspannt sitzen kannst, ohne dass irgendwelche Körperteile dabei einschlafen. Achte kurz auf deine Atmung. Hälst du den Atem vielleicht an? 90 % unseres Tages vergessen wir unseren Körper und sind vollkommen in unseren Gedanken oder in dem, was gerade passiert, was gerade geredet wird. Besonders in der Schule, an der Uni und im Büro wird von uns verlangt, dass wir uns 100%ig auf das konzentrieren, was gesprochen wird. So machen wir auf Dauer unser Körpergefühl kaputt. Deswegen ist es auch kein Wunder, dass die meisten Menschen chronisch verspannt sind, unter Berührungsmangel leiden und verschiedene Formen von Krankheit entwickeln.
Mit dem Buch, das du gerade in den Händen hältst, ist zumindest die Unwissenheit darüber beendet. Ein Grund zur Freude! Von jetzt an kannst du nie wieder so tun, als wüsstest du nichts davon, dass unsere Gesellschaft an Berührungsmangel leidet. Ja, ich formuliere das mit Absicht so, als sei es eine Krankheit. Dazu erfährst du später mehr. Es wird dir an jedem Ort und bei vielen Menschen auffallen, wie sehr sie sich nach Berührung sehnen und wie berührungsfeindlich unsere Lebensumstände gestaltet sind. Wenn du jetzt also jemanden klagen hörst, wirst du automatisch denken: „Das könnte ein Fall von Berührungsmangel sein.“ Und wenn du dich nach ausgiebigem Kuscheln wohlig reckst, wirst du erkennen, wie der Oxytocinrausch der Berührung durch dich hindurchfließt.
So erging es mir jedenfalls vor zwei Jahren, als ich anfing, mich mit dem Thema Berührung zu beschäftigen. Ich hatte schon viel Theoretisches für meine Doktorarbeit in Germanistik gelesen. Irgendwann fing ich an, mir den zwischenmenschlichen Kontakt nicht nur im „Mann ohne Eigenschaften“, sondern auch in der Realität anzuschauen. Dank Samantha Hess und anderen Profikuschlern aus den USA stieß ich dann auf den Artikel, in dem verrückte Berufe aufgezählt wurden. Darunter auch das Kuscheln für Geld. Natürlich war der Gedanke erst einmal absurd und ich musste drüber lachen. Aber nur für eine Sekunde.
Was ist eigentlich professionelles Kuscheln? Es ist keine Prostitution, es ist kein Tantra, es ist keine Therapie, es hat nichts mit Sex zu tun, es ist kein Wellness, es hat auch nichts mit Esoterik und Spiritualität zu tun. Und dennoch hat es Anteile von all diesen anderen Bereichen. Kuscheln als Berührungsform ist der Grund, die Basis, für all diese Bereiche. Sie sind ein Überbau, ein Versuch, Berührung und vor allem Verbindung wieder in unseren Alltag zu integrieren. Wir haben oft den Faden verloren, und suchen ihn verzweifelt an allen Ecken und Enden. Wer durch Berührung eine Verbindung zu anderen Menschen in seinem Leben aufbauen kann, braucht sonst nichts. Leider gibt es Viele, denen das fehlt.
Für wen schreibe ich das Buch? Wenn du dich für die gesellschaftlichen Hintergründe des grassierenden Berührungsmangels interessierst, für die relevanten Studien zum Thema Berührung, wirst du mit einer kurzen Übersicht bedient. Darüber hinaus kannst du dich über philosophische Gedanken freuen, aber auch über praktische Anleitungen. Fasziniert dich besonders die Kuscheltherapie, findest du alle Aspekte von der Erfindung, über den Ablauf, bis hin zur Wirkweise. Du kannst von meiner persönlichen Erfahrung lesen, was ich alles erlebe und was auch die Schwierigkeiten sein können. Ob aus der Perspektive eines Kunden, eines zukünftigen Kuschlers oder einfach zum Spaß: es gibt Kapitel für jeden!
Wenn dir das eine oder andere Thema sehr vereinfacht vorkommt: Ja, ich habe mich dafür entschieden, für eine bessere Leserlichkeit einige Aspekte pauschal zu formulieren und nicht sehr detailliert darzustellen. Das gilt besonders für die Studien zur Tastforschung. Wenn du dich für die Details interessierst, gehe den Links aus den Fußnoten nach und suche dir interessante Buchtitel aus meinem Literaturverzeichnis aus für eine weitergehende Lektüre.
