Bet empört sich - Christian Frascella - E-Book

Bet empört sich E-Book

Christian Frascella

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Beschreibung

Bet, eigentlich Elisabetta, hat ein Credo: Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es. Und wenn du dabei schreien musst, heißt das, dass sich die Mühe lohnt. Die Siebzehnjährige mit dem Charakter »einer jungen Apachin« und dem Herz am rechten Fleck steht mit der Welt auf Kriegsfuß - mit ihrer Mutter, den Schwachköpfen aus der Schule und auch mit sich selbst. Sie lebt in Turin, einer Stadt, die einem wie eine warme Höhle oder wie eine kalte Mauer vorkommen kann. Zum Glück ist da ihre Freundin Viola. Und auch Andrea, ihr engagierter Schulkamerad, ist »ganz in Ordnung«, denn als ihrer Mutter die Kündigung droht, unterstützt er sie bei einer Streikaktion. Doch als diese gewaltsam aufgelöst wird, spürt Bet Enttäuschung und Frustration. Und noch mehr: Sie ist empört! Über die herrschende Ungerechtigkeit, die Chancenungleichheit und Perspektivlosigkeit von jungen Menschen, die Ausweglosigkeit, die sie umgibt. Während im ganzen Land Studenten und Arbeiter zu Großdemonstrationen zusammenfinden, um gegen die Zustände zu protestieren, entschließt sich Bet zu einer Tat, die ungeahnte Folgen hat … Christian Frascella erzählt mit viel Charme und Esprit von einer jungen Frau mit einem weichen Herzen und viel Zivilcourage. Bet erkennt auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden, dass sie nur für etwas glühen muss, um auf die schwarz-weiße Welt da draußen ein Licht zu werfen.

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Bet empört sich

Bet, eigentlich Elisabetta, hat ein Credo: Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es. Und wenn du dabei schreien musst, heißt das, dass sich die Mühe lohnt. Die Siebzehnjährige mit dem Charakter »einer jungen Apachin« und dem Herz am rechten Fleck steht mit der Welt auf Kriegsfuß – mit ihrer Mutter, den Schwachköpfen aus der Schule, und auch mit sich selbst. Zum Glück ist da ihre Freundin Viola. Und auch Andrea, ihr engagierter Schulfreund. Als ihrer Mutter die Kündigung droht, unterstützt er sie bei einer Streikaktion. Doch als diese gewaltsam aufgelöst wird, spürt Bet Enttäuschung und Frustration. Und noch mehr: Sie ist empört! Über die herrschende Ungerechtigkeit, die Chancenungleichheit und Perspektivlosigkeit von jungen Menschen. Während im ganzen Land Studenten und Arbeiter zu Großdemonstrationen zusammenfinden, um gegen die Zustände zu protestieren, entschließt sich Bet zu einer Tat, die ungeahnte Folgen hat …

Christian Frascella erzählt mit viel Charme und Esprit eine Geschichte von Mut und Zivilcourage. Bet erkennt auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden, dass sie nur für etwas glühen muss, um auf die schwarz-weiße Welt da draußen ein Licht zu werfen.

Christian Frascella

BET EMPÖRT SICH

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Ich heiße Bet. Eigentlich Elisabetta, aber Bet ist besser. Ist mir lieber. Bloß nicht Betta. Betta ist zum Kotzen. Betta heißen dumme Tussis. Ich will eine ganze Menge, aber auf keinen Fall als dumme Tussi enden.

Es ist ein Uhr nachts, ich sitze in einem Imbiss in Barriera di Milano. Obwohl wir hier in Turin sind. Keine Ahnung, warum ein Viertel in Turin Barriera di Milano heißt. Vielleicht gab es mal eine Barriere zwischen hier und da. Was Geschichtliches. Irgendwann werde ich das rauskriegen. Ich gehe in die Bibliothek und krieg es raus.

Erst einmal frage ich Matteo, ob er es weiß. – Matty, warum heißt Barriera di Milano so?

