Betrachtungen über die menschliche Erlösung - Anselm von Canterbury - E-Book

Betrachtungen über die menschliche Erlösung E-Book

Anselm von Canterbury

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Beschreibung

... Auf denn, o Mensch, fliehe ein Weniges deine irdischen Beschäftigungen, verbirg dich kurze Zeit vor deinen geräuschvollen Gedanken, wirf jetzt ab deine beschwerlichen Sorgen, und lass hinter dir deine mühseligen Beschäftigungen. Gib dich etwas Gott hin, und ruhe in ihm etwas. Tritt ein in das Gemach deines Herzens, und schließ alles aus außer Gott und was dazu dient, ihn zu finden, und bei verschlossener Tür suche ihn und sage nun, mein ganzes Herz, sage nun zu Gott: "Ich suche dein Angesicht; dein Angesicht, o Herr, will ich suchen." Auf denn also, Herr mein Gott, lehre mein Herz, wo und wie es dich suche, wo und wie es dich finde... XXI. Betrachtung. Anselm von Canterbury regt in seinen "Betrachtungen..." den Leser zum Meditieren über verschiedene Aspekte des Lebens und Sterbens Jesu Christi an. Ernsthaft betrieben und verinnerlicht, führen diese Übungen zu einem demütigen Selbst gegenüber Gottes Schöpfung, den Mitmenschen und einem gefestigten spirituellen Leben in den Stürmen der Welt.

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Schätze der christlichen Literatur

Band 8

Inhaltsverzeichnis

Leben des heiligen Anselm, Erzbischofs von Canterbury

Anselm von Canterbury

Vorwort

Betrachtung

Wie wir zum Bild und Gleichnis Gottes geschaffen sind

Wie wir dazu geschaffen sind, Gott ohne Unterlaß zu loben

Wie wir allenthalben, wo wir sind, in ihm leben, weben und sind, da wir ihn in uns haben

Wie alle, die wir in Christus getauft sind, Christus angezogen haben

Daß wir Christi Leib sind

Wie wir mit Christus eins sind, und mit ihm ein Christus sind

Betrachtung unserer Sünden, besonders derer, worüber uns unser Gewissen größere Vorwürfe macht, durch die wir dieses alles verloren haben

Erwägung der Menschwerdung des Herrn, durch welche wir alles dies wiedererlangt haben

Wie man beten muß, um aus dem See des Elends und dem Schlamm der Unreinheit herausgerissen zu werden

Betrachtung des Elends dieses Lebens

Von dem Körper, nach dem Verscheiden der Seele

Von der Seele, nachdem sie sich von dem Körper getrennt hat

Erwägung des Tages des Gerichts, wo die Widder an die Linke gestellt werden

Erwägung der Freude, wenn die Schafe an die Rechte gestellt werden

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Daß nichts beständig ist in der Welt

Von den vielfachen Wohltaten Gottes

Jetzt macht sich der Sünder Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit gegen die göttlichen Wohltaten

Anerkennung seiner Sünde

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Betrachtung

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Betrachtung

Betrachtung

2. Teil

Betrachtung

3. Teil

Betrachtung

Betrachtung

Bewunderung über die unaussprechliche Güte des Schöpfers und das große Elend des geschaffenen Menschen

Wie der eine Mensch von dem anderen geliebt wird, und warum Gott mehr geliebt werden muß, als irgendein Mensch

Daß Gott alles gut gemacht hat, und daß er selbst wesentlich gut sei

Daß alle Kreatur ihren Schöpfer lobe

Worin der Mensch seinem Schöpfer ähnlich ist

Daß der Mensch aus zwei Naturen besteht, von denen die eine sich erhebt bis zum Höchsten, die andere herabgesenkt wird bis zum Niedrigsten

Nun betet der Mensch zu Gott, daß er es nicht zulassen möge, daß er seine Freiheit schlecht gebrauche

Betrachtung

Betrachtung

Zu dieser Ausgabe

Leben des heiligen Anselm, Erzbischofs von Canterbury.

DER heilige Anselm, durch Frömmigkeit, wie durch Wissenschaft ausgezeichnet, ist als der Vater der scholastischen Theologie d. h. der verstandesmäßigen Erforschung und Darstellung der Offenbarung anzusehen. Er wurde zu Aosta in Piemont um das Jahr 1033 geboren. Sein Vater, mit Namen Gundulph, seine Mutter, mit Namen Ermenberga, waren zwar beide von ansehnlicher Geburt, aber an Charakter und Lebensart sehr verschieden. Der Vater überließ sich den Vergnügungen und seinen Leidenschaften; die Mutter übte die Tugend, versah das Hauswesen, und wandte namentlich der Erziehung ihres Sohnes alle ihre Sorge zu.

Auf Anselm machte das Beispiel und der tägliche Umgang mit seiner Mutter den günstigsten Eindruck. Kaum 15 Jahre alt beschloß er, Mönch zu werden. Der Abt, zu dem er sich zu diesem Zweck begab, mochte wohl einsehen, daß sein Entschluß noch nicht reif genug sei, und verweigerte ihm seinen Wunsch. Das Folgende lehrte, daß der Abt recht gesehen hatte. Denn da inzwischen die Mutter Anselms unversehens starb, vergaß er seinen früheren Entschluß und ging eine Zeitlang seinen Leidenschaften nach.