Jetzt bin ich schon seit drei Jahren Profi-Kuschlerin und muss dringend meine Erkenntnisse mit dir teilen. Ich freue mich, dass du dich für das Thema interessierst und dafür mein Buch gekauft hast.
Fühl dich umarmt! Und vergiss nicht, dich nach jedem Kapitel zu strecken, zu dehnen, dich zu spüren.
D er Tastsinn war schon immer das Stiefkind unter den Wahrnehmungsorganen. Die Gründe dafür sind unter anderem in der christlichen Religion aber auch in einem übertriebenen Hang zur Objektivität der Naturwissenschaften zu finden. Der Tastsinn ist nun einmal sehr schwer objektiv zu vermessen. Auch herrscht der allgemeine Verdacht, dass der Tastsinn schmuddelig, weil immer irgendwie sexuell sei. Dazu kommen wir später noch. Weltweit gibt es derzeit acht Institute für Haptikforschung. Ein einziges davon befindet sich in Europa, genauer gesagt in Leipzig, Deutschland. Hier kümmert sich Martin Grunwald um die wissenschaftlichen Grundlagen seit seiner Karriere als Psychologe. Zum Beispiel: Wieviel Druck kann die Haut überhaupt erfassen? Warum fassen wir uns selbst im Gesicht an? Wie entsteht das Körperbild? Grunwald schreibt folgende kritische Worte:
„Der Tastsinn erfährt – wie auch der Geruchs- und der Geschmackssinn – eine gleichermaßen dezidierte wie kontinuierliche Nichtbeachtung und kultivierte Abwertung innerhalb der Psychologie und der Medizin – insbesondere in Relation zum Sehsinn.“ (Grunwald, Homo Hapticus, S. 18)
Der Tastsinn ist eigentlich ein Überbegriff für viele verschiedene Sinne. Durch die mangelhafte Forschung sind unsere Schul- und Lehrbücher extrem mager. Das bedeutet aber auch, dass wir die Ignoranz zum Thema Tastsinn über Generationen weiterverbreiten. Generationen, die kein Bewusstsein dafür haben, wie ihr eigener Körper biologisch funktioniert, wie man die eigenen haptischen Fähigkeiten praktisch ausbilden kann.
Kennst du zum Beispiel den Sinn der Propriozeption? Das ist der Sinn, der uns mitteilt, wie der Arm oder das Bein derzeit im Raum liegt, steht oder hängt. Überhaupt ist die Haut das Organ, das am ehesten Wahrnehmungen auffängt. Zum Beispiel die Hitze eines Feuers, das Brüllen eines Löwen: Auch Geräusche werden erst einmal von ultrasensiblen Härchen auf der Haut im Ohr als Vibration wahrgenommen. Das ist nur möglich durch die unendlich vielen Nervenenden in unserer Haut. Es gibt Rezeptoren mit vielen verschiedenen Aufgaben: Kalt, warm, Druck, Schmerz und viele mehr. Auch hier ist noch lange nicht alles erforscht. Das Einzige was wir wissen: Die Haut ist mit Rezeptoren gespickt, diese senden jede noch so winzige Berührung an das Gehirn weiter, und hier werden unterschiedliche Reaktionen ausgelöst, zum Beispiel die Ausschüttung von Hormonen.
Mütter können ihr Neugeborenes unter vielen anderen eindeutig an einer Berührung erkennen, selbst wenn alle anderen Sinne ausgeschaltet sind. So natürlich auch umgekehrt: Das Baby erkennt seine Mutter sofort an der Berührung. Hier liegt auch der Grund verborgen, warum der Tastsinn so ein Hypersinn ist: Als Säugetiere sind wir ab der ersten Sekunde auf den Tastsinn angewiesen. Berührung ist in den ersten Jahren eines Menschen überlebenswichtig, noch wichtiger als Nahrung, wie die berüchtigten Untersuchungen an Waisenkindern zeigten. (Diese wurden 1989 nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in Rumänien von westlichen Journalisten „entdeckt“. Sie bekamen nur das Nötigste an Nahrung und Medizin.) Noch erschreckender: Selbst als die Babys von Pflegefamilien aufgenommen wurden, konnte bei den etwas älteren Kindern (>2 Jahre) keine Besserung festgestellt werden: Ihr Körper und ihr seelischer Zustand war durch den Berührungsmangel irreversibel geschädigt.