– Gute Frage. Er stützt sich auf die Theke, sieht mich an. Aber er sieht mich nicht so an, wie Männer mich normalerweise ansehen. Ihr wisst schon, welchen Blick ich meine. Den Blick, der abschätzt, wie leicht du klarzumachen bist, und ob es sich überhaupt lohnt. Also, ich sag’s gleich, diese Art Blick zieht bei mir nicht. Ich kenne ihn gut, und er funktioniert nicht bei mir. – Stell dir vor, Bet, ich weiß es nicht.

– Ich weiß es auch nicht. Darum hab ich ja gefragt.

Er lächelt schwach, ein bisschen traurig. Traurige Männer sind merkwürdig. Männer bestimmen selbst über ihren ganzen Kram und schaffen es obendrein auch noch, traurig zu sein. Und wir? Was sollen wir denn dann sagen?

– Hast du morgen keine Schule?, fragt er. Er hat blaue, aufmerksame Augen.

– Ich steh trotzdem auf. Ich stehe immer auf. Fast immer.

Ich lächle. Er erwidert mein Lächeln.

– In welche Klasse gehst du jetzt auf dem Gymnasium?

– Wieder in die dritte. Ich bin sitzengeblieben.

Er hebt die Augenbrauen. – Schade. Hast du’s verdient?

– Die meisten Dinge, die mir passieren, habe ich wahrscheinlich nicht verdient.

Er nickt, als wüsste er, wovon ich spreche. Vielleicht weiß er es auch. Er säubert die Theke, wischt sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Bright Bar heißt dieses Lokal. Mein Vater ging hierhin. Obwohl die damalige Besitzerin eine mürrische alte Frau war.

– Was ist eigentlich aus der Alten geworden, der die Bar früher gehörte?

– Sie hat mir die Geschäftsführung überlassen. Er zuckt mit den Achseln, als wäre er schon immer dazu verdammt gewesen, die Bright Bar zu bewirtschaften. Eine andere Wahl hatte er nicht.

Das Türglöckchen bimmelt, und noch bevor ich mich umdrehe, weiß ich, wer reingekommen ist: Claudio Morino und Alberto Calvarese. Sie müssen immer ein wahnsinniges Rambazamba machen.

– Ciao, Matty!, ruft Alberto grinsend und haut mit der Faust auf die Theke.

– He, Matty, was geht ab?, fragt Claudio mit heiserer Stimme und braungebrannt wie immer. Mindestens dreimal in der Woche geht er zu Cocco Sun, um da eine Sonnendusche zu nehmen. Sonnendusche ist ein total bescheuertes Wort. Für bescheuerte Typen.

Matteo beachtet sie kaum, ich auch nicht. Für mich die leichteste Übung.

– Na, sieh mal einer an, macht Claudio und kommt auf meinen Tisch zu. Er wendet sich an seinen Freund: – Hast du gesehen, wer da ist?

Jetzt entdeckt mich auch Alberto. – Ah, die Nachtschwärmerin.

Claudio will sich auf den leeren Stuhl neben mir setzen. Ich schiebe den Stuhl mit einem Fuß an den Tisch heran.

Er runzelt die Stirn. Sein Blick ist leer, er hat was geraucht. – Soll das heißen, du willst nicht, dass ich mich neben dich setze, Bet?

– Genau das soll es heißen.

Alberto stellt sich neben ihn. Seine langen, schwarzen Haare fallen ihm bis auf die Schultern. Er scheint einen klareren Kopf zu haben. Scheint. Beide tragen schwarze Lederjacken, Jeans und Stiefel. Bevor ich was sagen kann, fragt Matteo hinter ihrem Rücken: – Was trinkt ihr, Leute?

Alberto betrachtet mein Glas. – Was trinkt sie?

– Ein Rostschutzmittel, antworte ich. – Bei Typen, die sich nicht um ihren eigenen Scheiß kümmern, setze ich Rost an.

Sie wechseln einen verblüfften Blick.