Doch Gott wollte den Jüngling aus diesem mißlichen Zustand befreien; er ließ es zu, das Anselm in die Ungnade seines Vaters fiel. Dieser empfand einen solchen Abscheu gegen seinen Sohn, daß er ihn kaum anzublicken vermochte, und es blieb Anselm, um nicht Schlimmeres zu erleben, nichts übrig, als das elterliche Haus zu verlassen. Er wandte sich nach Burgund und Gallien, wo er drei Jahre lang emsig dem Studium oblag.

Um diese Zeit stiftete Abt Herluin auf den Grenzen der Normandie das Kloster Bec. Lanfranc war in demselben Prior; ein Mann, dessen Gelehrsamkeit weit und breit berühmt war. An den wandte sich Anselm, um fernerhin Unterricht zu empfangen. Lanfranc nahm ihn auf, und Anselm, der keine Mühe, keine Arbeit scheute, machte in kurzem nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in der Frömmigkeit solche Fortschritte, daß es zum Erstaunen aller war. Da starb Gundulph, sein Vater, und hinterließ ihm ein großes Erbe. Anselm mußte sich nun über seine Standeswahl entscheiden. Er schwankte hin und her und konnte zu keinem rechten Entschluß kommen. Auch Lanfranc wagte nicht ihm in einer so schwierigen Sache Rat zu geben. Er schickte ihn zu Mauritius, Erzbischof von Rouen, einem Mann von heiligmäßiger Gesinnung, der ohne allen Anstand Anselm den Rat gab, unter den klösterlichen Gelübden ein vollkommenes christliches Leben zu führen. Anselm war erfreut über diesen Rat, und trat sogleich in dem Kloster zu Bec als Mönch ein; um so lieber, da in demselben sein Lehrer Lanfranc lebte. Obgleich erst 27 Jahre alt, machte er doch innerhalb von drei Jahren so große Fortschritte in der Tugend, daß er, als Lanfranc zum Abt von Caen vom König Wilhelm ernannt wurde, auf den Wunsch aller Mitglieder des Klosters zum Prior ausersehen wurde.

Jetzt war seinen Tugenden ein reiches Feld der Tätigkeit gegeben. Besonders machte sich seine Klugheit und Milde bei der Erziehung der jüngeren Mönche bemerkbar. Sich selbst schonte er in keinem Stück. Durch Fasten, Abkürzung des Schlafs und andere Bußwerke tötete er sich beständig ab, während er alle übrigen mild behandelte. Nur gegen sich selbst war er streng. Daher kam es, daß er selbst die Ungehorsamen und Widersetzlichen zur Ordnung zurückführte, wie uns denn die damaligen Schriftsteller ein bemerkenswertes Beispiel von einem Mönch, namens Osbern erzählen, der durch die umsichtige Leutseligkeit Anselms völlig umgewandelt wurde.

Diese Beschäftigungen in seinem neuen Amt hinderten ihn nicht, seine wissenschaftlichen Studien mit allem Ernst fortzusetzen. Tag und Nacht beschäftigte er sich mit der Lösung der schwierigsten theologischen Fragen z. B. über die Inspiration, den freien Willen, den Fall des Teufels, und dergleichen.

Wie der Glanz seiner Tugend und seiner Wissenschaften sich so vermehrte, und die ganze Normandie, Gallien, Belgien und Britannien seines Rufes voll war, da konnte es nicht fehlen, daß von allen Seiten wißbegierige Jünglinge aus den angesehensten Familien nach dem Kloster zu Bec zusammenströmten. Als dann der Abt Herluin starb, wurde er einstimmig zu seinem Nachfolger erwählt.

Lanfranc war inzwischen Erzbischof von Canterbury geworden. Ihn zu sehen, und teilweise auch um die Güter seines Klosters, deren dasselbe einige in England besaß, persönlich in Augenschein zu nehmen, setzte Anselm nach Britannien über. Er wurde von allen auf das freundlichste empfangen, selbst von König Wilhelm, mit dem Beinamen „der Eroberer“, einem sonst unbändigen und rauhen Mann. Als Lanfranc starb, mußte er trotz all seines Widerstrebens den erzbischöflichen Stuhl von Canterbury übernehmen. Aber jetzt begannen für ihn schwere Kämpfe. Er hatte die Aufgabe, die tiefverletzte Freiheit der Kirche wiederzugewinnen. König Wilhelm nämlich, der Sohn des obengenannten und sein Nachfolger, hatte die Güter der Kirche an sich gezogen, hemmte die Freiheit der Bischofswahl, und wollte sich dem Gehorsam des römischen Stuhls entziehen. Leider war selbst ein großer Teil der Bischöfe auf seine Seite getreten. Anselm sah, daß er allein stand, und daß es nicht nützlich sei, so allein gegen den Strom zu schwimmen. Er beschloß deshalb der Notwendigkeit zu weichen, und ging zuerst nach Lyon, dann nach Rom, wo ihn Papst Urban II. auf das ehrenvollste aufnahm, und mit Lobesbezeugungen überhäufte. Er wohnte dem Konzil von Bari bei, auf dem er über den Ausgang des Heiligen Geistes gegen die Griechen disputierte; sodann war er auf dem römischen Konzil gegenwärtig. Der Papst nahm lebhaft Partei für Anselm. Da jedoch der König in seinem ungestümen Wesen nicht nachließ, und alle Hoffnung für Anselm verschwand, bei den Lebzeiten desselben zurückzukehren, ging er nach Lyon zurück, wo er über kurz zu seinem großen Leidwesen die Nachricht von dem gewaltsamen Tod des Königs empfing.