Berührung löst unter anderem die Ausschüttung von Oxytocin aus. Das ist ein Hormon, das viele verschiedene Funktionen erfüllt, wahrscheinlich noch viel mehr, als wir derzeit wissen. Es sorgt dafür, dass sich der Organismus beruhigt. Cortisol, das Stresshormon, wird gesenkt. Es wirkt schmerzstillend, unterstützt das Immunsystem, das Wachstum. Es stellt Verbindung und Vertrauen her. Darüber hinaus hat es den psychologischen Effekt, dass wir uns mit uns selbst wohl fühlen, Selbstvertrauen, eine stabile Persönlichkeit entwickeln, gut mit Problemen umgehen können und uns nett zu unseren Mitmenschen verhalten.
Oxytocin ist also eine Art Wunderhormon. Für die Kuscheltherapie ist es wesentlich, deswegen gebe ich dir hier eine kleine Übersicht über diesen körpereigenen Heilstoff. (Ich werde versuchen, dabei nicht zu technisch zu werden.)
Oxytocin wird ab Stunde Null eines Menschenlebens produziert. Ein Baby, das von seiner Mutter berührt und getragen wird, ist von Oxytocin überflutet. Es gibt sogar spezielle Nervenenden in der Haut (CT-Nerven), die genau auf die mütterliche Berührung – sanftes, langsames und warmes Streicheln – reagieren, und dann dem Gehirn signalisieren, dass es Oxytocin ausschütten soll.1 Das passiert wohlgemerkt erst, wenn man selbst berührt wird, also passiv beim Berührungsvorgang ist. (Es gibt natürlich auch eine beruhigende Wirkung beim aktiven Streicheln, wie man auch in Studien mit Haustieren festgestellt hat. Der Effekt ist jedoch nicht ganz so stark.) Das Hormon verteilt sich rasch im ganzen Körper. Die Wirkungen sind mannigfaltig. Der Herzschlag ist ruhig, der Metabolismus arbeitet konstant. Beim Baby verursacht es vor allem Wachstum, denn der Körper, der ruhig und entspannt ist, kann ungestört arbeiten, genauso wie das Immunsystem. Wenn das Baby gestresst wird, zum Beispiel wenn es Berührung vermisst, dann wird Cortisol ausgeschüttet. Das System schaltet auf Überleben und Alarm, Wachstum und Immunsystem sind gestoppt. Kommt dann wieder Berührung als Stressregulation, wird wieder Oxytocin ausgeschüttet und das Cortisol wird weniger. Du verstehst das Prinzip.
Oxytocin hat aber nicht nur diese körperlichen Auswirkungen. Das Baby wächst nicht nur, sondern ist auch zufrieden und glücklich, denn es fühlt sich sicher und aufgehoben. Außerdem baut jede einzelne Berührung eine Beziehung auf, eine Verbindung zur Mutter und zu anderen Verwandten. Nur so kann das Baby Vertrauen lernen. Bei häufigem Stress verliert das Baby dieses Grundgefühl von Sicherheit und Verbindung und wird traumatisiert. Diese Veränderungen betreffen auch das Gehirn. Später im Leben kann man genau feststellen, ob ein Mensch als Baby häufig gestresst war. Denn auch als Erwachsener wird er bei heiklen Situationen schneller gestresst als Menschen, die eine ruhigere Kindheit hatten. (Die Fähigkeit, bei Stress ruhig zu bleiben, nennt man Resilienz.) Das klingt verrückt und unfair, wurde aber von Neurologen aus der Stressforschungs-Abteilung eindeutig festgestellt, wie du bei Joachim Bauer nachlesen kannst.
Das ist aber noch lange nicht alles. Oxytocin spielt nicht nur für Babys eine große Rolle, sondern auch beim Orgasmus wird es ausgeschüttet, bei der Geburt und beim Stillen. Oxytocin ist also immer mit im Spiel, wenn es um wesentliche menschliche Belange geht. Bei all diesen Situationen sorgt es für eine gelöste, glückselige Stimmung (zum Beispiel nach dem Orgasmus), kann aber auch so komplexe Vorgänge in Gang setzen wie eine Gebärmutterkontraktion bei der Geburt oder die Milchproduktion beim Stillen. Wie gesagt, auch hier wissen wir wahrscheinlich kaum die Hälfte.