– Lasst Bet in Ruhe, greift Matteo ein. – Nun sagt schon, was möchtet ihr?

Aber Claudio lässt nicht locker. – Warum bist du bloß immer so pissig, Süße?

– Pissig und Süße kannst du zu deiner Schwester sagen, erwidere ich. – Die hört so was öfter.

Das steckt er schlecht weg.

Alberto legt ihm eine Hand auf die Schulter. – Hey, vergiss die doch …

– Ja, vergiss mich.

Claudio schwingt einen Finger in dem leeren Raum zwischen uns. Das soll wohl eine Warnung sein oder etwas Ähnliches.

Ich stehe auf und lege Matteo das Geld neben die Kasse.

– Du gehst, Bet?

– Ich gehe, ciao.

Claudio wirft mir einen Blick unter halbgeschlossenen Lidern zu, das hat er wahrscheinlich aus den Sopranos.

Ich zünde mir eine Zigarette an, schnaube in seine Richtung und gehe raus.

Nachts kann die Stadt dir wie eine warme Höhle vorkommen oder wie eine kalte Mauer, an der du abprallst. Es hängt davon ab, wie du sie lebst und was du darin unternimmst. Die Nächte, in denen du etwas unternimmst, sind vielleicht nicht mal die besten. Aber wenigstens bleibst du in Bewegung.

Ich bleibe in Bewegung, und ich unternehme, was ich will. Damit das klar ist, ich bin nicht in der Welt rumgekommen und könnte euch nicht sagen, ob es hier besser ist als in Moskau und schlechter als in Paris. Diese Städte kenne ich nur aus Filmen. Früher habe ich mir immer vorgestellt, mit dem Rucksack loszuziehen, um per Anhalter durch Europa und dann durch die Welt zu fahren. Aber was kriegst du schon in einen Rucksack rein? Und wie kommst du an Geld? Mädchen, die ohne Ziel aufbrechen, sind meiner Meinung nach nicht ganz dicht. Irgendjemand, garantiert ein Mann, wird sie benutzen, ihnen wehtun. Und dann kommen sie mit richtig fetten Narben nach Hause zurück, die sie sich hätten ersparen können. Außerdem kann ich keine Sprachen. Mein Englisch ist beschissen. Ich habe meine frühe Jugend nicht damit verbracht, Englisch zu lernen, indem ich tonnenweise idiotische Songs übersetze, vielleicht sogar Sachen von den Doors – wenn es in der Geschichte dieses Planeten einen überschätzten Schwachkopf gibt, dann ist das eindeutig Jim Morrison. Von Leuten, die in T-Shirts mit Zitaten oder Bildern von Jim Morrison rumlaufen, kriege ich Magengeschwüre.

Nicht dass ich die Songs und die Visage von jemandem wie Gigi D’Alessio besser fände. In meiner Klasse ist eine, Carmela heißt sie, die kann dir sogar das Datum sagen, an dem der Scheiß von diesem Typen aufgenommen wurde. Manchmal setzt sie sich Kopfhörer auf, vor allem in der Mathestunde bei diesem zerstreuten Crivelli, der nichts mitkriegt oder nichts mitkriegen will. Herz, Schmerz, Tränen, Sehnen. Würg, Kotz. Irgendwo habe ich gelesen, dass Gigi D’Alessio damit angibt, dass er es ganz allein nach oben geschafft hat. Da frage ich mich: Wie bitte, man hätte dir sogar noch helfen sollen?

Es ist Dezember, aber ich trage nur einen Pulli und eine leichte Jacke. Und meine herrlich unmodernen gelben Doc-Martens-Stiefel. Mir ist kalt, und um mich abzulenken, denke ich an einen schwülen Abend, als ich sieben Jahre alt war. Mit einem Trick hatte ich meinen Vater in der Abstellkammer eingeschlossen, weil er nicht wollte, dass ich eine Sendung über das Bombenattentat im Bahnhof von Bologna gucke. Es war am zweiten August, der zigste Jahrestag des Blutbads. Mein Vater meinte, ich hätte es nicht verdient, erfahren zu müssen, wie viel Mist in diesem Land passiert ist, ohne dass irgendjemand auch nur einen Finger gerührt hat, um ein Körnchen Wahrheit darüber herauszufinden.