Auf Wilhelm folgte Heinrich I. Auch unter ihm dieselben Angriffe auf die kirchliche Freiheit, derselbe Zwiespalt, dieselben Verfolgungen. Anselm ging zum zweiten Mal, um Hilfe zu suchen, nach Rom zum Papst Pascal II. Schließlich kam der König zur Besinnung und sah die Ungerechtigkeit ein, die er geübt hatte. Demnach gab er der Kirche das Recht der freien Bischofswahl zurück, und verzichtete freiwillig auf das Recht der Investitur, welches er sich bis dahin zur Konfirmation der Bischöfe angemaßt hatte.

So war denn der Friede der Kirche wiedererrungen. Allein nach so vielen geistigen und körperlichen Mühen fing Anselm schwer an zu kränkeln. Sein Tod nahte. Da empfing er denn die heiligen Sakramente, erteilte allen Anwesenden, namentlich dem König, der Königin und deren Kindern den bischöflichen Segen, und gab seine heilige Seele gegen den Morgen den 27. April in die Hände Gottes auf, im Jahr 1109, dem 13. seines Pontifikats, dem 76. seines Alters.

Anselm von Canterbury

Betrachtungen über die menschliche Erlösung.

Vorwort.

DIE nachfolgenden Betrachtungen und Gebete, welche herausgegeben sind, um die Seele des Lesers zur Liebe oder Furcht Gottes oder zur Erforschung ihrer selbst zu stimmen, sind eben darum nicht in Zerstreuung sondern in der Stille zu lesen; nicht rasch, sondern langsam, unter aufmerksamer und bedächtiger Erwägung. Auch braucht der Leser nicht darauf zu sehen, daß er jedesmal eine derselben ganz durchlese, sondern wieviel er findet, daß ihm mit Gottes Hilfe zur Entzündung des Gebetssinns genug ist, wieviel ihm Freude macht. Auch hat er nicht nötig, immer eine von Anfang anzufangen, sondern wo es ihm am meisten zusagt. Eben zu dem Ende sind sie in Abschnitte abgeteilt, damit er, wo es ihm beliebt, anfange oder aufhöre, auf daß ihm nicht die Länge oder die häufige Wiederholung derselben Stelle Wiederwillen verursache, sondern vielmehr der Leser irgendwelchen Antrieb der Frömmigkeit, wozu sie eben gemacht sind, daraus schöpfe.

I. Betrachtung.

Über die Würde und das Elend der menschlichen Natur.

1.

Wie wir zum Bild und Gleichnis Gottes geschaffen sind.

WACHE auf, meine Seele, wache auf; strenge an deinen Geist, richte empor deinen Sinn, treibe aus die Saumseligkeit deines todbringenden Schlummers, ergreife die Sorge für dein Heil. Ausgeschlagen werde das Umherschweifen aller unnützen Gedanken, fern weiche die Trägheit, erhalten werde der Fleiß. Gib dich hin den heiligen Betrachtungen, klammere dich fest an die himmlischen Güter, richte dich auf die ewigen, die zeitlichen verlassend. Was kannst du nun nützlicher, was heilsamer in so göttlicher Übung des Geistes bedenken, als die unermeßlichen Wohltaten deines Schöpfers in süßer Erinnerung erwägen? Betrachte also, welche Höhe, welche Würde er im Anfang der Schöpfung dir verliehen, und erwäge, mit welcher Liebe, welcher Verehrung du ihm begegnen mußt. Gewiß, als er das Ganze der sichtbaren und unsichtbaren Dinge schaffend und ordnend, die menschliche Natur hervorzubringen beschlossen hatte, dachte er in seinem hohen Ratschluß an die Würde deiner Stellung, da er sie höher zu ehren bestimmt hatte, als die übrigen Geschöpfe, die in der Welt sind. Siehe deshalb die Erhabenheit deiner Schöpfung und statte die Pflicht der schuldigen Liebe zurück. „Laßt uns“, sprach Gott, den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis.“1 Wenn du bei diesem Wort deines Schöpfers nicht aufwachst, wenn du bei so unaussprechlicher Güte, mit welcher er sich gegen dich herabließ, nicht ganz in Liebe zu ihm aufglühst, wenn du nicht aus dem Mark deiner Seele zum Verlangen nach ihm entflammt wirst; was soll ich denn sagen? Soll ich dich für schlafend oder vielmehr für tot halten? Gib also sorgfältig acht, was es heißt, zum Bild und Gleichnis Gottes geschaffen sein. Du hast daran einen süßen Stoff zu frommer Erwägung, woran du deine Gedanken üben kannst. Bemerke also, daß etwas anderes die Ähnlichkeit, etwas anderes das Ebenbild bedeutet: zum Beispiel kann mit dem Menschen irgendeine Ähnlichkeit ein Pferd haben, ein Stier, oder andere derartige Geschöpfe; das Ebenbild des Menschen trägt aber niemand an sich, als wiederum ein Mensch. Der Mensch nimmt Nahrung zu sich; es nimmt auch das Pferd Nahrung zu sich; siehe irgendeine Ähnlichkeit und Gemeinschaftlichkeit zwischen den verschiedenen Naturen! Das Ebenbild des Menschen aber findet sich nur wieder bei einem anderen Menschen derselben Natur, dessen Ebenbild er ist. Bedeutsamer demnach ist Bild als Ähnlichkeit. Ähnlichkeit werden wir mit Gott auf folgende Weise haben können: wenn wir ihn in seiner Güte betrachtend, uns bemühen gut zu sein; wenn wir ihn in seiner Gerechtigkeit erkennend, gerecht zu sein streben, wenn wir ihn in seiner Barmherzigkeit erschauend, uns Mühe geben, Barmherzigkeit zu üben. Wie verhält es sich aber mit seinem Ebenbild? Merke auf! Gott ist stets sich seiner bewußt, er erkennt sich, er liebt sich. Genauso auch du, wenn du nach deinem geringen Maß unermüdlich Gottes eingedenk sein wirst, Gott betrachtest, Gott liebst: so wirst du nach seinem Ebenbild sein, weil du dich zu tun bestrebst, was Gott immer tut. Auf die Erinnerung, Erkenntnis und Liebe des höchsten Gutes muß der Mensch sein ganzes Leben auf Erden beziehen: dahin muß jeder Gedanke, jede Regung des Herzens gewandt, gerichtet, gezogen sein, daß du in unermüdlicher Begierde Gottes eingedenk seist, Gott erkennst, Gott liebst und die Würde deiner Schöpfung, der gemäß du nach dem Ebenbild Gottes geschaffen bist, heilsam darstellst. Doch was sage ich: Du seist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, der du nach dem Zeugnis des Apostels das Ebenbild Gottes selbst bist? „Der Mann“, so spricht der Apostel, „soll sein Haupt nicht umhüllen, da er das Bild und der Ruhm Gottes ist.“2