Später im Leben ist festzustellen, dass Oxytocin eine interessante Wirkung in Zusammenhang mit Depression, Angststörungen, Selbstbewusstsein, soziale Bindungen oder auch Autismus hat. Deswegen ist die Kuscheltherapie, bei der ja Oxytocin ausgeschüttet wird, eine interessante Möglichkeit, mit diesen Zuständen umzugehen. Es gibt hier einige Studien, bei denen mit Oxytocin-Nasenspray verschiedene Settings durchgespielt wurden. Dabei hat man zum Beispiel herausgefunden, dass bei Menschen mit dem Spray eine größere Bereitschaft da war, mit Mitmenschen zu kooperieren und diese einfach nett zu behandeln.2
Oxytocin wirkt also nicht nur bei Säuglingen, sondern tatsächlich bis zum letzten Atemzug. Es beeinflusst unsere Stimmung, unsere Beziehungen, unsere soziale Situation, im Grunde alles was wir in unserem Leben tun und lassen.
1 Hakan Olausson: „Berühren Erwünscht“. 16. April 2009. In: wissenschaft.de. https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/beruehren-erwuenscht/
2 Tyrell, Johanna, „Ein Nasenspray gegen Fremdenhass und Geiz?“ 17. August 2017. In: Stern. https://www.stern.de/panorama/wissen/oxytocin--ein-nasenspray-gegen-fremdenfeindlichkeit-und-geiz-7580510.html
Harry Harlow war einer der ersten, der in den 50er Jahren den Zusammenhang zwischen mütterlicher Berührung und der gesunden Entwicklung des Babys erforschte. Davor herrschte in unserem Gesundheitssystem leider der Irrglaube, dass Berührung ungesund und deswegen unter allen Umständen zu vermeiden sei. „Berührung löst Stress aus und überträgt Krankheiten“, so das Motto. Sogar bei Säuglingen.
„Besonders eifrige Mediziner und Verhaltensforscher plädierten sogar für den vollständigen Verzicht auf körperliche Nähe. In einer von den Naturwissenschaften geprägten Gesellschaft schien zudem eine Hinwendung der Mutter zum Kind wissenschaftlich wenig plausibel und daher zweifelhaft.“ (Grunwald, Homo Hapticus, S. 54)
Betrachten wir die ersten Momente nach der Geburt: In dieser Phase ist der Mensch auf die Berührung der Mutter angewiesen. Im Mutterleib ist die Berührung durch die Flüssigkeit im Uterus gegeben, es gibt einen konstanten Druck von allen Seiten. Ist das Baby plötzlich auf der Welt, fehlt die Berührung, Atmung funktioniert anders, alles ist ungewohnt und seltsam. Das kann zu einem traumatischen Erlebnis werden, wenn nicht sofort Kontakt mit der Mutter hergestellt wird. Die Berührung ist nicht nur emotional, sondern auch biologisch das erste Bedürfnis und die erste Bedingung, damit ein Baby überlebt. Sonst schaltet sich der Körper des Babys nach und nach ab. Das weiß man unter anderem durch Forschung mit anderen Säugetierarten.
„Wie ungemein wichtig diese passive Stimulation schon im frühen Kindesalter ist, zeigen verschiedene Studien an Tieren: Kaum hatte man junge Ratten von ihrer Mutter getrennt, drosselten sie sofort die Produktion von Wachstumshormonen – es sei denn, die Forscher ersetzten die fehlenden mütterlichen Liebkosungen durch Streicheleinheiten mit einem nassen Malpinsel. Fällt die taktile Stimulation hingegen längere Zeit vollkommen aus, entwickelt sich weder der Körper noch das Gehirn des Tieres normal weiter“.3
Berührung bedeutet Sicherheit und Vertrauen. Sicherheit für den Körper: Er kann sich stressfrei weiterentwickeln und wachsen. Zellen teilen sich, das Immunsystem arbeitet gut, das Baby wächst gesund heran. Vertrauen bedeutet psychisch: Ich bin in Sicherheit, ich muss keine Angst haben, jemand passt auf mich auf. Dieser Jemand liebt mich, denn er fasst mich sanft und behutsam an, er sorgt für mich. Wenn mit den beiden Faktoren Sicherheit und Vertrauen etwas schief geht, dann hat der Mensch später, wenn er überhaupt überlebt, massive Probleme.