Das Haus, in dem ich wohne, ist gesichtslos. Sechs Stockwerke mit jeweils zwei Wohnungen. Insgesamt – mit dem ausgebauten Dachgeschoss – macht das vierzehn Familien. Viele sind weggegangen, dafür sind andere gekommen. Wir haben es nicht geschafft wegzugehen, vielleicht sind wir nicht mal auf den Gedanken gekommen. Ohnehin giert der Markt nicht gerade nach unseren zwei Schlafzimmern, Wohnzimmer und Küche. Ausländer sind gekommen. Rumänen und Nordafrikaner. Manche sind laut – aber welche Familie macht keinen Krach? Eine sehr traurige vielleicht.

Mein Credo ist: Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es. Wenn du es schreiend sagen musst, soll das bedeuten, dass sich die Mühe lohnt. Nur Gewalt darf man nicht anwenden.

Mir machen die Ausländer keine Angst, obwohl ich sie oft nicht kapiere. Die algerische Familie, die über uns wohnt, besteht aus zwei männlichen und drei weiblichen Mitgliedern. Die Frauen stehen am Herd, putzen andauernd die Wohnung, gehen im Supermarkt einkaufen, laufen verschleiert herum. Eine ist alt und hat schwarze Zähne, wahrscheinlich die Großmutter. Dann gibt es die Mutter, sie hat von allen in der Familie die dunkelste Haut. Die Tochter, um die zwanzig, ist ein stummes, wehrloses Geschöpf, einer von den Schmetterlingen, die dir im Sommer durchs Fenster ins Haus fliegen. Den Vater höre ich mehr, als dass ich ihn sehe. Er guckt griesgrämig, lacht aber oft. Er lacht mit seinem Sohn, der irgendwas wie Rashid heißt. Massig wie der Vater, aber noch ein Junge, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt. Die Schwester steht unter seinem strengen Regiment. Ich habe die beiden ein Dutzend Mal im Treppenhaus gesehen. Von oben bis unten eingehüllt, das Gesicht hinter dem Schleier verborgen, ging sie dicht hinter ihm. Er stieg mit grimmigem Gesicht die Treppe runter und trat mit den Füßen so fest auf die Stufen, als würde er mit jedem Schritt seinen Raum markieren und als könnte dieser Raum niemand anderem gehören als ihm. Er redete mit ihr in ihrer Sprache und schrie fast. Sie wiederholte andauernd eine Art »Ja, in Ordnung«, es klang wie ein Singsang.

Dieses Mädchen würde ich gerne mal an den Schultern packen und ordentlich schütteln. Ihr sagen: »Du bist doch kein Maultier, lass dich wenigstens mit einem winzigen Bisschen Respekt behandeln!« Vielleicht würde sie mir sagen, ich soll mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, und genau das habe ich vor. Lasst mich einfach nur in Ruhe, okay? Dann verschwende ich keinen Gedanken an euch.

Außerdem sind da die Rumänen. Zwei Familien. Sie trinken, machen Lärm, geben sich mit einem primitiven Italienisch zufrieden, und im Gegensatz zu den Algeriern grüßen sie. Von Zeit zu Zeit versammeln sie sich an sonnigen Tagen zum Grillen im Hof. Die Männer streiten ein bisschen, schubsen sich auch hin und wieder, dann schließen sie Frieden. Den Frieden unter Gleichen in der Fremde. Eine raue Solidarität.

Und da ist er, am Fenster der Wohnung im Hochparterre. Da, hinter der Gardine, ein fahles Licht im Rücken. Wie immer, wenn ich nach Hause komme, wartet er auf mich.

Wer das ist?

Das ist der Spanner.