2.

Wie wir dazu geschaffen sind, Gott ohne Unterlaß zu loben.

GENÜGEN dir diese unermeßlichen Wohltaten deines Schöpfers nicht, ihm immerwährend Dank zu sagen, und ohne Unterlaß deine Liebe zu beweisen, wenn du bedenkst, wie du aus Nichts oder vielmehr aus dem Staub durch seine Güte zu einer so großen Höhe beim Beginn der Schöpfung erhoben bist? Folge also der Gesinnung der Heiligen in deinem eigenen Leben nach, und höre, was von dem Heiligen geschrieben steht. Wie ist nämlich das Lob des Heiligen? „Aus seinem ganzen Herzen lobte er den Herrn.“ Siehe, wozu du geschaffen bist; siehe die Aufgabe deines Dienstes. Denn wozu hätte dich Gott zu einer so herrlichen, ausnahmsweisen Bestimmung erhoben, wenn er nicht gewollt hätte, daß du unablässig auf sein Lob bedacht seist? Zum Lob deines Schöpfers also bist du geschaffen, daß du mit seinem Lob beschäftigt, hier an Verdienst und Gerechtigkeit stets zunimmst, und jenseits glückselig lebst. Denn sein Lob schafft hier Gerechtigkeit, dort Seligkeit. Aber wenn du lobst, lobe aus ganzem Herzen, lobe durch Liebe. Denn dieses ist die Regel, die den Heiligen für das Lob gegeben ist: „Aus seinem ganzen Herzen lobte er Gott, und liebte Gott, der ihn geschaffen.“3 Lobe also, und aus ganzem Herzen lobe, und den du lobst, liebe ihn, weil du dazu geschaffen bist, daß du lobst und liebst. Denn es lobt zwar, aber nicht aus ganzem Herzen, wen das Glück stimmt, Gott zu segnen, den aber das Unglück Gott zu segnen abhält. Es lobt auch, aber liebt nicht, wer im Lob Gottes irgend etwas anderes als ihn selbst sucht. Lobe ihn mithin, und lobe ihn würdig, daß in dir keine Sorge, keine Meinung, kein Gedanke, keine Bewegung deines Geistes, in wie weit es immer dir möglich ist, von dem Lob Gottes bloß sei. Von seinem Lob möge dich kein freudiges Geschick dieses Lebens wegführen, kein widriges entfremden. So allein wirst du aus ganzem Herzen Gott loben. Indes wenn du ihn aus ganzem Herzen lobst, und liebend lobst, so begehre von ihm nichts, als ihn selbst, daß er das Ziel deines Verlangens sei, er der Lohn deiner Arbeit, er der Trost in diesem dunklen Erdenleben, er der Besitz in jenem seligen Leben. Dazu bist du mithin geschaffen, daß du ihn ohne Ende preist, was du dann erst vollständiger einsehen wirst, wenn du zu seiner glückseligen Anschauung erhoben, erkennst, wie du einzig und allein durch seine erbarmende Güte, als du nicht warst, aus Nichts so glückselig und zu so einer unaussprechlichen Glückseligkeit geschaffen, berufen, gerechtfertigt und vollendet worden bist. Diese Betrachtung wird dir eine unermüdliche Liebe einflößen, ihn ohne Ende zu loben, aus dem, durch den, in dem du dich freuen wirst, mit so großen und so unveränderlichen, Gütern beseligt zu sein.

3.

Wie wir allenthalben, wo wir sind, in ihm leben, weben und sind, da wir ihn in uns haben.