Vor Harry Harlow war es üblich, das Baby gleich von der Mutter zu trennen, zu wickeln und in ein eigenes Bettchen zu legen. Das notorische Schreien wurde als gesunde Reaktion angesehen. In einem Artikel der Zeit über die NS-Zeit und die Erziehungsmethoden von damals, speziell über den Erziehungsratgeber einer Ärztin namens Johanna Haarer, wird dies ausführlich beschrieben:
„"Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen", riet damals Johanna Haarer. Sie schilderte detailreich körperliche Aspekte, ignorierte aber alles Psychische – und warnte geradezu vor "äffischer" Zuneigung: "Die Überschüttung des Kindes mit Zärtlichkeiten, etwa gar von Dritten, kann verderblich sein und muss auf die Dauer verweichlichen. Eine gewisse Sparsamkeit in diesen Dingen ist der deutschen Mutter und dem deutschen Kinde sicherlich angemessen." Gleich nach der Geburt sei es empfehlenswert, das Kind für 24 Stunden zu isolieren; statt in einer "läppischverballhornten Kindersprache" solle die Mutter ausschließlich in "vernünftigem Deutsch" mit ihm sprechen, und wenn es schreie, solle man es schreien lassen. Das kräftige die Lungen und härte ab.“4
Die Angst vor Infektionen und charakterlicher Verweichlichung sowie die wissenschaftliche und rassenideologische Anmaßung, das Baby besser versorgen zu können als die Mutter, waren so groß, dass man dafür das Leben von Säuglingen aufs Spiel setzte. Harlow wurde damals in den 50ern stark kritisiert, man war empört! Man könnte fast meinen, er hätte hier ähnlich wie Kopernikus ein Weltbild umgestoßen. Ich würde diese Zeit sogar als „Harlow‘sche Wende“ bezeichnen! Wolfgang Bergmann sagt über Harlow und seine Kollegen:
„Sie haben ein Tabu gebrochen. Das Tabu lautet: Ein Kind braucht Liebe, in den ersten Lebensmonaten vor allem die Liebe der Mutter, sonst wird es krank, seelisch und körperlich. Nein, so etwas tut man nicht, so redet man nicht in den Räumen der Wissenschaften und schon gar nicht denen der Politik.“5
Bis heute gibt es noch Ärzte, die an den Unsinn mit den schädlichen Berührungen glauben. Hauptsache man hat sich nicht geirrt! Auch in der deutschen Bevölkerung sitzt die Konditionierung tief. Wie im Artikel aus der Zeit betont wird, kann sich ein solches Berührungs-Trauma von Generation zu Generation weitervererben. Das führt zu transgenerationellen Identitäts- und Beziehungsstörungen und vielen anderen psychischen Problemen.
Der Psychologe Harlow züchtete und trainierte für seine sozialen Experimente Rhesusaffen in seinem Labor. Ihm fiel auf, dass diese ein seltsames Verhalten an den Tag legten. Die Affen, die im Käfig geboren wurden und gleich nach der Geburt einen eigenen Käfig bekamen, um vor Keimen geschützt zu sein, waren später nicht mehr zu „gebrauchen“, da sie aggressiv und unkooperativ anderen Affen gegenüber reagierten. Mehr noch, sie zeigten depressives und katatonisches Verhalten, hatten teilweise motorische Störungen. Dabei hatte er doch scheinbar bestens für sie gesorgt!
Um diesem Umstand auf den Grund zu gehen, erfand Harlow ein bis dato einzigartiges Experiment. Er baute für die Affenbabys Ersatzmütter. Damit wollte er herauszufinden, was den Kleinen denn nun genau fehlte. Er baute einerseits Draht-Mütter, die Milch in Flaschen eingebaut hatten, andere Mütter hatten ein flauschiges Fell. Das Resultat war eindeutig: Die Babys bevorzugten auf jeden Fall die flauschige Mutter. Nahrung war zweitrangig. Immer wenn eine stressige oder angsteinflößende Situation kam, flüchteten die Affen zurück zu ihren Flauschmüttern. Meistens verließen sie diese nur für kurze Zeit, zum Beispiel, um schnell etwas zu trinken. Bahnbrechende Ergebnisse!