Ich weiß nicht mal, wie er aussieht. Vielleicht ist er querschnittsgelähmt und sitzt die ganze Zeit am Fenster, weil er nichts anderes tun kann. Doch ich glaube, wenn er krank wäre, hätte ich das gemerkt. Er könnte nicht allein leben, zum Beispiel, aber ich bin fast sicher, dass er allein lebt.

Ich weiß gar nichts von ihm. Dass er ein Mann ist, habe ich an der ungeschickten Bewegung erkannt, mit der er die Gardinen zuzieht, immer wenn ich ankomme. Gardinen sind ein zu komplizierter Mechanismus für Männer, sie reißen am Stoff, statt die Gardinen zusammenzuschieben. Aber vor allem habe ich es daran erkannt, wie seine Augen über mich wandern, obwohl unsere Blicke sich nie gekreuzt haben. So etwas weiß eine Frau. Ein beharrlicher männlicher Blick greift fester zu als eine Hand. Du stehst zum Beispiel im Supermarkt und überprüfst den Preis der Milch im untersten Regal. Du blickst dich um, da ist niemand. Denn um die Zahlen lesen zu können, musst du dich bücken. Und im selben Moment spürst du ein paar Finger, die dir auf den Hintern klopfen. Mit einem Ruck drehst du dich um, und da ist er: der Macker, plötzlich hinter einem Kilo Arborioreis hervorgekommen oder gerade rechtzeitig von der Decke heruntergesprungen, um deinen Arsch anzustarren, während du vornübergebeugt stehst. Mit dem instinktiven Gespür für den richtigen Zeitpunkt, das nur sie haben, als hätten sie jede ihrer Bewegungen mit der Stoppuhr gemessen, vom Aufwachen bis zum heimlichen Glotzen. Sie verbringen ihr ganzes Leben damit, den perfekten Augenblick sekundengenau anzupeilen. Zum Schreien komisch, wenn es nicht auch so traurig wäre.

Wie der Spanner.

Als ich klein war, lebte ein glückliches junges Paar in seiner Wohnung, das dann zwei Kinder bekam, aber etwas ging schief, wahrscheinlich haben sie einander irgendwann gehasst und gegenseitig betrogen und beschimpft, bis ich ihn vor ein paar Jahren mit einem Kind im Auto wegfahren sah und sie im Taxi mit dem anderen. Eilig und in entgegengesetzte Richtungen. Zwischen ihnen der Lastwagen der Umzugsfirma.

Wenn ein Mann und eine Frau heiraten, kommt mir das so vor, als gingen sie mit einem Schirm, der für zwei Leute zu klein ist, bei Gewitter aus dem Haus. Dabei müssten sie bloß versuchen, irgendwie miteinander auszukommen.

Ich stecke den Schlüssel ins Schloss. Wird er durch den Spion beobachten, wie ich vorübergehe? Ich trete in den Hausflur, sehe seine Tür und hebe den Mittelfinger in seine Richtung. Fick dich, Spanner, ich habe keine Angst vor dir!

Ich habe die Haustür noch nicht ganz aufgemacht, da kommt meine Mutter schon aus dem Schlafzimmer gerannt.

Sie ist im Schlafanzug, ihre Füße auf den Fliesen sind nackt.

– Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist, Bet?, flüstert sie wütend. Die übliche nervige Leier.

– Ich war allein in der Bar an der Ecke.

Ich ziehe mir die Jacke aus, hänge sie auf. Wie immer.

– Hatte ich dir nicht gesagt, dass du da nicht mehr hingehen sollst?

– Ja.

– Na, also?

– Also was? Ich gehe, wohin ich will.

– Diese Bar gefällt mir nicht. Sie dreht sich zum Schlafzimmer um. Mit ihren großen braunen Augen – genau wie meine – kontrolliert sie, ob er noch schläft.

– Den wecken doch nicht mal die Trompeten des Jüngsten Gerichts auf, sei unbesorgt.

Ich gehe in mein Zimmer und weiß jetzt schon, dass sie hinterherkommen wird. Natürlich.