VON jener zukünftigen Glückseligkeit wende nun das Auge deiner Betrachtung einen Augenblick zu der Größe der Gnade, mit der er dich schon in diesem flüchtigen Leben bereichert hat. Er, der im Himmel wohnt, der unter den Engeln gebietet, dem Himmel und Erde mit allem, was darin ist, sich beugen, er hat sich dir zur Wohnung gegeben, seine Gegenwart dir zugeteilt, indem der Apostel sagt: „In ihm leben, weben und sind wir.“4 Süßes Leben, liebliche Bewegung erwünschtes Sein! Was gibt es denn süßeres, als in dem sein Leben haben, der das glückselige Leben selbst ist? Was lieblicher, als jede Bewegung unseres Willens und Tuns nach ihm und in ihm richten, der uns mit beständiger Festigkeit umgeben wird? Was erwünschter, als mit seinem Sinn und Wandel stets in dem sein, in dem allein, oder vielmehr, der allein ist das wahre Sein, ohne den es niemanden wohl sein kann. „Ich bin“, spricht er, „der ich bin.“5 Vortrefflich in der Tat. Denn er allein ist wahrhaft, dessen Sein unveränderlich ist. Gott also, dessen Sein so ausgezeichnet, so einzig ist, daß er allein wahrhaft ist, und in Vergleich mit ihm alles Sein Nichts ist, als er dich zu jener Höhe erschuf, daß du nicht einmal die Herrlichkeit deiner Würde völlig erkennen kannst, wohin hat er dich gestellt? Welchen Ort zur Wohnung dir bereitet? Höre, was er selbst in seinem Evangelium sagt: „Bleibt in mir und ich in euch.“6 O, unschätzbare Herablassung, o seliges Weilen, o herrliche Vereinigung! Welch eine Herablassung des Schöpfers, daß er in sich selbst seine Kreatur wohnen lassen will! Welch unbegreifliche Seligkeit der Kreatur, in ihrem Schöpfer zu bleiben! Welch ein Ruhm für ein verständiges Geschöpf, in so glücklicher Vereinigung mit seinem Schöpfer verbunden zu sein, daß er in ihm, es in ihm seine Wohnung nehme. Nachdem er uns also so ausnehmend geschaffen, hat er auch gnädig gewollt, daß wir in ihm blieben, er, der als der Lenker aller Dinge sich ohne Bedrängnis über alles erhaben findet; der alles als der Grund aller Dinge, ohne Mühe trägt, der alles als vortrefflicher, wie alle Dinge, ohne Stolz hinter sich zurückläßt; der alles, da er ja das Weltall umfaßt, ohne sich zu zerstreuen, umfängt; alles als die Fülle aller Dinge, ohne beengt zu werden, erfüllt. Er also, obgleich er nirgends abwesend ist, hat sich dennoch in uns sein wohlgefälliges Reich erwählt, wie das Evangelium es nachweißt, wo es heißt: „Das Reich Gottes ist in euch.“7 Wenn nämlich das Reich Gottes in uns ist, und Gott in seinem Reich wohnt, bleibt er denn nicht in uns, da sein Reich in uns ist? So ist es allerdings. Wenn nämlich Gott die Weisheit ist, und die Seele des Gerechten der Sitz der Weisheit, so hat der, welcher wahrhaft gerecht ist, Gott in seiner Seele weilen. „Denn der Tempel Gottes ist heilig, der ihr seid“, sagt der Apostel.8 So sei denn auch du unveränderlich darauf bedacht, die Heiligkeit zu erringen, damit du nicht aufhörst ein Tempel Gottes zu sein. Er sagt selbst von den Seinigen: „Ich werde in ihnen wohnen und in ihnen wandeln.“9 Und zweifle nicht, daß, wo immer sich heilige Seelen finden, er in ihnen sei. Wenn du nämlich in allen deinen Gliedern, die du belebst, allenthalben ganz bist, um wieviel mehr ist Gott allenthalben ganz, der dich und deinen Körper geschaffen hat. Du mußt also mit der höchsten Sorgfalt beachten, mit wieviel Rücksicht und Ehrfurcht wir unsere Sinne und die Glieder unseres Körpers zu bewegen verpflichtet sind, da die Gottheit selbst in ihnen den Vorsitz führt. Geben wir also, wie es recht ist, einem solchen Einwohner die ganze Herrschaft unseres Herzens, daß ihm nichts in uns widerstrebe, sondern alle Gedanken, Willensbewegungen, alle Worte und alle unsere Werke nach seinem Willen dienen, nach der Richtschnur seiner Ordnung sich bestimmen. So werden wir wahrhaft sein Reich sein, und er in uns bleiben, und wir, in ihm bleibend, werden glückselig leben.

4.

Wie alle, die wir in Christus getauft sind, Christus angezogen haben.

RAFFE dich auf, meine Seele, und es entzünde sich in deinem Innersten das Feuer der höheren Liebe; erwäge verständig den Schmuck, den der Herr, dein Gott, dir verliehen, und erwägend liebe ihn, und liebend entspreche und verehre ihn durch einen heiligen Wandel. Er, der in sich selbst dir eine Wohnung vergönnte, der sich herabließ, in dir zu wohnen, bekleidet, stärkt, schmückt er dich nicht mit sich selbst? „So viele nun“, spricht der Apostel „in Christus getauft sind, haben ihn, Christus, angezogen.“10 Wieviel Lob, wieviel Dank wirst du also dem würdig abstatten, der dich mit so großer Zierde bekleidete, zu so großer Ehre erhob, daß du in süßesten Jubel deines Herzens sagen kannst: „Es hat mich der Herr mit dem Kleid des Heils angetan, mit dem Gewand der Freude hat er mich umgeben.“11 Den Engeln Gottes ist es die höchste Freude, Christus zu betrachten, und siehe, in seiner unermeßlichen Herablassung neigt er sich so sehr zu dir herab, daß er dich mit sich selbst bekleiden will. Mit was für einem Kleid, als mit dem, über welches der Apostel frohlockt, wenn er spricht: „Christus ist uns die Weisheit vor Gott geworden, und die Gerechtigkeit und Heiligung?“12 Mit welchem Schmuck von Gewändern sollte er dich mehr zieren, als daß er dich glänzend gemacht hat durch das Kleid der Weisheit, durch den Schmuck der Gerechtigkeit, durch die Zierde der Genugtuung?