Wenn Harlow sich nicht durchgesetzt hätte, würden heute die Babys immer noch mit einem Klaps auf den Po begrüßt und schreiend in ein Bett verfrachtet werden. Die Behandlung nach der Geburt ist aber leider nicht der einzige Irrtum, der sich in unserer Gesellschaft festgesetzt hat. Dazu gehören auch Kinderwagen und Brutkästen, beides Überbleibsel aus einer Kindererziehung und Forschung, die längst überholt gehören. Über Brutkästen für Frühchen hat Dr. Grunwald einiges geschrieben. Diese veralteten Terrarien mit Schläuchen versetzen das Frühchen in einen traumatischen Zustand. Nachdem sie sich die Lunge aus dem Leib geschrien haben und keine Hilfe kommt, geben sie ganz auf und sterben entweder, oder bleiben ihr Leben lang emotional und körperlich beeinträchtigt. Lange war es üblich, dass Frühchen gar nicht angefasst wurden. Erst Tiffany Field hat in den 90ern (!!) festgestellt, dass Frühchen mit Massagetherapie wesentlich schneller wachsen und gesund werden. Sie konnten sechs Tage früher als ihre unberührten Mitpatienten entlassen werden. Neue Studien belegen immer häufiger und eindeutiger, dass Berührung die Überlebenschancen enorm steigern, und nicht schmälern.
Warum sind Kinderwagen und Brutkästen so schädlich für Kinder? Warum machen wir mit dieser unnatürlichen Lebensweise die Leben von ganzen Generationen kaputt? Das beschreibt Jean Liedloff in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“. Sie vergleicht unsere „zivilisierte“ Welt mit den Lebensumständen bei einem Indianerstamm: Wie gehen diese mit ihren Kindern um und was ergibt sich daraus? Dieses Buch ist purer Sprengstoff. Es macht betroffen. Man kann die Thesen abtun, aber im Endeffekt hat sie recht. Auch die Wissenschaft weist mittlerweile vermehrt darauf hin, dass Säuglinge den wiegenden Gang der Mutter erleben müssen, dass also das Getragen-Werden ein wesentlicher Bestandteil der Säuglingsentwicklung ist. Ohne diese Stimulation (also bei der horizontalen Fahrtbewegung im Kinderwagen oder der absoluten Privation von Bewegung im Brutkasten) kann sich das Gehirn des Säuglings nicht ordentlich entwickeln. Motorische Fähigkeiten und Gleichgewichtssinn bleiben unterentwickelt.
Der Umschwung in der Medizin ist also vor knapp 50 Jahren gestartet. Die Schäden, die damals angerichtet wurden, wirken immer noch nach. Sie sind unter anderem ein Grund für den Berührungsmangel in unserer heutigen Gesellschaft: Die letzten Generationen wurden in der Kindheit kaum berührt, und haben dies an ihre eigenen Kinder weitergegeben, genau wie Harlows Rhesusaffen, die direkt von der Mutter getrennt wurden, und dann später mit ihrem eigenen Kind nichts anfangen konnten.
Mit den Folgen dieser Erziehung müssen wir leben. Die Kuscheltherapie ist eine direkte Konsequenz davon. Wir befinden uns in einer Zeit des Umbruchs, die Frage ist, sind wir schnell genug? Oder werden uns die Symptome einer entmenschlichten Erziehung einholen, bevor wir etwas dagegen tun können?
3 Artikel „Gefühlte Welten“ von Dr. Martin Grunwald. In: Gehirn&Geist, Magazin für Psychologie und Hirnforschung, Ausgabe 3/04.
4 Kratzer, Anne: „Warum Hitler bis heute die Erziehung von Kindern beeinflusst.“ 12. September 2018. In: Zeit Online. https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018-07/ns-geschichte-mutter-kind-beziehung-kindererziehung-nazizeit-adolf-hitler
5 Die Entdeckung der Mutterliebe, S. 8.
Nicht nur als Baby ist Berührung für das Überleben wesentlich. Auch später, wenn wir schon krabbeln und laufen können, brauchen wir Berührung. Wie alle anderen Säugetierkinder brauchen auch menschliche Kinder regelmäßig Körperkontakt, und zwar besonders dann, wenn es ihnen schlecht geht, also bei Stress, Schmerzen und Angst. Ist die Erziehung jedoch darauf ausgelegt, dass Schmerzen ausgehalten werden müssen und Gefühle unterdrückt („Wein nicht, ist doch nicht so schlimm.“), und Berührung ausschließlich zu besonderen Anlässen und zur Belohnung gegeben wird, führt das zu wesentlichen Defiziten im gesundheitlichen und psychischen Bereich.