– Sprich leise. Und sieh mich an.

Ich setze mich aufs Bett. Sehe sie an. – Was willst du, Ma? Geh schlafen!

– Hast du getrunken?

Sie glaubt, dass ich Alkohol trinke, Joints rauche, mich durch das Viertel vögele und Läden anzünde. An diesem schiefen Bild von mir sind gewisse Fernsehprogramme schuld.

– Geh schlafen.

Sie knipst die Nachttischlampe an und mustert mich. Von unten betrachtet, wirkt sie noch älter. Dabei ist sie erst vierzig, Scheiße. Ich habe ein so strahlendes Bild von ihr in Erinnerung: Wir sind im Park, ich laufe ihr entgegen, es ist Sommer, ich bin ungefähr fünf Jahre alt; sie trägt ein geblümtes Kleid, ist schlank, hat volle Lippen. Sie bückt sich, um mich in ihren Armen zu empfangen, und ich vergehe in ihrer Umarmung.

– Du kannst dich nicht immer so benehmen, als wäre dir alles erlaubt.

– Was ist mir denn erlaubt worden, lass mal hören.

– Du kannst nicht alles tun, was du willst! Ihre Stimme bricht, es klingt fast wie ein Röcheln. Sie knurrt: – Wenigstens nicht, bis du volljährig wirst!

– Was soll das heißen, wenn ich achtzehn bin, darf ich mir ein Gewehr zulegen?

Wie üblich folgt der Moment, in dem man merkt, dass sie versucht, sich zu beherrschen, damit sie mich nicht ohrfeigt oder mir vielleicht einen Fausthieb verpasst. – Bet!, zischt sie.

– Lass mich in Ruhe, Ma.

Mein Zimmer ist aseptisch. Abgesehen von ein paar Fotos meines Vaters (am Meer, als er jung war; auf seinem ersten Motorrad; mit mir im Haus der Großeltern) gibt es nichts, was besonders viel mit mir zu tun hat.

– Ich möchte nur wissen, mit wem du deine ganze Zeit verbringst, fängt sie wieder an. Sie hat die Hände in die Seiten gestützt wie ein Unteroffizier, der die undisziplinierte Rekrutin mustert und überlegt, was er tun wird. – Und wie du sie verbringst.

– Mal sehen, was ist heute, Montag? Montags beschmiere ich Kirchen, raube Passanten aus und teile mir die Parkbank mit lüsternen Obdachlosen.

Gierig zieht sie Luft durch die Nasenlöcher ein, reckt sich und durchbohrt mich mit einem vernichtenden Blick. – Lass diese dummen Sprüche, Bet! Jetzt hat sie geschrien.

Man hört das Quietschen eines metallenen Bettrosts, einen leisen Fluch, wieder Quietschen, Schritte auf dem Flur. Leonardos Gestalt zeichnet sich an der Tür zu meinem Zimmer ab. Er hat sich die Brille aufgesetzt, doch seine Lider sind voller Schlafsand. Auch er trägt einen Pyjama, und der hat das gleiche Muster wie ihrer, theoretisch soll er aber männlicher wirken.

Er betrachtet uns forschend.

Dicklicher Typ, der Bart quillt ihm fast bis in die Nasenlöcher, die Schultern hängen.

– Die Kavallerie ist angekommen, sage ich.

– Was ist hier los?, fragt er mit belegter Stimme.

– Bring sie ins Bett zurück, schlage ich vor, auf meine Mutter zeigend.

– Wie spät ist es denn?

Sie geht auf ihn zu. – Bitte entschuldige, sagt sie.

Er nickt, lässt den Blick durch mein Zimmer schweifen. Dann sagt er zu mir: – Du bist wieder spät heimgekommen.

– Und?, frage ich herausfordernd.

– Du solltest aufhören, ihr solche Sorgen zu bereiten. Sein Ton ist immer ebenso bedächtig wie sein Verhalten ungeschickt.