5.

Daß wir Christi Leib sind.

UND was soll ich sagen, daß Christus sich dir zum Kleid gemacht hat, da er sich so sehr dir geeint hat, daß er dich in der Einheit der Kirche an seinem Fleisch hat teilnehmen lassen? Höre den Apostel den Ausspruch der Schrift auseinandersetzen: „Und es werden die zwei in einem Fleisch sein. Ich aber sage“, so spricht er da, „in Christus und der Kirche.“13 Bedenke demnach zu wie großer Einheit sich Christus mit dir verbunden. Ein Leib Christi seist du, bestätigt der Apostel. „Ihr seid“, spricht er, „der Leib Christi, und Glieder von seinen Gliedern.“14 Halte also Leib und Glieder in jener Würde wie es sich geziemt, damit du nicht, wenn du sie leichtsinniger Weise unwürdig behandelst, in demselben Maß, als du sonst mit einem herrlichen Lohn gekrönt worden wärst, wenn du sie würdig behandelt hättest, einer ebenso viel größeren Strafe anheimfällst, wenn du sie unwürdig mißbrauchst. Deine Augen sind Christi Augen. Es steht dir deshalb nicht frei, die Augen Christi zum Anblick von Eitelkeiten zu verwenden; denn Christus ist die Wahrheit, dem alle Eitelkeit entgegen ist. Dein Mund ist Christi Mund. Du darfst also nicht, ich will nicht sagen, zu Verleumdungen, ich will nicht sagen, zu Lügen, sondern nicht einmal zu müßigen Reden deinen Mund öffnen, den du allein zum Lob Gottes und zur Erbauung des Nächsten öffnen mußt. So halte es auch mit den übrigen Gliedern Christi, die deiner Wachsamkeit anvertraut sind.

6.

Wie wir mit Christus eins sind, und mit ihm ein Christus sind.

ABER jetzt erkenne noch tiefer, zu welch einer Gemeinschaft du mit ihm verbunden bist. Höre den Herrn selbst für die Seinigen zum Vater bitten. „Ich will“, spricht er, „daß, wie ich und du eins sind, so auch sie in uns eins seien.“15 Ich bin dein Sohn von Natur, wie auch sie deine Söhne und meine Brüder durch die Gnade. Welch eine Höhe ist es für einen Christen, so in Christus zuzunehmen, daß er selbst sogar Christus genannt wird. Das hat jener treue Vorsteher der Familie Gottes auf Erden empfunden, der sagte: „Alle Christen sind wir ein Christus in Christus.“16 Kein Wunder, da er selbst das Haupt und wir sein Leib, er selbst der Bräutigam und die Braut; Bräutigam in sich, Braut in den heiligen Seelen, die er sich durch das Band der ewigen Liebe geeint hat. „Wie einem Bräutigam“, heißt es, „hat er mir den Kopfschmuck aufgesetzt, und wie eine Braut mich mit Glanz geziert.“17 Hier also, meine Seele, hier erwäge seine Wohltaten gegen dich, laß dich entzünden von seiner Liebe, entbrenne im Verlangen nach seiner seligen Betrachtung. Rufe also kräftig empor in der brennendsten, der innigsten Liebe und ganz zerschmolzen in sein Verlangen, brich aus in den Ruf der treuen Braut: „Möchte er mich doch mit dem Kuß seines Mundes küssen.“18 Von meiner Seele weiche alles Ergötzen, das außer ihm ist; kein Hang zum gegenwärtigen Leben, kein Trost möge mir schmeicheln, so lange mir seine selige Gegenwart verwehrt ist. Er möge mich mit den Armen seiner Liebe umfangen, er mich mit dem Mund voll seiner höheren, Süßigkeit küssen, er mich mit jener unaussprechlichen Rede ansprechen, in der er den Engeln seine Geheimnisse offenbart. Das sei der wechselweise Tausch der Rede der Braut und des Bräutigams, daß ich ihm mein ganzes Herz öffne, und er mir die Geheimnisse seiner Süßigkeit offenbart. Mit diesem und ähnlichem Nachgedanken genährt, voll von heiligem Verlangen ringe danach, meine Seele, deinem Bräutigam zu folgen, und sprich zu ihm: „Ziehe mich dir nach, daß ich laufe in den Duft deiner Wohlgerüche.“19 Aber sprich es, und sprich es mit wahrhaftiger Treue, nicht in vorübereilendem Wort, sondern mit unermüdlichem Verlangen. So sprich es, daß du gehört wirst, so verlange, angezogen zu werden, daß du folgen kannst. Sage also deinem Heiland und Erlöser: „Ziehe mich dir nach.“ Nicht ziehe mich die Wollust der Welt, sondern es ziehe mich die Süßigkeit deiner seligen Liebe. Einstmals hat mich meine Eitelkeit angezogen, aber jetzt ziehe mich ganz deine Wahrheit an sich. Ziehe mich, weil du mich gezogen hast, halte mich fest, weil du mich erfaßt hast. Gezogen hast du durch die Erlösung, ziehe durch die Errettung. Gezogen hast du durch die Erbarmung, ziehe durch die Beseligung. Erfaßt hast du, als du unter den Menschen erschienst, Mensch für uns wurdest, halte fest, da du nun den Himmel beherrschst, über die Engel erhöht. Dein Wort ist es, deine Verheißung. Du hast es verheißen, indem du sprachst: „Und ich, wenn ich erhöht sein werde von der Erde, will alles an mich ziehen.“20 Ziehe also mit Macht jetzt, da du erhöht bist, den, den du angezogen hast mit Milde, als du erniedrigt warst. Du bist aufgefahren, laß es mich empfinden; du herrschst über alles, laß es mich erkennen. Erkenne ich es denn nicht, daß du herrschst? Ja wohl erkenne ich es und danke dir dafür. Aber laß es mich erkennen durch vollkommene Liebe, was ich erkenne in frommer Empfindung. Laß es mich erkennen durch Anschauen, was ich erkenne im Glauben. Feßle an dich mit unauflöslichen Liebesbanden die Begierden meines Herzens, da bei dir sind die Erstlinge meines Geistes.