– Sie selbst setzt sich die Dornenkrone auf, sobald es elf geschlagen hat. Ich kann nichts dafür.

Stirnrunzeln, er versteht fast nie, was ich meine.

Meine Mutter macht einen Schritt in meine Richtung. Er hält sie zurück. – Komm schon, Elena.

– Ja, Elena, sage ich, geh schlafen, Elena.

– Ich kann es nicht erwarten, dass du endlich erwachsen wirst!, stößt sie hervor. – Und dass du dir eine Arbeit suchst! Und weggehst!

Ich stehe auf. – Ich auch nicht! Sobald ich kann, suche ich mir eine Arbeit und gehe weg. Denn ich bin schon erwachsen, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest!

– Hört doch auf …

– Erwachsen? Du wirst nie erwachsen, du nicht!

– Sei still!

– Und dieses Jahr wirst du wieder sitzenbleiben!

– Wen kümmert das?

– Du bist genau wie dein Vater!

– Ja, zum Glück!

– Aber er ist nicht da, warum wohl?

Das war ein Tiefschlag gegen mich, und sie weiß es. Also bin ich an der Reihe: – Weil ich kleine Mädchen umbringe, darum will keiner von euch mich um sich haben!

Sie wird stocksteif. – Bet, du …, flüstert sie und legt sich eine Hand aufs Herz. Ihre Unterlippe zittert. – Bet, ich …

Ich dachte, ich hätte ihr wehgetan, aber für mich ist es noch schmerzhafter. Einen Augenblick lang stockt mir der Atem. Ich möchte um Entschuldigung bitten. Ich möchte im Erdboden versinken.

– Lasst uns alle schlafen gehen, bitte, flüstert Leonardo beim Betrachten seiner Füße.

Meine Mutter setzt zum Sprechen an. Doch dann dreht sie sich um und geht niedergeschlagen aus dem Zimmer. Mit kleinen, orientierungslosen Schritten.

Leonardo fährt sich mit der Hand durch den Bart. – Gute Nacht, sagt er und schließt leise die Tür.

Ich mache das Licht aus und setze mich mitten im Zimmer auf den Fußboden.

Etwa eine halbe Stunde vergeht, während der ich mich nicht vom Fleck rühre. Ich habe mich bescheuert verhalten, ich war wieder einmal gemein.

Darum bin ich fast sicher, dass sie heute Abend nicht kommen werden.

Ich habe bemerkt, dass sie entweder gar nicht oder erst sehr viel später auftauchen, wenn ich etwas tue, was für mich und für andere falsch war, oder wenn ich jemanden verletze. Und ich kann nicht einschlafen oder schlafe sehr schlecht, wenn ich sie nicht sehe.

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, darum habe ich es auch noch keinem erzählt. Denn man würde denken, ich sei reif für die Klapsmühle mit allem Drum und Dran, Zwangsjacke und Gummizelle. Natürlich nur, wenn die anderen sie nicht sehen könnten. Ich war schon oft versucht, sie jemandem zu zeigen. Meiner Mutter zum Beispiel. Aber hier ist Magie im Spiel, eine Magie, die verschwinden wird, wenn ich mir klarmache, dass die leuchtenden Kugeln nur eine Halluzination von mir sind.

Warum es angefangen hat, weiß ich nicht. Eines Nachts, ich war zwölf, saß ich auf meinem Bett. Ich konnte nicht schlafen, wahrscheinlich weinte ich sogar. Da spürte ich einen starken Schauder im Rücken und meine Hände juckten. Ein sehr angenehmes Jucken. Im Dunkeln habe ich versucht, meine Handflächen zu erkennen, die nicht aufhören wollten, zu jucken, ein Gefühl wie feine Regentropfen auf der Haut. Ich weiß nicht, welchem Impuls ich folgte, aber ich habe die Handflächen aneinander gerieben. Und wieder lief mir ein Schauder über den Rücken.