Die Einheit der Liebe verbinde uns, da uns geeint hat die Liebe der Erlösung. Denn du hast mich geliebt und dich selbst hingegeben für mich. Es sei darum stets bei dir im Himmel mein Sinn, er sei bei mir auf Erden beständig dein Schutz. Hilf mir, da ich entflammt bin vom Verlangen deiner Liebe, da du mich geliebt hast, als ich dich verachtete. Gib dich mir dem Suchenden, nachdem du dich dem Gleichgültigen gegeben hast. Nimm den Rückkehrenden wieder auf, da du den Fliehenden zurückgerufen. Lieben will ich, auf daß ich geliebt werde, ja weil ich geliebt werde, will ich immer mehr und mehr lieben, auf daß ich mehr geliebt werde. Einen soll sich mit dir mein Gedanke, einzig und allein sei bei dir mein Sinn, wo mit dir, von dir barmherzig angenommen, unser Wesen bereits regiert.21 Anhängen will ich dir unzertrennlich, dich anbeten unablässig, dir dienen beharrlich, dich suchen mit Treue, auf daß ich dich selig finde und ewig besitze. Mit solchen Reden, o meine Seele, sprich Gott an, und ringe danach, entzündet, entflammt zu werden, zu entbrennen, und ganz in seinem Verlangen feurig zu werden.

7.

Betrachtung unserer Sünden, besonders derer, worüber uns unser Gewissen größere Vorwürfe macht, durch die wir dieses alles verloren haben.

WENN du erwägst, zu welchen und wie großen Gütern du durch seine Gnade gelangt bist, so bedenke auch, welche und wie große Güter du durch deine Schuld verloren hast, und in welche Übel du, von Schuld beladen, gestürzt bist. Erwäge seufzend das Böse, das du schmählich vollbracht hast, und erinnere dich schluchzend des Guten, das du eben dieses Bösen wegen elendig verloren. Denn gibt es wohl ein Gut, das dir dein allvollkommener Schöpfer in seiner Güte nicht verliehen hätte? Und gibt es ein Böses, das du ihm nicht vergolten hättest, voll von verdammenswerter Nichtswürdigkeit? Das Gute hast du verloren, das Böse verdient, ja noch mehr, das Gute weggeworfen, das Böse gewählt, und indem du das Wohlgefallen deines Schöpfers verlorst oder vielmehr wegwarfst, bist du seinem Zorn elendig anheimgefallen. Nirgendwo hast du Grund, dich unschuldig darzustellen, da dich der Schwarm deiner Sünden wie ein unermeßliches Heer umgibt, hier dir die Schmach deiner bösen Werke vorwerfend, dort die unermeßliche Menge der unnützen, und was noch schlimmer ist, der schädlichen Worte vorbringend, dann wieder die unendliche Masse böser Gedanken aufdeckend. Das ist es, warum du die unschätzbaren Güter verloren hast, warum du der Gnade deines Schöpfers verlustig geworden. Das bedenke seufzend; beseufze, ihm absagend; sage ab, es verdammend; verdamme, indem du dein Leben zum besseren umgestaltest. Ringe mit dir in deinem Geist, daß du nie fortan wieder, auch nur auf einen Augenblick, irgendeiner Eitelkeit, sei es mit dem Herzen, oder mit der Zunge, oder, was am allerabscheulichsten ist, mit der Tat deine Beistimmung gibst. Täglich, ja stündlich, sei in deinem Geist der Kampf, daß du auch nicht den geringsten Bund mit dem Laster mehr hast. Auf das Genauste erforsche dich selbst, prüfe die Schlupfwinkel deiner Seele, und was du Verdammenswürdiges an dir findest, in unerbittlicher Züchtigung zerschlage es, wirf es nieder, zertritt es, rotte es aus, wirf es von dir, und mache es zu Nichts. Schone deiner nicht, schmeichle dir nicht, sondern in der Morgenröte d. h. in der Betrachtung des Jüngsten Gerichts, das auf die Nacht dieses Lebens wie das Morgenlicht folgt, töte alle Sünder der Erde, d. h. alle Vergehen und Sünden deines verweltlichten Wandels, um aus der Stadt Gottes, die du in dir selbst aufzubauen hast, alle, die Böses tun, zu zerstreuen, d. h. die teuflischen Versuchungen, die Gott mißfälligen Ergötzlichkeiten, die todbringenden Einwilligungen und die verkehrten Werke. Von diesem allen mußt du wie eine Stadt Gottes gereinigt werden, daß dein Schöpfer in dir eine wohlgefällige Wohnung finde, erhalte, besitze. Gehöre nicht zur Zahl derer, über deren Hartnäckigkeit sich Gott selbst zu beklagen scheint, indem er spricht: „Keiner ist, der in seinem Herzen dachte und sagte: Was habe ich getan?“22 Wenn jene verworfen wurden, weil sie des vollbrachten Bösen wegen nicht erröten und sich anklagen wollten; willst du es, um zur Zahl der Auserwählten zu gehören, vernachlässigen, mit dir selbst zur Rechenschaft zu gehen, dich zu richten, und durch strenge Zucht zu bessern? Erwäge also in sorgfältigem Nachdenken die unermeßlichen Wohltaten deines Schöpfers, mit denen er dich ohne all dein Verdienst bereichert hat, und rufe in dein Gedächtnis zurück das unzählig viele Böse, mit dem deine Nichtswürdigkeit seinen Wohltaten schmählich entsprochen hat, und sehr großen Schmerz in dir erweckend, rufe aus: „Was habe ich getan? Gott habe ich gereizt, meinen Schöpfer zum Zorn gebracht, seinen unermeßlichen Wohltaten unzählig viel Böses entgegengesetzt. Was habe ich getan?“ Aber während du dieses sagst, lasse bittere Zerknirschung dein Herz erfüllen, seufze und weine. Denn wenn du hier nicht weinst, wann willst du weinen? Wenn dich nicht zur Reue bewegt, daß Gott sein Antlitz von dir abgewandt hat, was deine Sünden bewirkt haben, so mag deine Härte wenigstens die Schrecklichkeit der Höllenstrafen brechen, die über dich eben diese Sünden herabgerufen haben. Kehre wieder ein, kehre ein, Treuloser, in dein Herz und ziehe den Fuß aus der Hölle zurück, damit du dem verdienten Übel entgehen, und das verlorene Gut, dessen du rechtmäßig beraubt wirst, wiedererlangen kannst. Denn wenn du auf dein Böses zurückblickst, so hast du alles Gute verloren, das er dir verliehen. Es ist also nötig, daß du dahin und besonders auf jenes, worüber dich dein Gewissen stärker anklagt, immer dein Auge wendest, damit er sein Auge davon abwende. Wenn du nämlich durch einen würdigen Entschluß der Genugtuung dein Böses von dir entfernst, wird auch er den Blick seiner Rache davon entfernen. Vergißt du es, so erinnert er sich daran.

8.

Erwägung der Menschwerdung des Herrn, durch welche wir alles dies wiedererlangt haben.

DAMIT du nun davon befreit werdest, achte auf die Erbarmungen deines Erlösers gegen dich. Gewiß, du warst infolge der Erbsünde erblindet, und konntest die Höhe deines Schöpfers nicht sehen. Umringt von den Wolken der Sünden ranntest du in das Dunkel hinein, und von den reißenden Fluten der Laster fortgerissen, eiltest du der ewigen Finsternis zu. Und siehe, dein Erlöser legte auf deine erblindeten Augen die Salbe seiner Menschwerdung, damit du, unvermögend, Gott in dem Glanz seiner verborgenen Majestät zu sehen, Gott in menschlicher Erscheinung erblicktest, erblickend erkenntest, erkennend liebtest, und liebend mit dem höchsten Eifer zu seiner Glorie zu gelangen, dich bemühtest. Er ist Mensch geworden, um dich zum Geist zurückzuführen. Deiner Veränderlichkeit ist er teilhaftig geworden, um dich seiner Unveränderlichkeit teilhaftig zu machen. Er hat sich hinabgeneigt zu deiner Niedrigkeit, um dich zu erheben zu seiner Höhe. Von unversehrter Jungfräulichkeit ist er geboren, um die Verdorbenheit der abtrünnigen Natur zu heilen. Beschnitten wurde er, um dem Menschen zu lehren, daß er alles Überflüssige von Sünde und Laster von sich abschneide. Dargebracht wurde er im Tempel, und von der heiligen Witwe empfangen, um seine Gläubigen zu ermahnen, das Haus Gottes fleißig zu besuchen, und, damit sie ihn aufzunehmen gewürdigt würden, sich mit allen Kräften der Heiligkeit zu befleißigen. Von dem greisen Simeon wurde er empfangen und gepriesen, damit er an den Tag lege, wie lieb ihm der Lebensernst und die Strenge der Sitten sei. Getauft wurde er, um das heilige Sakrament unserer Taufe zu weihen. In dem Jordan unter der Hand des Johannes sich zur Taufe beugend, hörte er die väterliche Stimme, und erfuhr die Ankunft des Heiligen Geistes in Gestalt einer Taube, um uns zu lehren, in Demut des Geistes (die durch den Jordan dargestellt wird; denn Jordan heißt: ihr Hinabsteigen) stets uns zu halten, und da mit der Unterhaltung des himmlischen Vaters beehrt zu werden, von dem gesagt wird, daß „Seine Rede mit den Einfältigen“23