Als ich die Hände voneinander löste, entstand plötzlich aus dem Nichts, ja, ich kann es wirklich nicht anders sagen … aus dem Nichts, eine leuchtende Kugel!

Klein, nur wenige Zentimeter im Durchmesser, fluoreszierend, warm, weich: So löste sie sich von meiner Hand und schwebte, sich um sich selbst drehend und ohne ein Geräusch zu machen, zur Zimmerdecke hinauf. Ein paar Sekunden lang blieb sie vor meinen Augen stehen, als wollte sie sich bewundern lassen.

Ich wusste nicht, ob ich schreien oder lachen sollte, ich wusste nicht, was das war, ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Und noch heute, fünf Jahre nach der ersten Erscheinung, weiß ich nicht, ob ich schreien oder lachen soll oder was zum Henker dieses seltsame Phänomen bedeutet. Ich habe in Büchern, im Internet gesucht. Nichts. Bloß Fälle von Bauern aus dem Piemont, die morgens auf dem Weg zur Arbeit von leuchtenden Kügelchen begleitet wurden – allerdings meistens nach einer durchzechten Nacht. Oder Astronauten, die behaupten, sie hätten welche im Weltall gesehen, doch die waren sehr viel größer und vielleicht Folgen elektrischer Entladungen in der Erdatmosphäre wie zum Beispiel das Elmsfeuer. Mit den Kugeln hat das nichts zu tun, aber während meiner Recherchen habe ich gelesen, dass ein Typ in Neuseeland nachts Waschbären sieht, die an Babyfläschchen nuckeln, überall sieht er Waschbären und Babyfläschchen, dann schreit und lacht er so lange, bis man ihn ruhigstellt! Es ist mir egal, ob ich so verrückt bin wie er, Hauptsache, die Kugeln kommen wieder.

Ich sage Kugeln, nicht Kugel, weil sich damals, kaum war die erste aus meinem Blickfeld verschwunden, um zur Decke aufzusteigen, schon die nächste bildete, genauso groß und in derselben Farbe wie die erste. Auch diese hielt ein paar Zentimeter vor meiner Nasenspitze an und schwebte dann weiter in die Höhe. Um wer weiß wo zu verschwinden, wie die andere … während schon eine dritte zwischen meinen Händen entstand, das Wunder wiederholte und ihren Vorgängerinnen folgte.

Dutzende leuchtender Kugeln.

Die ganze Nacht lang und in vielen weiteren Nächten nach dieser ersten.

Tagsüber nie. Nie in Gegenwart anderer Menschen. Und nie an einem anderen Ort als in meinem Zimmer. Wenn ich, was selten vorkommt, woanders schlafe, spüre ich keinen Schauder, kein Jucken: Sie kommen nicht.

Und sie erscheinen nicht – das habe ich erst im Lauf der Zeit gelernt –, wenn ich während des Tages etwas gesagt oder getan habe, was mit Martina zu tun hat.

Tatsächlich, heute Nacht warte ich vergebens. Es passiert absolut nichts. Und da wird mir ganz klar, dass es ein richtiger Scheißtag gewesen ist.

Der Wecker klingelt. Es ist schon sieben, ich habe in meinen Sachen geschlafen. Ganz schwach erinnere ich mich, dass ich die Doc Martens ausgezogen und mich aufs Bett geworfen habe.

Jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt, denke ich an die Revolution.

Ich denke, dass in irgendeinem Teil der Stadt der Aufstand tobt. Jugendliche, Kurzarbeiter, Ausgebeutete, alle, die es einfach nicht mehr ertragen, sind auf die Straße gegangen. Unsere ganze Epoche erhebt sich gegen das, was falsch läuft in der Schule, der Fabrik, in den Zeitungen, überall. Ich stelle mir vor, dass ich aus dem Fenster schaue und die Revolte ganzer Generationen erlebe. Rennende Menschen, Sprechchöre und Transparente, jemand, der grundsätzliche, wahre Dinge durch ein Megaphon schreit. Ein vernünftiges Konzept vom gesellschaftlichen Wandel.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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